Читать книгу Und ich gab ihm mein Versprechen - Rainer Stoerring - Страница 6

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Das Jahr neigte sich dem Ende. Der Herbst zeichnete die schönsten Farben. Ein Sommer der alles gehalten hatte, was der Frühling versprach, zog langsam weiter. Gestärkt aus den vergangenen Monaten erwartet die Natur den Winter. In seiner vollendeten Kraft wird er eine sanfte Decke über uns legen. Seine Stille beendet das Jahr.

Wie oft hat jeder von uns diese Zeiten schon erlebt. Immer wieder, Jahr ein Jahr aus, zeigt uns die Natur, ihren beständigen Rhythmus. Schon viele Millionen Jahre konnte sie nichts daran hindern wiederzukommen. Sie nährt uns, lässt uns erblühen. Sie wärmt uns, lässt uns in ihr verweilen. Doch ganz besonders, sie schenkt uns das Leben.

»Dein Vater macht mir Sorgen.«

»Wie meinst du das?«

»Er ist so komisch in letzter Zeit. Ganz anders, als ich ihn kenne.«

»Mutter, du siehst etwas, was nicht vorhanden ist. Mir ist nichts an ihm aufgefallen.«

»Wie sollte dir dies auch aufgefallen sein. Du bist das letzte Jahr nicht hier gewesen. Ich bin jeden Tag mit ihm zusammen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Willst du nicht mal mit ihm reden?«

»Was meinst du, was er mir sagen wird? Wenn er mit dir nicht darüber redet, wird er es mit mir ganz bestimmt nicht tun.«

Meine Mutter schaute mich an. Ihr Gesicht ließ nicht erkennen, was sie gerade dachte. Das einzige, was es zum Ausdruck brachte, waren Sorgen. Sorgen darüber, dass momentan etwas geschieht, was sie nicht einzuordnen weiß. Sieht sie sich hilflos gegenüber dem, was sie nicht kennt? Was sie nicht abzuschätzen weiß? Natürlich, denn genau in diesen Momenten bekommen wir als Mensch gezeigt, dass wir etwas vergessen haben. Etwas, was wir unser ganzes Leben schon hätten lernen können. Aufmerksamkeit. Das schwierige daran ist es, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Jeden Tag werden wir mit Anforderungen konfrontiert. Die allermeisten leisten wir ohne darüber nachzudenken. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Eine Regelmäßigkeit ordnet den größten Teil unseres Lebens. Ab dem Moment, in dem wir das Licht der Welt erblicken, bekommen wir eine Rolle zugeteilt. Diese Rolle ist schon seit Jahrtausenden bestimmt. Bestimmt durch die Erfahrungen, die wir daraus gemacht haben. Geändert hat der Mensch daran nicht viel. Im Gegenteil, im Laufe unserer Evolution wurden wir immer und immer wieder darin bestätigt. Der Mann ist der Leitwolf. Die Frau ist seine Gefährtin. Richtig betrachtet ist sie nicht nur seine Gefährtin. Schon gar nicht eine. Sie ist nicht nur die, die das Leben des Mannes begleitet. Sich um sein Wohl kümmert. Seinen Kindern das Leben schenkt. Sein Haus organisiert und in Ordnung hält. Meist ihre eigenen Ansprüche hinter denen des Mannes anstellt. Sie ist viel mehr. Sie ist die Macht hinter dem Thron. Was wäre also der Mann als solcher, ohne die Frau an seiner Seite?

Mein Vater. Mein Erzeuger. Nicht nur das. Ein Vater ist nicht nur der Erzeuger eines anderen Menschen. Er ist das Leittier der Herde. Er sorgt dafür, dass die Familie auf dem richtigen Weg bleibt. Hält Unheil von ihr ab. Als Einzeljäger ist er für die Beschaffung von Nahrung zuständig. Er trifft Entscheidungen in der letzten Instanz. Seine grundsätzliche Aufgabe, er führt die Familie.

Meine Mutter. Die Frau, die mich viele Monate in sich getragen hat. Sie zeigte mir das Licht des Tages und der Nacht. Sie gebar mich. Gab mir meine Rolle, meinen Platz in der Menschheit. Sie schenkte mir das Leben. Nicht nur das. Sie sorgte immer dafür, dass das, wofür mein Vater sorgte, für die Familie zu nutzen war. Sie organisierte das innere Leben der Familie. Durch sie blieb die Familie auf dem Weg, den mein Vater für richtig hielt. Woher auch immer sie wusste, wie man das macht, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Es zu lernen, war ihr nie vergönnt.

»Guten Morgen Vater. Alles klar? Du schaust in den letzten Tagen etwas betrübt. Machst du dir Gedanken über eine ganz bestimmte Sache?«

Mein Vater schaute mich an. Sein Blick zeigte den Versuch die Worte zu entziffern, die aus meinem Mund kamen. Eine Frage wie diese hatte ich noch nie an ihn gestellt.

»Was meinst du damit? Es ist doch alles so, wie es immer ist. Ich kann nicht klagen.«

»Die Mutter meinte, dass du dir über etwas Gedanken machst. Du seiest anders als sie dich kennt.«

»Deine Mutter. Hat sie sich je darum gekümmert, über was ich mir Gedanken mache? Sie soll nicht grübeln und alles so übertreiben. Mir geht es gut.«

»Ich kann mir schon vorstellen, dass ihr Veränderungen auffallen und sie darüber nachdenkt. Wenn du mir nicht sagen willst, was los ist, kann ich dich nicht zwingen. Allerdings wird nichts gelöst, indem man es für sich behält. Also, entweder du sprichst darüber oder eben nicht.«

Mein Vater nickte und beendete das Gespräch, wie immer mit einer Ausweichfrage. Ich musste mich zufrieden geben. In solchen Situationen war kein weiteres Gespräch über das eigentliche Thema möglich. Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dass sich manches bei ihm erst setzen muss. Er braucht eine gewisse Zeit um sich intern damit auseinander setzen zu können. Nicht, dass er danach von sich aus darauf zurückkam. Durch eine ganz bestimmte Art zeigte er, nun bin ich bereit, sprechen wir weiter. Später, wir saßen gemeinsam am Tisch und aßen zu Mittag, schaute er zu meiner Mutter, dann zu mir. Meine Mutter bemerkte dies und ergriff das Wort.

»Du hast auch dem Rainer nichts gesagt. Was ist denn los mit dir? Glaubst du vielleicht ich merke nicht, dass du etwas hast? Du machst dir Gedanken und ich bin ja nicht blind. Mir fällt das doch auf. Außerdem ist mir auch aufgefallen, dass Blut in deiner Unterwäsche ist. Rede doch endlich mit uns.«

Mein Vater schaute uns an. Etwas verlegen aß er weiter. Der Blick meiner Mutter richtete sich nun auffordernd zu mir.

»Vater, jetzt sage schon, was los ist. Wenn du es uns nicht sagst, können wir es doch nicht wissen. Blut in deiner Unterwäsche. Wo kommt das her? Hast du Probleme beim Wasserlassen? Darüber hat mir die Mutter nichts gesagt. Sie macht sich Sorgen. Darüber haben wir gesprochen. Also, was ist los? Vielleicht bist du nicht der einzige Mann, der dieses Problem hat. Denke mal an Onkel Heinz. Früher oder später kann auch ich in die gleiche Situation kommen. Du hast Probleme beim Wasserlassen. Je eher wir das Problem in Angriff nehmen, umso besser wird die Sache laufen.«

»Es ist ein bisschen komisch. Ich merke, dass ich zur Toilette muss, aber es kommt nichts. Obwohl ich genau merke, da ist ein Druck, kann ich nicht. Das geht ein paar Mal so am Tag. Irgendwann ist der Druck dann so groß, dass nichts mehr geht. Ich drücke, erst kommt ein bisschen Blut und dann kann ich pinkeln. Ich werde mir mal Blasentee in der Apotheke kaufen. Der spült gut und das Problem wird sich in den nächsten Tagen erledigen.«

Das Eis war gebrochen. Sein Gesicht hellte sich auf. Eine gewisse Zuversicht war zu erkennen. Ob diese nun mit der gefundenen Problemlösung, dem Blasentee, zusammenhängt, konnte und wollte ich mir nicht selbst beantworten. Heute glaube ich eher, dass es ihm besser ging endlich mal über sein Problem zu sprechen.

»Wie meinst du das, Papa? Glaubst du, dass der Blasentee Wunder bewirken kann? Ich denke, du solltest zu einem Urologen gehen und mal nachsehen lassen. Der Heinz hatte diese Probleme auch. Schätzungsweise hängt es mit deiner Prostata zusammen. Ich weiß zwar nicht genau was oder wie da etwas gemacht wird. Doch denke ich, dass ist kein Tabuthema mehr und es ist bei weitem nicht mehr so schlimm, wie es einmal war.«

»Ich kenne keinen Urologen. Und in ein Krankenhaus gehe ich auch nicht.«

»Unwissenheit schützt bestimmt vor vielem, doch hier geht es um deine Gesundheit. Lasse dir mal einen Termin bei deiner Hausärztin geben. Mit ihr werden wir über alles sprechen. Sie weiß, wen man ansprechen kann. Wegen des Krankenhauses mache dir mal keine Gedanken. Zu Hause wird man einen eventuellen Eingriff nicht vornehmen können. Für viele Operationen braucht man heute nur noch wenige Tage. Hinterher wirst du froh sein, dass du dich richtig entschieden hast. Du bist nicht der einzige Mann in deinem Alter mit diesem Problem.«

Zwei Tage später, 8.00 Uhr, der Termin bei Christiane B. stand. Wir saßen im Wartezimmer und schauten Zeitungen an. Die Aufregung war meinem Vater anzumerken. Tausende Fragen gingen ihm durch den Kopf. Vor dem Gespräch, waren diese wohl nicht zu beantworten. Um sich etwas zu lösen, begann mein Vater mit einem Gespräch.

»Ich denke nicht, dass sie mir helfen kann. Wir hätten doch mal diesen Professor D. anrufen sollen. Wie mir der Nachbar erzählt hat, ist er sehr gut auf diesem Gebiet.«

»Wie, du hast mit jemandem nahezu Fremden über dieses Thema gesprochen? Warum hast du es dir dann so schwer gemacht mit mir oder der Mutter zu reden?«

»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Er hatte mir von seiner Operation erzählt. Immerhin kennen wir uns schon ewig und hatten uns eine längere Zeit nicht gesehen. Werner hatte mir von sich aus darüber erzählt.«

»Warum auch nicht. Wie gesagt, diese Krankheit betrifft sehr viele Männer in deinem Alter, manche sogar früher als dich jetzt. Die Schulmedizin basiert auf jahrelanger Praxis. Klar, die Medizin in ihrem vollen Umfang gehört nicht in unser Wissen, doch es gibt genug Ärzte, denen du vertrauen kannst. Vertrauen ist die Grundlage zu allem. Ein Problem welches du selbst nicht lösen kannst, gibt es immer wieder. Bist du am Ende deines Wissens angelangt, musst du fachmännischen Rat einholen. Bezüglich deines momentanen Problems brauchst du einen Arzt. Also, die richtige Schlussfolgerung ist sich an einen zu wenden. Du hast dich richtig entschieden, als du den Termin hierfür vereinbart hast. Warte mal, nach dem Gespräch weißt du mehr.«

Mein Vater schaute mich an, als wären meine Worte in einer fremdländischen Sprache aus meinem Mund gekommen. Er blickte mir direkt in die Augen.

»Nicht nur ich, wir wissen dann mehr.«

Seine Worte klangen sehr bestimmt. In dieser Art habe ich meinen Vater bisher sehr selten vernommen. Wie habe ich ihn bisher überhaupt wahrgenommen. Wer war er? Sonderbar, zum ersten Mal dachte ich darüber nach.

»Kommen Sie dann bitte.«

Die Sprechstundenhilfe nickte uns zu. Wir standen auf und folgten ihr. Leicht war meinem Vater dieser Moment nicht gefallen.

»Nachdem Sie mir alles geschildert haben, werde ich Sie zu einem Urologen überweisen. Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken, er wird Ihnen helfen. Nach meinem Befund handelt es sich bei Ihnen um eine klare Verengung der Prostata. Die entsprechende Operation wird in einer Klinik vorgenommen werden. Sollten keine Probleme auftreten, davon gehe ich bei Ihnen aus, ist hinterher alles wieder so, wie Sie es gewohnt sind.«

Eine klare Aussage, doch wollte ich mehr über dieses Thema wissen. Bisher hatte ich damit noch nichts zu tun. Vor einigen Jahren wurde mein Onkel ebenfalls an der Prostata operiert. Besonderheiten waren mir seinerzeit nicht aufgefallen. Wobei ich mit ihm auch nie darüber gesprochen hatte. Ich wünschte mir, ich hätte es getan, dann würde ich jetzt mehr von dem verstehen, was gesagt wurde. Ich wollte mehr wissen.

»Wodurch tritt diese Krankheit auf?«

»Es ist keine Krankheit. Im Laufe der Jahre kann sich die Prostata durch gutartiges Geschwulstwachstum vergrößern. Diese behindern den Harnabfluss. Damit treten die Probleme beim Wasserlassen auf. Begleitet wird dies durch Schmerzen. Klar, je enger die Harnröhre ist umso mehr Kraft wird seitens des Körpers verlangt um den Urin zu transportieren.«

Mein Vater schaute uns zu. Ihn schien die Art und Weise unseres Gespräches mehr zu interessieren als dessen Inhalt. Ich unterbrach für einen Moment und drehte mich zu ihm. Er holte Luft und sah auf den Schreibtisch seiner Ärztin.

»Für nächste Woche brauche ich einen Termin zur Blutabnahme. Den werde ich mir dann draußen noch geben lassen. Mal sehen, was meine Fettwerte machen. Obwohl ich keine Probleme habe. In letzter Zeit war sowieso alles in Ordnung. Ich esse und trinke alles.«

Christiane B. und ich schauten uns an. Ich sah, ihr ging es wie mir. Wir wussten beide nicht, wie wir seine Worte verstehen sollten. Die Ärztin nickte, sah meinen Vater an und fuhr fort.

»Ihre Blutwerte? Ja, können wir nächste Woche machen. Lassen Sie sich einen Termin geben. Wenn wir uns nächste Woche sehen, dann können Sie mir vielleicht sagen, welche Fragen noch offen sind. Ich denke, dass Sie die eine oder andere schon noch finden werden. Nur keine Hemmungen, Fragen sind dafür da, dass sie gestellt werden.«

Wir standen auf, verabschiedeten uns und verließen das Zimmer. Mein Vater ging vor, direkt zur Anmeldung. Ich folgte ihm durch die Tür.

»Rainer.«

Christiane B. rief mich noch einmal zu sich.

»Lasse sich alles erst einmal ein bisschen setzen. Er scheint damit überfordert zu sein. Es ist für keinen Mann einfach. Darüber zu reden und dann mit einer Frau ist meist noch schwieriger. Warte, bis er etwas sagt. Doch warte nicht zu lange, er hat Schmerzen. Wenn du noch Fragen hast, dann rufe mich an oder komme vorbei.«

Sie reichte mir die Hand, lächelte und nickte.

»Danke. Unser Gespräch war sehr informativ. Ich weiß noch nicht, welche Fragen auftreten können. Ich habe mich mit diesem Problem bisher nicht auseinander setzen müssen. Ein Onkel von mir hatte vor Jahren diese Operation. Mal sehen, vielleicht werde ich ihn mal ansprechen, wie es bei ihm war.«

»Gute Idee. Vielleicht kann auch dein Vater mal mit ihm sprechen. Also, so ganz von Mann zu Mann. Ist oft einfacher. Viel Erfolg.«

»Danke.«

Auch zu Hause wollte mein Vater nicht gleich auf das Thema eingehen. Er zog sich aus und ging in sein Zimmer. Fernsehen war angesagt. Meine Mutter schaute mit einem fragenden Blick. Ich fragte sie, ob er denn gar nichts zu ihr gesagt hatte.

»Nein, als er kam, sagte er es ist alles in Ordnung und er muss zu einem Urologen. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Irgendwie hat er ein großes Problem darüber zu reden. Auch bei Christiane hat er mitten im Gespräch damit angefangen, dass er einen neuen Termin zur Blutabnahme braucht. Er sollte die Zeit mal nutzen um sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Je mehr er darüber weiß, umso weniger muss er sich vor den jeweiligen Dingen ängstigen. Komisch, mit uns Kindern wurde früher nie so ein Geschiss gemacht. Wir mussten uns allen Dingen stellen und sie angehen. Und heute? Ihr verschließt immer gerne die Augen und Ohren. Alles was unangenehm ist wird einfach ausgelassen. Wir tun mal so, als wäre dies nie gewesen. Tolle Devise, nur dieses Mal habt ihr mit der Natur zu tun. Ihr ist es egal, ob oder wann ihr was wollt und wann nicht.«

Ich hätte mich noch weiter steigern können in diesem Thema. Wie kann man davon ausgehen, dass etwas nicht vorhanden ist, weil man nicht darüber spricht.

»Moment mal. Dein Vater war schon immer so. Wenn du ihn fragst, ihm geht es gut, er hat keine Probleme oder Sorgen, ihm schmeckt das Essen und zu Hause ist alles in Ordnung. Was hat sein Schweigen mit mir zu tun?«

»Mutter, du hörst auch immer nur das, was du willst. Du reagierst nur dann, wenn dir eine Anforderung angenehm erscheint. Probleme werden in eurem Leben ausgelassen. Sie gibt sie einfach nicht. Fakt ist, der Vater muss sich die Prostata operieren lassen. Wie tausend anderer Männer in seinem Alter auch. Entweder wir setzen uns gemeinsam damit auseinander oder aber nicht. Was muss als nächstes getan werden? Wer ist der richtige Ansprechpartner? Welche Möglichkeiten gibt es zur Operation? Wie wird operiert? Welche Probleme können nach der Operation auftreten? Haben wir das alles geklärt, geht es einen Schritt weiter. Es gibt Dinge, die wir nicht berücksichtigen können, weil wir sie nicht wissen. Auch dafür gibt es Ärzte. Ist alles geregelt, die meisten Fragen geklärt, kommt die Operation. Danach wird alles in Ordnung sein. Ihr werdet es sehen. Wegrennen bringt nichts.«

»So solltest du mal mit deinem Vater reden. Mit mir wird darüber ja nicht gesprochen. Ich bekomme alles immer nur von selbst mit. Ich habe es doch gesehen, wenn Blut in der Unterwäsche ist. Ich höre es doch, wenn er schimpft, wieder nicht richtig zur Toilette zu können. Sage ich was, bekomme ich entweder keine Antwort oder aber den Hinweis, dass nichts sei und ich mich um meine Dinge kümmern soll. Ich komme an ihn nicht ran. Was soll ich denn tun?«

»Du weißt, dass er so ist. Wenn du in deiner Art bisher nicht an ihn heran gekommen bist, war es wohl nicht die richtige Vorgehensweise. Welche allerdings die richtige ist, kann ich dir nicht sagen. Diese Problematik stand noch nie zwischen dem Vater und mir. Ihr zwei müsst miteinander reden. Vielleicht sollt ihr genau dies jetzt lernen. Unser Schicksal denkt sich schon etwas dabei. Sei aufmerksam, manches ist schwer zu verstehen, doch ist es zu erkennen. Ein Richtig oder Falsch wird es hinterher geben. Bis dahin wollen wir unser Bestes tun. Wir, damit meine ich uns drei. Wir können es gemeinsam angehen oder aber nicht. Ich werde mal mit ihm sprechen.«

Über meine Worte war ich überrascht. Hatte ich mit meiner Mutter wirklich über grundsätzliche Themen gesprochen? Richtige oder falsche Vorgehensweise. Zu meinen Eltern hatte ich schon immer die richtige Vorgehensweise in der Kommunikation. In jedem Fall war ich bis dahin davon überzeugt. Mit meiner Mutter war über Sinn und Sinnigkeiten der verschiedenen Situationen in unserem Leben nicht zu sprechen. Bei ihr heißt es einfach, es ist wie es ist. Hört sich recht kühl und den Problemen gewachsen an. Wer sie aber genauer kennt, weiß auch, dass dem nicht so ist. Viel denkt sie nach. Ihr Kopf ist immer aktiv. Sie wälzt die Probleme hin und her. Sie versucht zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Doch stößt sie immer und immer wieder auf die Frage »Warum?«. Auf diese Frage bekommt sie keine Antwort. Darüber ärgert sie sich. Sucht nach einem Grund dafür, dass sie keine Antwort bekommt. Diesen sieht sie dann in sich und ihrer Person selbst. Ein furchtbarer Kreislauf. Kaum zu glauben, dass ein Mensch dies mit sich macht. Das Märtyrertum ergreift die Macht. Sie ist ein Mensch voller Liebe, Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Ihre eigenen Verlangen stellt sie all zu oft in den Hintergrund. Die Bedürfnisse anderer gilt es zu befriedigen. Darin sieht sie ihre Aufgabe und die Erfüllung ihres Auftrages. Mein Vater. Einen tieferen Kontakt hatten wir noch nie. Warum? Viele Gemeinsamkeiten gab es nicht zwischen uns. Warum? Unser Verhältnis war immer respektvoll und getragen von der Liebe zwischen Vater und Sohn. Warum? Sehr viel habe ich in den letzten zwei Jahren über diese Frage nachgedacht. Viel Traurigkeit habe ich empfunden. Manches Mal musste ich mich mit einem inneren »hm« begnügen. Resigniert hätte ich nie. Warum hatten mein Vater und ich ein so normales Verhältnis? Wieso haben wir unsere definitiv vorhandenen Parallelen all die Jahre nicht gelebt? Waren wir uns so fremd?

Mein Vater ist der Erstgeborene in seiner Familie. Drei Jahre später brachte meine Großmutter eine Tochter zur Welt, seine Schwester. Dadurch hatte mein Vater schon immer eine aktiv gelebte Vormachtstellung in seiner Familie. Er war ein sehr ruhiger Junge, ein angenehmes Kind. Streit ging er immer aus dem Weg. Den gab es für ihn einfach nicht. Er verfügte über sehr viel Intuition. Aus jeder Situation machte er das Beste. Nahm die Dinge so, wie sie sind und beklagte sich nie. In dieser, seiner Art setzte er letztendlich doch immer alles um, was er wollte. Verwehren konnte ihm keiner etwas. Noch bevor er etwas fertig gedacht hatte, setzte es seine Mutter für ihn um. Ob dies der richtige Weg zum Erlernen von Selbständigkeit war? Darüber lässt sich streiten. Doch denke ich, Liebe war die Macht ihres Handelns. Zwischen meiner Großmutter und ihrem Sohn, meinem Vater, herrschte eine Seelenverbindung.

Nun war wohl die Zeit gekommen. Mein Vater musste eine Entscheidung treffen. Ein anderer Mensch hätte dies für ihn nicht tun können. Er brauchte zwei Tage um mit sich einig zu sein. Meiner Mutter und mir teilte er diese beim Mittagessen mit. Ganz nebensächlich versuchte er es erscheinen zu lassen. Es stand für ihn fest, dass er einen Urologen aufsuchen muss. Mit ihm würde er über alles sprechen. Insgesamt sehe er dem Ganzen locker entgegen. Was solle schon geschehen? Immerhin sei er nicht der erste Mann mit dieser Krankheit. Bei anderen sei auch alles gut gelaufen. Warum dann nicht auch bei ihm? Gleich die nächsten Tage sollte ich einen Termin für ihn ausmachen. Laut der Aussage des Nachbars meiner Eltern sei Professor D. eine wirkliche Kapazität im Fachbereich Urologie. Ein Mann mit vielen Jahren Erfahrung, einem, dem man vertrauen kann. In Absprache mit meinem Vater machte ich einen Termin bei Professor D. Der Termin stand für zwei Tage später.

Mein Vater sprach an diesem Morgen nicht viel. Seine Augen sagten mehr, als jedes Wort. Ein Gemisch aus Unwissenheit und Angst. Nachdem wir das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatten, sah ich auf die Uhr. Bis zu unserem Termin hatten wir noch 45 Minuten Zeit. Wie immer in solchen Situationen, hatten meine Eltern mit großzügiger Zeit geplant. Für sie stand schon immer fest, dass man wesentlich früher vor Ort sein muss, um nicht zu spät zu kommen. In meinen Empfindungen ist eine übermäßig lange Wartezeit unangenehmer zu handeln als die Eventualität eines Zuspätkommens. Wir meldeten uns bei der Sprechstundenhilfe an. Sie bat uns, Platz zu nehmen. Da saßen wir nun. Das Wartezimmer war recht kühl gehalten. Warum auch nicht, lange will man sich darin ja auch nicht aufhalten. Nach einem kurzen Moment kam eine weitere Arzthelferin zu uns. Sie gab meinem Vater einen Becher und bat ihn um eine Urinprobe. Mein Vater schaute sie verlegen an. Sie nickte mit ihrem Kopf zum Ende des Wartezimmers. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie verließ das Zimmer.

»Alles andere leichter als das. Ich war doch zu Hause noch auf der Toilette gewesen. Ob ich jetzt schon wieder kann, weiß ich nicht.«

»Dann mache einfach langsam. Lasse dir Zeit. Wenn es nicht geht, dann lasse uns noch einen Kaffee trinken. Als wir reinkamen habe ich vorne ein Cafe gesehen. Probiere es erst einmal, wenn es funktioniert ist gut. Wenn nicht, gehen wir noch einen Kaffee trinken.«

Mein Vater war erleichtert. War er doch eben noch einem unlösbaren Problem ausgesetzt. Es dauerte einige Minuten. Unverrichteter Dinge kam mein Vater zurück. Wohl war ihm nicht dabei. Ich zuckte mit den Schultern. Noch bevor er sich wieder setzen konnte, stand ich auf und wir gingen in Richtung des Cafes. Wir nahmen zwei Tassen Kaffe und setzten uns. Ganz bewusst versuchte ich unser Gespräch nicht auf heute, jetzt und hier zu fokussieren. Meinem Vater kam dieses sehr recht. Unsere Tassen waren leer.

»Es wird noch immer nicht gehen. Was soll ich nur machen? Gleich werden wir aufgerufen und noch immer konnte ich nicht pinkeln.«

»Jetzt mache dir mal keine Gedanken. Wir haben noch genug Zeit. Trinke doch noch eine Tasse oder eine Flasche Wasser. Je mehr du darüber nachdenkst umso mehr setzt du dich unter Druck. Mentaler Druck natürlich, nicht Blasendruck.«

Ich lächelte. Mein Vater konnte sich keines abringen. Was schien in seinem Kopf vorzugehen? Macht er sich jetzt einen solchen Stress wegen des Nichtkönnens? War er einfach zu aufgeregt wegen des Termins? Wie sollte ich ihn jetzt ablenken?

Von draußen drang Lärm durch die Fenster. Das Vorgebäude des Krankenhauses wurde abgerissen. Die hintere Außenwand war bereits weg. Zimmer in verschiedenen Größen waren zu erkennen. An manchen Wänden abgerissene Tapeten. An anderen Kacheln oder der blanke Putz. Farblich war keine Einheit zu erkennen. Scheinbar war jedes Zimmer eine eigene Parzelle gewesen.

»Furchtbar wie das aussieht. Alle Zimmer haben eine andere Farbe. Selbst die Kacheln sind unterschiedlich. Richtige Wohnungen waren das wohl nicht. Scheint irgendwie so, als ob jedes Zimmer für sich selbst war. Die gekachelten Räume müssen Bäder oder Küchen gewesen sein. Auf jeder Etage jeweils nur zwei. Vielleicht waren es Wohngemeinschaften.«

Der Blick meines Vaters verharrte auf dem Abrisshaus.

»Kann sein. An den Wänden ist aber schon lange nichts mehr gemacht worden. Diese Farben hat man schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wo die nur den ganzen Bauschutt hinfahren werden? Obwohl, ich habe schon gesehen, dass dieser zerkleinert wird und später zum Auffüllen bzw. Glätten der ausgehobenen Grube benutzt wird. Ist ja auch eine gute Idee.«

Einige Minuten unterhielten wir uns über das, was wir draußen sahen. Mein Vater erzählte von seiner Zeit als Maler und Weißbinder. Diese lag nun schon dreißig Jahre zurück. In seinen Erzählungen verknüpfte er zur gegenwärtigen Zeit. Gerne sprach er von seinem erworbenen Wissen im erlernten Beruf. Ganz besonders von den Tricks und Kniffen, die er in all den Jahren gelernt hatte. Seine Gedanken entfernten sich vom Jetzt. Die Urinprobe hatte er für diesen Moment vergessen. Ich schmunzelte.

»Der Kaffee erfüllt seine Aufgabe. Gehen wir wieder hinter. Jetzt kann ich mal.«

Als er aus der Toilette kam, war der Erfolg seiner. Zufrieden stellte er den Becher auf dem Wagen ab und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Kurz danach wurde er aufgerufen. Er erhob sich und nickte mir zu. Ich stand auf und ging mit ihm.

Das Gespräch mit dem Arzt verlief sehr gut. Ein überaus sympathischer Mann. Eine sehr angenehme ruhige Stimme und Art. Nachdem er uns erklärt hatte, was die Ursache ist, welche Untersuchung er vornehmen wird und welcher weitere Verlauf kommen wird, war unser Vertrauen seines. Er bat meinen Vater sich auf eine Untersuchungsliege zu legen. Zuvor möge er bitte seine Hose und den Pulli ausziehen. Mit einem Ultraschallgerät fuhr er über den Unterbauch. Auf einem Bildschirm konnte man schwarze, dunkelgraue, hellgraue und weiße Felder sehen. Dass ein Arzt darin etwas Brauchbares erkennen kann, war für mich unmöglich nachzuvollziehen.

Nach der Untersuchung saßen wir zusammen und besprachen die weitere Vorgehensweise. Eine Operation war nötig. Einzelne Punkte wurden abgestimmt. Wie nötig? Wann? Wie lange? Wo? Welche Probleme? Erfolgchancen?

Für den Moment ergaben sich keine weiteren Fragen. Weder von meinem Vater, noch von mir. Wir bedankten uns und verließen das Arztzimmer. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, atmete mein Vater durch. Eine gewisse Zufriedenheit war darin zu erkennen.

»Gut, dass wir das gemacht haben. Ein sehr guter Arzt. Der weiß sehr viel von seinem Fach. Eine richtige Größe, sehr patent.«

»Es freut mich, dass du dies so siehst. Jetzt weißt du, wissen wir, mehr. Wenn dir noch Fragen einfallen, dann schreibe sie mal auf. Professor D. hat dir angeboten, dass du ihn auch anrufen kannst. Solltest du das nicht wollen, können wir ihm auch eine Mail schreiben. Ich denke mal, deine Entscheidung war richtig. Dem Professor kannst du vertrauen. Oder siehst du das anders?«

»Nein, das wird schon alles gut laufen. Wollen wir uns noch ein Stück Kuchen mitnehmen? Darauf hätte ich jetzt mal richtig Lust.«

Während der ganzen Fahrt zurück nach Hause sprach mein Vater kein Wort. Ich wusste nicht genau, wie ich sein Schweigen hätte brechen können. Vielleicht wollte ich es auch nicht. Er nutzte diese Zeit für seine Gedanken. Dies sollte er auch. Kurz bevor wir ankamen, bat er mich, nicht zu viel von der Untersuchung meiner Mutter zu erzählen. Mein uneingeschränktes Einverständnis fand er darin nicht. Ich versprach es ihm trotzdem. Zugleich bat ich ihn, sie nicht zu lange unwissend zu lassen. Als wir zu Hause angekommen waren, hatte mein Vater wohl noch einmal über sein Vorhaben nachgedacht. Von sich aus und ganz in seinen eigenen Worten erzählte er meiner Mutter von unserem Gespräch mit Professor D. Die wenigen Fragen meiner Mutter konnten wir beantworten. Die nächsten Tage vergingen recht schnell. Fragen ergaben sich für meinen Vater nicht. Auch mir wäre nichts Weiteres eingefallen, was zu beantworten gewesen wäre. Der Termin für die Operation stand. Die entsprechenden Voruntersuchungen wurden einen Tag zuvor vorgenommen.

Nun war der Tag gekommen. Wie das eben ist, wenn man vor einem großen Schritt steht, blieb auch bei uns die Aufgeregtheit nicht aus. Mehrfach wurde nach allem gesehen. Haben wir nichts vergessen? Sind alle wichtigen Dinge eingepackt? Alle in unseren Händen befindlichen Unterlagen komplett? Als würde er in eine andere Welt reisen. Keine Möglichkeit mehr, vergessene Dinge zu besorgen. Der Moment spannte sich. Es klingelte, mein Onkel hatte angeboten uns zu fahren. Grosse Tasche, kleine Tasche und die aktuellen Zeitungen, nichts vergessen und alles im Auto verstaut. Wir stiegen ein und fuhren zum Krankenhaus. Schon alleine dieses Wort war eines, das meinen Vater fürchten ließ. In seinem bisherigen Leben musste er nur zwei Mal ins Krankenhaus. Eine Einrichtung, auf die er ohne Probleme verzichten konnte. Warum nur? Bekommen wir dort nicht in vollem Umfang das, was wir in der jeweiligen Situation brauchen? Sind wir dort nicht in den besten Händen? Mangelt es uns am Vertrauen? Ist unser individueller Fall nicht berechtigt, entsprechende Aufmerksamkeit zu bekommen? Tausendfach werden täglich die verschiedenen Operationen vorgenommen. Wir sind nicht alleine mit unserem medizinischen Problem. Ein Einzelfall sind wir ebenso wenig. Also, vertrauen wir auf die Kapazitäten. Vertrauen wir auf die medizinischen Kenntnisse der Ärzte. Vertrauen wir auf die jeweilige Kompetenz der Fachärzte. Vertrauen wir auf unser Schicksal. Es will nichts Böses mit uns. Alles, was es für uns geplant hat, durchlief die umfangreichsten Überlegungen. Jede einzelne Situation, die uns konfrontieren soll wurde durchdacht. Jede einzelne als solche selbst. Die Verbindungen zu anderen ziehen wir Menschen selbst.

Voller Optimismus betrat mein Vater das Krankenhaus. Wie hätte es auch anders sein können, Schwäche zeigte er nicht. Wer ihn gut kannte, wusste aber, dass er Angst hatte. Dritter Stock letztes Zimmer auf der linken Seite. Ein Zweibettzimmer, hell gestrichen, gelbe Vorgänge, eigenes Bad und Toilette, Telefon, Fernseher und Balkon, ein sehr angenehmer Raum. Mein Vater fühlte sich wohl. Für lange würde er sich ohnehin nicht einrichten müssen. Meine Mutter packte die Taschen aus. Mit Sorgfalt räumte sie seine Sachen in den Schrank. Dabei schüttelte sie mehrfach den Kopf und ließ ihrem Unmut über den wenigen Platz freien Lauf. Sie bemängelte die Temperatur des Zimmers, die große Glasfront zum Balkon, die beschränkte Möglichkeit sich im Bad zu bewegen und das grelle Licht im Zimmer. Sie war unzufrieden. Weder die nach ihrer Meinung zu kleinen Schränke noch einer der anderen Mängel trafen zu. Sie wollte meinen Vater einfach nicht dort lassen. Sie sah sich ihrer Fürsorge für ihn beraubt. Egal, was die nächsten Tage kommen wird, sie musste es ohne ihr Zutun geschehen lassen. Mehr noch, sie hatte Angst. Angst davor, ihren Ehemann zu bringen, ihn von fremden Menschen operieren zu lassen und dann einen anderen Mann zurück zu bekommen. Mit allem, was ihr zur Verfügung steht, hält sie fest, loslassen kann sie nicht. Hatte sie nicht schon zu viel von dem loslassen müssen, was ihre Geborgenheit in Liebe ausmacht? Seit sie denken kann, sehnte sie sich nach dieser Geborgenheit. Nach der Liebe, die ihr die Menschen einer Familie geben. Die ersten Jahre ihres Lebens prägten sie.

Ihre Mutter war eine sehr schöne junge Frau. Behütet durch ein strenges Elternhaus. Während eines Tanzabends lernte sie einen Mann kennen. Die Worte des Mannes und die empfundene Freiheit des Abends raubten ihr die Sinne. Ihr Herz stand in Flammen. Was geschehen musste, geschah. Heute sagen wir ein gelungener one night stand. Für die damalige Zeit unvorstellbar und gegen jegliche Sitte und Ordnung. Meine Großmutter trug sich neun Monate mit schwerem Herzen voller Scham. Von dem Mann hörte sie nichts mehr. Die Mutter meiner Großmutter empfand den Familiennamen ruiniert. Eine junge Frau, schwanger und ohne Mann. Das verfluchte Ergebnis der Begierde hat kein Recht zu leben. Um eine Abtreibung vorzunehmen, war die Schwangerschaft schon zu weit. Sie beschloss die Frucht der Schande sofort wegzugeben. Meine Mutter wurde geboren. Mit dem Namen Maria wurde dies in den öffentlichen Büchern registriert. Danach wurde sie sofort in ein Kloster gebracht. Nonnen sollten sich von da an um sie kümmern. Schon gleich bekam sie den Namen Gudula. Nach Ansicht der Nonnen durfte eine wie sie den Namen Maria nicht tragen. Ein trauriges Mädchen wuchs heran. In ihrem inneren Herzen sehnte sie sich nach einer Mutter und einem Vater. Nach einem warmen und herzlichen Leben in einer Familie. Sie verzehrte sich nach Geborgenheit in Liebe. Wusste sie aber doch, dass sie dies niemals haben wird. Das Leben im Kloster war hart und ohne jegliche Zuneigung. Für alles wurden die Mädchen bestraft. Mit Zucht und Ordnung, wie man das seinerzeit nannte, wurden sie immer daran erinnert, dass sie nicht gewollt waren. Man ließ sie mit dem Blut ihrer Seele dafür bezahlen, was ihre Mütter getan hatten. Viele Jahre wurde meine Mutter fremden Menschen vorgeführt und präsentiert. Keiner dieser entschied sich für sie. Für sie gab es auf der ganzen Welt niemanden, der sie liebt. Als sie acht Jahre war, kam sie zu Pflegeeltern. Wohlgemerkt Pflegeeltern, eine Adoption war ausgeschlossen. Wie man meiner Mutter viele Jahre später einmal sagte, wollte man damit ausschließen, dass sie einen Platz in der Erbfolge findet. Immerhin war sie nicht das eigene Fleisch und Blut. Bis zu ihrem 21. Lebensjahr lebte sie bei ihren Pflegeeltern. Auf ein Leben voller Zwang zum christlichen Glauben schaute sie zurück. Jeder Tag war durch das Wort Gottes bestimmt. Nicht einer verging ohne Gebete und Messen. War sie nicht eine, von der man verlangte, dass sie um Vergebung zu bitten hat. Um Vergebung dafür, welchen Ursprung sie hat. Ob Gott ihr vergeben hat, ist bis heute ungeklärt. Ebenso ist ungeklärt, ob Gott die unter Zwang geforderte Demut gewollt hat. Als Handwerker hatte mein Vater einen Auftrag in der Nachbarschaft der Pflegeeltern angenommen. Meine Mutter lernte meinen Vater kennen. Das Dorf sprach über diese Unsitte. Nicht, dass mein Vater als Mann das Thema war. Viel mehr war man darüber aufgebracht, dass er eine andere, falsche Konfession hat. Mein Vater gehörte dem evangelischen Glauben an. Unvorstellbar für die Gemeinde. Die Pflegemutter meiner Mutter sah keinen anderen Ausweg als die Beichte und die damit verbundene Bitte um Vergebung vor dem Herrn. Was anderes als dem nachzugeben, hätte meine Mutter tun sollen? Meine Mutter vollzog die Beichte ohne meinen Vater zu erwähnen. Am Ende der Beichte sprach der Pfarrer meine Mutter direkt auf ihre Sünde an. Hier war wohl der richtige Moment gekommen. Meine Mutter teilte dem Pfarrer mit, dass ihn dies in keinster Weise zu interessieren hätte und sie nicht im Geringsten daran denken würde für die Liebe zu diesem Mann um Vergebung zu bitten. Sie verzichtete auf den Segen, stand auf und verließ die Kirche. Nicht nur das, noch am selben Tag verließ sie das Dorf, in welchem sie die letzten dreizehn Jahre lebte. Sie ging als die, als die sie auch gekommen war. Sie ging als Fremde.

»Mutter, nun mache mal langsam. Du musst den Vater nicht weggeben. Er wird an der Prostata operiert. Diese Operation kann nicht zu Hause vorgenommen werden.«

»Ach, es ist doch wahr. Wer soll sich denn hier um ihn kümmern?«

Ihre Worte waren voller Resignation.

»Schaue mal, wir sind in einem Krankenhaus. Hier wird sich um die Patienten gekümmert. Wer sonst, als die Menschen hier kann das besser. Sei mal ein bisschen zuversichtlicher, sonst hat der Vater auch keine Lust mehr und wir müssen ihn gleich wieder mitnehmen.«

»Das wäre mir am liebsten. Ich habe ein schlechtes Gefühl.«

»Jetzt ist aber mal Schluss. Die Operation steht an. Sie wird vorgenommen. Spätestens morgen Abend wirst du dies ebenso sehen.«

Mit dem Versprechen an meinen Vater, ihn gleich anzurufen, verabschiedete sich meine Mutter von ihm. Tränen standen in ihren Augen. Dies war einer dieser besonderen Momente. Meine Eltern überschütteten sich nie mit übertriebenen Liebesbekundungen. Für beide stand fest, dass dem nicht sein muss, wenn man sich der Liebe für den anderen und des anderen sicher sein kann. An dieser Sicherheit gab es bei meinen Eltern nie einen Moment des Zweifels. Eigentlich ein schönes Paar. Meine Mutter suchte nach einem Mann wie ihm. Mein Vater war glücklich eine Frau wie sie gefunden zu haben. Sie ergänzten sich in sehr vielen Dingen. Jeder akzeptierte den anderen wie er ist. Gegenseitig überließen sie sich die jeweilige Aufgabe. Grundsätzliches entschieden sie gemeinsam. Wenn auch einer der beiden dem anderen den Weg dazu manches Mal ebnete. Nicht immer waren sie in allen Dingen einer Meinung. Fanden aber im Ergebnis immer eine gemeinsame Basis.

Ich stand neben ihnen und lächelte. Einen leicht gereizten Blick erntete ich dafür von meiner Mutter. Als sie mich anschaute, blinzelte mein Vater mir zu, machte einen Schmollmund und schüttelte leicht den Kopf. Seine ganz eigene Art zu sagen, »Lass’ sie mal, das wird schon wieder«. Ich lachte, mein Vater lachte, meine Mutter ebenso. Wir gingen.

Die Operation verlief sehr gut. Meine Mutter und ich erkundigten uns beim diensthabenden Arzt. Genau so, wie es Professor D. befunden hatte, musste die Prostata meines Vaters geschält werden. Er erklärte uns in verständlichen Worten, was alles gemacht wurde und was für die nächsten Tage ansteht. Wir verspürten eine Zufriedenheit. Professor D. war an den nächsten zwei Tagen nicht zu erreichen. Er war zu einer Tagung gefahren. Sobald er zurück sein wird, würde er sich mit uns in Verbindung setzen. Diese Aussage verwunderte uns nicht. Nach dem Gespräch gingen wir zu meinem Vater. Er lag in seinem Bett. Seine Augen waren geschlossen. Eine Doppelkanüle war an seiner linken Hand angebracht. Eine weitere Einzelkanüle an seiner rechten. An der Seite seines Bettes hing ein Urinbeutel. Durch einen Katheter floss ein Gemisch aus Urin und Blut hinein. Nicht ungewöhnlich nach einer solchen Operation. Mein Vater vernahm uns. Er öffnete die Augen und blinzelte uns zu. Er versuchte sich ein bisschen aufzurichten. Meine Mutter half ihm. Mit seinen eigenen Worten sagte er uns, dass alles gut gelaufen sei und er jetzt nur noch ein paar Tage bleiben muss. Sobald der Katheter entfernt werden kann, würde er das Krankenhaus verlassen. Zuversicht und Freude waren bei ihm zu erkennen. Meine Mutter war erleichtert. Die nächsten zwei Tage verliefen bestens. Mein Vater erholte sich gut. Die am ersten Tag notwendigen Schläuche waren entfernt worden. Mein Vater fasste sogar den Mut aufzustehen und mit seinem Urinbeutel auf den Gang zu gehen. War es für ihn am ersten Tag noch ein Ding der Unmöglichkeit dies zu tun. Allerdings registrierte er schnell, dass nahezu alle anderen Patienten dieser Station ebenso mit einem Urinbeutel ausgestattet waren. Meine Mutter hatte Torte mitgebracht. Als mein Vater diese sah, verschwand alles um ihn herum. Weder der Urinbeutel, noch die Operation oder das Krankenhaus selbst konnten seine Stimmung jetzt trüben. Ein Stück Buttercremetorte war angesagt. Dazu eine Tasse Kaffee. Was kann es besseres geben.

Am nächsten Tag bekam meine Mutter einen Anruf von Professor D. Er bat uns, meine Mutter und mich, zu einem Gespräch in seine Praxis. Noch am selben Tag sollte das Gespräch stattfinden. Meine Mutter rief mich an.

»Professor D. hat mich angerufen. Er möchte sich mit mir und dir unterhalten. Heute Nachmittag sollen wir zu ihm kommen. Ich bin fix und fertig. Was will er von uns? Garantiert ist etwas Schlimmes passiert.«

»Moment mal. Das weißt du doch gar nicht. Was hat der Professor dir denn gesagt? Ist ein Problem während der Operation aufgetreten? Ist jetzt in der Nachbehandlung etwas eingetreten, was nicht vorhersehbar war? Überlege mal, was genau hat er dir gesagt?«

»Er rief an. Er sagte, dass die Operation gut verlaufen war. Jetzt würde er sich gerne mit uns darüber unterhalten.«

»Also, wie kommst du dann gleich auf das Schlimmste? Nach der Operation war er ein paar Tage auf einem Meeting. Zeit mit uns zu sprechen gab es noch nicht. Vielleicht ist das ganz normal. Wann sollen wir denn bei ihm sein?«

Ich wusste nicht genau, ob ich meine Mutter mit meinen Worten erreichen konnte. Viel mehr verspürte ich eine Ungewissheit in mir. Hatte sie mich mit ihren Worten der Angst mehr erreicht als ich sie mit meinen? Um was würde es in dem Gespräch mit Professor D. gehen? War es der normale Prozess nach einer OP? Wie sollte ich mich darauf vorbereiten? Die Ungewissheit ließ mich nicht mehr los. Ich holte meine Mutter pünktlich ab. Sie war aufgeregt und hätte am liebsten laut geweint. Ich wiederholte meine Worte aus unserem Telefongespräch. Andere wären mir auch nicht eingefallen. Wir betraten die Praxis, meldeten uns am Empfang und warteten bis uns der Professor abholte. Er begrüßte uns freundlich und bat uns ihm zu folgen. Voller Erwartung taten wir das. In seinem Zimmer nahmen wir Platz. Er schloss die Tür und setzte ich zu uns.

»Schön, dass unser Termin so kurzfristig möglich war. Möchten Sie etwas trinken?«

Meine Mutter und ich verneinten. Die Augen meiner Mutter klebten an ihm, folgten jeder Bewegung. Ungeduld zeichnete ihr Gesicht.

»Bitte sagen Sie uns, was los ist. Welches Problem ist aufgetreten?«

Ihre Aufregung war bei diesen Worten zu spüren.

»Wie ich Ihnen schon sagte, verlief die Operation bestens. Die Prostata Ihres Mannes war sehr verengt. Grosse Ablagerungen hatten sich gebildet. Wir mussten ein bisschen mehr abschälen als zuvor befunden. Durch die Prostata verläuft die Harnröhre. In diesem Teil der Harnröhre haben wir einen Knoten festgestellt. Nach den Untersuchungen ergab sich für uns ein abgeschlossenes Karzinom. Die Besonderheit daran ist, es ist sehr aggressiv, schnellwuchernd und bösartig.«

Karzinom und bösartig. Das waren die Worte, welche weder meine Mutter noch ich hören wollten. Mit allem hätten wir gerechnet, damit nicht. Keine, auch noch so kleine Schwingung in unseren Gedanken, wäre in diese Richtung gegangen. Mein Vater hat Krebs. Dieses Wort raste durch meinen Kopf. Und manifestierte sich irrsinnig tief in meinem Inneren. Meine Mutter saß neben mir mit einem Blick voller »Das kann nicht sein« schaute sie Professor D. an. Sie schüttelte ihren Kopf als wollte sie die Worte noch einmal sortieren, die eben zu ihr kamen.

»Sie müssen sich irren. Mein Mann ist wegen seiner Prostata hier und operiert worden.«

Tränen stiegen in ihre Augen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte in Fassungslosigkeit. Ihr Blick war voller Hoffnung mit dem Schatten der Hilflosigkeit. Beide schauten wir zu Professor D.

»Nein, es tut mir leid. Ihr Mann hat Krebs. Diese Art des Krebses ist relativ unbekannt. Über wenig Kenntnis verfügt die Medizin darin. Wie gesagt, es handelt sich um eine sehr aggressive, schnellwuchernde und bösartige Art. Es tut mir leid, Ihr Mann hat Krebs.«

Meine Mutter konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie ließ ihrer Betroffenheit freien Lauf. So, wie in diesem Moment habe ich sie bis zu diesem Tag lediglich nur einmal erlebt. Aufgelöst in Tränen der Bestürzung und Verzweiflung saß sie da. Dies war vor knapp 20 Jahren. Damals kamen meine Eltern nachts aus dem Krankenhaus zurück und kämpften mit dem, was ihnen der Arzt nur kurz zuvor mitgeteilt hatte. Mein Bruder war in dieser Nacht verstorben. Sah sie sich nun wieder konfrontiert mit dem Verlust eines Menschen? Überging sie das, was uns Professor D. eben sagte und sah sie schon in diesem Moment die Letztendlichkeit dieser Krankheit? Ihre Augen fokussierten mich. Die Tränen liefen auf Ihren Wangen herunter.

»Warum muss das sein? Dein Vater ist ein so liebevoller Mensch. Er hat noch nie etwas Böses getan. Alle kommen so gut mit ihm aus. Wieso muss er das haben?«

»Mutter, darum geht es nicht. Was du als »das« bezeichnest, heißt Krebs. Es ist eine Krankheit. Mein Vater, Dein Mann hat Krebs. Jetzt müssen wir sehen, was wir tun können. Die Frage nach der Gerechtigkeit wird dir keiner beantworten. Bei einer Krankheit sollte diese Frage sowieso nicht gestellt werden«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Verzweiflung schwächte sie.

»Dein Vater, mein Ehemann wird sterben. Muss ich denn schon wieder einen Menschen verlieren? Womit habe ich das verdient?«

»Du denkst bereits jetzt über seinen Tod nach. Jetzt schon betreibst du Trauerarbeit. Du, wir haben noch nichts verloren. Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Du hast das Recht zu weinen. Du sollst weinen, das ist gut. Trauern brauchst du noch nicht. Erst müssen wir sehen, was wir tun können. Wenn es irgendwann soweit ist, dass der Vater sterben wird, dann kannst du trauern. Nicht nur du, alle werden wir dann trauern. Doch jetzt ist effektiv nicht die richtige Zeit.«

Professor D. schaute mich voller Bewunderung an. Was genau hatte ich gesagt, was ihn dies tun ließ? Hatte ich etwas Falsches aufgenommen oder wiedergegeben? War es mir nicht selbst zum weinen. Am liebsten hätte ich laut geschrieen? Meinen Tränen freien Lauf gelassen.

»Ihr Sohn hat Recht. Momentan überwältigt Sie das alles. Es ist nicht einfach einen Befund wie diesen zu bekommen. Sie müssen es annehmen. Nachdem wir das Karzinom gefunden haben, müssen wir überlegen, welche die richtige Behandlung ist. Die Art dieses Krebses ist recht selten. Viele medizinische Erkenntnisse darüber gibt es leider noch nicht. Was allerdings nicht heißt, dass wir gar nichts tun können. Mit Ihrem Mann habe ich bereits gesprochen. Ich denke, Sie sollten jetzt zu ihm gehen und wir sehen uns die nächsten Tage um alles weitere zu besprechen. Seinen Aufenthalt werde ich um zwei Tage verlängern. Diese Zeit benötigen wir, um noch eine weitere Untersuchung vorzunehmen.«

Meine Mutter schaute zu Boden. Sie schüttelte ihren Kopf. Diesen Gedanken wollte sie einfach wieder loswerden. Was ging in diesem Moment in ihr vor? Professor D. verabschiedete uns. Sein Blick war verständnisvoll und empfindend zugleich. Wir standen am Aufzug und warteten bis er kam. Noch nie war mir das Warten so lange vorgekommen wie in diesem Moment. Meine Mutter war absolut in sich gekehrt. Ich legte meinen Arm um sie.

»Was soll ich nur ohne deinen Vater machen? Wie soll das alles weitergehen?«

»Diese Gedanken brauchst du dir jetzt noch nicht machen. Wir müssen erst einmal sehen, was Professor D. an Behandlungsmethoden aufzeigen kann. Die Medizin ist heute schon recht weit auf dem Gebiet des Krebses. Ich gehe davon aus, dass er einen Weg, eine Behandlung finden wird. Mache dir jetzt nicht zu viele Gedanken.«

»Dieser Krebs ist selten, hat er gesagt. Was soll er da an Möglichkeiten finden?«

»Diese Form des Krebses ist selten, das ist richtig. Darüber hinaus aggressiv und schnellwachsend. Vom Grundsatz ist es aber Krebs. Das heißt, es kann keine Symptombehandlung geben. Es muss an der Basis etwas getan werden. Weder du noch ich verfügen über ein umfassendes Wissen in diesem Thema. Wir müssen uns auf das verlassen, was uns die Ärzte sagen. Wenn wir jetzt zum Vater kommen, schauen wir erst einmal, was er sagt, und wie er reagiert.«

»Was soll er denn sagen. Er ist ebenso geschockt wie wir auch.«

»Eben, damit hast du Recht. Auf was es jetzt ankommt, ist das Wir. Nicht nur ich, du, er oder sie. Das Wir ist die richtige Einstellung. Wir schaffen das. Habe ein bisschen Hoffnung.«

Meine Mutter schaute fragend zu mir.

»Wie soll die uns denn helfen? Bisher hat sie mir noch nie etwas gebracht. Hoffnung, mit so einem Mist kann ich nichts anfangen.«

Damit war unser Gespräch beendet. Wir kamen aus dem Aufzug. Der lange Gang der Station lag vor uns. Ich erkannte meinen Vater am Ende dessen, vor seiner Tür. Auch er sah uns. Mit schweren Schritten gingen wir aufeinander zu.

Ohne viele Worte sahen wir uns an. Mein Vater wirkte hilflos. Meine Mutter war gefasst. Einen ganzen Moment hielten wir inne. Keiner von uns hatte gewusst, was er sagen soll. Mein Vater eröffnete das Gespräch.

»Es wird schon wieder. Macht euch mal keine Gedanken.«

Meine Mutter brach in Tränen aus.

Die zwei nächsten Tage wurden verschiedene Gespräche mit Professor D. geführt. Er zeigte uns auf, welche Behandlungsalternativen gegeben sind. Die Informationen waren umfangreich. Die jeweiligen Für und Wider fanden ebenso ihren Platz darin wie die Darstellung des medizinischen Hintergrundes. Immer wieder stießen wir an die Grenzen unserer Auffassungsgabe. Doch wollten wir nie das Gefühl haben etwas nicht gesagt bekommen zu haben bzw. etwas an Wissen missen zu müssen. Wir hörten zu. Wir nahmen alles auf, was uns über die Krankheit erzählt wurde. Sie drang so plötzlich in unser Leben ein. Völlig unvorbereitet mussten wir uns mit ihr auseinander setzen. Gerne hätten wir darauf verzichtet. Doch was anderes als sie kennen lernen sollten wir tun? Je besser man sie kennt, umso besser sehen wir auch ihre Schwächen. Jede dieser wollten wir zu unserem Vorteil nutzen. Dieser Vorteil für meinen Vater und uns war nur temporär zu sehen. Darüber waren wir uns im Klaren. Auch heute noch sind wir dankbar dafür, dass mit uns in klaren Aussagen kommuniziert wurde. Diese Art des Krebses, wie sie sich bei meinem Vater darstellte, war nicht zu besiegen. Alles, was angewandt werden würde, konnte diesen Krebs und seine Auswirkungen nicht heilen. Bewusst dieser Tatsache war uns von Anfang an klar, dass wir Abschied nehmen müssen.

Zwei Tage später wurde mein Vater aus der Klinik entlassen. Diesem Tag fieberte er seit seiner Ankunft entgegen. Nun war er da. Geprägt durch die Geschehnisse der letzten Tage fiel ihm das Verlassen der Klinik nicht einfach. Ein Wandel in seiner Empfindung war eingetreten. Empfand er ein Krankenhaus doch immer als Gefängnis, wollte er diesem jetzt nicht den Rücken kehren. Was würde ihn außerhalb dieses Schutzes erwarten. Er erzählte mir aus seiner Kindheit.

Sobald die Aufklärungsflugzeuge am Himmel zu erkennen waren, mussten sie in den Keller. Einen Bunker gab es nicht in der Nähe seines Elternhauses. Bei einer Tante mussten sie Unterschlupf finden. Ihr Haus befand sich nur einige Meter über die Strasse. Jedes Mal, wenn er die Kellertreppen hinunter steigen musste, befiel ihn eine Beklemmung. Ihm wurde bewusst, dass er dort nun wieder viele Stunden verbringen musste. Abgeschlossen von der Außenwelt, seiner Welt, in der er lebte. Würde er danach noch in ihr leben können? Was würde in diesen Stunden alles geschehen? Werden sie den Bombenangriff überstehen? Konnten sich alle seiner Familie, Freunde, Klassenkameraden und Klassenkameradinnen oder die Nachbarn ebenfalls in Sicherheit bringen? Hatten alle genug Zeit dazu? Welche Veränderungen werden sich einstellen? Werden sie, wird er, damit leben können? Immer und immer wieder brannte diese Angst in seiner Seele. Sobald sie den Keller wieder verlassen konnten, wäre er gerne geblieben. Hatte er ihm doch in den letzten Stunden die Sicherheit gegeben, die ihm draußen fehlen würde. Was sollte ihn nun mit seinen dicken Wänden schützen? Die Kriegsjahre waren seine Kindheit. Jahre in denen ein Mensch lernt zu leben. Die ihn vorbereiten auf das, was seine Aufgabe ist. Unbeschwerte Jahre sollten diese sein. Seine Erinnerungen daran sind überschattet von der allgegenwärtigen Angst in dieser Zeit. Angst davor, ob es ein Morgen geben wird.

Zum ersten Mal erzählte mein Vater in so vielen Worten davon. Ich hörte aufmerksam zu. Was zog mich in den Bann? Zum ersten Mal spürte ich das Gefühl, welches in seinen Worten lag. Waren es also doch nicht nur die lustigen Geschichten, die zu Geburtstagsfeiern über diese Zeit berichteten. Waren diese Erlebnisse ganz tief in ihrer Art. Meine Anschauung dieser Zeit begann sich aufzuklaren. Der Schleier der personifizierten Tapferkeit löste sich auf. Die Hauptdarsteller der Erzählungen bekamen ein Gesicht. Sie wurden mit Empfindungen ausgestattet. Die Worte meines Vaters gaben jedem Einzelnen etwas Besonderes. Sie verliehen ihnen Leben. Ein Leben, um welches sie Angst hatten, es zu verlieren. Dafür lohnte sich die Tapferkeit der Menschen, der Alten, der Jungen und der Kinder.

Wollte mein Vater mir damit sagen, dass er Angst hat? Genau dies wollte er. Ganz in seinen eigenen Worten teilte er mir dieses mit. Und ich verstand ihn.

Wir verließen die Klinik. Mit Professor D. hatten wir uns vereinbart. Mein Vater wird ihm innerhalb der nächsten Tage seine Entscheidung über die aufgezeigten Behandlungen mitteilen. Genug Informationen über die jeweiligen Prozesse hatten wir.

Noch einmal möchte ich betonen, mit wie viel Ausdauer Professor D. meinen Vater, meine Mutter und mich in dieser Zeit begleitet hat. Immer und immer wieder stand er zur Verfügung, wenn neue Fragen auftauchten. In all den fachlichen und medizinischen Gesprächen stand er als ruhender Pol. Zu keiner Zeit hätte man je das Gefühl gehabt, sich in einem Patientenraster zu befinden. Natürlich erwartet man dies von einem behandelnden Arzt. Ganz besonders in Zeiten wie diesen. Doch sein Invest war einfach mehr. Es war Menschlichkeit.

Eben hatten wir das Stadtschild passiert. Noch wenige Minuten und wir waren wieder zu Hause. Mein Vater schaute aus dem Seitenfenster. Sein Blick suchte. Selbst wenn es nur wenige Tage waren, die man weg war, sucht man immer nach Veränderungen, die in dieser Zeit stattgefunden haben. Auf eine wortlose Frage, folgt eine wortlose Antwort.

Irgendwie wollte ich ihn erreichen.

»Und, hat sich nichts verändert. Alles noch so, wie du es verlassen hast. Es ist doch immer wieder schön, wenn man nach Hause kommt.«

»Ja, ich bin froh wieder hier zu sein. Getan hat sich nichts. Alles noch so, wie es war. Nein, nicht alles. Innerhalb weniger Tage hat sich mein Leben komplett verändert. Sehen kann man dies nicht. Zu spüren ist es umso mehr. Was soll ich nur machen? Wie werde ich mich entscheiden? Würde ich doch nur wissen, wie es richtig ist.«

Diese Fragen kamen mehr rhetorisch. Beantwortet wollten sie in diesem Moment nicht sein. Er blickte weiter aus dem Fenster. Meine Mutter schaute ohne jedes Wort zu ihm. Eine Stille trat ein. Keiner von uns hätte diese unterbrechen wollen.

Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab.

»So, da sind wir. Geht ihr schon einmal vor. Ich komme mit dem Gepäck nach.«

Kaum, dass mein Vater wieder zu Hause war, klingelte das Telefon. Wenn mein Vater eines nicht gerne machte, dann war es ans Telefon zu gehen. Warum auch immer, wenn es klingelte, rief er nach meiner Mutter. Zum einen, weil die Gespräche für sein Befinden immer für meine Mutter waren. Zum anderen wohl, weil er der Bellschen Erfindung nicht traute. Jahrelang konnte ich dies nicht nachvollziehen. Irgendwann war mein Spürsinn so geschärft, dass es mir auffiel, auch in anderen Familien ist dies so. Scheinbar eine väterliche Antihaltung zur Telekommunikation. Wie gesagt, kaum war er angekommen klingelte das Telefon. Schon der erste Anrufer wollte sich erkundigen, wie es ihm geht. Zwei Dinge trafen aufeinander. Zum einen das Telefonieren, zum anderen offen über die Geschehnisse der letzten Tage sprechen. Schon nach dem ersten Gespräch bat mein Vater meine Mutter die Gespräche entgegenzunehmen und ihn zu entschuldigen, er würde schlafen. Diese Haltung gegenüber seiner Krankheit war mir an meinem Vater bereits im Krankenhaus aufgefallen. Nur schwer kamen seine Besucher bei ihm auf das Thema Krebs. Er war zu einer Prostata-Operation im Krankenhaus und fertig. Viele Worte brauchte mein Vater ohnehin nicht über seine Krankheit. Für ihn war es mehr eine Ehrbekundung einen Menschen im Krankenhaus zu besuchen als eine Informationsveranstaltung. Langsam drängte sich mir allerdings der Verdacht auf, dass er beginnt vor der Krankheit zu fliehen. Stand für ihn fest, wenn ich mich damit nicht auseinandersetze, dann habe ich es auch nicht? Selbst in den Gesprächen mit Professor D. verhielt er sich introvertiert. Meist übergab er meiner Mutter und mir das Wort. Damit will ich nicht sagen, dass er sich der Krankheit gegenüber verschlossen hatte. Vielmehr wollte er sich nicht aktiv damit befassen. War dies seine Art sich mit etwas vertraut zu machen? Lag ihm die Rolle des reagierenden Menschen eher als die des agierenden?

Solange ich auch in meine Vergangenheit als Sohn meiner Eltern zurückschaue, ein anderes Bild gewinne ich nicht von meinem Vater. Zwar wusste er immer genau, was er will und welche Entscheidung zu treffen ist. Doch ließ er meine Mutter immer die Entscheidung treffen und die entsprechende Umsetzung vornehmen. Sein wichtigstes Empfinden dabei war seine Zufriedenheit. Hier lässt sich die Frage nicht umgehen, ob er ein egoistischer Mensch gewesen ist. Dies war er nicht. Nur seine eigenen Vorteile, hätte er nie in den absoluten Vordergrund geschoben. Der einfache Weg war für ihn der angenehmste. Vielen Dingen ging mein Vater ohne großen Aufwand aus dem Weg. Nicht nur das, er ging ihnen auch gerne aus dem Weg. Im Laufe der Jahre erkannte ich, dass mein Vater doch Entscheidungen trifft. Er entschied, nicht zu entscheiden. Bei meiner Mutter, also der Frau, mit der er sein Leben lebt, konnte er sich darauf verlassen, dass sie seine Belange in jeder Entscheidung berücksichtigt. Für mich ein Grundprinzip, welches Achtung verdient. Denn uns ist allen klar, wenn ich etwas abgebe, darf ich mich nicht darüber ärgern, dass ich es nicht mehr habe. Doch genau darin haben wir Menschen unser Problem. So lange wie möglich wollen wir nichts aus der Hand geben. So aktiv wie es nur irgend geht, wollen wir an allem teilhaben. Gehen wir nicht grundsätzlich davon aus, dass nur wir alleine alles richtig machen. Wir nur darin unsere Zufriedenheit finden. Etwas abzugeben um andere etwas zu Ende führen zu lassen, ist nicht so einfach für uns. Mein Vater gab ab und vertraute in das Ziel. Auch wenn er sich manches Mal mit dem Ergebnis arrangieren musste, wusste er doch, es war richtig entschieden. Eine doch beneidenswerte aber viel zu seltene Art, über die wir Menschen verfügen.

Abends saßen wir zusammen beim Abendessen.

»Hier schmeckt das Essen wenigstens. Im Krankenhaus hatte ich oft das Gefühl, immer das gleiche Essen zu bekommen. Nicht, dass es schlecht gewesen wäre. Es schmeckte nur immer alles gleich.«

»Kann ich mir gut vorstellen. Als ich deinen Speiseplan gesehen habe, konnte da auch nichts von schmecken.«

»Jetzt macht aber mal langsam. Keiner kocht so gut wie Mutter, das ist ja klar. Und keiner hat so sensible Geschmacksnerven wie der Vater.«, gab ich mit dementsprechend lustigen Unterton von mir.

Ich hoffte, dass dies die schwere Stimmung etwas auflockern kann, die seit Stunden herrschte. Seit wir an diesem Vormittag zurück waren, wurde das Thema »Wie geht es weiter?« nicht mehr in Angriff genommen. Unvorstellbar für mich, dass man sich so zurückziehen kann. Ich sollte wohl eines Besseren belehrt werden. Dinge treten in unser Leben. Sie wollen nicht nur registriert werden. Sie fordern nach Erledigung. Um dies zu können, muss man sich im Vorfeld mit ihnen auseinandersetzen. Nur so kann man einen Weg finden. Verschweigen ist immer eine sehr ungute Vorgehensweise und bringt einen keinen Schritt weiter.

»Vater, was hast du dir denn überlegt? Konntest du dich mit einer der vorgeschlagenen Behandlungen anfreunden? Anfreunden, ein blödes Wort, ich weiß. Du weißt aber, wie ich das meine. Natürlich sollst du Zeit haben, um zu entscheiden. Doch vergesse bitte nicht, damit anzufangen.«

»Jetzt lasse mich doch hier erst einmal wieder ankommen. Professor D. sagte doch, dass ich mir die Zeit nehmen soll, um zu überlegen. Wenn das die nächsten Tage so weitergehen wird wie heute, dann komme ich nie dazu mir Gedanken zu machen. Alle haben Tipps und Ratschläge. Jeder meint es nur gut mit dem was er sagt. Doch keiner von ihnen hat aktuell diese Krankheit.«

Meine Mutter unterlegte die Worte meines Vaters mit einem vorwurfsvollen Blick an mich.

»Du brauchst mich nicht so anzuschauen. Du weißt, dass ich Recht habe und uns nicht unbegrenzte Zeit zur Verfügung steht.«

»Wie soll dein Vater denn eine Entscheidung treffen, wenn er den ganzen Tag nicht zur Ruhe kommt? Selbst jetzt beim Essen reden wir wieder darüber.«

»Genau jetzt haben wir die Zeit dazu. Wir werden in den nächsten Tagen sehr viel darüber reden. Der Krebs ist Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir müssen ihn akzeptieren. Erst wenn wir dies getan haben, erkennen wir ihn an. Es ist nicht nur eine Krankheit. Nichts, was man mit ein paar Tabletten erledigen kann. Ich möchte nur noch einmal ganz klar sagen, es ist eine seltene, aggressive und schnell wuchernde Art des Krebses. Entweder wir beginnen ihn zu bekämpfen oder er überrennt uns. Es gehört zu den Gesetzen der Natur. Wir Menschen sind einfach zu gering um mit der Natur zu spielen. Mein Vater, dein Mann hat Krebs. Dieser Mensch gehört zu uns. Seine Krankheit ebenfalls. Sie ist keine, die nur die jeweilige Person betrifft. Krebs ist eine Familienkrankheit. Wir alle sind daran beteiligt und haben damit zu tun. Lasst uns endlich beginnen unser erworbenes Wissen umzusetzen. Wir sind stark genug.«

Meine Worte saßen. Sie schauten mich an. Meine Mutter begann zu weinen. Die Augen meines Vaters sprachen von Hilflosigkeit.

»Was soll ich denn tun? Hier komme ich nicht zur Ruhe. Schon im Krankhaus gab es nur noch dieses Thema. Jeder der anruft, fragt danach. Wenn ich mal wieder raus gehe, werden mich alle ansprechen. Wie soll ich denn da einen Gedanken finden, wenn ich immer nur über alles berichten muss?«

»Ich mache euch einen Vorschlag. Sobald keine Nachbehandlung zur Prostata-Operation stattfinden muss und Professor D. keine Bedenken hat, fliegt ihr mit mir nach Florida zurück. Dort seid ihr weit weg von hier, raus aus dem täglichen Umfeld. Wir können den ganzen Tag am Strand sitzen. Vater kann in Ruhe nachdenken. Wenn er reden will, sind wir da. Es ist dort niemand, der dir ständig reinreden wird, unaufgefordert Tipps gibt oder nur seinen Senf zu allem beitragen will. Ganz in Ruhe lassen wir es angehen. Sobald der Vater eine Entscheidung getroffen hat, sagt er es uns. Wir packen die Koffer und kommen wieder zurück. Dann haben er und wir einen klaren Weg vor Augen. Wir alle sind danach gefestigt und können uns voll auf die neuen Aufgaben konzentrieren. Das ist keine Flucht. Wir und besonders der Vater brauchen Ruhe. Dort haben wir sie.«

Die Idee war platziert. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass sie entsprechend meinen Erwartungen ankommen würde. Erst sagte keiner etwas, dann sprachen alle gleichzeitig. Meine Mutter warf ein, dass dies nicht gehen würde. Immerhin wäre der Vater krank und hätte eine Operation eben erst hinter sich. Außerdem denke sie, dass Professor D. einer solchen Reise nie zustimmen würde. Ihre letzte Aussage zeigte mir aber schon, dass sie sich bereits mit dem Gedanken angefreundet hatte. Mein Vater meinte nur, dass dort schönes Wetter sei und er gerne ins Roadhouse und zum China-Buffet gehen würde.

Ich war etwas überrascht.

Meine Mutter, da konnte ich mir sicher sein, musste erst einmal etwas dagegen haben. Bei ihr regiert immer erst eine ablehnende Haltung. Sie warf sofort ein, dass Professor D. etwas gegen diese Reise haben könnte. Ihre indirekte Zustimmung war also da. Nur noch anderes könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen. Dass mein Vater weniger über den langen Flug zu schimpfen hatte, als sich mehr auf das Steakhaus und das China-Buffet zu freuen, war seine Zustimmung schlechthin.

War ich mir der Verantwortung bewusst?

Ich erinnerte mich an ein paar Zeilen die ich kurz zuvor gelesen hatte.

Wenn unser Leben unbeschwert ist und alles reibungslos läuft, dann können wir uns leicht etwas vormachen. Wenn wir jedoch wirklich verzweifelten und ausweglosen Situationen gegenüberstehen, gibt es keine Zeit mehr für Heucheleien, und wir müssen uns mit der Wirklichkeit auseinander setzen. Schwierige Zeiten lassen uns Entschlossenheit und innere Stärke entwickeln. Durch sie können wir auch dahin gelangen, die Nutzlosigkeit von Ärger anzuerkennen. Anstatt zornig zu werden, können wir eine tiefe Fürsorge und Respekt für solche Unruhestifter in uns hegen, da sie uns, indem sie unangenehme Umstände schaffen, unschätzbare Gelegenheiten liefern, uns in Geduld und Toleranz zu üben.

Im Allgemeinen war das Leben meines Vaters bisher reibungslos verlaufen. Tief einschneidende Ereignisse hatte er erleben müssen. Die meiste Zeit seines Lebens jedoch hatte er unbeschwert verbringen können. Ohne ihm das Recht auf Empfindung jedes einzelnen Lebensabschnittes abzusprechen, war er nicht auch jemand, der den gegebenen Raum nutzte, um die Dinge etwas anders zu sehen. Sich etwas vormachen, hat immer eine etwas negative Aussage. Doch betrachten wir nicht manches Mal die Dinge so, wie wir sie vor unserem Auge gerne sehen würden? Eine ganz individuelle Eigentherapie. Dies gelingt nicht immer. Das wissen wir alle. Stehen wir Situationen gegenüber, die für uns nicht zu meistern scheinen, müssen wir aktiv werden. Verträumen können wir nichts mehr. Wir setzen uns damit auseinander. Richtig, denn nur dann haben wir eine Chance sie kennen zu lernen. Wir schaffen eine Gleichheit der Kräfte. Unsere innere Stärke wächst. In ihr finden wir Entschlossenheit. In ihr erkennen wir die Zeit, die wir für andere Empfindungen investiert haben. Wir erkennen die Nutzlosigkeit in dieses Invest. Wir erkennen aber auch etwas sehr viel Wertvolleres. Wir nehmen unsere Empfindungen an. Wir verschieben die Mächte. In der neuen Konstellation finden wir Toleranz. In der Toleranz finden wir Geduld. Eine der Stärken, über die wir Menschen verfügen.

Am nächsten Tag sprach ich mit Professor D. Nachdem ich ihm meine Sicht der Dinge aufzeigte, bat ich ihn um seine Meinung zu unserem Vorhaben. Er fragte mich, wie ich zu meiner Sicht der Dinge gekommen sei. Mit meinen ganz eigenen Worten sprach ich von meinen ganz eigenen Empfindungen. Er hörte mir aufmerksam mit. Mit nicht einem Wort oder einer Geste unterbrach er mich darin. Nach einem Moment des Überlegens stimmte er dem Vorhaben zu. Ich war zufrieden. Dies sah er mir an. Er fragte mich, ob er mir eine Frage stellen dürfte. Ich bejahte dies.

»Die Anamnese Ihres Vaters ist mir bekannt. Darin gibt es den Punkt zu Krebskrankheiten in der Familie. Außer der Information über Ihren Großvater ist dort nichts nachzulesen. Entschuldigen Sie die offene Frage. Wurde auch bei Ihnen schon einmal Krebs befunden?«

Diese Frage war offen und kam direkt an. Mit fragendem Blick antwortete ich.

»Nein, wieso fragen Sie danach? Muss ich mich der Familienhistorie fügen? Sollte ich nach meinem Großvater und meinem Vater ebenfalls damit rechnen?«

»Nein, nein, keine Angst. Das wollte ich damit nicht gesagt haben. Als Sie mir eben Ihre Sicht der Dinge geschildert haben, verwunderte mich dies in positiver Weise. Weder eine Verleumdung des Krebses noch die geringste Ablehnung dessen war zu erkennen. Mit keinem Ihrer Worte ignorierten Sie ihn. Nicht einmal die Frage nach dem Warum haben Sie gestellt. Natürlich sind Sie nicht die betroffene Person. Aus meinen bisherigen Erfahrungen in vergleichbaren Fällen, habe ich noch nie jemanden wie Sie kennen gelernt. Für Sie ist der Krebs Ihres Vaters kein Feind. Sie sehen ihn als Fakt. Als eine Sache, die keine Daseinsberechtigung hat. Sie konzentrieren sich auf Ihren Vater. Für Sie gilt es seine Stärke aufzubauen. Das alleine wird ihn in die Lage versetzen die richtige Entscheidung zu treffen. Sie geben ihm Raum.«

»Raum ist das richtige Wort. Für mich stehen die Worte Raum und Leben im Zusammenhang. Ich versuche meinem Vater zu zeigen, dass sein Lebensraum noch vorhanden ist. Nach dem Befund fühlte er sich um diesen beraubt. Dem ist nicht so. Solange wir leben, müssen wir das Leben auch erfüllen. Nur dann können wir empfinden, realistisch betrachten, abwägen und Entscheidungen treffen. Jeder von uns hat schon einmal situationsbedingt gelogen. Dazu haben wir das Recht. Sowieso, wenn es vertretbar ist. Nur in einem, können wir Menschen nicht lügen. Immer dann, wenn wir eine Entscheidung treffen. Zum Angehen einer jeden Situation treffen wir Entscheidungen. Sehr oft, merken wir das schon gar nicht mehr. Bei großen Entscheidungen brauchen wir die entsprechende Zeit, Geduld und Ruhe. Ist es uns nicht möglich, diese zu finden, müssen wir etwas verändern. Veränderungen sollten wir grundsätzlich vornehmen. Mein Vater wird momentan von allen Seiten mit dem Thema Krebs konfrontiert. Was gestern noch nur in der Nachbarschaft oder bei Bekannten von Bekannten Realität war, ist heute in sein Haus eingezogen. So nah ist es gekommen, dass man es quasi spüren und riechen kann. Er selbst hat ihn noch lange nicht angenommen. Das Wissen, er hat Krebs ist ihm noch fremd. Er braucht Zeit und Ruhe. Er muss vom täglichen Umfeld Abstand nehmen. Nur dann kann er die Geduld finden um ihn kennen zu lernen. Wie Sie sagen, der Krebs ist kein Feind. Er ist eine Tatsache, die beseitigt werden kann. Aus medizinischer Sicht haben Sie uns alles an Informationen gegeben, was möglich ist. Darüber macht mein Vater sich keine Gedanken mehr. Was er noch muss, ist den Krebs akzeptieren. Dann wird er Zufriedenheit mit sich selbst finden. Aus dieser Zufriedenheit speist sich die Kraft, die er jetzt benötigt. Oder ganz simpel gesagt, an was wir halbherzig gehen, wird uns nicht wirklich gelingen.«

»Erstaunlich. Nicht nur in ihren Worten sagen Sie das. Auch Ihr Ausdruck und Ihr Gesicht lassen erkennen, dass Sie es so meinen. Trotz der Tatsache, dass dieser Krebs nicht zu besiegen ist, geben Sie nicht auf. Wunderbar.«

»Danke. In einem unserer ersten Gespräche sagten Sie, dass wir von Fall zu Fall leben müssen. Wie lange die Zeit dazwischen sein wird, ist nicht zu bestimmen. Die Endlichkeit von Allem ist der Tod. Das war sehr ehrlich und richtig. Dies sage ich nicht nur mit meinen Worten. Ebenso empfinden dies mein Vater und meine Mutter. Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.«

»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Informieren Sie mich bitte, sobald Ihr Vater eine Entscheidung getroffen hat. Sollte er dazu meine Hilfe oder meinen Rat benötigen, rufen Sie mich an oder senden Sie mir eine Mail.«

»Vielen Dank. In jedem Fall werde ich Sie darüber informieren, was er entschieden hat.«

Nach diesem Gespräch fühlte ich mich sehr gut. Meine Idee war die richtige gewesen. Mein Vater wird eine Entscheidung treffen. Darin war ich mir sicher.

Die ersten Tage in Florida vergingen. Mit keiner Silbe wurde das Thema Krebs angesprochen. Wie mein Vater mir später einmal sagte, genoss er die ersten Tage. Für ihn hatte es eine befreiende Wirkung, dass so viel Zeit vor ihm lag. Zwar wusste jeder von uns genau, welcher Auftrag zu erledigen war. Doch übten wir uns in Geduld. Ganz ohne Drang sollte eine Entscheidung getroffen werden. Eine Entscheidung trifft sich vermeintlich einfacher, wenn man das Drumherum mit angenehmen Dingen gestaltet. Die Tage starteten mit einem leckeren Frühstück. Auf dem Weg zum Meer noch einen Abstecher zu Starbucks. Meist zum Kaffee noch ein Cookie, ein Muffin oder sonst eine Süßigkeit. Am Strand tankten wir nicht nur Licht und Wärme. In unseren Spaziergängen auch Ruhe und Ausgeglichenheit. Der Atlantik um diese Jahreszeit verschafft dem Körper die benötigte Abkühlung. Mit der Zufriedenheit des Tages entschieden wir nachmittags, wie wir uns abends kulinarisch verwöhnen lassen. Mal war es das Steak im Roadhouse, die Chicken Wings bei Hooters, das abwechslungsreiche Buffet beim Chinesen oder wir kochten gemeinsam zu Hause. An einem Tag in der zweiten Woche saß mein Vater gedankenversunken in seinem Stuhl am Strand und blickte auf das Meer. Meine Mutter und ich saßen am Tisch dahinter.

»Heute gefällt mir dein Vater gar nicht. Er ist so ruhig. Was hat er nur? Willst du nicht einmal zu ihm gehen und ihn fragen, was mit ihm ist?«

»Was meinst du wohl, was er haben wird? Seinen Wunsch, eine Entscheidung zu treffen, nimmt er ernst. Damit wird er heute begonnen haben. Gib ihm einfach die Zeit dazu.«

»Vielleicht weiß er nicht, wie er sich entscheiden soll.«

»Und du denkst, dass du ihm die Entscheidung vorsagen kannst? Diese Entscheidung ist einzig und allein vom Vater zu treffen. Will er sich auf dem Weg dahin mit uns unterhalten, dann wird er das aus eigenen Stücken tun. Für dich ist es nicht einfach. Du möchtest nicht loslassen. Aber hier hast du keine andere Wahl.«

»Ich mache mir doch auch meine Gedanken. Es ist zum verrückt werden. Ich hätte nie gedacht, dass die Worte vom Professor D. mich so schnell einholen. Weißt du noch, nach dem ersten Gespräch sagte er doch zu mir, ich wünsche ihnen alles Gute und viel Kraft für die anstehende Zeit.«

»Ich weiß. Und genau dass hat er damit auch gemeint.«

Mit unserem Blick auf meinen Vater und ohne jedes weitere Wort vergingen die nächsten Minuten.

Ich stand auf, nahm einen Vanillejoghurt aus der Kühlbox und ging zu ihm.

»Magst du einen Joghurt? Vitamine kommen bei Kopfarbeit immer ganz gut.«

Mein Vater schaute mich an und grinste. Ein leichter Ausdruck erwischt worden zu sein, legte sich in seinen Blick.

»So du denkst also, ich arbeite mit dem Kopf.«

»Ja, anderes Werkzeug sehe ich im Moment nicht.«

Eine Welle schlug an den Felsen.

»So wie diese Welle auf den Felsen schlug, schlug der Krebs in mein Leben.«

Bei diesen Worten starrte mein Vater auf das Meer hinaus. Über uns zogen fünf Seemöwen. Beide schauten wir nach oben.

»Doch die Gewissheit, dass du Krebs hast, schlug wesentlich heftiger in unser Leben als die Welle an den Felsen. Das Aufbrausen des Meeres ist vergänglich. Was es mit sich bringt, regelt sich von selbst. Gegen den Krebs und seine Beschwerlichkeiten, die er mit sich bringt, muss etwas getan werden. Was getan werden kann, wissen wir. Du siehst die fünf Vögel am Himmel. Sie sind auf der Reise und ziehen weiter. Auch dein Leben ist noch in Bewegung. Wo deine Reise hingehen soll, kannst du entscheiden.«

Meine Hand lag auf seiner Schulter und drückte ihn leicht. Ich gab ihm das Joghurt und ging zu meiner Mutter zurück. Sie schaute mich fragend an. Ich nickte ihr zuversichtlich zu.

An diesem Abend gingen wir in das Roadhouse. Meinen Eltern gefiel es dort sehr gut. Ein ganz typisch amerikanisches Restaurant. Dielenboden, ein großer Holztresen in der Mitte des Raumes, Country Musik und Off Road Bilder an der Wand. Freundliches und serviceorientiertes Personal. Bei den meisten Bedienungen hatte man sofort ein vertrauensvolles Gefühl. Man wusste, das ist Mary Ellen. Eine, die aus vielen Geschichten, die man ihr bereits erzählt hat, das eigene Leben fast besser kennt, als man selbst. Mit einem offenen »Hallo, wie geht’s?« nimmt sie die Speisekarten und die Bestecke in die Hand und bittet einen, ihr zu folgen. Wie immer saßen wir an einem Fensterplatz. Draußen zog ein Gewitter auf. Untypisch für diese Jahreszeit. Doch die Hitze des Tages hatte nichts anderes versprochen.

»Haben wir im Haus alle Fenster zu? Haben wir alles ausgemacht? Sind die Antennenstecker gezogen?«

Meine Mutter stellt immer die gleichen Fragen bei einem aufziehenden Gewitter. Woher diese panische Angst stammt, konnte sie noch nie erklären. Schätzungsweise war ihr das selbst nie bewusst.

»Mache dir mal keine Gedanken. Hier ist alles flach. Durch die Wände des Hauses leitet sich nichts weiter. Und anstatt Antennen sind hier alle verkabelt. Außerdem glaube ich nicht, dass das Gewitter es sich zum Ziel gesetzt hat, uns im Freien übernachten zu lassen.«

»Ich habe halt immer Angst, wenn ein Gewitter aufkommt.«

Mein Vater lächelte.

»Und Vater? Du warst heute so ruhig am Strand. Hast du ein bisschen nachgedacht?«

Meine Mutter schaute erst zu mir und dann zu meinem Vater. Ihre Angst vor dem aufziehenden Gewitter schien der vor den Worten meines Vaters zu weichen. Dachte sie, das Jüngste Gericht würde sprechen? Mein Vater sagte einen kurzen Moment gar nichts. Er räusperte sich.

»Lasst uns erst einmal essen.«

Eine unzufriedene Stille trat ein. Es blitzte hell. Ein lautes Grollen folgte.

»Wie du möchtest«, gab ich ihm zurück.

Meine Mutter zog ihre Augenbraue hoch. Immer ein Zeichen dafür, dass sie mit etwas anderem gerechnet hat.

»Naja, es sind so viele Gedanken in meinem Kopf. Professor D. hat uns so viele Informationen gegeben. All die Therapien, die er vorgeschlagen hat. Was wird die richtige Entscheidung sein?«

»Zum einen besteht die Möglichkeit der Totaloperation. Das heißt in deinem Fall muss ein künstlicher Ausgang gelegt werden. Zum anderen eine Injektion in das Karzinom. Dadurch wird der abgeschlossene Mantel des Gebildes durchstoßen. Oder eine kombinierte Radio-Chemo-Therapie. Das heißt es können alle damit einhergehenden Nebenwirkungen auftreten. Diese Nebenwirkungen sind temporär zu sehen. Die vergleichbar größten Heilungserfolge sind mit der Totaloperation zu erzielen. Die meisten Erfahrungen konnten bisher in einer kombinierten Radio-Chemo-Therapie gewonnen werden. Auf Kenntnisse der Behandlung durch Injektion kann aktuell nicht zurückgegriffen werden. In jedem Fall aber haben alle Methoden einen schulmedizinischen Hintergrund.«

»Also, eine Totaloperation möchte ich nicht. Ich habe keine Lust den Rest meines Lebens mit einem Beutel herum zu laufen. Soll ich denn jedem meine Krankheit offen vor Augen führen? Nein, dieser Gedanke ist mir der Unliebsamste. Die Behandlung durch Injektion kann ich nicht genau nachvollziehen. Keine Ahnung, was da in das Karzinom gespritzt werden soll. Die Chemo-Therapie ist ja eine bekannte Sache. Man hat da schon so viel gehört. Die Haare fallen einem aus. Man ist ständig müde und nimmt so viel ab.«

»Dann bleibt ja gar nichts mehr übrig«, unterbrach meine Mutter ihn.

»Mutter, er hat doch erst mal nur aufgezählt, über was er nachgedacht hat. Das sich der Krebs nicht einfach so auflöst, ist ihm auch klar.«

»Vielleicht muss er auch gar nichts machen. Bei so vielen Männern wurde schon die Prostata operiert. Bisher habe ich bei noch keinem mitbekommen, dass sie dort Krebs gefunden haben. Es kann ja sein, dass dein Vater auch keinen Krebs hat.«

Schönreden. Wieso beginnt sie die Sache schönzureden? Ein Thema, mit dem man sich bisher nicht befassen musste. Ein Befund, der für einen selbst unvorstellbar war. Wir fliehen lieber als dass wir uns damit auseinandersetzen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Realität so ist, wie sie ist. Wir rennen einfach weg. Wie sicher ist aber doch, dass sie uns einholen wird. Wie gerne übergibt man dem Wunsch die Regentschaft über die Gedanken. Wie gerne manipuliert man sich doch selbst. Wie einfach lassen sich Probleme damit lösen. Der Weg des geringsten Widerstandes ist so einfach zu bestreiten. Allerdings können wir auf diesem nicht der Wahrheit einer Sache entkommen. Real existierenden Dingen können wir nur real gegenüber treten. Doch die Hoffnung stirbt zum Schluss. Meine Mutter ist ein Mensch, der nicht die Konfrontation scheut. Hier stößt sie an ihre Grenzen. Das ist ihr bewusst. Sie ist hilflos.

Ich schaute sie an.

»Wäre dem nur so. Nichts hätte ich im Moment lieber an Wissen als das. Wir können den Befund in Frage stellen. Das Karzinom wurde rein zufällig entdeckt. Ein sogenannter Nebenbefund. Selbst wenn es bei der Operation nicht um das Auffinden dessen ging, wurde es festgestellt. Professor D. praktiziert schon sehr lange. Seine Erfahrung möchte ich nicht anzweifeln.«

»Das sage ich ja nicht. Aber es könnte doch sein.«

»Verschließe nicht die Augen vor der Wahrheit. Vater, was meinst du denn dazu?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Die Ärzte haben etwas gefunden. Sie konnten es identifizieren. Es ist ein Karzinom. Worin sollen sie sich irren? Natürlich wäre mir ein Irrtum das Liebste.«

»Möchtest du eine zweite Untersuchung vornehmen lassen? Professor D. sagte, dass dem nichts im Wege stehen würde.«

»Ich weiß nicht. Diese ganze Operation noch einmal. Das will ich nicht. Es ist eine nicht gerade angenehme Sache. Wer weiß, was sie dann noch alles finden.«

»Eine komplette Operation wird es nicht wieder geben. Es wird eine Untersuchung durchgeführt. Danach bekommst du eine Bestätigung des letzten Befundes. Wie diese Untersuchung abläuft, können wir mit Christiane B. besprechen. Allerdings solltest du dir im Vorfeld nicht zu viel Hoffnung machen. Entschuldige bitte, ich denke halt, dass sich nichts anderes ergeben wird, als bereits feststeht.«

»Ich vertraue Professor D. Vielleicht denkt er, dass ich ihn für inkompetent halte. Wenn ich heute sage, dass ich eine weitere Untersuchung haben möchte, wird er beleidigt sein. Wie stehe ich dann da?«

»Das wird er nicht. Wieso sollte er dies denken oder beleidigt sein? Immerhin hat er dir doch zugesprochen. Wenn du eine weitere Sicherheit brauchst, dann ist ihm dies recht. Mache dir darüber keine Gedanken. Hier geht es um dich und sonst niemand anderen.«

»Du meinst also, ich könnte noch eine Untersuchung wünschen? Wo würde die denn gemacht werden? Wie lange müsste ich dazu im Krankenhaus sein?«

»Keine Ahnung. Schätzungsweise kann Christiane B. uns darüber informieren. Du wirst wohl zu einem Urologen müssen. Dieser wird die Notwendigkeit der Untersuchung feststellen. Er schreibt eine Einweisung und schlägt dir Krankenhäuser vor.«

Unser Essen kam. Bereichert um die neue Idee hatte jeder von uns genug zum Denken. Ein weiteres Wort wurde an diesem Abend nicht mehr über dieses Thema gesprochen. Mein Vater schien zufrieden, meine Mutter auch.

Die nächsten Tage vergingen. Mein Vater dachte viel nach. Hatte er sich mit der neuen Untersuchung bereits abgefunden? Erhoffte er sich durch sie einen Befund der alles widerlegt? Für mich unvorstellbar. Erhoffte er sich damit allem zu entgehen? Sollte der neue Befund gleich dem des ersten sein, was dann? Würde er ihn als Bestätigung sehen? Träfe er ihn erneut unvorbereitet? Ein Schlag zurück? Klar, die Möglichkeit besteht, dass der Befund anders ausfällt. Zum ersten Mal erkannte ich sie an. War es doch das, was auch ich mir in meinem Innersten für ihn wünschte. Vergessen darf man dabei aber nicht, dass die Untersuchung mehr eine Bestätigung des bisherigen Befundes sein wird. Am Ende der dritten Woche sprach ich meinen Vater erneut an. Nicht nur ich, auch meine Mutter wollte wissen, was in ihm vorgeht. Die Tage zuvor hatten wir das eine oder andere besprochen. Um seine getroffene Entscheidung ging es dabei nicht. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl mit dem Gedanken ihn ansprechen zu müssen. Doch früher oder später musste es sein.

»War doch eine gute Idee hierher zu kommen. Jeden Tag hatten wir Sonne und angenehme Temperaturen. Genug Strand, Meer und Essen hatten wir außerdem. In den letzten drei Wochen hast du richtig Ruhe finden können. Nur drei Mal haben wir mit zu Hause telefoniert. Man sollte viel öfter eine Auszeit nehmen.«

»Mit den anderen Urlauben lässt sich dieser doch gar nicht vergleichen. Sonne und alles andere hatten wir in jedem Fall. Ruhe hatten wir genug. Doch musste ich bisher in noch keinem Urlaub eine solche Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, die so schwer und doch so wichtig ist. Wie gerne hätte ich darauf verzichtet. Sonst habe ich mich nach ein paar Wochen hier immer auf zu Hause gefreut. Dieses Mal liegen die Dinge einfach etwas anders. Was wird sein, wenn wir zurück in Deutschland sind? Alles wird wieder auf mich einstürzen.«

»Das ist richtig. Nur bist du dir nach der Zeit hier in einigem sicherer und siehst manche Dinge klarer. Ich denke, sobald du entschieden hast, was du möchtest, bist du sicherer. Du weißt, was vor dir liegt. Du hast ein Ziel. Kein einfaches Ziel, das ist klar. Hast du dich denn schon mit einem Gedanken anfreunden können?«

»Ich möchte erst einmal eine weitere Untersuchung vornehmen lassen. Dann sehen wir mehr. Was danach kommt, werden wir sehen. Eine totale Operation möchte ich nicht haben. Von der Sache mit den Spritzen weiß ich nicht, was ich halten soll. Eine Radio-Chemo-Therapie erscheint mir am angenehmsten. Meinst du das ist richtig entschieden?«

»Die Entscheidung nach dem Ausschlussverfahren ist wohl richtig. Wenn du die totale Operation ablehnst und dir bei den Spritzen nicht sicher bist, dann bleibt nur die Radio-Chemo-Therapie. Was damit alles zusammenhängt, wissen wir theoretisch. Wie sie bei dir umzusetzen ist, wird in dem Erstgespräch erläutert. Nebenwirkungen gibt es immer. Allerdings wissen wir nicht, ob sie bei dir auftreten werden. Kommen keine, dann ist das bestens. Treten wenige, einige oder viele auf, verlässt du dich auf die Ärzte. Nebenwirkungen können behandelt werden. Wieso sollten bei dir ganz neue auftreten? Wenn du mit deiner Entscheidung zufrieden bist, dann ist sie richtig.«

»Und was meinst du wegen der weiteren Untersuchung? Soll ich sie vornehmen lassen? Wird die Krankenkasse mitspielen?«

»Warum sollte die Krankenkasse nicht mitspielen? Alleine schon aus dem Kostenvergleich ergibt sich ein klares »Ja« dazu. Eine zweite Voruntersuchung ist kostengünstiger als eine Radio-Chemo-Therapie. Wenn sich mit ihr ergeben sollte, dass du keinen Krebs hast, dann hat sie sich gelohnt. Sollte der Befund gleich dem ersten sein, sind die weiteren Investitionen sinnvoll. Allerdings geht es bei der Untersuchung um dich und nicht um die Vorteile der Krankenkasse. Du möchtest eine weitere und neutrale Bestätigung dessen, was Professor D. befunden hat. Warum nicht, damit stellst du dein Vertrauen zu ihm nicht in Frage.«

»Nein, in keinem Fall. Ich will mir hinterher nur sicher sein, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Einen Moment sagte er nichts.

»Ja, ich möchte eine weitere Untersuchung. Vielleicht habe ich Glück und alles war ein Irrtum. Wenn nicht, dann weiß ich, was ich machen werde. Wie sagtest du? Dann habe ich ein Ziel.«

Ein erster Schritt war getan. Mein Vater hoffte im Innersten zwar, dass sich alles als ein Irrtum auflöst. Doch hatte er entschieden, wie es weitergehen soll, wenn dem nicht so sein würde. Er hat den Gedanken akzeptiert, dass etwas getan werden muss. Mit was er sich am besten einigen konnte, war die Radio-Chemo-Therapie. Nicht die Entscheidung selbst ist die Schwierigkeit. Wir erliegen mehr auf dem Weg dorthin den erdrückenden Erkenntnissen, die wir ziehen. Mit einem Befund werden wir konfrontiert. Wir erkennen, wir haben eine Krankheit. Wir setzen uns mit dem Thema Krebs auseinander. Wir erkennen, gegen ihn sind wir relativ machtlos. Wir nehmen die Hilfe der Ärzte in Anspruch. Wir erkennen, dass wir alleine nicht viel ausrichten können. Wir befassen uns mit den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten. Wir erkennen, dass wir wenig darüber wissen. Wir akzeptieren die Therapie und übergeben uns in die Hände von Menschen, die uns bis dahin fremd gewesen sind. Mit all diesen Erkenntnissen ist es nicht leicht umzugehen. Zu der physischen Schwäche unseres Körpers kommt die psychische hinzu. Wir überlassen der Unwissenheit und der Angst die Macht über unsere Gedanken. Damit will ich nicht sagen, dass wir alles andere einfach vergessen sollen. Oder uns mit den gegebenen Empfindungen nicht auseinandersetzen dürfen. Mehr appelliere ich hier an das Erkennen der Teilerfolge die wir mit jeder Erkenntnis haben. Ungeachtet der Aussage eines Befundes macht er uns wissend. Wir wissen, wie bei meinem Vater, wir haben eine Krankheit. Wie alles andere auch auf dieser Welt hat sie einen Namen. Bei meinem Vater heißt die Krankheit Krebs. Nun wissen wir, mit wem wir es zu tun haben. Um uns diesem Thema gleichwertiger zu stellen, vertrauen wir uns Ärzten an. Warum auch nicht? Haben wir einen Schaden oder eine anstehende Reparatur am Haus, suchen wir den Rat bei einem Handwerker. Unser Wunsch etwas zu tun und das Wissen anderer Menschen vereinigen sich. Wir werden sicherer und stärker. Gemeinsam nehmen wir die anstehende Aufgabe in Angriff. Menschen, die sich bis dahin fremd waren, sind nun ein Team. Erst dann, wenn wir die Zufriedenheit, welche uns in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, erkennen, dann können wir das. Heißt es dann wirklich, der Unwissenheit und der Angst die Macht zu überlassen? Nein, ratsamer ist es, Vertrauen, Mut und Zuversicht walten zu lassen. Kein einfacher Akt, zweifelsohne. Doch damit kommt Licht ins Dunkle und lässt uns sehen.

»Ja, das sagte ich. Ich freue mich, dass du dies ebenso siehst. Lasse uns dies jetzt mal der Mutter mitteilen. Sie muss schon wissen, was du entschieden hast. Außerdem wollten wir nach deiner Entscheidung gleich wieder nach Deutschland fliegen.«

»Gebe mir noch ein bisschen Zeit. Die Wochen hier haben mir sehr viel gegeben. Mit meiner Entscheidung möchte ich mich jetzt noch etwas vertraut machen. Deiner Mutter werde ich es erst dann sagen, wenn ich einen festen Boden unter den Füssen habe. Ihr gegenüber möchte ich gefestigt auftreten. Wenn es dir nichts ausmacht, überlasse mir die Entscheidung, wann ich es ihr sage.«

»Kein Thema. Doch vergesse bitte nicht, sie hat ein Recht darauf deine Entscheidung zu wissen. Nehme dir die Zeit, die du brauchst. Darum sind wir doch hier. Gebe mir einfach Bescheid, wenn du zurück willst und ich organisiere alles Nötige. Ich freue mich für dich und denke, wir schaffen das.«

»Deine Zuversicht ist enorm. Woher hast du die nur?«

Noch am selben Abend sprach mein Vater mit meiner Mutter. Wie er es schon prophezeite, wollte sie sofort zurück nach Deutschland. Mein Vater bat sie um ein paar Tage mehr. Er erklärte ihr warum und wofür. Dies hatte sie dann eingesehen und verstanden. Sie einigten sich darauf eine weitere Woche in Florida zu bleiben.

Die letzte Woche gestaltete sich freier als die anderen zuvor. Es war förmlich zu spüren, dass mein Vater mit seiner Entscheidung vertrauter wurde. Meine Mutter knüpfte an das Vertrauen meines Vaters an. Beide waren zufrieden. Ein Teilerfolg war errungen. Der Tag der Abreise stand an. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Unser Flug ging über New York. Beim Einstieg in die Maschine tätigte mein Vater eine zukunftsweisende Aussage. Noch heute denke ich darüber nach, ob ihm damals schon bewusst war, dass sie genau so eintreten würde. Mit recht traurigen Worten sagte er, dass er noch nie in New York gewesen sei und diese Stadt wohl niemals mehr sehen wird.

Wieder zu Hause vereinbarten wir sogleich einen Termin bei Christiane B., seiner Hausärztin. Sehr entschlossen und ohne viele Worte teilte mein Vater ihr mit, was er möchte. Dass mein Vater eine Entscheidung getroffen hatte und seine Zuversicht freuten sie. Eine klare Zustimmung fand die Entscheidung gegen eine totale Operation. Eine solche kann ohne weiteres bis zu sechs Stunden in Anspruch nehmen. Während dieser steht der Patient unter Vollnarkose. Aufgrund des Allgemeinzustandes meines Vaters könnte diese Belastung seinen Körper überfordern. Zu der gewünschten Untersuchung gab sie uns weitere Informationen. Unter drei Krankenhäusern konnte mein Vater wählen. Alle entsprechend gut im Fachbereich Urologie. Mein Vater entschied sich für das Krankenhaus am Ort. Mit dieser Wahl stieß er bei meiner Mutter auf absolute Abneigung. War es doch das Krankenhaus, welches sie bisher immer in Trauer verlassen musste. Als Letztes wurde ihr dort der Tod meines Bruders mitgeteilt. Nachts, mit meinem Vater an ihrer Seite, standen sie einsam und allein am Anfang eines langen Ganges. Die Tür der Notaufnahme öffnete sich. Zwei Ärzte kamen auf sie zu. Der Klang der nähernden Schritte löschte sich nie wieder aus ihren Erinnerungen. Geprägt durch diese Erfahrung konnte dieses Krankenhaus ihre Zustimmung nicht mehr finden.

Seinen rationellen Argumenten für dieses Krankenhaus musste meine Mutter letztendlich zustimmen. Weniger als zwanzig Minuten brauchte man selbst mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht. Einer der Ärzte der Urologie war ein Bekannter meines Vaters. Dies und meine Befürwortung ließen keine andere Entscheidung zu. Nach kurzer Rücksprache mit dem Krankenhaus wurde für drei Tage später ein Termin vereinbart. Ich kann nicht sagen, dass meinem Vater die Kurzfristigkeit dieses Termins unangenehm gewesen wäre. Wollte auch er einen schnellen Befund als Grundlage für alles Weitere. Schon am Tag der Aufnahme wurden sämtliche vorbereitenden Untersuchungen vorgenommen. Nach Rücksprache mit dem Anästhesisten ergab sich die Übereinstimmung zur Aussage von Christiane B. Die Auswertungen seiner Untersuchungen zeigten, dass die gesundheitliche Verfassung meines Vaters eine Vollnarkose von sechs Stunden nicht zugelassen hätte. Somit stände die Überlebenschance auf Messers Schneide. Eine Bestätigung mehr für die Entscheidung meines Vaters von der Totaloperation abzusehen. Schon am späten Nachmittag des auf die Operation folgenden Tages fand das Gespräch mit dem Oberarzt statt.

Um eine präzise Diagnose des Karzinoms stellen zu können, war eine erneute Schälung der Prostata erforderlich. Bei dem festgestellten Knoten handelte es sich definitiv um das in der Histologie befundene Karzinom. Im Vergleich zum vorherigen Entlassungsbericht wurde eine Verdoppelung der Größe gemessen. Darin bestätigten sich die Aggressivität und das Schnellwachstum dieser Krebsart. Eine kurzfristige Therapie muss eingeleitet werden. Dazu empfiehlt sich als erste Wahl eine radikale Cystoprostektomie, Totaloperation. Auch der Oberarzt bestätigte noch einmal, dass diese aufgrund der unumgänglichen Vollnarkotisierung über den Zeitraum von ca. sechs Stunden nicht zu empfehlen sei. Alternativ der operativen Therapie besteht eine kombinierte Radio-Chemo-Therapie.

Ein kurzes und klares Gespräch. Der Befund des Oberarztes glich dem von Professor D., jedoch mit dem dringenden Hinweis, dass Eile geboten sei. Dies war also die Bestätigung die meinem Vater fehlte. Nach diesem Befund stellte er seine Krankheit nicht mehr in Frage. Meine Mutter resignierte in der Hoffnung, dass sich alles als ein Irrtum herausstellen könnte. Mein Befinden in diesem Moment war eher neutral, hatte ich doch genau dieses Ergebnis erwartet. Nachdem der Oberarzt den Raum verlassen hatte, trat Stille ein. Meine Mutter blickte nach unten, schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Mein Vater nahm ihre Hand.

»Jetzt wissen wir es definitiv. Ich habe Krebs.«

Da war sie nun, die Gewissheit. Mein Vater sprach zum ersten Mal aus, was er bis dahin als unausgesprochen dem Unwirklichen gleichsetzte. Mit diesen Worten erkannte mein Vater den Krebs an. Endlich bezog er Position zu diesem Thema. Es war zu erkennen, in ihm erwachte der Wunsch dem Feind nicht nur die Stirn zu bieten, sondern gegen ihn zu kämpfen. Obgleich ihm bewusst war, dass er nicht als Sieger aus diesem Kampf hervor gehen kann. Doch die Möglichkeit der Verlängerung seines Lebens trieb ihn an. Diese Chance wollte er nicht ungenutzt an sich vorüber ziehen lassen.

»Warum du? Was hast du getan? Es trifft immer die Menschen, die es nicht verdient haben. Was sollen wir denn noch alles ertragen? Warum?«

»Mutter, es ist so. Die Frage nach dem Warum wirst du nicht beantwortet bekommen. Wer sollte sie dir beantworten? Fakt ist, der Vater hat Krebs. Wollen wir jetzt den Fragen nach dem Wieso, Weshalb oder Warum nachgehen, verschwenden wir Zeit. Wichtige Zeit, die wir besser in das investieren, was vor uns liegt.«

»Das sagst du so einfach. Dein Vater hat noch nie etwas Schlimmes gemacht. Zu keinem anderen Menschen war er jemals böse. Er war immer ein guter Mensch. Als Dank dafür, wird er nun mit so etwas bestraft. Die haben sich bestimmt wieder geirrt. Hätte es nicht einen anderen treffen können?«

»Zum einen sage ich das nicht einfach so. Zum anderen bist du momentan unfair. Wieso hätte es einen anderen treffen können? Auch ein anderer ist ein Mensch. Die Frage nach einem eventuellen Irrtum der Diagnose haben wir beantwortet. Wie oft soll dein Mann denn noch die Bestätigung bekommen, dass er Krebs hat? Meinst du damit können wir die Tatsache ungeschehen machen?«

Vorwurfsvoll traf mich der Blick meiner Mutter.

Der Mensch. Wie oft befinden wir uns in dem Moment der Hilflosigkeit. Wir werden mit einer für uns unschönen Tatsache konfrontiert. Zack, sie tritt in unser Leben. Völlig unvorbereitet stehen wir ihr gegenüber. Der Mensch zieht Bilanz. Wie leicht ist darin Ungerechtigkeit das Maß aller Dinge. Wir verbuchen nach verdient und unverdient. Unser Blick für die Realität verschleiert sich. Alles, womit wir nichts anfangen können und wollen, verteilen wir. Wir wollen sicher sein, dass es nicht wieder zurückkommen wird. Wir geben dem Ziel keinen eigenen Namen, doch personifizieren wir es. Damit trennen wir die Zuständigkeit von uns ab. Mit allem, womit wir nichts zu tun haben, betrifft uns nicht. Wie einfach können wir uns von dem Ungewollten trennen.

Dass mein Vater Krebs hat war schon nach dem ersten Befund nicht mehr zu leugnen. Keine umstrittenen Untersuchungen haben die Vermutung aufgebracht, dass es Krebs sein könnte. Klar wurde das Karzinom gesehen. Klar war die Tatsache, dass es sich um Krebs handelt. Mein Vater wollte eine Bestätigung dessen. Er hatte sie bekommen. Für ihn war ab diesem Moment der erhoffte Irrtum ausgeschlossen. Meine Mutter wollte die Hoffnung auf einen, für sie, angenehmeren Ausgang nicht aufgeben. Fakten hatte sie keine, um dies zu unterlegen. Also ergab sie sich der Hilflosigkeit. Sie verteilte die Krankheit meines Vaters einfach an andere. Natürlich hätte sie nie einem bestimmten anderen Menschen diese Krankheit gewünscht. Doch wie einfach konnte sie damit die schlimme Problematik von sich abwenden.

Nach ein paar Tagen konnte mein Vater die Klinik verlassen. In einem Gespräch mit Christiane B. klärten wir das weitere Vorgehen. Als nächstes war ein Termin zur Vorbesprechung der anstehenden Therapie erforderlich. Diesen vereinbarte ich für zwei Tage später. Am Tag der Vorbesprechung fühlte sich mein Vater nicht besonders gut. Er schien tief in seinen Gedanken. Ohne weiter darauf einzugehen stiegen wir ins Auto. Kaum hatten wir den Parkplatz verlassen eröffnete mein Vater das Gespräch. Ich verspürte schon die letzten Tage, dass er mit mir über etwas reden möchte, was nichts mit den Vorbereitungen auf den anstehenden Termin zu tun hatte.

»Weißt du, ich kann es immer noch nicht richtig glauben. Wir zwei sitzen hier im Auto und fahren zusammen zu diesem Termin. Mein Vorgespräch zur Krebsbehandlung. Wie schon die ganze letzte Zeit bist du bei mir. Keine Minute bist du von meiner Seite gewichen. Völlig offen hast du alles aufgenommen. Nichts hat dich aus der Ruhe gebracht. Woher hast du nur diese Kraft?«

»Papa, du fragst nach meiner Kraft. Ich kenne da zwei Menschen. Diese haben mir viel, sehr viel, von dem gegeben, über was sie selbst verfügen. Ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, ob sie selbst etwas einbüssen, waren sie immer für mich da. Manchen Weg hatten sie für mich geebnet. Sie sorgten immer dafür, dass es mir an nichts mangeln musste. Ich konnte in Geborgenheit erwachsen werden, die mir viel Platz für mich selbst ließ. Weder du noch die Mutter habt je etwas dafür von mir verlangt. Im letzten Jahr hatte ich viel Zeit über mich und mein Leben nachzudenken. Vieles meines bisherigen Lebens habe ich hinterfragt. Nicht immer war ich voll und ganz zufrieden mit dem, was ich in meiner Erinnerung fand. Auf den einen oder anderen Fehler bin ich gestoßen. Gute, schöne und angenehme Zeiten habe ich erleben können. Auch schlechte, anstrengende und traurige Zeiten habe ich reflektiert. Insgesamt bin ich aber immer wieder auf eines gekommen. Ohne die Vorbereitung auf das Leben, welche ich hatte, wäre ich nie so weit gekommen wie ich heute bin. Ohne den sicheren Halt im Hintergrund wäre manches ganz anders gelaufen. Mir ist klar geworden, wem ich dies zu verdanken habe. Ihr beide habt mir alles gegeben, was nötig war, um das zu erreichen. In diesen letzten zwölf Monaten habe ich abgeschaltet, ausgeruht, Abstand gefunden und Kraft, viel Kraft gesammelt. Mein Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Ich fragte oft, wofür ich dies verdient habe. Als bei dir Krebs befunden wurde, wusste ich den Grund. Nun ist es für mich an der Zeit, etwas zurückzugeben. Ich habe die wohl einmalige Möglichkeit dir und Mutter Danke zu sagen. Danke, für all das, was ihr mir bis heute gegeben habt. Ich habe nicht nur die Chance es in Worten auszudrücken. Ich kann es aktiv zeigen. Du weißt, ich bin ein Mensch der Tat. Ich verbinde meine Worte mit Handlungen. Genau damit kann ich mit dem, was ich mitteilen will, den anderen auch erreichen. Egal, ob mein Gegenüber die gesagten Worte hört, sie in meinen Handlungen sieht oder empfindet, meine Mitteilung kommt an.«

Und ich gab ihm mein Versprechen

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