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EINE STIMME MEINER KINDHEIT1

Der Gegenstand, von dem ich hier erzählen möchte, ist genau genommen gar kein Gegenstand. Er steht nie gegenüber und wenn er sich zeigt, ist er ständig in Bewegung. Er hat einen durch und durch flüchtigen Charakter, obwohl er sich tief in die Erinnerung einprägen kann, und dies in dem Beispiel, das ich vorstellen möchte, auch getan hat. In seiner ursprünglichen Form kann er nicht festgehalten werden, er entzieht sich im selben Moment, in dem er auftaucht. Seine Präsenz ruft in Menschen oft starke innere Reaktionen hervor: Gefühle, Vorstellungen, Sehnsüchte, Ängste. Er gehört dem Feld der Kunst an und dem der Alltagswelt. Tagtäglich haben wir mit diesem ungegenständlichen Gegenstand zu tun, doch nur selten achten wir auf ihn.

Die Rede ist von der menschlichen Stimme. Die eine Stimme, die in meiner Kindheit offenbar laut genug war, um in mir als Erinnerung heute nachzuklingen, kam allerdings in einer fixierten Form zu mir. Die Stimmklänge waren auf eine Schallplatte aus Vinyl gestanzt. Die Platte steckte in einer dünnen weißen Papierhülle, die in einer aus Pappe gefalzten Tasche lag. Zu dieser Zeit nannte man diese Hüllen noch nicht Cover. Aufrecht im sehr überschaubaren Plattenregal meiner Eltern stehend, wartete sie darauf, mithilfe einer kleinen Holzkiste, mit rundem Plattenteller, Tonarm und Lautsprecher im Deckel, zum Erschallen gebracht zu werden. Mein nicht ganz perfekter, weil so flüchtiger Gegenstand, besaß also ein handfestes Gegenstandskleid, eine Art Zuhause, in dem er zu jeder Zeit gefunden und begrüßt werden konnte. Obwohl auch das nicht ganz stimmt, denn die Platte ist mittlerweile verschwunden. Ich kann sie nicht mehr finden, weder bei mir, noch im Keller meines Elternhauses. Ganz so groß ist der Unterschied am Ende vielleicht doch nicht zwischen flüchtigem und scheinbar stetigem Gegenstand.

Auf der Plattenhülle sah man, soweit ich mich erinnere, in schwarzweiß (vielleicht gab es irgendwo einen roten Fleck?) das relativ dunkle Gesicht eines Mannes Mitte dreißig, mit grauer Fellmütze und ohne Vollbart. Das ist insofern wichtig, als ich den Mann nirgendwo sonst in den folgenden Jahrzehnten bartlos gesehen habe. Das Gesicht war im Halbprofil leicht von oben fotografiert. Rechts neben dem Kopf große kyrillische Buchstaben, von denen ich bis heute nicht weiß, was sie bedeuten. Darunter der Text in deutsch: Ivan Rebroff und der Don Kosakenchor singen russische Volksweisen.

Jetzt ist es raus. Meine erste Platte, die ich vermutlich auf eigenen Wunsch von meinen Eltern bekommen habe – oder vielleicht war es so: Es gab sie schon vorher und ich habe sie zu meinem Besitz erklärt? –, war nicht von den Beatles, deren Fan ich erst später wurde. Sie war nicht von Ella Fitzgerald, Yma Sumac oder Jimi Hendrix – ganz zu schweigen von Maria Callas oder Richard Tauber. Meine erste Platte war von einem deutschen Sänger mit russischen Vorfahren, der sich als volkstümlicher Russe ausgab, um sich und seiner bemerkenswerten Stimme ein Image zu geben, mit dem seine stimmlichen Fähigkeiten akzeptabel und fast natürlich erscheinen konnten.

Die Imagefragen haben mich als acht- oder neunjähriger Junge nicht interessiert. Ich war zuerst angezogen von der Aura, die das Plattencover verströmte. Der Mann auf dem Bild schaute mich mit skeptisch-abweisendem Blick an und er lächelte nicht. Er schaute missmutig zu mir herüber, als wolle er mich eher warnen als einladen, ihm in seine Musik zu folgen. Auf der Rückseite der Plattenhülle gab es versteckt zwischen schwarzweißen Textblöcken ein Foto, auf dem man von weitem auf ein Lagerfeuer blickte, um das ein paar Männer herumstanden oder saßen. Einer hatte eine Balalaika in der Hand. Auch hier kam nicht der Eindruck von offenen Armen auf. Diese Leute wollten am liebsten unter sich bleiben und ihre Lieder singen. Publikum würde da nur die Atmosphäre stören. Der fast unwirklich erscheinende Abstand, den diese Bilder zu mir aufbauten, das Verweigern, mir eine Brücke hinein in deren Welt anzubieten, hat auf seltsame Weise in meiner jungen Seele Anklang gefunden. Ich war neugierig.

Dann diese düstere und zugleich warme Stimme des Sängers, eingebettet in den Chor der Männerstimmen, die sich wie dunkle Traumbilder um den Gesang von Ivan Rebroff bewegten. Nicht die Musik hat mich fasziniert. Sie wirkte auf mich so fremd und fast abweisend, wie es zu den Bildern auf dem Cover passte. Wenn man von dem russischen Gassenhauer »Kalinka« absieht, kann ich mich nicht an ein einziges Lied auf der Platte erinnern. Die Faszination kam aus der Stimme. Doch warum gerade diese vier Oktaven umfassende, zwischen Bärengrollen und Vogelgezwitscher springende Stimme? Warum nicht Heino, von dem es in unserem Plattenschrank ebenfalls ein oder zwei Schallplatten gab, die ich mir auch anhörte, ohne die Faszination oder besser die Neugierde zu spüren, die Ivan Rebroff in mir auslöste.

Die Stimme Rebroffs wird mich damals an die Stimme meines oft absenten Vaters erinnert haben. Beide klangen dunkel, warm, mit einem Schuss Unergründlichkeit, tief, nicht nur im tonalen Sinne, sondern wirklich aus der Tiefe emporsteigend. Deshalb wäre Heino als klanglicher Sehnsuchtsanker kaum in Frage gekommen. Seine Stimme klang für mich nie so, als säße sie in der Tiefe, eher als würde sie dorthin befehligt. Nach meinem Stimmbruch ähnelte zumindest meine Sprechstimme für einige Jahre sehr der meines Vaters. Am Telefon wurde ich regelmäßig mit ihm verwechselt. Menschen, die mich nicht kannten, dachten, sie sprächen mit meinem Vater, und in Telefonaten mit der Familie gab es bei der gegenseitigen Namensnennung immer wieder Irritationen.

In dem kindlichen Bild der Sehnsucht hatten die Don Kosaken womöglich die Rolle meiner Onkel inne, den sieben allesamt älteren Brüdern meines Vaters, die gemeinsam alle Chorstimmen besetzen konnten und die bei Familienfeiern die musikalische Untermalung übernahmen. Mit einer Freude am Singen, einer Spontaneität und Selbstverständlichkeit, die nicht nur in unserer Familie mittlerweile ausgestorben ist. Ich sah und hörte diesem Schauspiel damals aus einer inneren Ferne zu, und niemand ist auf die Idee gekommen, mich oder ein anderes der Kinder, mitsingen zu lassen. Das erinnert mich an meine Reaktion auf das Plattencover von Ivan Rebroff. Die gleiche Distanz, die von Seiten der Sänger nicht aufgelöst wird und die mich vielleicht deshalb so anzieht. Den eigenen Raum wahren und trotzdem in Kontakt mit der Welt sein. Wie mir erst sehr viel später klar werden sollte, spielt hier ein Charakteristikum der Stimme mit hinein, das diese Figur aufnimmt. Wenn meine Stimme in Aktion ist, bildet sie mit mir, meinem Körper, meiner Aufmerksamkeit einen eigenen Raum und zugleich geht sie hinaus, zeigt sich der Welt und nimmt Kontakt auf.

Meine Onkel konnten alle so genannten Männerstimmen vom tiefen Bass (meines Vaters) bis zum hohen Tenor besetzen. Aber einen Sopran gab es nicht. Die volkstümlich männliche Gesangstimme in deutschen Landen hatte für Sopranisten nichts übrig. Das war und ist im russischen Gesang anders. Hier hat der stimmliche Kontrabass sein Gegenüber im Sopran, der genauso männlich gehört wird wie die anderen Stimmlagen. Ivan Rebroff war in der Lage, mit seiner Stimme geschmeidig über die vielen Oktaven zu gleiten, aus dem tiefen Bass in den hohen Sopran zu wandern, ohne irgendeine Anstrengung hören zu lassen. Er konnte in dem einen Moment klingen wie ein Vater und kurz danach wie sein eigener Sohn. Gut möglich, dass sich für mich in der Stimme Rebroffs die unbewusste Sehnsucht des Sohnes nach einer ungehinderten Verbindung zum Vater materialisierte.

Ich habe früh angefangen zu singen, erst im Kinderchor der Schule und bald darauf im etwas anspruchsvolleren kirchlichen Jungenchor, der bei uns im Dorf Schola genannt wurde, mit deutschen SCH ausgesprochen. Ich war, soweit ich mich erinnern kann, ein ganz solider Sänger, mit einem schönen Sopran, der sich gut in den Chorklang einfügte. Mir hat das Singen Spaß gemacht, aber ich kann nicht behaupten, dass in mir irgendwelche stimmlichen Erweckungserlebnisse passiert wären. (Die kamen später.) Es gab keine über das Chorsingen hinausgehenden Ambitionen oder Wünsche. Musik wurde nicht zu meinem Lebensinhalt, sondern blieb eine nette Nebensache.

An dieser Stelle habe ich meine Erinnerungsnotizen abgebrochen und mich im Internet auf die Suche nach dem Cover der Platte gemacht, die mir in der Kindheit so wichtig war. Natürlich bin ich in kürzester Zeit fündig geworden und überraschenderweise erwies sich meine Erinnerung als ziemlich valide. Das Cover sieht so aus, wie ich es mir nach immerhin gut vier Jahrzehnten vor meinem inneren Auge vorstellte. Selbst den von mir vermuteten roten Fleck gibt es. Der deutsche Text »Ivan Rebroff singt Volksweisen aus dem alten Russland« ist in roter Farbe gedruckt. Aber einen bedeutsamen Fehler hat mein Gedächtnis doch fabriziert. Von den Don Kosaken, die ich glaubte, auf der Platte gehört und auf dem Cover angekündigt gesehen zu haben, findet sich keine Spur. Mein Erinnerungsvermögen hat sich an dieser Stelle als kreativ erwiesen und das aus guten Gründen. Wie ich mittlerweile durch meine kleinen Recherchen weiß, hat Ivan Rebroff mit einem Don Kosaken Chor gesungen und wahrscheinlich auch gemeinsame Aufnahmen gemacht. Vielleicht hatte ich davon als Kind auch schon gehört. Aber das ist nicht entscheidend.

Der Gesang der Don Kosaken tauchte viele Jahre später wieder in meinem Leben auf. Die Geschichte ereignete sich in London, wo ich eine Frau namens Sheila Braggins besuchte. Sie war in den fünfziger und frühen sechziger Jahren eine Schülerin des Stimmlehrers Alfred Wolfsohn gewesen, der vor den Nazis aus Berlin nach London fliehen musste. Seine sehr ungewöhnlichen Ideen zur Stimmentwicklung hatte er in den zwanziger und dreißiger Jahren noch in Deutschland entwickelt, und nach dem Krieg begann er in London zu unterrichten. Zu seinen ersten Schülern gehörte der Regisseur Peter Zadek, der in seinen Memoiren schreibt, Wolfsohn sei für einige Jahre so eine Art Guru in der (jüdischen) kulturellen Szene Londons gewesen. In Wolfsohns (nicht veröffentlichten) Erinnerungen kann man lesen, wie prägend für ihn das Erlebnis war, als er zum ersten Mal die Don Kosaken hörte. Hier konnte er in einem musikalischen Zusammenhang Stimmen hören, die sich offenbar nicht um die klassische Aufteilung der Stimmlagen und die damit einhergehende Abgrenzung eines männlichen und eines weiblichen Bereiches, zu scheren schien. Wolfsohn ging es um die Überwindung der kulturellen Beschränkungen, in der einer Stimme auch nur eine Stimmlage zugeordnet wird, in der sie zu tönen und zu singen hat. Seiner Überzeugung nach kann sich jede menschliche Stimme im Prinzip in jeder menschenmöglichen Stimmlage bewegen und seine Idee der Stimmbefreiung zielt darauf ab, der Stimme diese ursprüngliche Freiheit zurückzugeben. Und da sind wir wieder bei Ivan Rebroff, dem Ein-Mann-Don-Kosaken-Chor, wie er einmal genannt wurde. Seine Stimme war in der Lage, sich über mehr als vier Oktaven souverän zu bewegen. Das ist der Umfang vom tiefen Bass bis zum hohen Sopran, vom tiefen F bei Sarastro bis zum zweigestrichenen F der Königin der Nacht. Wolfsohn hatte in den fünfziger Jahren Schülerinnen und Schüler, die alle Arien der Zauberflöte singen konnten. Der Umfang von einigen Stimmen, die er geformt hat, war sogar noch weit größer, wie wir heute noch in Aufnahmen von Roy Hart, dem Schüler, der später die Arbeit weiterentwickeln und für das Theater fruchtbar machen sollte, und Jill und Jenny Johnson hören können. Sheila Braggins gehörte ebenfalls zu diesem Schülerkreis. Als ich sie in London traf, hatte ich schon gut zehn Jahre mit verschiedenen Lehrern, die sich auf Wolfsohn und seinen Nachfolger Roy Hart berufen, gearbeitet. Sheila war zu diesem Zeitpunkt 80 Jahre alt und verfügte noch immer über einen fulminanten Stimmumfang, obwohl sie nach dem Tod Wolfsohns 1962 aufgehört hatte zu singen. Von Wolfsohn hatte sie eine Platte mit Aufnahmen der Don Kosaken aus den dreißiger Jahren geerbt, die sie mir bei dem Besuch vorspielte. Das Beeindruckendste an dieser Vorstellung war für mich die jugendliche Begeisterung von Sheila für die Qualität der Stimmen und für ihre damit verbundenen Erinnerungen an ihren geliebten und verehrten Lehrer. Doch die Chorgesänge waren in der Tat außergewöhnlich. Ich bin kein Experte für Don-Kosaken-Chöre, aber im Vergleich mit neueren Aufnahmen, die ich mir danach anhörte, erweist sich die Qualität des alten Chores als herausragend. Die geschmeidige Beweglichkeit, die Tiefe als klangliche Qualität jenseits der Tonhöhe, die Wärme und Lebendigkeit dieser Stimmen waren im echten Sinne berührend. Da sangen Sänger nicht nur Töne sondern Gefühle, und plötzlich war deutlich, dass hinter dem Klischee von der russischen Seele ein starker, wahrer Kern liegt. Wolfsohn konnte in den Don Kosaken nicht nur seine Vorstellung der frei mit allen Registern spielenden Stimme bestätigt hören, sondern auch dass seine zweite Grundüberzeugung in diesem Chor schon realisiert worden war. Für ihn war entscheidend, dass jeder menschliche Stimmklang mehr ist und darstellt als ein rein klangliches Phänomen. In jeder stimmlichen Äußerung ist etwas zu hören von dem Menschen, der seine Stimme gerade zeigt, von seiner Geschichte, seiner inneren Situation, seinen Sehnsüchten, seinen Ängsten, seinen Vorstellungen, Erfahrungen und Hoffnungen. Deswegen bestand für Wolfsohn die Stimmentwicklung auch nie darin, irgendwelche Übungen zu machen, um den Stimmapparat zu schulen, sondern darin, der Stimme zuzuhören, herauszufinden, wo sie gerade ist und wo sie hinwill, und ihr dann auf ihrem Weg zu folgen. Die Stimme in dieser Weise wahrzunehmen, bedeutet auch darauf zu achten, was durch den Stimmklang im tönenden Menschen und im zuhörenden ausgelöst wird. Es geht darum, den inneren Reaktionen Gehör zu schenken und sie ernst zu nehmen. Dann erfährt die Stimme die Erlaubnis, sich zu öffnen, oft genug in Regionen, die dem Tönenden vorher geradezu undenkbar schienen.

Es gibt Menschen, die diese Offenheit, zumindest in Hinblick auf den Umfang der Stimme, leicht erwerben oder von Anfang an besitzen. Jeder verfügt im Prinzip über die weiten Räume in der Stimme, doch bei einigen sind die Türen dahin bereits geöffnet.

Als ich nach einigen Umwegen, die mich unter anderem zur Philosophie geführt haben, mit Ende zwanzig begann, die Faszination für die menschliche Stimme im Allgemeinen und endlich auch meine eigene Stimme im besonderen wiederzufinden und ernst zu nehmen, stellte sich heraus, dass auch bei mir einige dieser Türen in neue Stimmräume leicht zu öffnen waren. Es fiel mir nicht besonders schwer, meiner Stimme auch dann noch zuzuhören, wenn sie aus dem so genannten normalen Klangbereich hinaustrat. Diese Freiheit verdanke ich wohl auch der frühen Hörerfahrung mit Ivan Rebroff.

Wenn ich darüber nachdenke, wie wenig Aufmerksamkeit ich meiner Stimme in den ersten Jahrzehnten meines Lebens gewidmet habe und wie sehr die Stimme immer wieder versucht hat, genau diese Aufmerksamkeit zu erregen, dann überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl, als ob es vorherbestimmt gewesen sei, dass die Stimme zu meinem Lebensthema werden müsste. Nur habe ich lange gebraucht, um das zu erkennen und zu akzeptieren. Vorherbestimmung klingt in meinen Ohren wie metaphysische Folklore, aber noch weiß ich nicht, wie ich dieses Phänomen besser in Worte fassen soll. Übrigens ist die Ignoranz der Stimme gegenüber nicht nur mein persönliches Problem gewesen. Die meisten Menschen beschäftigen sich erst mit ihrer Stimme, wenn es damit Probleme gibt. Darüber hinaus zeichnet sich auch die Philosophiegeschichte dadurch aus, mit erschreckender Konsequenz die menschliche Stimme nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Seit Platon wurde sie durchgehend nur als eine Art Vehikel für die Sprache verstanden, der keine eigenständigen Qualitäten zukommen. In der Musik spielt sie eine gewisse Rolle, aber als mögliche Quelle anthropologisch wertvoller Erkenntnisse rückt sie erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in den Fokus. Nicht zufällig fällt dieses neuerwachte Interesse an der Stimme zeitlich mit einer bahnbrechenden Erfindung zusammen: der Möglichkeit, Stimmklänge technisch aufzuzeichnen und unabhängig von der Präsenz des Menschen, dem die Stimme eigen ist, abzuspielen. Erst dadurch bekam die Stimme die Eigenschaften, die sie zu einem Gegenstand machen, wie ihn die Philosophie gerne hat. Sie verliert einen Teil ihrer Flüchtigkeit und lässt sich beliebig oft abspielen und hören. So wie der Gegenstand meiner Kindheit, von dem hier die Rede ist.

Ivan Rebroff gehörte zu den Menschen, die nicht lange nach ihrem großen Stimmumfang suchen müssen. Er hatte das entsprechende Talent und war sich dessen früh bewusst. So wie die Stimme in unserem Kulturkreis normalerweise verstanden wird, kann man gar nicht auf die Idee kommen, seine Stimme auf vier Oktaven zu erweitern. Das bleibt einigen wenigen Ausnahmestimmen vorbehalten. Entweder man hatte eine solche Stimme oder nicht. Sänger und Sängerinnen wie Ivan Rebroff, Yma Sumac oder Enrico Caruso, der von sich sagte, auch Bass singen zu können, gelten als Sonderbegabungen. Die normale Stimme hat einen Umfang von zwei bis zweieinhalb Oktaven, heißt es, die sängerisch ausgebildet und geschult werden können. Wolfsohn hat richtig gesehen, dass diese Beschränkung nichts mit einer natürlichen Anlage der Stimme zu tun hat, sondern eine kulturelle Konstruktion darstellt. Eine Konstruktion, würde ich hinzufügen, die kulturell wieder aufgehoben werden kann, sobald sich die Bedingungen für eine solche Bewegung günstig fügen. Heute, in Zeiten globalisierter Ohren, die das europäische Stimmideal längst relativiert haben, klingt die Behauptung Wolfsohns viel weniger radikal als in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Wolfsohn war der Pionier der Stimmbefreiung, in Zeiten, als der Begriff Weltmusik noch nicht existierte und die Don Kosaken so ziemlich das Exotischste waren, was man in Mitteleuropa hören konnte.

Auf den Prozess der Stimmbefreiung wartete noch ein weiterer großer Schritt, der uns von Ivan Rebroff und den Don Kosaken weit weg führt. Aus einer künstlerischen Perspektive muss man sich fragen, was man mit einer Multi-Oktavenstimme wie der von Rebroff oder den Schülern Alfred Wolfsohns anfangen soll. Rebroffs Antwort bestand darin, sich in die russische Tradition einzugliedern, in der die ganz tiefe und die sehr hohe männliche Stimme eine Geschichte haben. Mit seinem Pseudonym Ivan Rebroff machte sich Hans Rolf Rippert zu einem russischen Sänger und war mit dieser Strategie überaus erfolgreich, nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und in Russland selbst! Aber man kann schwerlich behaupten, dass er mit seinem Gesang künstlerisch wegweisende Pfade gebahnt hätte. Auch Wolfsohn stand in den fünfziger Jahren vor diesem Problem. Künstlerisch betrachtet ist es nicht besonders sinnvoll, wenn ein Sänger oder eine Sängerin alle Arien der Zauberflöte singen kann. Es braucht Komponisten, die für diese neuen Stimme schreiben. Die ersten Versuche auf dem Feld blieben sehr eng an konventionelle Ideen von Musik gebunden und dadurch kam die Gefahr auf, dass die Stimmen, die sich in sechs Oktaven leicht bewegten, als eine Art akrobatischer Zirkusnummer verstanden wurden, eher skurril erscheinend als künstlerisch wertvoll. Die Lösung dieses Problems bahnte sich an mit dem nächsten revolutionären Schritt der Befreiung der Stimme aus den Fesseln eines einengenden Stimmverständnisses. In der Arbeit mit seinen Schülern, unter denen Roy Hart eine zentrale Rolle einnahm, erkannte Wolfsohn, dass es nicht nur darum gehen konnte, die Stimme im Rahmen klassischer Vorstellungen von Gesang zu befreien, sondern dass die kulturelle Unterscheidung zwischen Stimmklängen, die schön sind und sich deshalb für das Singen eignen und all den anderen stimmlichen Äußerungen aufgegeben werden muss. In Wolfsohns Stimmunterricht spielte diese Unterscheidung schon lange keine Rolle mehr. Wolfsohn hörte bei seinen Schülern mit gleichbleibender Neugierde auf alle Stimmklänge, die sich zeigen wollten. Nun aber wurde ihm klar, dass das ganze Feld der stimmlichen Möglichkeiten potenziell Material für Stimmkunst darstellt. Oder anders gesagt: Jeder Stimmklang ist Gesang! Wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte nicht nur Europas, sondern aller so genannten Hochkulturen, wurde die Trennung zwischen schönen Stimmklängen, die Gesang erzeugen einerseits und den hässlichen Stimmanteilen, mit denen allenfalls Geschrei entsteht, aufgehoben. Es sollte Roy Hart und seinem Roy Hart Theatre vorbehalten bleiben, diese Einsicht in die künstlerische Tat umzusetzen. Der Meisterschüler Wolfsohns hat Zeit seines Lebens nach Wegen und Formen gesucht, die ganze menschliche Stimme in die Kunst einzubringen. Dafür bot sich Ende der 60er Jahre besonders das experimentelle Theater an, das an vielen Stellen Europas entstand. Im Roy Hart Theatre wurde das Bühnengeschehen ganz aus der Stimme heraus entwickelt und gestaltet. Als Solokünstler hat Roy Hart mit verschiedenen Komponisten der Neuen Musik, wie Stockhausen, Henze, Maxwell-Davies zusammengearbeitet, um dort Freiraum zu finden für die einzigartigen Möglichkeiten seiner Stimme.

Auf meine Weise führe ich die Suche heute weiter und dabei bin ich mit meinen künstlerischen Partnern in den letzten Jahren mitten in der Performance Art gelandet. Dort findet die Stimme die größte Freiheit von musikalischen Vorgaben und ist ganz neuen und anderen Herausforderungen ausgesetzt als im Konzert oder auf der Theaterbühne. Diese Forschungsreise hat gerade erst begonnen. Doch initiiert wurde sie in mir anscheinend in frühen Kindheitstagen, durch eine Schallplatte mit der faszinierenden Stimme eines Mannes, der so anders klang als alle anderen Sänger, die ich kannte. Aus welchen Gründen auch immer ist mir damals ganz unbeabsichtigt eine Abstraktionsleistung gelungen, die mich heute noch erstaunt. Ich habe damals die prachtvolle Stimme Rebroffs von der Musik, die sie sang, getrennt und meine Neugierde ganz auf die Stimme als solche gerichtet. Von heute aus betrachtet wurde diese Erkenntnis zu einem versteckten Wegweiser durch mein Leben, den ich zwar viele Jahre kaum bemerkt habe, dem ich aber trotzdem gefolgt bin. Irgendwann konnte ich zum Glück sehen, dass genau in dieser Abstraktion und dem Fokus auf die Stimme als solche das Thema liegt, mit dem ich mich als Künstler, als Lehrer und als Denker beschäftigen möchte.

1 Der Text ist erstmals erschienen in: Mühleis /Sternagel (Hg.): Die Gegenstände unserer Kindheit, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2019, S. 111–119.

In Gedanken: singen

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