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Kapitel 2 - Das Raumschiff
ОглавлениеMan schrieb das Jahr 1979 und Ferdi war acht Jahre alt. Er war, wie Kinder in diesem Alter sind. Er hatte langes, hellbraunes Haar, zerzaust und meist sowieso ungekämmt. Das Haar schrie nach einem Friseur, doch Ferdi hasste es, zum Friseur zu gehen. Ausserdem war das nicht so schlimm, es waren schliesslich die Siebziger. Ferdis Eltern waren liberal und antiautoritär und liessen ihm weitestgehend seinen Willen. Er konnte tun und lassen was er wollte und aussehen, wie er aussah. Ihnen gefiel, wie er war und wie er aussah und ihm auch. Meist trug er schmutzige Jeans und ein schmutziges T-Shirt. Dazu hatte er schmutzige Hände und Dreck unter den Fingernägeln, dazu meistens auch noch Überreste des Frühstücks im Gesicht. Ferdinand war ein glücklicher Achtjähriger.
Er ging gerne zur Schule, war wissbegierig, aufmerksam und clever. Er hatte gute Noten, nette Freunde und wurde bei Gruppenspielen zwar häufig als Zweitletzter in eine Mannschaft gewählt, aber nicht als Letzter. Das war wichtig. Er war keine Sportskanone, aber er liebte Spiele, egal ob Fussball, Völkerball oder was auch immer und er brachte immer vollen Einsatz. Er mochte Mannschaftsspiele. Ferdi war nicht athletisch, aber auch nicht dick. Vielleicht ein bisschen pummelig, aber nicht dick. Auch das war wichtig, damit man nicht ausgelacht wurde.
Sie wohnten zu viert in einem kleinen Haus mit Garten in einer kleinen Stadt, die wohl als Schlafstadt bezeichnet werden konnte und in der nicht viel los war, doch ihm gefiel diese Ruhe. Man konnte auf der Strasse spielen, mit dem Fahrrad durch die Quartiere strampeln - Ferdi hatte zum Geburtstag ein tolles BMX-Rad geschenkt bekommen -, sich in einer der vielen Grünanlagen mit Freunden treffen und Räuber und Gendarm spielen. Oder Cowboy und Indianer, je nach Lust und Laune.
Alles in Allem war Ferdi ein Durchschnittskind aus einer Durchschnittsfamilie, lebte in einem Durchschnittshaus in einem Durchschnittsort. Und doch war Ferdi anders. Ferdinand Schwarz konnte fliegen. Und er konnte in eine andere Welt gehen.
Für einen Achtjährigen erschliesst sich nicht sofort, dass er anders ist als seine Freunde und als seine Familie. Alles ist neu, alles ist Spiel und die Welt ist jeden Tag ein bisschen anders. Als Ferdi entdeckte, dass er an einer bestimmten Stelle des Gartens fliegen konnte, wenn er sich sehr konzentrierte und sehr bemühte, schien es nichts Besonderes zu sein. Erst als er am Tisch beim Nachtessen davon berichtete, merkte er, dass weder seine Eltern noch seine Schwester das zu können schienen. Seine Eltern fanden, er hätte eine tolle Fantasie und es sei super, wenn er sich allein zu beschäftigen wisse… Seine grosse Schwester machte später klar, dass er NICHT fliegen konnte, NICHTS Besonderes sei, und dass er gefälligst NICHT lügen und solchen Mist erzählen solle! Ferdi wunderte sich zwar über die Heftigkeit dieser Reaktion, doch es störte ihn nicht weiter. Er wusste ja, dass er fliegen konnte! Wenn auch nur ein paar Zentimeter über dem Boden und nur um die eine Hausecke herum, aber es war klar, dass er fliegen konnte. Seine Schwester hatte doch keine Ahnung! Aber das war normal. So viel hatte er bereits verstanden, auch wenn er zwei Jahre jünger war.
Als er wenig später den Trick mit der Toilette herausfand, war er bereits ein bisschen vorsichtiger. Er fragte beim familiären Nachtessen ganz beiläufig, ob die anderen auch schon den Trick mit den Kacheln in der Toilette bemerkt hätten, und dass da ganz viele Knöpfe erschienen, wenn man auf die Kacheln drückte. Sein Vater sah ihn nachdenklich über den Rand seiner Brille an und ass weiter. Er schien erstaunt zu sein, aber nicht zu begreifen, was Ferdi erzählte. Seine grosse Schwester presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen (ein untrügerisches Zeichen, dass sie sauer war) und versuchte, unter dem Tisch nach seinem Schienbein zu treten. Ihr Blick verriet nichts Gutes. Seine Mutter meinte strahlend, er hätte eine grosse Vorstellungskraft und dass er sich alles vorstellen könne, was er wolle. Aus ihm würde sicher einmal etwas Grosses. Doch sie schien auch nicht wirklich zu wissen, wovon er sprach.
Das beschäftigte Ferdi einige Tage lang und jedes Mal, wenn er zur Toilette ging, prüfte er, ob die Knöpfe und die Displays noch da waren - und ja, sie waren jedes Mal da! Für ihn war klar, dass er sich nichts einbildete, was es nicht gab, da die Sachen ja da waren: er konnte die Knöpfe sehen und anfassen und damit spielen… Sie waren echt!
Wenn seine Eltern sie nicht sehen konnten, war das ihr Problem, beschloss er. Vielleicht brauchten sie ja auch nichts zum Spielen? Sie waren ja schon alt, aus seiner Sicht, und wenn er es sich recht überlegte, sah er sie fast nie spielen. Vielleicht war das ein Problem mit dem Alt-sein? Sie arbeiteten, statt zu spielen. Das verstand er nicht so ganz, aber es schien auch etwas mit dem Erwachsensein zu tun zu haben…
Was seine Schwester betraf, so war ihm schon lange klar, dass sie ihn nicht verstand. Sie wollte immer nur ihre Spiele spielen, und manchmal gefiel ihm das auch, aber manchmal auch nicht, und dann machte sie ein riesiges Tamtam deswegen. Aber sie war auch ein Mädchen und Mädchen waren irgendwie anders, das hatte er schon gemerkt. Sie waren viel komplizierter und wollten immer komplizierte Spiele spielen. Dabei war es so schön, sich einfach treiben zu lassen und mit den Playmobil irgendeinen Krieg zu spielen. Ferdi mochte das. Die Guten und die Bösen - das war doch ganz einfach?
Also erkundete Ferdi die Toilette weiter auf eigene Faust. Er hatte schon herausgefunden, dass die Kacheln an der Wand zu seiner Rechten - wenn er auf dem WC sass - sich antippen liessen und sich dann in die Mauer zurückzogen und eine Tafel mit Knöpfen hervorkam. Manchmal waren die Tafeln eben mit der Kachelwand, manchmal standen sie auch heraus. Unter der Kachel, die ihm am nächsten war, die vierte von unten auf der Höhe seiner Füsse, verbarg sich ein Joystick. Ferdi wusste, was ein Joystick war, denn er wünschte sich eine Spielkonsole mit Joystick. Er hatte sie schon hundertmal im Laden angeschaut. Doch er durfte keine haben. Der Joystick im WC war klein, aus Metall, schwarz, knubbelig und hatte unten eine Gummimuffe. Oben wurde der Joystick abgeschlossen von einem kugeligen, leicht abgeflachten Kopf mit einem roten und einem weissen Knopf. Er sah viel, viel besser und echter aus als der Joystick der Spielkonsole.
Ferdi hatte natürlich damit herumgespielt und auf die Knöpfe gedrückt, doch es war nichts passiert. Eine Kachel darüber war ein Tastenfeld mit Zahlen und einige Knöpfe mit seltsamen Symbolen drauf und nochmals darüber war ein kleines Anzeigefeld wie bei einem Taschenrechner, welches in einem moosigen grün leuchtete und zu pulsieren schien. Er hatte natürlich auch darauf herumgedrückt, doch nach kurzer Zeit leuchtete meist ein kleines, rotes Lämpchen auf und auf dem Bildschirm erschien die Meldung "ERROR". Ferdi wusste nicht, was das bedeutete, aber er stellte sich vor, dass er wohl etwas falsch machte.
Faszinierend war, dass der Spiegel über dem Handwaschbecken zu einem Fernseher wurde! Doch es lief nichts Spannendes in diesem Fernseher, er zeigte nur den Sternenhimmel, der sich langsam bewegte und Ferdi fand nicht heraus, wie man den Sender wechseln konnte. Als er jedoch das Wasser aufdrehte, um sich die Hände zu waschen, wurde der Fernseher dunkelgrau und ein farbiger, senkrechter Balken erschien, der grösser wurde, wenn Ferdi den Wasserhahn stärker aufdrehte und kleiner, wenn er ihn wieder zudrehte. Das funktionierte mit beiden Knöpfen. Drehte er am Kaltwasserknopf, erschien ein blauer Balken, und ein roter für den Warmwasserknopf. Unter dem roten Balken stand Haupttriebwerk und unter dem Blauen Hilfstriebwerk.
Ferdi wusste, was ein Triebwerk war, sein Vater war Ingenieur in einer grossen Fabrik. Dort gab es auch Triebwerke und Turbinen und Generatoren und solche Sachen. Sie hatten auch einen Riesencomputer und Ferdi hatte ihn anschauen dürfen. Er war fasziniert gewesen von all den Knöpfen, runden und halbrunden Anzeigen mit feinen Zeigern und den vielen Kabeln hinter dem Computer, der einen ganzen Raum füllte. Jetzt hatte er auch einen Riesencomputer, ganz für sich allein, dachte er. Nur Kabel gab es hier keine.
Neben der Toilette war die Badewanne. Es war ein kleines Badezimmer, kombiniert mit Toilette und einem kleinen Waschbecken, und es gab nur dieses eine Bad im Haus.
Als Ferdi in die Badewanne stieg, um die Kacheln auf dieser Seite auszuprobieren, öffnete sich am Abflussende eine Luke und eine dünne, mausgraue Matte rollte sich über die ganze Länge der Wanne aus. Er erschrak zuerst und flüchtete sich auf den Badewannenrand. Als sich die Matte ausgerollt hatte, stieg er wieder hinein und merkte, dass sie warm und sehr weich war, zugleich aber auch fester, als er angenommen hatte bei der geringen Dicke. Sie war nicht viel dicker als eine Wolldecke. Er legte sich hin und stellte fest, dass es sehr angenehm war, so zu liegen. Er schaute jetzt zum Ende des Bads hin, dort wo links die Toilette war und darüber das Fenster. Das Fenster war weg! Dafür war dort jetzt auch ein Fernseher! Das Bild war leider dasselbe wie auf dem Spiegel: ein langsam rotierender Sternenhimmel. Vorsichtig drehte Ferdi am Kaltwasserknopf der Badewanne. Es erstaunte ihn nicht weiter, dass kein Wasser herauskam, das wäre ja auch blöd gewesen, weil die Wanne jetzt schliesslich ein Bett war. Es schien ihm eigentlich ziemlich logisch zu sein. Als er weiter drehte, erschien auf dem Fenster-Fernseher wiederum ein Balken, wiederum in blau. Darunter stand Hilfsgenerator. Wie er es erwartet hatte, erschien ein roter Balken, als er am Warmwasserknopf drehte. Darunter stand Hauptgenerator.
Am Fussende der Wanne, unter dem Fenster-Fernseher, öffnete sich ein kleiner Schrank, zwei Kacheln breit und fünf Kacheln hoch, als er auf eine der grünen Fliesen drückte. Der Schrank schien recht tief zu sein und Ferdi wunderte sich, weil es doch die Aussenwand des Hauses war, und er das Gefühl hatte, dass die Mauer nicht so dick war, wie der Schrank tief. Doch die Verwunderung darüber war schnell verflogen, als er hineinschaute und Kleider und Schuhe darin fand. Vorsichtig nahm er das Kleidungsstück heraus, das dort an einer Stange hing. Es war eine Art Overall, so einen wie ihn sein Vater manchmal bei der Arbeit trug. Der seines Vaters war blau und sehr weit geschnitten. Dieser Overall war jedoch grau, mit einem silbrigen Schimmer. Und er schien sehr eng zu sein. Ferdi probierte ihn sofort an. Er zog ihn über seine Kleider und war erstaunt, wie elastisch der Anzug war. Er liess sich problemlos über die Kleider ziehen und sass danach wie angegossen. Er hatte genau seine Grösse. Der Anzug hatte Taschen auf beiden Brustseiten, auf beiden Oberarmen und an beiden Beinen. Er griff überall in die Taschen, aber sie waren alle leer.
Dann nahm er die Schuhe aus dem Schrank. Sie waren im gleichen Farbton gehalten wie der Overall, nur die Sohle war schwarz. Es waren Schlüpfschuhe, ohne Schnürsenkel, und sie sahen ein bisschen wie Turnschuhe aus, nur irgendwie kleiner und schmaler und sie waren ganz weich, wie der Stoff seines Overalls, und sie waren ein bisschen höher als Turnschuhe. Er streifte sie über und merkte, wie sie sich perfekt um seine Füsse schlossen, sich anschmiegten. Sie sassen wie eine zweite Haut. Er drehte sich in der Badewanne um, so dass er zum kleinen Spiegel über dem Lavabo schaute, um sich zu betrachten. Freundlicherweise war der Spiegel jetzt wieder ein Spiegel und kein Fernseher mehr.
Ferdi staunte. Er sah anders aus in diesem Kostüm… Älter. Es machte seine Schultern breiter und er bemerkte erst jetzt, dass der Anzug Epauletten hatte. Diese Schlaufen auf den Schultern, die er an Uniformen so mochte. Ferdi liebte Uniformen, er zeichnete und malte fast täglich Uniformen. Napoleon-Uniformen, Yankee-Uniformen, Tarnanzüge, Gala-Uniformen, alles Mögliche.
Die Ideen dazu hatte er aus seinen Bilderbüchern und von einem Militär-Büchlein, welches er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Und weil er immer so viel Wert auf die Hüte, den Schulterschmuck und die Orden legte, war meist am Schluss zu wenig Papier übrig für die Beine und die Schuhe. Also waren seine Uniformmännchen alle etwas kurzbeinig. Aber das störte ihn nicht. Er drehte sich und betrachte sich von allen Seiten. Die Uniform war toll. Er sah aus wie ein echter Soldat!
Die Kacheln auf der Längsseite der Badewanne entpuppten sich ebenfalls als sehr überraschend: die Kacheln in der Nähe der Mischbatterie waren genau gleich wie die bei der Toilette: Joystick, Tastenfeld, viele bunte Knöpfe. Aber die darüber liegenden Kacheln bargen ein Sammelsurium von spannenden Dingen: da gab es Seile, eine Taschenlampe, Werkzeug und sogar ein Schweizer Sackmesser! Taschenmesser, für Nicht-Schweizer, aber schliesslich hatte der Schweizer das Messer im Hosensack… Das bestaunte Ferdi hingegen nur von weitem, ohne es anzufassen. Er durfte noch kein Sackmesser haben, hatten seine Eltern gesagt...
Am Kopfende der Badewanne war ein Gestell, in dem sie normalerweise Seife, Toilettenpapier, Shampoo und solche Sachen aufbewahrten... Dort lagen jetzt Kekse, Schokolade, weisse Pillen in einer durchsichtigen Dose und ganz oben im Gestell - ein Helm! Der Helm war so eine Art Motorradhelm, kugelrund, silbrig, mit einem grossen, durchsichtigen Visier, welches man nach oben und nach unten schieben konnte. Ferdi setzte den Kopfschutz auf: er war leichter, als er gedacht hatte und er passte genau. Der Helm schien sich sogar seinem Kopf anzupassen. Zuerst drückte er etwas auf die Ohren, doch dann schien sich die Polsterung im Innern zurückzuziehen und der Druck war weg. Ferdi schob das Visier nach unten und sah sich wieder im Spiegel an. Er staunte nicht schlecht, als er merkte, dass er sein Gesicht im Spiegel nicht sehen konnte. Das Visier war dunkel geworden! Von innen betrachtet schien das Visier jedoch glasklar… Es war verblüffend!
Ferdi sah sich nochmals im Spiegel an und auch wenn er die Beine und die Füsse dabei nicht sehen konnte, so wusste er instinktiv, was er da sah: einen Piloten. Einen Raumschiff-Piloten!