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Wenn das Ich die Realität verliert
ОглавлениеWenn ein System reibungslos arbeitet, ist dies kein Ereignis, es ist ein unauffälliger Zustand. Gerät das System bei einem Fehler oder bei einer Beschädigung aus dem Takt, ist man genötigt, die Komponenten zu studieren und erfährt Zusammenhänge, die vorher verborgen waren. Dies gilt auch für das System Zentralnervensystem.
Nach einem Unfall oder einem schockierenden Erlebnis kommt es vor, dass ein Mensch psychisch entwurzelt ist. Er hat sein Gedächtnis verloren, er weiß nicht, wer er ist, er trifft Menschen, die ihn lieben, die ihn hassen, die ihm etwas mitteilen wollen, die etwas fordern. Er kann nicht sinnvoll reagieren, denn er ist ein Fremder in einem sozialen Umfeld, das er nicht durchschaut.
Die retrograde Amnesie war Vorlage für eine unübersehbare Anzahl von Hollywoodfilmen. Sie bietet aber auch die Möglichkeit, die Funktion des materiellen Gehirns von der immateriellen Dimension, in der unsere Identität existiert, abzugrenzen. Die Identität verliert den Kontakt zu ihrem materiellen Instrument. Aus entgegengesetzter Perspektive verliert das Gehirn seine geistige Identität.
Die analytisch wichtige Frage lautet: Was kann das Gehirn ohne biografische Identität?
Ein Mensch ohne Persönlichkeit ist nicht völlig hilflos. Er kann Treppen steigen, Nahrung zu sich nehmen, ja sogar Auto fahren. Sein Zentralnervensystem funktioniert nur in seiner aktuellen Situation. Das Gehirn ist der „Arbeitsspeicher“, die „Festplatte“ existiert in Sir John C. Eccles' und Sir Karl Poppers „Welt zwei“.
Es wäre eine ehrenvolle Aufgabe für Neurologen und Neurophysiologen, die Fähigkeiten von Menschen ohne Identität zu registrieren und zu analysieren. Zum Beispiel könnte der Chef der Neurologie einer Universitätsklinik in seiner Eigenschaft als Doktorvater mit der Vergabe zahlreicher Dissertationsthemen diese Aufgabe zu erfüllen.
Auch die Psychologen könnten spannende Fragen stellen. Wie sehen die Leistungsunterschiede zwischen Patienten mit retrograder Amnesie und Menschen, die nicht an dieser Störung leiden, aus?
Wie wirkt der Verlust der Identität auf elementare Fähigkeiten? Gibt es möglicherweise auch Leistungssteigerungen, wenn der biografische „Ballast“ fehlt?
Zu den elementaren Fähigkeiten gehören:
* die Konzentrationsfähigkeit,
* das räumliche Vorstellungsvermögen,
* die Fähigkeit zur Umorientierung, messbar zum Beispiel mit
Wahrnehmungsexperimenten mit der Umkehrbrille.
Auf etwas höherer Ebene könnte man Unterschiede im Lernvermögen messen:
* in der Merkfähigkeit bei Tasteindrücken, Geräuschen, Farben
und sinnlosen Silben,
* beim Erlernen einer neuen Sprache.
In den Universitätskliniken wäre es sinnvoll, die Zuständigkeit der Fachkräfte besser zu definieren.
Gehirn: Neurologen und Neurochirurgen
Persönlichkeit: Psychologen
Womit beschäftigen sich die Psychiater?
Sie wissen es nicht genau.
Die Bezeichnung Psychiatrie für ein medizinisches Fach taucht in einem neu definierten Schema der Zuständigkeiten aller Wissenschaften, deren Forschungsobjekt der Mensch ist, nicht mehr auf. (s. Anhang)
Was kann das materielle Gehirn ohne Identität? Auch schon vorwissenschaftlich kann man diese Frage ansatzweise beantworten. Sportpsychologen üben mit Leistungssportlern das mentale Training. Der geistige Persönlichkeitsanteil des Hochspringers, des Bobfahrers, des Golfspielers programmiert sein materielles Gehirn mit dem fiktiven Bewegungsablauf. Dann – das ist sehr wichtig – soll sich der Geist zurückziehen, während des körperlichen Vollzugs keine weiteren störenden Anweisungen geben, soll den Körper "einfach machen lassen“.
Schon ein entspannter Spaziergang macht die Grenzzone zwischen der körperlichen „Welt eins“ und der geistigen „Welt zwei“ deutlich. Der Körper wird in den Automatik-Modus versetzt und kann durchaus selbständig auf kleine Hindernisse und Unebenheiten auf dem Weg reagieren. Gleichzeitig darf der Geist in Tagträumereien schwelgen. Nur wenn die Physis überfordert ist, greift der Geist korrigierend ein.
Die Entscheidung, die Wegrichtung zu ändern oder den Spaziergang abzubrechen, kann nur der immaterielle Anteil der Persönlichkeit treffen.
Schon jetzt wird deutlich, dass der physische Anteil der Persönlichkeit sehr gering ist.
Das Gehirn ist nur der Arbeitsspeicher.