Читать книгу Die Marktfrau mit den heilenden Händen - Ramona Bühler - Страница 4
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ОглавлениеEs klingelt. "Ding-dong, ding-dong." Bis in das obere Stockwerk und wieder zurück ist der Klingelton zu hören.
Draußen vor der Tür steht eine junge, zierliche Frau mit einem Gesicht, aus dem deutlich die Müdigkeit und Anspannung der vergangenen Tage spricht. Sie wartet ein paar Sekunden, dann drückt sie erneut auf den Klingelknopf, voller Zweifel und doch mit einem Funken Hoffnung. Was hat sie schließlich zu verlieren?
Hinter der Tür rührt sich nichts. Sophia klingelt ein drittes Mal und tritt schließlich von der Tür zurück, um sich zu vergewissern – ist das hier etwa nicht Nummer 57? Doch. Oder hat sie versehentlich die falsche Anschrift von ihrer Freundin bekommen?
Vom Dach des Hauses aus betrachtet eine Amsel die Frau, mit neugierig schiefgelegtem Kopf. Vor der Tür stehen rote und gelbe Pflanzen in Keramiktöpfen, an der Seite blüht ein Kirschbaum mit zarten weißen Blüten. Früh dieses Jahr.
Früh beginnt auch wieder das Jucken auf ihrer Haut. Diesmal hat es schon Mitte Februar angefangen. Sie kratzte sich ein bisschen, am Oberarm oder an der Schulter, aber anstatt dass das Jucken aufhörte, wurde es nur noch schlimmer, je mehr sie sich gekratzt hatte, bis die Haut schließlich übersät war von roten, blasenartigen Pusteln, die nicht mehr aufhören, sie zu peinigen. Es ist nicht auszuhalten.
Plötzlich bewegt sich etwas hinter der Tür. Sie öffnet sich, und in dem Spalt, der sich auftut, kann man eine gutaussehende Frau mit roten, lockigen Haaren erkennen. Sophia schätzte sie auf Mitte bis Ende fünfzig.
"Ja, bitte?"
Jetzt ist die junge Frau doch etwas aufgeregt. Ihr Herz klopft ein wenig. Schließlich war sie vorher noch nie bei einer Heilerin gewesen.
"Wir hatten vor einer Stunde miteinander telefoniert, wissen Sie noch? Ich hatte Ihnen von meiner Haut erzählt, und Sie haben gesagt, dass Sie heute noch einen Termin freihaben."
"Kommen Sie herein."
Eine dunkle, resolute Stimme. Etwas einschüchternd. Die Frau macht die Tür ganz auf und Sophia schlüpft herein.
"Woher haben sie meine Adresse?" will die Heilerin wissen und Sophia berichtet ihr von ihrer Freundin, die sie weiterempfohlen hat. "Ja, also, dann lassen Sie uns mal durchgehen nach hinten."
Sie gehen in einen kleinen, schlichten, einladend eingerichteten Raum. Obwohl Sophia über ihre Vorurteile lächeln musste, hatte sie sich doch einen Raum mit verdunkeltem Fenster, spiritistischen Figuren und einer Glaskugel auf dem Tisch vorgestellt. Nichts von alledem. Statt Glaskugel befindet sich eine Vase mit frischen Tulpen auf einem runden Tisch, um den ein paar Stühle angeordnet sind, im Hintergrund steht eine kleine Couch, und an den in frischem Grün gestrichenen Wänden hängen Bilder von kleinen Kindern. Sophias Nervosität legt sich. Auch ihre anfängliche Befangenheit der Heilerin gegenüber hat merklich abgenommen und sie spürt, dass sie hier gut aufgehoben ist.
Sie hat Glück, dass sie überhaupt so schnell einen Termin hat bekommen können, denn eigentlich wollte Ramona Bühler, die Heilerin, mit Tochter und Enkelkindern auf den zu dieser Jahreszeit gerade in der Nähe stattfindenden Ostermarkt gehen. Aber es kam mal wieder anders. Vor einer guten Stunde hatte ihre Tochter angerufen und den Bummel über den Markt abgesagt. Alle Kinder liegen mit Erkältung im Bett. Ramona war etwas enttäuscht, hatte aber nicht lange Zeit, nachzudenken, denn nur Sekunden später klingelte wieder das Telefon und Sophia war am Apparat.
Ramona bietet ihr einen Platz am Tisch an und Sophia setzt sich. Sie hat ein nettes, aber gequältes Gesicht, und im Nachhinein ist die Heilerin froh, dass sie ihr so schnell einen Termin hat anbieten können.
"Erzählen Sie mal, was haben Sie denn für Probleme?"
Eigentlich weiß Ramona schon genau, was für Sorgen die junge Frau hat. Sie hat einen Freund gehabt, aber in ihrer Beziehung lief es in letzter Zeit nicht so gut. Sophia konnte es sich nicht erklären, aber etwas veranlasste sie, sich körperlich von ihrem Freund zurückzuziehen. Der dies jetzt auch mit einer Trennung quittiert hat. Allerdings kann Sophia das nicht akzeptieren und hofft im hintersten Winkel ihres Herzens immer noch, dass er wieder zu ihr zurückkommt. Sie liebt ihn ja schließlich.
All das sieht Ramona sofort, ohne dass ihr Gegenüber auch nur einen Satz der Erklärung von sich geben muss. Das ist eine ihrer speziellen Gaben, die sie seit ihrer Geburt hat, derer sie sich aber erst viel später richtig bewusst wurde. Sie kann einen Menschen ansehen und weiß, welchen Beruf er ausübt, wie sein Familienstand ist, was ihn für Sorgen plagen - er ist ein offenes Buch für sie.
Aber sie lässt Sophia erstmal ihre Sicht der Probleme schildern. Diese beziehen sich eigentlich nur auf körperliche Symptome.
"Ja, hier, sehen Sie mal meine Haut, diese Pusteln. Ich habe das jedes Jahr, aber so schlimm wie diesmal war es noch nie. Ich war schon bei vielen Ärzten und Heilpraktikern, und einer hat mir gesagt, das sei eine Nesselsucht. Für kurze Zeit können sie sie auch eindämmen, aber sie ist nie ganz weg, und dieses Jahr scheint überhaupt nichts zu helfen. Diese Pusteln jucken wie verrückt, ich kann nachts schon gar nicht mehr schlafen. Können Sie mir helfen?"
"Ja." Schon dieses eine Wort lässt Sophia aufatmen.
"Aber Sie brauchen bestimmt zwei bis drei Behandlungen, um von Ihren Pusteln erlöst zu werden."
"Wie, Sie meinen, wir kriegen die Nesselsucht ganz weg? Kein Juckreiz mehr, kein nächtliches Aufwachen, kein Kratzen, bis alles blutet? Wir kriegen´s ganz weg?!"
"Ja." Sophia strahlt jetzt vor Hoffnung und ist gleichzeitig kurz davor, vor Erleichterung zu weinen. Naja, vielleicht nicht nur vor Erleichterung ... "Wir kriegen alles weg. Sie werden keine Beschwerden mehr mit Ihrer Haut haben. Aber wissen sie, der Grund für Ihre Hautprobleme liegt tiefer. Haben Sie vielleicht auch seelische Probleme?"
'Die habe ich zur Genüge', denktSophia, 'aber muss ich hier alles sagen?'
"Nein, Sie müssen hier nicht alles sagen", beruhigt Ramona sie. "Ich nehme an, Sie hatten einen Freund, der Sie verlassen hat, und Sie hoffen, dass das noch nicht das Ende ist, sondern dass er wieder zu Ihnen zurückkommt. Ich denke, das ist der Auslöser für die Nesselsucht." Sophia erstarrt kurz. Dann schluckt sie. Die Frau hat ihr den Grund ihrer Traurigkeit auf den Kopf zugesagt. Woher weiß sie das? Sie hat doch noch niemandem davon erzählt ...
"Sie müssen hier nicht alles sagen", verspricht Ramona mitfühlend, sie will die junge Frau schließlich nicht erschrecken. "Lassen Sie uns anfangen."
Sophia streift etwas verschämt ihre Bluse und ihre Jeans ab, und man sieht, dass ihr Körper förmlich mit Blasen und Kratzstellen übersät ist. Ramona rückt näher, lächelt Sophia aufmunternd zu und fährt mit leichter Hand über die Stellen an Armen und Beinen, dabei spricht sie eine Formel. Nein, sie spricht sie nicht, eigentlich murmelt sie sie nur. Sie beendet den Vorgang mit einem Handzeichen. Dies wiederholt sie mehrere Male, bis mit einem erneuten Handzeichen die Behandlung der Arme und Beine für heute abgeschlossen ist. Sophia fühlt sich währenddessen sehr ruhig, fast ein wenig wie in Trance. Sie betrachtet den Vorgang und wie nebenbei fällt ihr auf, wie schön still und friedlich es im und am Haus ist. Ein wenig verwundert ist sie dann, dass alles so schnell ging und auch ein wenig enttäuscht. Eine Besserung fühlt sie noch nicht.
"Es kann sein, dass der Juckreiz nach der ersten Sitzung kurzfristig verstärkt auftritt, da der Körper sich wehrt", klärt Ramona sie auf , "aber wir werden das hinkriegen. Dessen können Sie sicher sein. Wir sollten jetzt aber noch den Bauch und den Kopf bearbeiten, damit sich Ihr Gesamtzustand verbessert. Machen Sie einmal den Bauch frei." Mit nunmehr fester Hand streicht Ramona über den Bauch, spricht eine Formel und bekreuzigt sich anschließend. Auch das wird öfter wiederholt. Sophias Kopf hält sie mit den Innenflächen ihrer Hände fest und behandelt ihn mehrmals mit Hilfe der Formel und der Bekreuzigungen.
"Wann können Sie morgen wiederkommen?"
"Wieder so um Fünf?"
"Gut, dann wiederholen wir die Behandlung an Armen und Beinen, und in einer Woche um Fünf machen wir wieder den Bauch und den Kopf."
"Ja, das passt gut", sagt Sophia.
Ramona beobachtet durch ihr Küchenfenster, wie sich die junge Frau vom Haus entfernt. 'Sie wirkt fast noch wie ein Kind', denkt sie. Ihre Gedanken wandern zurück in ihre eigene Kindheit und Jugend.
*
Geboren wurde sie kurz nach dem Krieg in einem Flüchtlingslager einer norddeutschen Kleinstadt, nachdem ihre Mutter im Krieg aus Ostdeutschland geflohen war. Sie war ein glückliches kleines Mädchen, obwohl sie ihren Vater und den Rest der Familie nicht kannte und noch nie etwas von ihr gehört hatte. Die Frage tauchte dennoch auf.
"Mama, warum habe ich keine große Familie?"
Zunächst antwortete ihre Mutter nicht darauf. Als Ramona jedoch älter wurde und immer drängender wissen wollte, woher sie kam, entschloss sie sich, ihrer Tochter zumindest einen Teil der Fragen nach ihrer Herkunft zu beantworten. Überdies wohnten sie mittlerweile in einer Wohnung am Stadtrand, so dass sie sich ungestört über so persönliche Themen unterhalten konnten. Im Flüchtlingslager wäre das nicht gegangen, da hatten die Wände Ohren ...
Es war später Nachmittag, und Ramona saß mit ihrer Mutter am Küchentisch. So klein die Wohnung auch war, die Küche war groß und bot genügend Platz. Das Leben fand überwiegend hier statt. Der Tisch war mit selbstgemachtem Kuchen, einer alten Kaffeekanne und zwei Tassen gedeckt, Bücher und Schulhefte lagen verstreut drumherum.
"Mama, du hast mir immer noch nicht erzählt, warum wir in einem Lager gelebt haben", beschwerte sich ihre mittlerweile zwölfjährige Tochter wieder einmal. Doch statt auszuweichen, berichtete sie nun. Vom Krieg, von der Flucht und von Ramonas Vater und ihrem Großvater. All das zum ersten Mal zu hören, verschlug Ramona zunächst die Sprache. Sogar ein Foto zeigte ihre Mutter ihr. Sie hatte es während der Flucht in ihrer Kleidung versteckt. Als sie es sah, sagte Ramona spontan: "Das ist mein Vater." Es zeigte einen jungen Mann in Uniform, in der Hand hielt er eine Mütze und an den Füßen hatte er blankgeputzte Stiefel. Seine Haare waren dunkel und lockig und standen etwas wild vom Kopf ab.
"Nein, das ist mein Vater und dein Opa", sagte ihre Mutter.
"Und wo ist er jetzt?" wollte das Kind wissen.
"In St. Petersburg, das ist etwa tausend Kilometer von hier entfernt in Russland. Heute heißt es Leningrad. Ja, dein Opa kommt aus Russland."
.
*
Nach Sophias Besuch hat Ramona ein bisschen Zeit. Besuch hat sie heute erst wieder um sechs, und sie überlegt, was sie mit der unerwartet freien Zeit anfangen soll. Sie könnte staubwischen, Wäsche waschen – oder schon mal anfangen, die Fenster zu putzen – aber sie freut sich so über diesen frühlingshaften Tag, an dem die Luft nach frischer Erde riecht und alle Blüten sich zur Sonne hin strecken. Sie setzt sich auf den Rand ihres Küchentisches und tagträumt weiter.
*
Sie erinnert sich daran, wie sie mit fünfzehn Jahren an einem Samstagabend mit Marie in einer kleinen, stadtbekannten Kneipe gesessen hat. Das Licht war gedämpft und man saß auf Sofas oder – damals besonders schick – Hollywoodschaukeln. Geführt wurde das Lokal von Ulla, einer stadtbekannten, nicht mehr ganz jungen Blondine, die es dank ihrer imposanten Statur und rauen, dunklen Stimme schaffte, angetrunkene und sogar randalierende Besucher zur Räson zu bringen. Die beiden Mädchen hatten hautenge Pullover an und Marie sogar eine Jeans. Die Haare hatten sie sich so zurechtgemacht, wie man es damals in den Monumentalfilmen bei den Römerinnen gesehen hat, leicht geringelte Locken fielen ihnen in die Stirn, und sie trugen Lippenstift. Sie wollten gerne tanzen, wurden – damals tanzte man noch nicht allein wie heute in den Discos, sondern nur zu zweit – aber nicht aufgefordert. Die Jungen waren zu schüchtern und hatten Angst, von den schönen und selbstbewusst wirkenden Mädchen einen Korb zu bekommen. Ramona begann sich gerade etwas zu langweilen und sich zu fragen, ob sie nicht vielleicht woanders hingehen sollten, da ging plötzlich die Tür auf und ein groß gewachsener, blonder Bursche von etwa sechzehn oder achtzehn Jahren schaute sich in Lokal um (um zu sehen, ob es sich überhaupt lohnt, hereinzukommen). Als er Ramona sah, riss er die Augen auf und erschrak sich so, dass er die Tür zuschlug und nach draußen flüchtete. Die Tür fiel so heftig ins Schloss, dass ein Glas vom Regal hüpfte und auf dem Boden hinter der Theke zerschellte. Ulla fluchte.
"Hast du das gesehen? Was war denn mit dem los?!", wunderte sich Marie.
Ramona konnte nicht sofort antworten. Als sie den Jungen gesehen hatte, durchfuhr es sie wie Feuer. Nach einigen Sekunden brachte sie mit heiserem Flüstern heraus: "Das war mein Mann, Maire, das wird einmal mein Mann ..."
"Du bist verrückt", antwortete Maire. Ulla fegte währenddessen grummelnd die Scherben zusammen und nahm sich vor, mit dem jungen Mann das nächste Mal ein paar Worte über Benimm und das richtige Türenschließen zu wechseln.
Näherin oder Schneiderin sollte Ramona lernen.
"Dann bist du unabhängig, Kind, musst den Leuten nicht nach dem Mund reden wie in einer Firma und kannst auch noch selber etwas herstellen", hatte ihre Mutter gesagt.
Ramona selbst wäre gern Friseurin geworden, wie es damals Mode war. Dies lehnte ihre Mutter jedoch ab. Ihre Tochter und so ein zweifelhafter Beruf? Nicht mit ihr. Mehrere Diskussionen und einige Zeit später schließlich arbeitete Ramona in einem Feinkostladen nur einige Straßen weiter. Sie ging immer zu Fuß hin. Sie hätte auch ein Fahrrad nehmen können, aber dann hätte der Fahrtwind ihr die Frisur zerzaust, und das war undenkbar. Lieber nahm sie es in Kauf, morgens eine halbe Stunde eher aufzustehen, und nur bei ganz schlechtem Wetter leistete sie sich ab und zu mal eine Fahrt mit dem Bus.
Zu der Zeit war sie siebzehn, und da sie sehr resolut war und der Chef sich gern die Arbeit abnehmen ließ, managte sie den Betrieb quasi alleine. Kunden beraten, Ware bestellen, Lieferscheine kontrollieren und den Lieferanten auf die Finger sehen, das ging ihr alles leicht von der Hand. Und sie hatte einen großen Bekanntenkreis und war beliebt, alle, die sie aus der Gegend kannte, kamen und kauften bei ihr. Ebenso ihre Verwandten, das heißt, ihre "neuen" Verwandten, denn die Mutter hatte wieder geheiratet und sie hatte nun einen Bruder und eine Schwester, wovon sie aber nur mäßig begeistert war. Naja.
Der Cousin ihrer neuen Schwester war sogar der Sohn eines der Gemüsehändler, die den Feinkostladen belieferten und kam daher ab und zu mit frischer Ware vorbei. Er war nett, war jedoch ein Windhund, der dachte, sein gutes Aussehen öffnet ihm alle Tore und Türen. Dass er an Ramona interessiert war, stand ihm ins Gesicht geschrieben, jedesmal, wenn er den Laden betrat.
Eines Mittwochs, er musste wieder einmal Waren anliefern, sprach er sie dann an.
"Hallo, Ramona."
"Hallo, Werner, pass auf, stell die Wurzeln nicht auf die Lauchzwiebeln, die verknicken doch! Und die Tomaten ins Regal und nicht in die Kühlung." Aber Werner hatte kaum zugehört und die Wurzeln unkonzentriert auf ein Paket mit Schokoladentäfelchen gestellt.
"Du, Ramona, wollen wir nicht mal ausgehen?"
"Können wir machen. Wohin denn?"
"Vielleicht in eine Discothek?" Zu dieser Zeit der Beatles und der Rolling Stones waren Diskotheken gerade neu und schossen wie Pilze aus dem Boden. Ramona was skeptisch.
"Oder ... zu Ulla?", schob Werner schnell nach, als er sah, dass die Idee, in eine Diskothek zu gehen, bei Ramona nicht so gut ankam. 'Ja', dachte sie, 'bei Ulla war ich schon lange nicht mehr.'
Und damit stand die Verabredung. Am Samstag um sechs Uhr holte Werner Ramona ab und man ging erstmal ganz feudal Essen im Wienerwald. Anschließend gings zu Ulla. Als sie die Türen aufschlugen, fühlte sich Ramona um Jahre zurückversetzt. Zwar war das Mobiliar mittlerweile ein wenig verschlissen und Ulla noch ein wenig üppiger als früher, die Atmosphäre war jedoch gleich geblieben, auch wenn jetzt die Beatles aus den Lautsprechern dröhnten. Ramona lächelte und dachte an die Zeit, als sie hier öfter mit Marie gesessen hatte.
Sie setzten sich an einen der wenigen freien Tische. Ramona legte ihren Mantel ab. Auf einmal spürte sie, dass jemand sie von hinten beobachtete. Auch Werner hatte dies bemerkt und drehte sich zu der Person um. Anstatt sich aufzuregen, grüßte er jedoch freundlich.
"Hallo, Jörg!"
Es war sein Bruder, der sie da so eindringlich angesehen hatte, kein Fremder, der eventuell Streit suchte. Erleichtert drehte sich Ramona um – und erstarrte. Es war das gleiche Gesicht, das Jahre vorher zur Tür hereingeschaut und fluchtartig das Lokal verlassen hatte, als es Ramona erblickt hatte. Die gleichen blonden Haare und wachen Augen. Ihr Mann! Da saß er nun, hatte sich von seinem Schreck offenbar erholt, hatte lässig ein brünettes Mädchen im Arm und grinste sie an. Ramona war allerdings nicht zum Grinsen zumute. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und diesmal war sie es, die aus der Kneipe floh. Werner folgte ihr entgeistert und besorgt : "Was hast du nur?!" Aber sie wollte sich nicht äußern. Der Abend war gelaufen.
Sie war und blieb zunächst mit Werner befreundet. Dann jedoch wollte sie es wissen. Eines Tages stellte sie Werner die entscheidende Frage.
"Werner, wollen wir uns verloben?"
Werner glaubte, er höre nicht richtig. "Was?", brachte er nur heraus.
"Ja, verloben. Wollen wir uns verloben?"
"Ja, ahem, ja, o ja!"
Also verlobten sie sich und beide Familien wussten nun Bescheid. Auch Jörg. 'Jetzt kommt's drauf an', dachte Ramona, ' was wird er jetzt machen?'
Einige Tage später fand Ramona draußen auf ihrer Fensterbank kleine Blumen, die dort nachts jemand abgelegt hatte. In der kommenden Nacht legte sie sich auf die Lauer, um den geheimnisvollen Blumenstreuer zu überraschen. Als sie so gegen zwei Uhr morgens einen Schatten vor ihrem Fenster sah, machte sie das Fenster auf und blickte in die Augen von – Jörg. Der nun nicht mehr davonlief.
Ramona trennte sich wieder von Werner. Sie und Jörg waren nun ein festes Paar. Sie wusste, dass sie Werner gegenüber nicht ganz fair gehandelt hatte, aber Werner hatte ein großes Herz (und selber seine Freundinnen auch nicht immer ganz fair behandelt) und verzieh ihr diesen Schachzug, zu dem er benutzt worden war, nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei dem "Rivalen" ja um seinen Bruder handelte und er innerlich irgendwo gespürt hatte, dass Ramona und er wohl doch nicht richtig zueinander gepasst hatten. Die Anschaffungen aus der Verlobungszeit und einen von Ramona geliehenen Geldbetrag konnte er selbstverständlich behalten.
Ramona und Jörg waren glücklich und bis über beide Ohren verliebt und man sah es ihnen auch an. Sie waren sehr viel zusammen und Jörg, der sowieso schon groß war, sah neben der kleinen Ramona wie ein Riese aus. Das weckte aber umso mehr seinen Beschützerinstinkt. Ständig sagte er ihr, wie süß sie sei, und sie wurde dunkelrot dabei. Es war sehr romantisch.
In den Familien der beiden war allerdings nicht jeder für diese Verbindung, vielleicht auch manchmal nur aus Neid. Besonders von Jörgs Vater wurde Ramona herablassend behandelt und schlecht gemacht, und es gab deswegen tatsächlich einigen Streit zwischen Ramona und Jörg. Dennoch – was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. So heirateten Ramona und Jörg schließlich. Auf ihrer Hochzeit war Freundin Marie so gerührt, dass sie ständig weinen musste, obwohl oder gerade weil sie ebenfalls ihren Traumprinzen gefunden hatte. Sie schniefte und trompetete so häufig in ihr Taschentuch, dass Ramona trotz der Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit des Tages lauthals lachen musste und die ganze Festtagsgesellschaft sie erstaunt ansah. Dann schnieften beide Freundinnen – vor Lachen. Und einige andere glucksten auch schon mit und ernteten kritische Blicke der Umstehenden.
Ramona war nun zwanzig Jahre alt und verheiratet.Mit einundzwanzig bekam sie ihr erstes Kind, eine Tochter, und zwar am vierzehnten März, wie ihr von einem Fremden auf dem Wochenmarkt prophezeit wurde. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.