Читать книгу Unter Barbaren - Ralph Ardnassak - Страница 5
III
ОглавлениеKlatt fährt aus dem Schlaf hoch, sein Kopf schmerzt heftig, und er verspürt eine seltsame Mischung aus Durst und Übelkeit, die, wie er weiß, vom Biertrinken kommt. Ein Wecker piepst, ein hoher, unangenehmer, rhythmischer Ton. Klatt weiß, es ist ihr Wecker. Der Wecker der Schrock hat geklingelt. Es ist fünf Uhr. Die Schrock müsste aufstehen, denn um sieben beginnt ihr Arbeitstag. Aber sie bleibt liegen und rührt sich nicht, wie immer: Klatt richtet sich mühsam auf und tastet in der Dämmerung nach dem weißen Fleck auf dem Regal, der ihr Wecker sein muss. Er patscht ihn aus. Er würde das nicht tun, und er tut es nicht um ihretwillen. Aber er weiß, dass die Schrock den Wecker lärmen lassen würde, bis zur Erschöpfung der Batterien. Das stört Klatt, und er weiß auch, dass die Wände hellhörig sind: die Nachbarn. Die Schrock weiß, dass Klatt, der Trottel, schon wach werden wird. Auf den kann sie sich verlassen. Der funktioniert präziser, als ihr Wecker. Klatt patscht den Wecker aus, und dann rüttelt er die Schrock, das zusammengekrümmte Bündel unter der Decke neben sich, dass seine Frau sein sollte, dass ihm fremd und feind ist, wie ein unheimlicher Eindringling. Auch das tut er nicht um der Schrock willen. Aber er weiß, sie wird sonst verschlafen, irgendwann wird sie aufwachen und aggressiv feststellen, er hat sie nicht geweckt. Er und das Kind würden es ausbaden müssen, ihre Aggression und ihre Laune. Vielleicht würde sie dann wütend das Bad blockieren und extra lange duschen, und das Kind würde dann nicht rechtzeitig fertig werden und womöglich seinen Schulbus verpassen, was ihr ganz egal zu sein schien. Also weckte Klatt die Schrock lieber, indem er sie rüttelte. Sie wusste, sie konnte sich darauf verlassen. Aber sie reagierte mit einem bösen verhaltenen Knurren unter ihrer Decke hervor. Sie war wütend, nicht auf ihre Arbeit oder den Wecker, sondern auf diesen Trottel, der sie da aus dem Schlaf riss, wie jeden Morgen! Hätte er sie nicht geweckt, wäre sie aus diesem Grunde auf ihn wütend gewesen, das wusste sie genau! So oder so hätte er ihre Wut zu spüren bekommen, ihm blieb keine Alternative, aber das war nicht ihr Problem, denn dazu war er ja schließlich da! Warum hatte er sie denn geheiratet?! Sie konnte sich auf den Trottel verlassen. Der würde sie immer wieder wecken, ganz gleich, ob sie ihn anschrie oder nach ihm schlug oder trat, was auch hin und wieder schon passiert war. Sie knurrte also ein wenig, drohend, nicht allzu laut. Es war eine Warnung an den Trottel. Und der würde sie nun noch ein paar Minuten liegen lassen, ehe er wieder versuchen würde, sie zu wecken. Und so geschah es jeden Morgen, drei- oder viermal, bis sie endlich wütend aufstand und ins Bad ging, um sich zu duschen. Klatt lag dann noch ein wenig wach. Die Hände unter dem Hinterkopf verschränkt, lag Klatt im Bett. Und draußen, in den anderen Blocks, gingen die Lichter an, bei denen, die noch Arbeit hatten. Klatt lag im Bett, und er wartete darauf, dass die Tür hinter ihr ins Schloss fallen würde. Aber sie trödelte zu lange herum, die Schrock, mit Duschen und Haare waschen und Zähneputzen und Schminken. Dann qualmte sie ihm schon am frühen Morgen die Küche voll, zwei oder drei Zigaretten rauchte sie hastig, noch vor dem Weggehen. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte das Bad allein für sich, aber er konnte nicht länger warten, das Kind würde sonst den Schulbus verpassen. Und so stand Klatt auf, kochte Kaffee und deckte in der Küche den Tisch für sich und das Kind. Für die Schrock deckte er nie, denn aß erst mit ihren Kollegen. Hier, mit ihm und dem Kind, aß sie nie.
Klatt stellte zwei Frühstücksteller auf den Bistrotisch, zwei Tassen und zwei Messer, Butter. Die Vitaminmarmelade, die sein Kind gern aß und die Sauerkirschmarmelade. Dann nahm er ein Brötchen aus dem Schrank und legte es auf den Teller des Kindes. Jeden Morgen dieselbe Prozedur. Er öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm das Schulbrot des Kindes, damit es nicht vergessen wurde.
Dann steht die Schrock in der Küche. Schon fertig angezogen und geschminkt und mit ihren sechs Ringen an den Fingern.
Ihre Augen sind noch kleiner und böser. Klatt weiß nicht, ob er sie ansprechen soll oder nicht. Man kann nie vorhersagen, wie die Reaktion sein wird. Da ist es am besten, er schweigt. Genau das war verkehrt! Aber vielleicht wäre auch das Reden verkehrt gewesen! Die Schrock jedenfalls, bellt mit vor Wut heiserer Stimme in die kleine Küche: „Guten Morgen, heißt das! Schon mal was von Grüßen gehört? Anscheinend nicht! Was erwarte ich überhaupt von so einem Idioten?!“
Damit hat er sein Fett weg und ist in den Arbeitstag entlassen. Soll der doch sehn, wie er klarkommt! Und sie setzt sich an den Tisch, schenkt sich eine Tasse Kaffee ein, blättert in ihrer Illustrierten und raucht noch ein- oder zwei Zigaretten, denn sie hat noch ein paar Minuten Zeit.
Klatt geht ins Bad und macht sich fertig. Er atmet auf, als die Tür draußen ins Schloss fällt und Schritte treppab hörbar werden. Unten startet die Schrock das Auto und ist verschwunden. Klatt kann das Kind wecken und mit ihm frühstücken. Sie haben noch Zeit. Es wird ein friedliches Frühstück.
Klatt hat sein Kind zur Bushaltestelle gebracht. Ein heftiger Wind kommt die Straße herunter. Blätter wirbeln auf. Klatt sieht sich nach seinem Kind um, das mit den anderen Schülern auf den Bus wartet. Sein bunter Scout - Ranzen leuchtet. Klatt wendet sich ab. Er muss zum Seminar. Er fühlt sich ausgebrannt und müde. Seine Augen brennen. Er hat Angst, vor dem Seminar zu versagen, weil er nicht genügend vorbereitet ist, wie er findet. Angst bestimmt Klatts Leben. Er ist ihr Gefangener!
Klatt geht die wenigen Schritte von der Bushaltestelle bis zur Hochschule, vorbei an den alten Gebäuden, die auf die Zeit des Junkerswerkes zurückgehen. Klatt passiert das Pförtnerhäuschen der Hochschule. Die alte Frau Klapproth sitzt hinter der Scheibe und strickt.
Es geht auf halb acht. Klatt wird nicht der erste sein im Institut. Die neue, übereifrige Sekretärin wird bereits da sein, wie Klatt weiß. Übereifer kann eine lästige Sache sein. Aber er wird erklärbar, wenn man als junge Frau ein ganzes Jahr zu Hause war, arbeitslos. Arbeitslos und ohne Einkommen sind die Verlierer dieser Gesellschaft! Wer möchte schon auf Dauer dazugehören, in einer Zeit, in der Wissen nicht überall hoch angesehen wird! Man muss nicht unbedingt viel wissen oder können, heutzutage, um seinen Job zu behalten. Es hilft, an der richtigen Stelle den Mund aufzumachen, ihn aber auch zur rechten Zeit zu halten! Ein kurzer Rock kann helfen, eine tief dekolletierte Bluse, der Kaffee, dem man dem Chef auf Schritt und Tritt hinterher trägt, ein Kuchen, den man dem Chef bäckt oder eine kleine Denunziation und so weiter! Auf diese Weise sitzt mancher besser im Sattel, als ein fähiger Könner! Klatt versteht das, aber er hasst es! So soll nun einmal diese Zeit sein, diese Gesellschaft! Aber Klatt findet das krank. Krank und widernatürlich!
Klatt steigt mit dem Aktenkoffer die kurze Treppe zum Institut hinauf. Hinter der Tür erwartet ihn der Geruch von frischem Bohnerwachs. Die dürre, schielende Reinigungskraft versteht ihr Handwerk!
Klatt schließt sein Büro auf. Er kennt die Geräusche dieses Raumes: das leise Ticken der elektrischen Uhr neben der Tür und das Schnarren der Neonröhren nach dem Einschalten. Über seinen Schreibtisch hinweg mit dem Computer, vorbei an dem Bücherregal mit den bunten Rücken der betriebswirtschaftlichen Lehrbücher, blickt Klatt auf die Obstbäume von Schrebergärten. Dahinter, hinter einer dürren Reihe krank wirkender Erlen, dehnt sich das Feld bis hinunter zur Stadt an der Saale. So weit aber kann Klatt nicht sehen. Die Schrebergärten mit ihren Bäumen versperren die Sicht.
Klatt blickt zur Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Seminar. Die „Beiden“ sind noch nicht eingetroffen. Er wird noch einen Kaffe trinken, noch ein wenig mit den Kolleginnen reden, Trost und Wärme suchen für den Tag.
Klatt geht die wenigen Schritte den Gang hinunter bis zum Büro der Buchhaltung. Dort sitzen Corinna Dobinsky und Klara Haubold. Corinna Dobinsky begrüßt ihn mit dem üblichen: „Hallo, Schatzi!“
Klatt weiß, das hat nichts zu sagen. Außer den „Beiden“ und einigen Respektspersonen ist bei ihr jeder ein „Schatzi“. Es ist nicht unbedingt ein Kompliment, vor ihr „Schatzi“ genannt zu werden. Sie trägt eine Maske der Freundlichkeit vor sich her. Nett sein, zu jedermann, so lautet ihre Job-Sicherungs-Strategie. Klatt weiß, dass hinter dieser Maske der Freundlichkeit Karrieresucht, Neid und Missgunst lauern wie schlafende Raubkatzen. Corinna hat ein bewegtes Leben hinter sich, mit unzähligen Tiefen in Gestalt von Scheidung, Operation und Arbeitslosigkeit. Ihre Art, sich zu geben, ist die Reaktion auf diese Tiefen. Sie ist nur wenig älter als Klatt.
Sehr schlank und groß, liebt sie es, in kurzen Röcken und Hosen zu gehen. Sie weiß, dass die „Beiden“ es gern sehen. Was sie nicht weiß ist, dass die „Beiden“ beim Mittagessen über ihre behaarten Unterschenkel Witzchen machten. Corinna hat viele Probleme: das Haus, das sie sich mit ihrem Mann in der Stadt gekauft hat, muss saniert werden; ihre Kinder fallen in der Schule ab und so weiter. Sie redet und redet und redet, in einer einfachen, oft derben und burschikosen Art, mit den regional typischen grammatikalischen Eigenheiten und Schnitzern. Klatt lässt sie reden. Sie ist sehr schwer berechenbar. Hinter ihrer Freundlichkeit steckt ein ungeahntes Maß an schlummernder Aggressivität. Resultat der Tiefschläge des Lebens, die sie hat hinnehmen müssen. Sie kann ein ordinäres Schandmaul haben, dass einem die Spucke wegbleibt. Klatt mag ihr widerliches Anbiedern bei den „Beiden“ nicht. Corinna hasst die neue Sekretärin. Angst ist es, die Neue könne bei den „Beiden“ beliebter sein als sie. Klatt kennt ihren Schwachpunkt: Corinna schafft keine dreitausend Anschläge pro Minute auf der Schreibmaschine. Die Neue schafft das spielend. Corinna liebt es, ausführlich darzulegen, dass sie täglich Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann hat. Sie braucht es, sagt sie. Klatt erinnert sich, gelesen zu haben, dass manche Frauen nach einer Totaloperation ein unstillbares Bedürfnis nach Sex haben. Corinna hatte vor zehn Jahren eine Totaloperation. Dies könnte einiges erklären. Oder es ist nur Gerede, weil sie weiß, dass die „Beiden“ es gern hören. Klatt interessiert das alles wenig.
Corinna gegenüber sitzt Klara Haubold. Klara ist zehn Jahre älter als Corinna und gerade Oma geworden. Immer ist Klara penibel darauf bedacht, alles richtig zu machen, nicht aufzufallen und adrett auszusehen. Sie ist sehr unsicher und oft verlegen. Klatt muss oft über ihre umständliche Art lachen. Ein Lachen, das Klara kränkt. Sie kann auf eine lange Reihe von Jahren im Buchhalterberuf verweisen. Aber Hinweise auf ihr Alter, die enorme Größe ihrer Füße oder die Zahl der Falten in ihrem Gesicht, genügen, ihr mühsam aufgebautes Selbstvertrauen zusammenbrechen zu lassen. Sie mag Komplimente, fürchtet aber, jedes Kompliment, welches ihr gemacht wird, sei ein Scherz. Klatt sitzt oft hier, in seinen Seminarpausen und trinkt Kaffee mit den Frauen. Mit fast wissenschaftlicher Neugier befragen sie ihn dann, wobei jedes Detail aus seinem Leben von Interesse zu sein scheint. Die Frauen lieben es, zu tratschen. Keinen lassen sie dabei ungeschoren. Einer ist zu dick, ein anderer zu dünn. Und so weiter.
Im Nebenraum sitzt die neue Sekretärin: Hauptobjekt der Gespräche der Frauen.
„Haste jeseh’n Klärchen?“, fragt Corinna über den Tisch gebeugt ihre Kollegin: „Haste jeseh’n, Klärchen, jestern hat se den Kaffee verschüttet! Die kann nischt, wa?“
Klara Haubold lacht über die Art von Corinna und dreht verlegen einen Bleistift zwischen den Fingern.
„Mit der ha’m wa’ ‘n Fehlgriff jemacht, wa, Klärchen?“
Corinna braucht tagtäglich die Bestätigung, die Beste zu sein. Sie sieht sich als zukünftige Personalchefin, als Herrin über Einstellung und Entlassung!
„Warte man“, sagt Klara und lächelt: „die entpuppt sich noch, die Neue! Glob’s mir!“
„Meenste?“
„Glob’s mir! Kannst mir’s glob’n!“
So geht es Tag um Tag.
Die Neue, Frau Bunge, kann sich Mühe geben, wie sie will. Die Kolleginnen lassen kein gutes Haar an ihr. Corinna lästert ungeniert über ihre hochtoupierten Haare, ihre dünnen Beine, ihren fehlenden Busen.
Klara fühlt sich als Seniorin mit älteren Rechten gegenüber der Neuen. Sie achtet stets peinlich darauf, dass die gepolsterte Verbindungstür zwischen der Buchhaltung und dem Sekretariat geschlossen bleibt, damit die Neue nichts von dem mitbekommt, was in der Buchhaltung gesprochen wird.
Die große Glastür am Eingang schlägt hörbar zu. Gelächter und Gekicher, wie von Jungen dringt herein. Klara reckt den Hals und versucht durch das Glasfenster in der Tür der Buchhaltung auf den Gang zu spähen.
„Corinna, kommen die Beeden?“
Corinna ist aber mit dem Feilen ihrer Fingernägel und der Lektüre eines Kataloges für Werbegeschenke beschäftigt. Sie redet laut vor sich hin: „Guck mal, Klärchen, so schöne Spritzjußfijuren jibt’s hier!“
Dann werden ihre Augen weit. Träumerisch den Blick zur Decke gerichtet, kommt sie auf ihr Lieblingsthema zu sprechen: „Heini, meen Mann, hat mich jestern och Spritzjuß jeje’m!“
Klara wird ärgerlich: „Corinna! Die Beeden!“
Sicherheitshalber schaltet Klara schon ihren Personalcomputer ein und öffnet irgendwelche Kontenbücher. Sie bewegt hastig die Maus hin und her und blättert scheinbar geschäftig in einem Ordner. Die Angst vor möglicher Entlassung steht ihr im Gesicht geschrieben. Sie weiß, in ihrem Alter findet sie nichts mehr. Und sie muss noch ein paar Jahre aushalten, bis zur Rente.
Schnell setzt sie, wie zur Probe, ein geschäftiges Lächeln auf.
Die gepolsterte Tür vom Sekretariat wird geöffnet. Männerstimmen wehen herein. Eine wiederholt echoartig alle Worte. Ein Vorsprecher und ein Nachsprecher:
„Morgen, die Damen!“
„Morgen, die Damen!“
Die „Beiden“ sind da!
Die „Beiden“, das sind Dr. Baumann, der hiesige Institutsleiter, von den Seminarteilnehmern nur „Doktor Schlaumann“ genannt und sein Stellvertreter, Herr Zeckert. Die Betonung liegt auf „Herr“, das er in Ermangelung eines salonfähigen akademischen Titels ersatzhalber als solchen benutzt. Und richtig betont klingt das „Herr“ beinahe wie ein waschechter Doktor!
Eigentlich gibt es die Stelle des Stellvertretenden Institutsleiters gar nicht. Aber Schlaumann hat sie seinem Freunde, seinem Schatten zuliebe geschaffen. Die „Beiden“ tauchen nur zusammen auf. Es mag so lächerlich aussehen, wie es will. Und hinter ihrer Kumpanei steckte nichts weiter, als eine tiefsitzende Unsicherheit und eine Angst vor dem Leben, die sie kompensierten, indem sie sich aneinander festhielten wie kleine pickelige Schuljungen, die den Schwarzen Mann fürchten.
Schlaumann trägt seinen obligaten schlechtsitzenden grauen Anzug mit den Knitterfalten im Rücken und in den Kniekehlen. Er gibt allen Anwesenden seine fleischige. warme, immer verschwitzte Hand, ohne sie dabei anzusehen. Schlaumanns Körperfülle verströmt den üblichen leicht säuerlichen Geruch, vermengt mit seinem Deo der Marke „Sumatra Rain“ zu einer unangenehmen Mischung. Seine Brille ist leicht beschlagen, sein Haar ist sorgfältig gescheitelt, wenn er sich bei der Begrüßungszeremonie nach vorn beugt, rieseln feine Schuppen auf den Teppich. Am Hinterkopf steht ein Haarbüschel ab und gibt ihm die Aura eines dicklichen Pennälers, der den Lehrer durch Übereifer milde stimmen will.
Unmittelbar nach Schlaumann betritt Herr Zeckert den Raum. Zeckert ist einen ganzen Kopf kleiner als Schlaumann und extrem dünn. Eine Tatsache, die er auf seine hohen Blutzuckerwerte zurückführt. Auf dünnen Säbelbeinen läuft er um den Tisch und gibt, wie sein Vorgesetzter, allen Anwesenden die Hand. Zeckert gibt sich betont leutselig. Er drückt einem die Hand mit festem Griff, so fest, dass seine Fingergelenke dabei knacken. Zeckerts Hand ist immer sehr warm und trocken. Seine Handfläche erinnert an die Berührung warmen Wüstensandes. Zeckerts schmales Gesicht rahmt ein schütterer, stets sorgfältig geschnittener Vollbart. Er ahmt so seinen Vater nach, der im Zweiten Weltkrieg auf einem U-Boot gefahren ist. Zeckert ist immer fahrig und nervös. Sein Zucker macht ihn leicht reizbar. Seine Gesichtsfarbe ist gelblich. Stets erzählt er dieselben Geschichten. Er vergisst, dass alle sie auswendig kennen.
Die Beiden geben allen die Hand. Die Frauen bemühen sich, zu lächeln. Sie wissen, die Beiden haben zu Hause Frauen und Kinder. Irgendwo müssen sie die strahlenden Helden sein. Wenn schon nicht zu Hause, dann hier. Jeder muss sehen, wo er bleibt!
Besonders Corinna versteht es, die Beiden um den Finger zu wickeln. Sie lässt sie in dem Glauben, zwei tolle Kerle zu sein. Man muss seinen Job sichern, heutzutage! So oder so! Wenn hier mal das große Entlassen losgeht, will Corinna nicht die erste sein! Sie muss ein Haus abbezahlen! Sie kann schäkern, dass es einem die Sprache verschlägt.
Klara denkt ähnlich. Zum Schäkern ist sie zu alt. Aber auch sie muss ihren Job sichern. Sie findet keine andere Arbeit mehr in ihrem Alter. Sie geht den Beiden um den Mund und versucht, ihre Arbeit ordentlich zu machen. Hin und wieder richtet sie ein schönes Frühstück aus, für die Beiden: belegte Brötchen, saure Gurken - es ist so einfach, Menschen zu beeinflussen! Nie würde sie klagen! Überschütten die Beiden sie mit Arbeit, verliert sie kein Wort. Sie geht auf die Damentoilette und weint. Danach geht es ihr besser.
Die Beiden ziehen sich in ihr Büro zurück, wo sie einander gegenübersitzen. Klatt weiß, dass Frau Bunge, die neue Sekretärin, ihnen jetzt Kaffee servieren und Komplimente über ihre Krawatten machen wird. Die Beiden haben längst die Fähigkeit verloren, Schmeicheleien zu erkennen.
Klara schließt die gepolsterte Verbindungstür zwischen Buchhaltung und Sekretariat, damit niemand hört, was hier gesprochen wird.
„Haste jeseh’n, Klärchen: widder derselbe Knitteranzug!“, spielt Corinna auf Schlaumann an.
„Und gestunken hat er widder!“, ergänzt Klara: „Wer stinkt, ist hier gut angesehen!“
Beide kichern in sich hinein. Die Frauen nippen an ihren Kaffeetassen und blättern dabei in Katalogen. Sollte die Verbindungstür geöffnet werden, wären sie in Sekundenschnelle mit ihren Computern beschäftigt. Darin haben sie ein erstaunliches Maß an Geschick entwickelt. Sie kichern und lästern über die Beiden, die jetzt ganz hinten, in ihrem Büro sitzen, Kaffee trinken und sich von der Neuen Komplimente machen lassen.
Die Neue ist der wunde Punkt: sie versteht es zu gut, die Beiden um den Finger zu wickeln. Sie versteht das besser, als Corinna. Dabei ist sie mordshässlich: knüppeldürre Beine, Brille, immer gekleidet, wie eine Achtzigjährige! Kein Wunder, ist ja bei ihrer Oma aufgewachsen! Ist mit achtundzwanzig Jahren schon eine richtige Oma!
Die Frauen kichern!
Aber die Neue ist gefährlich! Sie wickelt die Beiden um den Finger! Sie hat schon einen Stein im Brett bei den Beiden! Und sie ist faul! Sitzt nur im Vorzimmer und schäkert mit den Beiden! Wird sie, die langjährigen Mitarbeiterinnen, hier noch wegbeißen!
Klatt sieht auf die Uhr: noch zehn Minuten bis zum Seminar!
Sein Blick fällt auf Klaras Hände. Sie spielt mit einem länglichen Radiergummi. Klatts Augen werden weit. Er kennt den Radiergummi.
„Uli, mein kleines Uli!“, entfährt es Klatt.
Die Frauen hören es und halten inne. Dann sehen sie den Radiergummi und haben verstanden.
„Hör endlich damit auf!“, sagt Klara gereizt. Sie zieht die Augenbrauen hinter ihrer Brille hoch und sieht Klatt streng an. Ihr rotgeschminkter Mund ist dabei hämisch, so dass die Falten am Kinn deutlich hervortreten.
„Hör endlich mit Uli auf!“, sagt sie noch einmal: „Ich kann das nicht mehr hören! Uli hat uns verlassen! Sie ist jetzt was Besseres! Und Du hast eine Familie!“
„Uli, Uli..., immerzu Uli! Die blöde Kuh!“, äfft Corinna. Und zu Klatt gewandt: „Hättest’ se’ doch mal richtig durchjebumst, anstatt se’ immer bloß anzuhimmeln, Deine Uli!“
Corinnas Becken ahmt dabei die rhythmische Bewegung der Kopulation nach.
Klara lacht kreischend und presst wie ertappt beide Hände vor den Mund.
Klatt weiß, dass es jetzt unmöglich ist, mit den Frauen noch ein vernünftiges Wort zu wechseln.
Er sieht geschäftig auf seine Uhr: „Ich muss ins Seminar!“
„Ja, ja! Geh nur! Bist wieder beleidigt!“, ruft Klara hinterher. Aber Klatt hat die Tür schon hinter sich geschlossen. Und er geht den Gang hinunter, in sein Büro, holt seine Folien und Stifte und Schwamm. Das alles braucht er für sein Seminar.
Er geht den Gang hinunter, und er denkt an Uli. Er weiß, dass mit Uli alle Freude verschwunden ist. Uli ist jetzt fern, weit weg ist Uli, erfolgreich und stark. Und sie ist nicht mehr sein kleines Uli. Sie braucht ihn nicht oder sie gibt es nicht zu! Er hat es nie erfahren. Er weiß nur, das hat Uli ihm gesagt, dass sie Angst hat, verletzt zu werden. Mehr weiß Klatt nicht. Und damit muss er zurechtkommen, wie mit vielem!
Uli war eine Kollegin. Klatt vermisst sie. Uli hat ihm gegeben, was er sonst nirgends bekam. Uli hatte immer Zeit für ihn. Uli hat ihm zugehört. Uli hat ihn bewundert. Er war ihr strahlender Held, ihr Ritter. War es da verwunderlich, dass er sie zu mögen begann?
Ulis Schönheit erschloss sich nicht auf den ersten Blick. Uli fiel nur auf, durch ihre Freundlichkeit, durch den Eifer, mit dem sie alle Dinge erledigte. Wer längere Zeit mit ihr Umgang hatte, musste sie mögen, ihre krause, kaum zu bändigende Lockenpracht, die sie „meine Schweinekringel“ nannte. Ihr Lachen, die immer strahlenden Bergseen ihrer großen hellen Augen, in denen man ertrank. Klatt hatte mit Uli zusammengearbeitet, monatelang. Wann immer er Zeit hatte, saß Klatt Uli gegenüber, an ihrem Schreibtisch, trank mit ihr Kaffee, hörte ihr zu. Uli lebte allein. Nach einigen Enttäuschungen, hatte sie sich verletzt zurückgezogen und lebte nur noch für ihre Arbeit und ihre Hobbys. Uli war einsam, und sie hielt es für Schwäche, diese Einsamkeit anderen einzugestehen. Dieses Eingeständnis hätte sie verwundbar gemacht. Verwundbarkeit zählte zu denjenigen Dingen, die Uli am meisten fürchtete. Sie war einsam, ebenso einsam, wie Klatt. Sie war eine Weile lang sein kleines Uli gewesen, für das er da sein konnte, das er beschützen konnte. Mehr hatte Uli nicht geduldet. Klatt hatte Familie. Familie war Uli etwas Heiliges, das stärkste Band zwischen Menschen!
Dann war Uli eines Tages gegangen. In eine andere Stadt. Sie hatte ein Angebot bekommen. Ein höheres Einkommen. Für Klatt war eine Welt zusammengebrochen.
„Pass auf Dich auf!“, hatte sie gesagt, ehe sie gegangen war, ohne sich umzusehen. Sie hatte die große Glastür hinter sich geschlossen, wie die Tür zu einem Lebensabschnitt. Und Klatt sah sie den Weg zum Parkplatz hinuntergehen. Er sah ihre Locken wehen, die blaue Schleife in ihrem Nacken. Und er war versucht, ihr nachzulaufen. Aber er wusste, dass es zwecklos war. Uli war stark. Sie würde ihre Unverletzbarkeit wahren. Klatt blieb zurück. Er liebte Uli. Ob sie seine Gefühle erwiderte, hat er nie erfahren. Er wusste nur, dass er einen Menschen verloren hatte, der einen wichtigen Platz in seinem Leben ausgefüllt hatte. Er ließ Uli gehen, wie ein Kind, das sich freigeschwommen hatte. Er ließ Uli gehen, in ihr neues Leben, fern von ihm. Und er wusste, dass sie all das schaffen würde, was immer vor ihr stand. Klatt hatte Uli verloren.
Klatt ging den langen, frisch gebohnerten Gang hinunter, auf dessen schadhaftem Linoleum man leicht ausrutschen konnte. Er ging den Gang hinunter, an dessen Ende, im Vorraum des Seminargebäudes, ihn Stimmen erwarteten und das Geräusch von klimpernden Münzen, das laute Getöse des Kaffeeautomaten. Klatt geht den Gang hinunter, seine Seminar-unterlagen unter den Arm geklemmt. Er denkt dabei an Uli. Sieht sie im Büro sitzen, ihr Profil gegen das Sonnenlicht. Die dunkelblonden Locken von Sonne durchflutet. Das Gesicht
gesenkt, in die Computerarbeit vertieft, aufschauend bei seinem Eintreten, das Strahlen der blauen Augen. Es war vorbei.
Klatt geht also den frisch gebohnerten Gang hinunter auf das Stimmengewirr zu und das Klimpern des Kleingeldes und das Getöse des Kaffeeautomaten. Er ist unsicher. Er fürchtet, nicht ausreichend vorbereitet zu sein auf das Seminar. Er fürchtet spitzfindige Fragen. Er fürchtet Desinteresse und Häme. Er wird in letzter Zeit oft unsicher, immer häufiger zittert seine Hand oder seine Stimme schwankt. Uli gab ihm Sicherheit und Selbstvertrauen. Sie hat an Klatt geglaubt. Nun glaubt niemand mehr an ihn, er selbst am allerwenigsten. Aber hineingeworfen in sein Seminar, wie ein schlecht bewaffneter Soldat in den Sturmangriff, muss er sein Einkommen verteidigen. Er muss sein Einkommen verteidigen, mit Klauen und Zähnen, so, wie es die Beiden tun, wie Corinna und Klara es tun und wie auch die Neue es tut! Er weiß, er hat keine Wahl, denn er hat eine Familie. Und nur derjenige hat ein Anrecht auf Familie, so sagt es Schrock, der ein Einkommen hat.
Klatt ist jetzt im Vorraum angekommen. Er sagt laut und höflich „Guten Morgen!“ zu den Seminarteilnehmern des heutigen Tages.
An der Längsseite des Raumes dröhnt der blecherne Automat. Spuckt lärmend hässliche braune Plastikbecher, gefüllt mit Kaffee oder Cappuccino aus. In der Mitte des Raumes: ein Tisch mit Kaffeeflecken und überquellendem Aschenbecher. Rauchwölckchen kringeln sich unter der Decke des Raumes.
Klatts Seminarteilnehmer lehnen neben dem Kaffeeautomaten an den Wänden. Beinahe zwanzig Leute, meist mittleren Alters. Überwiegend Frauen. Müde, gähnend, schwatzend, rauchend, ihre Kaffeebecher in den Händen.
Sie alle haben eines gemeinsam: sie sind Existenzgründer. Klatts Institut ist eines von zweiundzwanzig im Bundesland Sachsen-Anhalt, der Region mit der höchsten Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik. Es fehlt der Mittelstand als leistungsfähiger Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt. Er fehlt, weil Ulbricht zu Beginn der siebziger Jahre viele private Handwerker zur Verstaatlichung ihrer Betriebe zwang. Von den großen Kombinatsbetrieben der Region blieben seit der Wende nur die Filetstücke übrig. Kein regionaler Mittelstand, der die freigesetzten Arbeitskräfte auffing! Man lebt von Arbeitslosengeld, von Arbeitslosenhilfe, von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, von Umschulungen. Man hofft, auf diese Weise das Rentenalter zu erreichen. Das gesegnete Ziel, das einen vom irren Kopf-an-Kopf-Rennen um einen Arbeitsplatz enthob. Man suchte auf diese Weise das Rentenalter zu erreichen, und schlimmstenfalls lebte man vom Stigma der Sozialhilfe.
Es fehlen Unternehmer, allenthalben. Aber das Risiko der Märkte ist hoch und der Mut sinkt! Sachsen-Anhalt braucht den Mittelstand, um nicht zum Armenhaus Deutschlands zu werden! Sachsen-Anhalt braucht Unternehmer, Freiberufler, Handwerker aller Branchen!
Aber womit bewegt man den Menschen? Mit Geld! Die Europäische Union in Brüssel und die Landesregierung in Magdeburg bezahlen den Mut zur Selbständigkeit! Sie zahlen beinahe dreißigtausend Mark pro Kopf an jeden, der eine tragfähige Geschäftsidee hat und den Mut aufbringt, sich dem Risiko des Marktes auszusetzen!
Aber es gibt viele Unwägbarkeiten unter den Mutigen: Wie finde ich meinen Preis? Wie führe ich ein Verkaufsgespräch? Wie schreibe ich meine Mahnungen? Wie bekomme ich einen Kredit? Wo finde ich Lieferanten?
Eine kaufmännische Qualifizierung muss her, sagt die Landesregierung. Grundkenntnisse müssen vermittelt werden: Betriebswirtschaftslehre, Recht und Rechnungswesen! So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe! Wir schaffen Arbeitsplätze für Lehrkräfte und wir koppeln die Auszahlung des Geldes an eine Qualifizierung in kaufmännischen Dingen!
So ist es in Sachsen-Anhalt! Deshalb gibt es Institute, wie dieses hier! Deshalb hat Klatt ein Einkommen, und ein hohes noch dazu!
Sie kommen also, die Willigen, die das Marktrisiko tragen, die Unternehmer werden wollen.
Sie kommen zu den Beiden ins Büro oder zu Klatt. Sie kommen, weil sie das Arbeitsamt schickt, das Sozialamt oder auch einfach irgendein guter Bekannter. Sie kommen, manche mutlos, verschwitzt, oft mit Alkoholfahne. Manche sind am Ende, wissen nicht mehr weiter. Zu alt, zu lange schon ohne Arbeit, überqualifiziert, nicht mehr vermittelbar. Aus beinahe allen Schichten und Berufszweigen kommen sie: ehemalige Offiziere, die die Bundeswehr entließ; abgerissene Sozialhilfeempfänger, zahnlos, zittrig, den Bauch voller Wut und Bier; Studenten, die keine Arbeit finden; mutlose Künstler; gewesene Geschäftsleute, deren Firmen in Konkurs gingen, die an Eides statt ihre Mittellosigkeit beschworen; verarmte Handwerker; politisch nicht mehr tragbare Lehrer; Wolgadeutsche, aber auch erfolgreiche Jungunternehmer.
Sie kommen, auch zu Klatt in das Büro. Und sie sitzen ihm gegenüber, an dem Tisch mit der von Kaffeeflecken verunzierten Decke. Sie sitzen hier, kneten die Hände und schildern Klatt ihr Leben. Sie sitzen und sehen den Silberstreif am Horizont, der Einkommen heißt. Einkommen für ein Jahr oder für anderthalb Jahre. Sie schildern Klatt ihr Leben, denn sie wissen, es ist so einfach, sich in einen Raum zu setzen und zuzuhören. Ein Einkommen, für den Mut zur Selbständigkeit, für das Zuhören! Ein leichtverdientes Einkommen! Zu leicht verdient, schimpft die Verkäuferin im „Kaufland“, die eine Vierzig-Stunden-Woche hat und dafür achthundert Mark netto nach Hause bringt. Das deckt die Miete und die Nebenkosten, Wasser, Heizung und so weiter!
Klatt kennt die Debatte. Er kennt die Vorbehalte. Aber er weiß, ohne die Gelder würde sich kaum jemand in den Dschungel der Selbständigkeit wagen. Und er weiß: er hat ein Einkommen, so lange die Gelder aus Brüssel und aus Magdeburg fließen! Und sie fließen und fließen, Millionen fließen. Sie fließen in den kleinen Friseurladen in der Altstadt, in den Second-Hand-Shop des dicken Herrn unweit der Stadt, in den Laden des jungen Mannes, der mit Militaria handelt, und der Klatt anbot, alles besorgen zu können: die SS-Uniform nebst Zubehör; die besondere Rarität der Uniform eines Offiziers aus Rommels Wüstenkorps; den Ehrendegen, den Himmler an ein handverlesenes Klientel SS-Offiziere verlieh; die komplette Uniform eines NVA-Generals. Sie fließen und fließen, die Gelder aus Brüssel und Magdeburg, ohne die der Gründerboom in Sachsen-Anhalt nicht stattfinden würde, ohne die die Arbeitslosigkeit um ein Vielfaches höher wäre und die Hoffnungslosigkeit größer und die Wut im Bauch. Sie fließen, die Gelder, ohne die auch Klatt ohne Arbeit wäre und verachtet, ein Parasit am Leib seiner Familie!
Sie fließen, die Gelder, noch zwei, vielleicht noch drei Jahre lang! Was danach kommt, weiß niemand! Die Beiden wissen es nicht, Klatt weiß es nicht!
Klatt muss ihnen also Grundkenntnisse vermitteln. Grundkenntnisse der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, des Vertriebes, des Handels- und Vertragsrechtes. Seit beinahe zwei Jahren tut Klatt diese Arbeit. Er bemüht sich, sie gut zu machen. Man muss vieles lesen. Man muss informiert sein über dies und jenes. Man muss mit den Menschen reden auf der Straße, um zu wissen, was sie erwarten von dem Produkt im Laden. Mit den Menschen auf der Straße muss man reden und mit den Entscheidungsträgern in den Rathäusern und den Gewerbeämtern. Aber dazu ist keine Zeit! Es ist keine Zeit zum Lesen und zum Reden, denn Klatt muss seine Seminare halten, je mehr, desto besser! Desto besser für das Institut, das sich finanzieren muss! Desto besser für Klatt, der sein Gehalt einspielen muss, damit er bezahlt werden kann! Damit er sein Einkommen behält!
Also bleibt keine Zeit zum Lesen, keine Zeit zum Reden!
Man spult seinen Stoff herunter, wie eine dicke Rolle Garn. Man spult und spult und spult! Und irgendwann einmal ist die Rolle leer gewickelt. Dann ist man am Ende mit seinem Stoff! Dann hat man nichts mehr zu sagen, außer ein paar Plattheiten vielleicht! So sind die Ängste von Klatt beschaffen!
Aber Klatt müht sich redlich. Er hat seinen Stoff aufbereitet, mit Beispielen und Aufgaben und Grafiken, denn es heißt, der Mensch behält nur zwanzig Prozent vom Gehörten, fünfzig Prozent vom Gesehenen, aber beinahe fünfundsiebzig Prozent von dem, was er handelnd nachvollzieht.
Klatt müht sich redlich. Er hat seinen Stoff aufbereitet, auf unzähligen Folien. Er hat ihn im Kopf, seinen Stoff. Hunderte Male hat er ihn entwickelt vor einem Seminar, hat ihn an die Tafel geschrieben, hat ihn vordeklamiert, auf und ab gehend vor dem Seminar, wie es seine Art ist, zu unterrichten.
Klatt weiß, dass die Theorie stimmt. Hier kann er glänzen. Aber es fehlen die praktischen Beispiele, die Erfahrungen. Das macht ihn unsicher. Er weiß, dass der Stoff oft zu theoretisch ist, zu kopflastig für die Ansprüche des kleinen Ladeninhabers, den die großen Theorien aus den Lehrbüchern wenig kümmern. Den kleinen Ladeninhaber langweilen die komplizierten Formeln, die Kurven, die Zitate, die Thesen, die für Großunternehmen gemachten Beispiele. Und dann liest er ungeniert in der Bild-Zeitung oder er macht sein Kreuzworträtsel im Seminar, schwatzt laut mit dem Nachbarn, lacht oder schließt ganz einfach die Augen. Dann kann man zynisch werden oder laut, wie Herr Zeckert es tut, und man kann die Leute darauf hinweisen, dass sie Geld dafür bekommen, hier zuzuhören, viel Geld. Mehr Geld, als mancher draußen verdient. Auch das sagt Herr Zeckert, in den wenigen Seminaren, die er noch hält. Er sagt es den Leuten auf den Kopf zu, als wären es kleine Kinder und nicht erwachsene Leute. Er sagt zu ihnen: „Wenn es Ihnen nicht passt, dann gehen Sie bitte! Wir halten Sie nicht!“ So sagt es Herr Zeckert, wenn die Seminarteilnehmer nicht zuhören wollen oder Zeitung lesen oder Schwatzen. „Meine Damen und Herren!“, so sagt er es, „Gehen Sie doch bitte nach Hause, wenn Sie meine Ausführungen nicht interessieren!“ Desinteresse ist unhöflich, meint Herr Zeckert. Desinteresse kränkt ihn. Deshalb sagt er solche Worte. Aber damit kränkt er die Leute im Seminar. Sie schimpfen: „Der Zeckert kriegt ein festes Gehalt jeden Monat! Den Zeckert interessieren wir gar nicht! Der Zeckert hat längst vergessen, dass er unserer Anwesenheit sein Einkommen verdankt! Wenn wir wegbleiben, kann der Zeckert dichtmachen!“ So sagen sie. Klatt hört ihnen geduldig zu. Er weiß, sie haben in vielem Recht. Klatt kränkt es auch, wenn niemand zuhört, wenn geschwatzt und gelesen wird. Es untergräbt sein Selbstvertrauen. Er wird unsicher. Aber er braucht diese Leute. Und längst schon spult Klatt nicht mehr stur seinen Stoff herunter. Er achtet auf die Leute im Seminar. Er weiß, er muss mit ihnen ins Gespräch kommen. Sie sind keine Schulkinder und keine Studenten! Nein, es sind erwachsene Menschen mit Sorgen und Nöten. Es sind aus der beruflichen Bahn Geworfene, die ein bisschen Betreuung und Hilfe suchen – und natürlich zuallererst ein Einkommen! Das ist der Modus vivendi, den Klatt gefunden hat. Zuhören, wie schwer es auch fallen mag und auf die Leute eingehen. Dafür sind sie dankbar. Sie mögen Klatt, so hofft er.
Man könnte es besser machen, weiß Klatt, viel besser. Aber niemand scheint ein Interesse daran zu haben. Alle sind zufrieden. Die Seminarteilnehmer sind zufrieden, wenn ihr Geld auf dem Konto ist und man sie in Ruhe lässt. Die Dozenten sind zufrieden, wenn ihr Gehalt auf dem Konto ist und die Seminarteilnehmer sie in Ruhe lassen. Keine Seite tut der anderen etwas zuleide! So arrangiert man sich scheinbar miteinander! Die Beiden haben das längst erkannt. Sie verschanzen sich in ihrem Büro hinter einem Berg von Verwaltungsarbeit. Es ist, als fürchten sie die Seminare, die Fragen, das Desinteresse. Sie gehen den Menschen aus dem Wege. Nie haben sie Zeit, immer sind sie beschäftigt hinter den Bildschirmen ihrer Computer. Die Neue, noch in der Probezeit und besorgt um ihr Einkommen, schirmt sie gegen alles ab.
Klatt hat die Hauptlast der Seminare zu tragen. Wieder und wieder muss er einspringen, Unterrichtstage übernehmen. Tag um Tag steht er vor den Teilnehmern. Seine Wissensbestände sind ausgequetscht wie ein trockener Schwamm. Die Beiden, in ihrem Büro, haben längst den Kontakt zu den Leuten im Seminarraum verloren. Klatt, bemüht, sich um jeden Einzelnen zu kümmern, wird verheizt. Groll darüber sammelt sich in ihm. Aber er schweigt. Er weiß, dass es gefährlich sein kann, zu reden, deshalb schweigt er. Zu schnell wäre Ersatz zur Stelle. Die Beiden wissen, dass er das weiß. So herrscht Schweigen. Und Klatt, verunsichert, überlastet, versucht, seine Arbeit zu tun, so gut, als eben möglich. Uli wusste um diese Dinge. Aber Uli ist jetzt weit weg und sehr erfolgreich. Uli hat ihn vergessen. Und er hat nun niemanden mehr, der ihn versteht. Nein, er muss schweigen und es geschehen lassen. Auch hier, im Institut muss er schweigen und es geschehen lassen, ebenso, wie daheim. Klatt ist schwach. Ganz besonders, seit Uli nicht mehr da ist! Er ist schwach und wehrlos! Ein Mensch, der irgendwann einmal auf der Strecke bleiben muss, weil es naturgesetzlich eben einmal so ist, dass Menschen wie er auf der Strecke bleiben. Leute wie Uli hätten es vielleicht nicht aufhalten können, aber doch ein wenig hinauszögern können. Jetzt aber, würde alles viel schneller gehen.
„Es hilft ja alles nichts!“, sagt Klatt in das Schwatzen und Rauchen und Kaffeetrinken hinein: „Ein Bisschen müssen wir machen!“ Es klingt beinahe entschuldigend, so, als tut es Klatt leid, dass er so wenig für die Seminarteilnehmer tun kann. Und so ist es gemeint. So fühlt sich Klatt! Er weiß, dass nur sehr wenige seiner Existenzgründer am Markt auf Dauer ein akzeptables Einkommen erzielen können. Viele werden sich mehr schlecht als recht durchschlagen. Nicht wenige werden wieder aufgeben und in die Arbeitslosigkeit zurückkehren. Tatsachen, die kein Institut gern zugibt. Jeder fürchtet um seine Existenzberechtigung! Jeder fürchtet um sein Einkommen! Keiner traut dem Andern!
Hinten, in dem muffigen Seminarraum, in den, der Bäume vor dem Haus wegen, kaum Tageslicht fällt, nehmen die Seminarteilnehmer auf den fleckigen Stühlen Platz. Es sind nicht für alle Stühle da. Klatt kennt die Misere.
Er beginnt, über Absatzwege zu sprechen: Direktvertrieb, Großhandel, Einzelhandel, Makler, Kommissionär. Klatt schreibt die Tafel voll, legt seine Folien auf. Zwei Frauen schreiben mit. Klatt weiß, dass sie in einigen Wochen nicht mehr mitschreiben werden. Einige zwingt ihr schlechtes Gewissen, Aufmerksamkeit zur Schau zu stellen. Dreht Klatt sich zur Tafel, sind die Gesichter in den Illustrierten verschwunden. Halbunterdrücktes Gemurmel füllt den Raum.
Klatt redet sich in Fahrt, erklärt, gestikuliert, läuft auf und ab.
Hinten, am Fenster, schaut man auf die Uhr: noch eine Stunde bis zum Frühstück. Vielleicht macht der ja schon früher Pause?! Der Klatt ist da ganz in Ordnung! Anders als die Honorardozenten, die Korinthenscheißer! Kann einem eigentlich leid tun, der Klatt, mit welcher Lammsgeduld der vor so einer Horde hier redet, egal, ob einer zuhört oder nicht! Der Zeckert hätte schon wieder losgemeckert. War ja egal: der Klatt kriegte sein Geld dafür, und sie kriegten ihr Geld dafür! Konnte sich also keiner beschweren! Die ganze Wissenschaft hier brauchten sie nicht! Was sie brauchten, war Kohle, Pinke, Geld! Nur mit Geld konnte man etwas anfangen in dieser beschissenen Welt! Wissen zählte einen Scheißdreck! Für Wissen konnte man sich nichts kaufen! Liefen so viele Doktoren aufs Arbeitsamt rum! Sah man ja dauernd und hörte sowas im Fernsehen! Sollten einen also in Ruhe lassen und lieber mehr Kohle geben!
Klatt spürte die Unruhe im Seminarraum. Sein Blick streifte die Armbanduhr. Halbe Stunde noch: „Dieses Thema schaffen wir noch, dann machen wir Frühstück!“
Beifälliges Gemurmel. War doch ganz in Ordnung, der kleene Klatt!