Читать книгу Die Katze am See - Ralf Steinit - Страница 6
Eins
ОглавлениеDer Kater lag auf der Terrasse vor dem Haus. Seine Ohren warfen lange Schatten über den warmen Stein. Drei Tage hatte er in stickiger Hitze unter dem Sofa verbracht und durch die geöffnete Flügeltür auf den See geschaut. Am Abend des dritten Tages war ein kühler Wind aufgekommen. Der Wind fuhr durch die Äste der Bäume am Ufer. Er bewegte das Wasser des Sees. Der Kater hatte dem Wind nicht widerstehen können. Es war ein wohltuender Wind, der seine Schnurrhaare wippen ließ. Ein Wind, der Schönwetterwolken über den Himmel trieb.
Als die Schönwetterwolken das andere Ufer erreichten, stieg ihm ein sumpfiger Geruch in die Nase. Er kam vom westlichen Rand des Sees, wo die Erlen der Bruchwaldzone über den Schilfgürtel ragten. Der Kater mochte den Geruch des Waldes nicht. Es schien der Geruch der Natur zu sein. Der Kater war skeptisch, was die Natur anging.
Sie hatte ihn in seinen Korb gesetzt und den Korb auf dem Beifahrersitz angeschnallt. Die Autobahnfahrt war eine Abfolge blauer Schilder gewesen, die in hoher Geschwindigkeit auf ihn zugekommen waren. Er hatte die Schilder durch den Schlitz im Deckel des Korbes gesehen, während er zwischen Erbrechen und Erleichtern geschwankt hatte. Bei Lehnin waren sie von der Autobahn abgefahren, um den Ort mit den Backsteinbauten des Zisterzienserklosters zu durchqueren. Als das Kopfsteinpflaster am Wagen gerüttelt hatte, war die Angst in ihm hochgekrochen. Die Reste seiner Würde hatten sich verflüchtigt, und sein glänzendes Fell war stumpf geworden.
Nachdem sie den Ort passiert hatten, waren sie auf eine Landstraße gekommen, die durch dichten Mischwald führte. Der Landstraße war ein Sandweg gefolgt. Die Fahrt hatte in der Abgeschiedenheit dreier Häuser am Ufer eines Sees geendet.
Er war Didier de Marche, Träger des Ordens der Ehrenlegion. Zu seinen Freunden zählten Jacques Derrida, Benito Mussolini und Paul McCartney. Als sich der Deckel des Korbes geöffnet hatte, war er augenblicklich unter dem Sofa verschwunden. Er wollte das Haus nicht erkunden, er wollte nicht durch die Flügeltür auf die Terrasse gehen. Er war zu Recht wütend, weil man ihn gegen seinen Willen an einen Ort zwischen Wald und Wasser gebracht hatte, an dem die Mückenschwärme in der Dämmerung tanzten. Zudem gab es Katzen in diesem Haus, mehrere fremde Katzen. Er konnte sie riechen. Der Kater war skeptisch, was fremde Katzen anging.
Er war unter dem Sofa geblieben und hatte das Essen unberührt stehen lassen. Zumindest das Essen, das als reguläre Mahlzeit galt. Den Mozzarella, der in winzige Stücke geschnitten auf Tellern unter das Sofa geschoben worden war, hatte er regelmäßig in kurzer Zeit verschlungen. Er wollte es nicht als ein Zeichen abnehmender Wut verstanden wissen, musste sich allerdings eingestehen, dass es genau so gewertet werden würde. Hätte er den Büffelmozzarella etwa umkommen lassen sollen? Wahrscheinlicher war es, dass sich die anderen Katzen über seine Sondermahlzeiten hergemacht hätten.
Andere Katzen! Sie hatten ihn schnell bemerkt. Zähne waren gezeigt worden. Er befand sich im Revier eines getigerten Katers, dessen makellose Schneidezähne in vollständigen Reihen standen. Der getigerte Kater hatte gefaucht und mit der Pfote auf den Boden geschlagen. Es gab einen zweiten Kater, der pantherschwarz und fettleibig war. Er schlich mit abwärts gebogenem Schwanz tief geduckt um das Sofa.
Inzwischen lag die Terrasse im Schatten. Die Sonne hatte sich hinter die Bäume am westlichen Ufer des Sees gesenkt. Der Kater richtete seine Ohren auf das ferne Geräusch eines Motorbootes. Je näher das Boot kam, umso mehr kniff er die Augen zusammen. Schmal wie Schlangenaugen waren sie, als das Boot hinter der Insel verschwand. Er hob eine Pfote vor das Gesicht und putzte sie sorgfältig zwischen den Krallen, wobei er die Pflege für einen Moment unterbrach, um dem Boot, das auf der anderen Seite der Insel zum Vorschein gekommen war, finster nachzuschauen.
Während die Geräusche des Bootes an Lautstärke abnahmen, ging der Kater dazu über, sein rechtes Vorderbein zu putzen. Er löste verknotete Haare mit den Zähnen und leckte das Fell von der Schulter bis zur Pfote. Das Fell des Katers war schwarz, die Pfoten aber waren weiß, zudem der Bauch, die Brust und die Schnauze, wobei sich im weißen Fell neben der Nase ein schwarzer Fleck und unter dem Kinn ein schwarzer Streifen befand. Der Kater war der Ansicht, dass ihm Fleck und Streifen ein verwegenes Aussehen gaben. Er drehte den Kopf weit zurück, um so gut es ging sein Rückenfell putzen zu können. Aus den Augenwinkeln sah er die Mückenschwärme über dem See. Springende Fische fielen klatschend auf die Wasserfläche.
Der fettleibige Kater näherte sich von der Flügeltür her und setzte sich etwa einen Meter entfernt auf den Granit. Aus dem pantherschwarzen Fell des Kopfes schauten smaragdgrüne Augen, die nicht aufhörten zu blinzeln, bis sie selbst ein Blinzeln erhielten. Unter beständigem Gähnen ließ sich der fettleibige Kater auf die Seite fallen.
„Es ist für uns alle eine neue Situation“, sagte er und sein gewaltiger Bauch wackelte. „Möglicherweise wird die Konstellation Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Andererseits bekommen wir plötzlich besseres Essen. Ich heiße Ludwig und du musst Didier sein.“
Der Kater betrachtete Ludwigs mächtigen Bauch und malte sich die Wirkung besseren Essens auf dessen Umfang aus. Der fette Kater würde bei einer weiteren Zunahme kaum noch mit den Pfoten auf den Boden reichen. Das Fell des riesigen Bauches war an manchen Stellen nicht mehr vorhanden, was den Schluss nahelegte, dass der Bauch über Parkett, Granit und Rasen schleifte.
Der Name des Katers hatte kein Geheimnis bleiben können, denn er war in den vergangenen drei Tagen beständig zu hören gewesen, sobald Tamira ihre Arbeit unterbrochen hatte. Der Kater hätte antworten können, dass er tatsächlich Didier genannt wurde und die Situation für ihn mit Sicherheit unangenehm war, weil man ihn aus seinem Revier entführt hatte, um ihn über Autobahn und Kopfsteinpflaster zu fahren, und er sich nun in einem Haus mit mehreren fremden Katzen befand. Zudem würde sich für ihn in der Frage des Essens nichts verbessern, da er befürchten musste, dass sich ein fetter Kater über seinen Teller mit Thunfisch, Lachs oder Huhn hermachte, sobald er kurz in die andere Richtung schaute. Der Kater hätte gern ein wenig Hühnerbrust gegessen, er war allerdings noch immer im Hungerstreik und den würde er auch nicht beenden, nur weil er nicht mehr unter dem Sofa hockte. Er konnte sich aber auf lange Sicht nicht allein von Sondermahlzeiten ernähren, obwohl er es, wenn es um Mozzarella ging, durchaus darauf hätte ankommen lassen. Der Kater hatte einen wiederkehrenden Traum, in dem es Mozzarella regnete.
Anstatt zu antworten, setzte er sich aufrecht hin, gähnte ausgiebig in Ludwigs Richtung und begann, eine Pfote über Kopf und Ohren zu ziehen, wobei er die Pfote zwischendurch mit der Zunge befeuchtete. Ein Käfer, der in einem unbestimmten Kurs über die Terrasse lief, kam ihm mehrmals so nah, dass er vorsichtshalber ein Stück zurückwich. Er hatte eine böse Erinnerung an einen Käfer, den er gejagt, erlegt und gegessen hatte. Eine Woche Durchfall hatte ihm dieser Käfer eingebracht. Der Kater ging den Käfern lieber aus dem Weg.
„Möchtest du vielleicht zum See mitkommen?“, fragte Ludwig. „Wir könnten uns auf den Steg setzen. Die Fische springen gerade und manchmal landet einer auf den Planken. Ich würde die Fische ja aus dem Wasser holen, doch ich fürchte, meine Technik ist nicht gut genug.“
Der Kater konnte sich vorstellen, wie der fette Ludwig auf seinem drallen Bauch lag und versuchte, mit den Pfoten die Fische im Wasser zu erreichen. Nun war er auch nicht gerade die Art von Katze, die ihr Essen gewöhnlich selbst fing. Er schaute über den abfallenden Rasen zum Wasser, wo ein schlecht befestigtes Ruderboot im Rhythmus der Wellen gegen die Stegpfeiler schlug. Es gab einen weiteren Steg, der zum Nachbarhaus auf der rechten Seite gehörte, und einen dritten beim links gelegenen Haus. Am Steg des linken Nachbarn war gleichfalls ein Ruderboot befestigt. Die Mücken tanzten ihren Hochzeitstanz, die Fische sprangen.
„Ich denke, wir machen es an einem anderen Tag, Ludwig. Der Sommer ist lang, da ergeben sich bestimmt noch Gelegenheiten.“
Ludwig schien hocherfreut zu sein, er rollte sich auf den Rücken und zurück auf die Seite. „Gut, an einem anderen Tag. Oskar wird dann gewiss auch mitkommen. Er ist ein brillanter Fischer und er überlässt mir immer den größeren Teil des Fangs.“
Oskar musste der getigerte Kater sein. Er hatte entweder mildtätige Charakterzüge oder er wollte den fetten Kater zum Platzen bringen. Im selben Augenblick kam er um die Ecke des Hauses. Didier streckte die Beine und richtete sich zu voller Größe auf. Das Fell war entlang seines Rückgrats gesträubt. Die aufgestellten Ohren drehten sich zur Seite. Seine Bewegungen liefen in einer kaum erträglichen Langsamkeit ab. Er zeigte dem auf einen halben Meter herangekommenen Kater die Flanke und starrte ihn aus engen Pupillen an. Der getigerte Kater starrte zurück. Er hatte die Beine gestreckt, das Fell gesträubt und die Ohren zur Seite gedreht.
Didier hatte durchaus Verständnis für die Aggressivität des getigerten Katers, schließlich war er unvermittelt in dessen Revier eingedrungen. Andererseits befand er sich nicht freiwillig in diesem Revier, er wäre viel lieber in der kleinen Wohnung geblieben, um vom Fensterbrett aus die Vögel auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses zu beobachten. Er starrte, bis ihm die Augen wehtaten. Der getigerte Kater bewegte sich nicht. Dieser Kater war ein Monument des Starrens und der Schmerz in Didiers Augen nahm zu. Er hätte die Augen so gern für einen Moment geschlossen oder zumindest ein Bein verlagert. Er war kurz davor, das Bein zu verlagern, als sich Ludwigs außerordentlicher Bauch zwischen die starrenden Augenpaare schob: „O bitte, diese Streitigkeiten führen zu nichts. Hier ist genug Platz für jeden von uns.“
Didier war froh, dass er das Starren abbrechen konnte, und wenn es genug Platz für Ludwig gab, schien der Kampf um den Raum des Reviers tatsächlich unnötig zu sein. Didier hob sehr langsam sein rechtes Vorderbein. Oskar fauchte abschließend und dann gähnten alle und schauten in verschiedene Richtungen.
Mit der Dämmerung begann das Konzert der Frösche. Der Abendstern stand im Westen über dem Wald. Auf der anderen Seite des Sees zeichneten sich die Lichter einer Ortschaft ab. „Didier möchte mit uns fischen gehen“, sagte Ludwig und schaute zu dem Abschnitt des Ufers hinüber, an dem die Frösche sitzen mussten.
„Didier? Was ist das für ein Name? Klingt es nicht französisch?“, fragte Oskar.
„Ich bin Didier de Marche“, antwortete Didier, obwohl er nicht direkt angesprochen worden war. Er versuchte erst gar nicht, den belehrenden Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. „Ich stamme aus der Familie de Marche, die in der Normandie ansässig ist. Wir wohnten damals in Cabourg in der Nähe des Grand Hotels an der Promenade des Anglais. An die Seine sind wir aber bereits mit den Wikingern unter Rollo gekommen.“
„Mit den Wikingern!“, sagte Oskar zu Ludwig. „Er hat eindeutig etwas von einer Norwegischen Waldkatze.“
„Mein Vater war tatsächlich eine Norwegische Waldkatze. Ich habe ihn allerdings niemals kennengelernt, da er sich lediglich auf der Durchreise in Cabourg befand. Meine Mutter war eine französische Dame. Sie hatte ein seidenweiches Fell, das nach einem eleganten Duftwasser roch. Während der langen Nachmittage pflegte sie mit mir Karten zu spielen und das Meer hing wie ein Gemälde an der Wand einer Ausstellung impressionistischer Maler. Am Abend aßen wir im Hotel, wo das elektrische Licht durch den großen Saal flutete. Der Saal wurde zu einem wundersamen Aquarium, vor dem sich die arbeitende Bevölkerung versammelte, um unsere Gewohnheiten zu beobachten, die ihnen so fremdartig erschienen wie exotische Fische. Das waren die Armen! Maman ließ die Reste unseres Abendessens zu den bedürftigen Familien bringen.“
„Abendessen“, sagte Ludwig, ohne den Blick von der Stelle abzuwenden, an der die Frösche hockten.
„Ludwig, du weißt, wie es endet, wenn du versuchst, Frösche zu essen“, gab Oskar zu bedenken und hob eine Pfote, als ob er einen Angriff abwehren wollte.
„Ich habe gehört, dass die Franzosen Frösche essen“, verteidigte sich Ludwig, „zumindest essen sie die Schenkel. Ich hätte dem Frosch lieber nicht in den Kopf beißen sollen. Wann gibt es denn Abendessen? Sie hat unser Abendessen offensichtlich vergessen!“
Tamira war seit dem Nachmittag nicht aus dem Arbeitszimmer gekommen und nun war es beinah dunkel. Didier befand sich zwar im Hungerstreik, doch das bedeutete nicht, dass die festen Essenszeiten nicht mehr galten. Zudem hatte es seit vielen Stunden keinen Mozzarella gegeben.
„Immerhin erinnerst du dich an deine Mutter“, sagte Ludwig zu Didier und legte seinen Kopf auf dem Terrassenstein ab. „Ich kann mich nicht daran erinnern, was vor dem Tierheim war.“
„Wenn es um seelische Erschütterungen geht, bist du bei mir an der richtigen Stelle.“ Didier schaute von Ludwigs Kopf zu seinem Bauch. „Es ist zu vermuten, dass du die Essstörung entwickelt hast, weil du unter dem Gedanken leidest, dass deine Mutter dich abgelehnt haben muss. Natürlich leidest du auch darunter, dass dieser Gedanke auf falschen Annahmen beruhen könnte. Es besteht zudem die Möglichkeit, dass vor dem Tierheim etwas Schreckliches geschehen ist und dein Gehirn die Erinnerung daran blockiert.“
„Er ist dick, weil er große Mengen an Essen verdrückt“, sagte Oskar.
„Wer behauptet, dass ich dick bin?“, fragte Ludwig. „Ich bin nicht dick und ich habe keine Essstörung.“
Didier wollte gerade antworten, dass er den Begriff dick für einen Kater, dessen Bauch über den Boden schleifte, durchaus gelten lassen würde, als ein Scheinwerferlicht durch die Hecke an der Grundstücksgrenze auf die Terrasse fiel und sich über die Katzen hinweg auf das Haus zu bewegte. Es leuchtete für einige Sekunden die Wand an und erlosch. Der Motor des Autos wurde abgeschaltet. Die Autotüren schlugen zu. Es waren Schritte und menschliche Stimmen zu hören, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür. Nachdem die Menschen eingetreten waren, blieben die Katzen allein mit dem Quaken der Frösche zurück.
Didier versuchte sich vorzustellen, wie der dicke Ludwig in den Kopf eines Frosches biss, den er mit beiden Pfoten festhielt, als das Geräusch splitternden Glases vom Nachbargrundstück her zu ihnen drang. Größere Glasscherben fielen zu Boden und barsten beim Auftreffen in winzige Stücke, die sich über die Steine der Terrasse verteilten. Inmitten des Glases schlug etwas Schweres auf. Dem Aufschlag folgte ein unterdrücktes Stöhnen. Ein menschlicher Körper erhob sich, das Glas knirschte unter den Sohlen der Schuhe. Nach zwei eiligen Schritten erklang ein kaum unterdrückter Schrei, der die Frösche verstummen ließ, ein weiterer Aufschlag und ein nicht im Geringsten unterdrücktes Heulen. Der Mensch kroch den Rasen hinab in Richtung des Wassers. Die Katzen konnten ihn nun über die Hecke hinweg sehen. Am Steg richtete sich der Mann auf. Er zog ein Bein nach, während er sich über die Stegplanken bewegte. Vorsichtig kletterte er in das Ruderboot, löste das Seil und stieß das Boot vom Steg ab. Umständlich setzte er sich auf die Ruderbank, hob das verletzte Bein mit beiden Händen hoch und legte es sorgsam auf dem Bootsrand ab. Er schaute sich im Boot um und schrie dann ohne jede Hemmung, dass die Vögel in den Bäumen am See aufflogen.
„Abendessen“, wiederholte Ludwig und es klang wie ein Echo der Klage des Mannes im Boot, in dem sich offenbar keine Ruder befanden. „Was ist nur mit dem Abendessen?“ Der Mann hatte inzwischen ein winziges Paddel entdeckt. Ein Spielzeugpaddel in einem schweren Ruderboot. Er streckte das Paddel dem Nachthimmel entgegen und lachte ein bitteres Lachen.
„Es kann doch nicht richtig sein, dass wir kein Abendessen bekommen“, sagte Ludwig. Im oberen Stock des Hauses ging das Licht an und warf ein helles Rechteck auf die Terrasse. In dem hellen Rechteck saß Didier, der zu dem Ruderboot schaute, das sich ein Stück vom Steg entfernt hatte. Der Mann legte sich auf den Bug des Bootes, sein Körper ragte über die Bootsspitze hinaus. Er griff das Paddel mit beiden Händen und tauchte es entschlossen ins Wasser. Das Boot fuhr langsam über den See, nah an der linken Seite der Insel vorbei, hinter der es dann nicht mehr zu sehen war.
Tamira Heidbidder stand im Rahmen der Flügeltür. Sie band ihr Haar zu einem Knoten und schloss die Knöpfe ihrer Hose. Das Licht leuchtete nun auch im unteren Teil des Hauses. Tamira schaltete zudem die Terrassenbeleuchtung ein, während sie den Versuch einer Rechtfertigung unternahm: „Ich bin bei der Arbeit eingeschlafen. Wie konnte das passieren? Einfach eingeschlafen! Es ist nur deswegen dazu gekommen, weil ich die ganze vergangene Nacht gearbeitet habe.“
Ludwig schien an der Ursache nicht interessiert zu sein. Er schrie Tamira in einem Ton an, der so vorwurfsvoll wie mitleiderregend klang. Didier befand sich bereits auf dem Weg zu Tamira. Sie hatte den Eindruck, er würde sich an ihren Beinen reiben wollen. Im letzten Moment fiel ihm offenbar ein, dass er noch immer beleidigt war. Er drehte schnell wieder um und setzte sich ein Stück abseits auf den Rasen.
Im Nachbarhaus gingen die Lichter ebenfalls an. Es erschien ein Mann auf der Terrasse, der vorsichtig nach allen Seiten Ausschau hielt. Oskar stimmte in Ludwigs Schreien ein. Das Schreien der Katzen mischte sich mit dem Quaken der Frösche.
Tamira öffnete ihren Haarknoten und band ihn erneut. „Ihr müsst am Verhungern sein“, rief sie, um in die Küche zu eilen, wo sie im Kühlschrank das Lendenstück fand, das sie am Vormittag in einem Hofladen kurz hinter Rochow gekauft hatte.
Sie halbierte die Rinderlende und teilte eine der Hälften in bohnengroße Stücke. Ludwig, der ihr in die Küche gefolgt war, beobachtete alles genau. Er stieß in regelmäßigen Abständen einen kurzen, hohen Klageschrei aus, auf den Tamira mit der Versicherung antwortete, dass sie das Essen so schnell es ginge servieren würde. Sie bereitete eine schwache Brühe, in der sie die Rindfleischstücke erwärmte, und tat ein wenig Salbei dazu. Es dauerte seine Zeit. Als das Essen fertig war, gab Ludwig nur noch stumme Schreie von sich. Er lag auf seinem ungeheuren Bauch und öffnete den Mund zu einer tonlosen Klage. Im Anschluss ließ er die Stirn auf den Boden sinken. Tamira verteilte die Rindfleischstücke zu gleichen Teilen auf drei Teller, stellte die Teller auf dem Küchenboden ab und verließ die Küche, um nach den anderen beiden Katern zu suchen.
Auf der Terrasse fand sie Didier im unsteten Blaulicht eines Polizeiwagens, der vor dem Nachbargrundstück parkte. Er hob ein Bein und kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr. An seiner hochgereckten Nase ließ sich erkennen, dass der Geruch der Rinderlende nicht unentdeckt an ihm vorbeigezogen war. Tamira wusste, dass er Rindfleischstücken in Brühe nicht widerstehen konnte. Eine Spur Salbei machte es noch interessanter. Sie hatte geahnt, dass sich der Kater nicht haltlos auf die Lendenstücke stürzen würde. Ein haltloses Stürzen war mit der Notwendigkeit der Wiederherstellung seiner Würde unvereinbar. Seine Würde konnte nur in einem langen Hungerstreik unter Zurschaustellung seines anhaltenden Missmuts zurückerlangt werden. Auf der anderen Seite waren da Lendenstücke mit einer Spur Salbei. Tamira hoffte, dass der Kater schwach werden würde. Während sie sich fragte, wieso ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Nachbargrundstück parkte, sah sie Didier dem Geruch der Lendenstücke nachgehen.
Tamira schlich hinter ihm durch die Flügeltür. Oskar hatte sich inzwischen in der Küche eingefunden. Die beiden Kater aßen die Rindfleischstücke von ihren Tellern. Didier schaute ihnen beim Essen zu. Es waren drei Teller für drei Katzen. Tamira fürchtete, dass sich Ludwig in Kürze über Didiers Anteil hermachen würde. Sie hatte den Eindruck, dass seine Augen bereits auf den Fleischstücken des dritten Tellers ruhten. Sobald er mit seinem Rindfleisch fertig war, würde er gewiss zu dem freien Teller wechseln und von dort schwer zu vertreiben sein.
Didier lief langsam in Richtung des Tellers und es schien Tamira, er würde versuchen, seinen steil aufgerichteten Schwanz in einen Winkel unter 45 Grad zu drücken. Er roch zunächst an dem Rindfleisch, als ob er der Herkunft des Fleisches misstraute, und schaffte es tatsächlich, den Kopf in gespielter Gleichgültigkeit abzuwenden. Noch länger konnte er sich allerdings nicht zurückhalten.
Als sich Didiers Zähne in die Lendenstücke gesenkt hatten, brachte Tamira ihre Freude über das Ende des Hungerstreiks durch ein anhaltendes Kreischen zum Ausdruck. Oskar machte einen Satz auf die Arbeitsplatte und stand dort mit angelegten Ohren. Ludwig sah in seiner Schockstarre aus, als ob er sich unter den Teller verkriechen wollte. Didier aß in Ruhe weiter, er schluckte das Lendenstück und gab Tamira ein Gurren zurück.
Die Katzen waren noch beim Essen, als es an der Tür klingelte. Tamira öffnete. Es stand ein Polizist in blauer Uniform vor ihr. Die achteckige Mütze war ein wenig zum linken Ohr hin verschoben. Er trug keine Jacke. Sein hellblaues Hemd hatte Schulterklappen und der marineblaue Schlips endete auf der Gürtelschnalle. Die Bügelfalten der marineblauen Hose waren zum Brotschneiden scharf, das Kinn glatt rasiert. Seine dunklen Augen machten den Eindruck, als könnten sie zu einer passenderen Zeit erheblich wärmer blicken.
„Entschuldigen Sie die Störung“, sagte er. „Es gab gerade einen Einbruch bei Ihren Nachbarn.“ Er deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach links, um die Nachbarn näher zu bestimmen.
„Gohlitz“, beeilte sich Tamira hinzuzufügen, als ob sie glaubte, dass die Kenntnis des Namens sie zwangsläufig aus dem Kreis der Verdächtigen ausschloss.
„Gohlitz“, wiederholte der Polizist. „Der Täter könnte noch in der Nähe sein. Es wäre möglich, dass er sich in der Umgebung versteckt.“
„Hier im Haus ist er ganz sicher nicht“, sagte Tamira und beschrieb mit ihren Armen einen Kreis, der alles im Haus einschließen mochte und gleichzeitig zu einer Durchsuchung einlud, weil sie nichts zu verbergen hatte und flüchtigen Einbrechern bestimmt keinen Unterschlupf gewährte. „Hier sind nur die Katzen.“
Um die Anwesenheit der Katzen zu belegen, erschien Didier im Durchgang zum Flur. Er leckte seine Oberlippe und betrachtete gleichzeitig den Polizisten. Es war keine Neugier, er schaute eher, als hätte er etwas Unangenehmes entdeckt, mit dessen Eintreffen er bereits gerechnet hatte.
„Was für ein hübsches Tier“, sagte der Polizist. Ludwig, der nun auch im Durchgang erschien, erhielt nach kurzem Zögern die Bezeichnung „stattlich“. Oskar, der sich zu ihnen gesellte, wurde mit einem schlichten „getigert“ angesprochen. In Anwesenheit der Katzen nahm der Polizist den Gesprächsfaden wieder auf. „Ich habe nicht vermutet, dass er sich hier im Haus versteckt, aber wenn Sie erlauben, würde ich gern das Grundstück absuchen. Zu Ihrer Sicherheit, verstehen Sie. Herr und Frau Gohlitz haben den Täter bei seinem Einbruch überrascht, sie wissen aber nicht, wo er abgeblieben ist. Zudem könnte er sich verletzt haben und dann bliebe ihm keine Möglichkeit zur Flucht.“
Ludwig sprang unvermittelt auf und drehte sich mehrmals im Kreis, während er auf eindringliche Weise lang gezogene Laute hervorbrachte. Tamira glaubte, er hätte noch immer Hunger, und holte ihm aus der Küche einige Stücke Rindfleisch, die sie zu diesem Zweck aufgehoben hatte. Dem Polizisten versicherte sie, dass er jederzeit in den Garten gehen könne, die Terrassenlichter wären bereits eingeschaltet. Ludwig machte sich augenblicklich über die Rindfleischstücke her und so glaubte Tamira, sein Anliegen richtig gedeutet zu haben. Nachdem alles in Ludwigs Magen verschwunden war und er den Teller sorgfältig abgeleckt hatte, folgte er Oskar, der hinter dem Polizisten durch die Flügeltür gelaufen war. Didier schloss sich Ludwig an und Tamira wollte nicht allein zurückbleiben. Die Terrasse lag nach wie vor im unsteten Blaulicht des Polizeiwagens.
Der Polizist suchte den Einbrecher zunächst in der Nähe des Wassers. „Haben Sie vielleicht eine Beleuchtung am Steg? Ich würde gern unter den Bohlen nachschauen. Sonst müsste ich die Taschenlampe aus dem Wagen holen.“
„Nein, ich fürchte, wir haben keine Stegbeleuchtung“, antwortete Tamira und rieb sich die Arme, als ob ihr kühl wäre. Oskar strich um ihre Beine, dass sich Didiers Fell sträubte. Er machte sich so groß es ging und fauchte Oskar an. Oskar schien kurz davor zu sein, das Fauchen mit einem Prankenhieb zu erwidern.
Im Garten der Nachbarn war ein weißer Lichtstrahl zu sehen, der über die Büsche am Ufer wanderte. Der Lichtstrahl lenkte die Blicke der Kater auf sich. Didier und Oskar vergaßen ihren Streit. Das Licht wanderte über die Bohlen des nachbarlichen Stegs. Der Schattenriss eines zweiten Polizisten, der mit einer Taschenlampe in der Hand über den Steg schritt, zeichnete sich gegen den Nachthimmel ab.
„Haben Sie ein Boot?“, fragte er mit lauter Stimme. Von der Terrasse der Nachbarn hörte man eine Bestätigung. „Es ist nicht mehr da“, wandte er sich erneut an die Personen auf der Terrasse, bei denen es sich offenbar um Herrn und Frau Gohlitz handelte. „Mark?“, rief er dann in Richtung des Grundstücks, auf dem er seinen Kollegen vermutete.
„Er ist also mit dem Ruderboot verschwunden“, kam die Antwort aus dem Gebüsch an der Grundstücksgrenze, das der erste Polizist gerade durchsuchte.
Ludwig begann erneut, lang gezogene Laute hervorzubringen, als ob ihn das Wort Ruderboot dazu angeregt hätte. Tamira entgegnete, sie könne nicht glauben, dass er noch mehr essen wolle. In Anbetracht der Mengen an Essen, die er zu sich nähme, wäre sein Bauchumfang wirklich nicht verwunderlich.
„Höchstwahrscheinlich hat er das Boot genommen“, sagte der Polizist zu Tamira, nachdem er wieder auf die Terrasse zurückgekehrt war. Tamira dachte, er würde etwas hinzufügen wie: Bei Morgengrauen haben wir ihn eingeholt oder: Weit kann er mit der Verletzung nicht kommen, doch tatsächlich sagte er: „Wir werden zu Ihrer Sicherheit noch mehrere Stunden mit dem Wagen vor Ihren Häusern parken. Wenn Sie etwas beunruhigt, rufen Sie einfach laut.“
„Schön“, antwortete Tamira, „ich werde also laut rufen, Herr Wachtmeister.“
„Polizeimeister heißt es korrekt. Falls man noch genauer sein möchte, Polizeiobermeister, aber bleiben Sie ruhig bei Wachtmeister, wenn es Ihnen besser gefällt. Was ist eigentlich mit Ihren anderen Nachbarn?“
„Das ist Familie Emster, die sind wohl im Urlaub. Ein paarmal am Tag kommt jemand vorbei, der sich um den Hund kümmert.“
„Emster, ich erinnere mich. Sie sind hier zu Besuch bei der Professorin?“
„Ich hüte das Haus. Tamira Heidbidder.“
„Tamira“, wiederholte er. „Machen Sie sich keine Sorgen, er hat sich bestimmt mit dem Boot davongemacht, ansonsten bleiben wir ja eine Weile vor dem Haus. Mein Name ist Mark Reckahn.“
„Sie hören mich also möglicherweise rufen, Herr Polizeiobermeister.“
Didier achtete auf die Geräusche, die aus dem Haus kamen. Wasser floss in die Küchenspüle. Der Holzboden knarrte. Ein Nachtfalter flog beständig gegen die Wohnzimmerlampe. Der Wasserhahn wurde wieder geschlossen. Tamira lief die Treppe zum Obergeschoss hinauf.
Ludwig streckte sich, bis seine Vorderpfoten das helle Rechteck berührten, das vom Fenster des Arbeitszimmers auf die Terrasse fiel. „Sie verstehen die einfachsten Sätze nicht“, sagte er. „Es ist ja nicht so, dass es eine komplizierte Sprache wäre. Sie muss einfach sein, weil sie für die Kommunikation mit den Menschen entwickelt wurde. Zudem gebe ich mir besondere Mühe, deutlich zu sprechen. Er ist mit dem Ruderboot geflohen oder: Der Polizist hat recht, er ist mit dem Ruderboot abgehauen. Ich begreife nicht, wie man glauben kann, es hieße, dass ich noch mehr Essen will!“
„Die Probleme begannen mit der Erfindung der Schrift“, erklärte Didier, der sich auf die Seite legte und seinen Schwanz zwischen den Hinterbeinen hindurch zu seiner Schnauze führte, sodass er die Spitze des Schwanzes bequem putzen konnte. „Die Fixierung auf die Schrift musste die Fähigkeit der Menschen zum Hören und Fühlen zunehmend beschädigen. Diese Meinung vertrat zumindest mein alter Freund Konrad Lorenz.“
„Didier, du bist so klug“, freute sich Ludwig. „Es klingt auch ein bisschen nach Marshall McLuhan.“
„Ich erinnere mich, wie wir damals täglich mit den Graugänsen in der Donau schwammen.“ Didier schwenkte seinen Schwanz vor dem Gesicht, als ob er die Graugänse auf dem Rasen vor der Terrasse sitzen sah. Oskar schlug mit der Pfote nach dem Nachtfalter, der inzwischen gegen die Terrassenlichter flog. Während sich Ludwig gänzlich auf das helle Rechteck schob, beendete Didier die Reinigung seiner Schwanzspitze. Er erhob sich leise und zog die Krallen beim Laufen so weit es ging zurück. Von der Schwelle der Flügeltür aus drehte er sich noch einmal zu Ludwig und Oskar um und lief dann schnell in Richtung der Treppe zum Obergeschoss.
Nichts in dem Raum wies auf eine andere Katze hin. Der schwache Geruch einer Möbelpolitur auf Basis von Teebaumöl hing in der Luft und reizte ihn bisweilen zum Niesen. Oskar und Ludwig hatten das Arbeitszimmer mit Sicherheit niemals betreten. Didier begann sofort damit, sich an Türrahmen, Stuhl- und Tischbeinen, Regalbrettern und Sesselpolstern zu reiben. Er tat es mit dem Kopf, der gesamten Seite und seinem Schwanz, der dabei heftig zitterte. Im Anschluss sprang er auf einen Sessel, der dem Schreibtisch gegenüber stand. Es war ein geschwungener Sessel und er roch, als ob niemand zuvor auf ihm Platz genommen hätte. Der Kater lag dort wie ein halbes Wagenrad, die Beine glichen zur Achse hin gestreckten Speichen, über der Achse stapelten sich die weißen Pfoten. Er musste noch einige Male niesen und schlief dann ein.
„Ihr müsst schneller laufen, schneller!“ Zwölf große Männer trugen die Sänfte, an jedem der Holme befanden sich drei. Zwei Männer liefen mit Wedeln auf der Höhe des Katers, während ein weiterer Mann vor der Sänfte lief.
Auf dem Stuhl lag das Kissen. Auf dem Kissen saß der Kater, der mit dem Schwanz auf den Stoff des Kissens schlug. Die Wedelträger fächelten Wind. Der Kater knurrte. Ein langschnäbliger Vogel flog über die Sänfte hinweg. „Schneller! Schneller!“
Tamira hatte das Niesen des Katers gehört und ihn beim Markieren des Raumes beobachtet, bis er auf den Sessel gesprungen war. Sie ging die Kopie eines Aufsatzes aus Folia Neohellenica durch, in der sie einen Absatz angestrichen hatte, den sie in diesem Moment benötigte. Tamira schrieb ihre Dissertation in Neogräzistik. Die Betreuung ihrer Arbeit an der Freien Universität hatte Professor Edith Gotefrend übernommen. In deren Arbeitszimmer befand sich Tamira nun, weil Frau Gotefrend ihr vorgeschlagen hatte, das Haus für die Zeit ihres Aufenthalts in Griechenland zu hüten. Sie könne dort den Sommer über in Ruhe an der Dissertation arbeiten und sich nebenher um ihre beiden Katzen kümmern. Tamira hatte zugestimmt, weil ihr ein Haus an einem See gelegen kam und sich ihr Kater gewiss an der Gesellschaft anderer Katzen freute.
Der Titel ihrer Dissertation hieß: Die Darstellung der Obristendiktatur in der zeitgenössischen griechischen Kriminalliteratur. Nun gab es nicht viele griechische Kriminalromane, die in irgendeiner Weise mit der Militärdiktatur in Zusammenhang standen. Das konnte ein Vorteil sein, mochte sich aber auch als Nachteil erweisen. Tamira war sich darüber momentan noch nicht im Klaren. Sie beschäftigte sich gerade mit Georgios Potamidis, der in den Achtzigerjahren eine Reihe von Büchern geschrieben hatte, deren Handlung in die Zeit der Diktatur fiel. Potamidis hatte aufseiten der Kommunisten gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg gekämpft und war auch am Kampf im anschließenden Bürgerkrieg beteiligt gewesen. Unmittelbar nach dem Putsch im Jahr 1967 war er verhaftet und während der langen Haft gefoltert worden. Zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur hatte er plötzlich zu schreiben begonnen. Potamidis entwarf eine düstere Märchenwelt aus Verrat, Missgunst und Unbarmherzigkeit, in der es für niemanden Sicherheit oder Hoffnung gab. In keinem der Bände klärte der Kommissar einen einzigen der zahlreichen Morde auf. Er klärte die Morde nicht einmal auf, wenn er wusste, wer sie begangen hatte. Die historischen Ereignisse waren dabei gewissenhaft in die Handlung eingewoben. Tamira hatte bereits festgestellt, dass sämtliche Zeitangaben zu Rundfunkansprachen einer Überprüfung standhielten. Sie fand den angestrichenen Absatz in dem Artikel, wusste aber nicht so recht, ob sie die Stelle auf Potamidis anwenden konnte. Während sie zu tippen begann, sagte sie sich, sie würde es bestimmt beim Schreiben herausfinden.
Der Kater lag noch immer auf dem Sessel, inzwischen schlief er allerdings fest. Er hatte sich zusammengerollt, sodass seine Hinterbeine den Kopf berührten. Manchmal knurrte er und die Krallen seiner Pfoten fuhren aus, gelegentlich zuckte sein Ohr. Tamira schaute in regelmäßigen Abständen über die Oberkante ihres Notebooks zum Sessel hinüber. Vermutlich träumte der Kater vom Mäusefangen. Er würde durch das Roggenfeld schleichen, um einen Mäusebau zu belauern. Die Maus musste sich früher oder später zeigen. Er würde sie von hinten anspringen und mit einem Biss in den Nacken töten. Er würde das tote Tier in hohen Sprüngen umtanzen und schließlich im Ganzen verschlingen.