Читать книгу perfekt morden - Raoul Biltgen - Страница 4
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ОглавлениеIn Svens Inbox fand sich eine Email. Nun, das ist nichts Außergewöhnliches, neinnein, da finden sich jeden Tag sogar ziemlich viele Emails, nur, die wenigsten sind für Sven. Das heißt, eigentlich sind sogar alle für Sven, reden ihn sogar persönlich an, aber, auch wenn Werbung die Menschen persönlich anschreibt und -spricht, das ist doch nicht so gemeint, woher denn, die nackten Blondinen mit den Riesentitten, an denen sie mit roten Zungen lecken, während ihnen fremde Schwänze ins Ohr gesteckt werden und das Sperma an den hervorstechenden Nippeln heruntertropft, sofern es noch nicht weggeleckt wurde, die warten nicht auf dich persönlich, selbst wenn sie schreiben, ach, wie einsam sie sind und nur auf dich warten und es so schön fanden das letzte Mal ... Kennen wir uns?, und wer ist der Typ mit dem Riesendödel in deinem Ohr?, triff dich doch mit dem, wenn du so einsam einsam bist, ich steck dir meinen Schwanz nicht ins Ohr, und interessiert es dich wirklich, wer sich beim Anblick eines gesichts-, ja, körperlosen Schwanzes in deinen Körperöffnungen einen runterholt? Wie bescheuert ist man denn?
Der Sven ist nicht bescheuert, der klickt nicht auf die freundlichen Einladungen, nicht einmal auf die freundlichen „Sign Out"-Buttons, die zum gleichen Ziel führen, wie die freundlichen Einladungen, nämlich ab da nur noch mehr solcher Emails zu bekommen, nein, der Sven gibt einfach schnell mal bei google „britney spears naked" ein und schert sich einen Dreck um die offensichtlichen Fälschungen, weil Britney Spears ihn auch nicht interessiert, oder einfach direkt „hot fuck cum", da kriegt man hardest Porno ganz umsonst, keine Dialer, keine persönlichen Ansprachen, ein einsames, schnelles, unspektakuläres Wichsen unter der Tastatur und aus, so einfach ist es ja heutzutage, ja, so einfach.
Keinen Moralischen jetzt. Ich hab's noch nicht erwähnt, aber der Sven ist ein einsam lebender Single, also darf er, was er darf, da kümmert sich niemand drum, dass das Klopapier schon wieder alle ist. Was machst du denn damit?, frisst du das?, aber nein, ich putz mir meinen Schniedel ab. Nein, so was gibt es bei ihm nicht.
Sicher. So ist es ja nun auch wieder nicht. Natürlich ist das Eigentliche am Sex auch für ihn das Wichtige, das Miteinander, das zu zweit, Körperflüssigkeiten nicht das Klo runter spülen, sondern austauschen, nichts für nichts, und ein Körper gehört auch dazu. Und keine Silikontitten, muss ja nicht sein. Gut, soweit ich weiß, hatte der Sven noch nie eine Silikontitte in der Hand, auch keine zwei, nicht in einer, da müsste er ja Bärenpranken haben, aber auch nicht in beiden Händen. Aber schön findet er das nicht. Sehen ja auch irgendwie aufgepflanzt aus, findet er, so wie wenn man einer Frau zwei Honigmelonen auf die Brust setzt und je eine Kirsche obendrauf. Er hat es nicht so mit dem Obst. Nicht dass er was gegen Titten hätte, die was hermachen, aber man muss es ja nicht übertreiben, er trägt auch keine Riesengurke in der Hose. Mit den Titten ist es so: Groß ist richtig gut, so lange sie verpackt sind, aber kaum ist die Verpackung ab, ist dann doch die Gefahr vorhanden, dass sie den berühmten Bleistifttest nicht bestehen, sprich: hängen. Kleine Titten sehen zwar nach nicht viel aus, so lange da was Stoffliches drüber ist, aber dann: Die Form hält bei Wind und Wetter, ist doch schön. Klappt allerdings auch nur, so lange sie nicht so klein sind, dass gar keine Form mehr da ist. Das sagt der Sven.
Aber niemand muss Svens Geschmack auch teilen. Auf jeden Fall löscht er diese Emails immer, zusammen mit denen von den Söhnen afrikanischer Ex-Präsidenten aus Timbuktu, die unglaublich viele Diamanten gerade auf sein Konto verfrachten müssen, um ihr unlieb von den Untertanen ergaunertes Erbe antreten zu können. Auch die kommen weg. Und die Mails, er soll sich doch endlich seinen Schwanz vergrößern lassen und Viagra bestellen und zinslose Kredite aufnehmen und den richtigen Partner fürs Leben finden und seinen Millionengewinn abholen. Alles weg. Schaut schon fast nicht mehr hin. Hätte also fast auch diesmal alles gelöscht. Besonders, da er auf eine Mail von der AUA oder auch Luxair wartete. Könnte ja sein, dass sie ihn nicht anrufen, sondern anmailen. Ob er seine Mail angegeben hat? Keine Ahnung, aber so was findet man ja raus, man kann ja den afrikanischen Diamantenmilliardär fragen oder die tropfendgeile Blondine aus Amerika. War aber keine Mail von der AUA dabei. Und auch nicht von der Luxair. Aber von der Vivien Gardowsky.
Vivien Gardowsky? Kenn ich nicht, ist sicher Spam, klingt schon so. Subject: Anfrage. Aha, was Neues. Anfrage: Komm vorbei, zahl unglaublich viel Geld, schau mir beim gefickt Werden zu. Nein. Kam aus Dresden. Von der SLUB. Klingt ja auch irgendwie nach was Unanständigem, slub, nach was Feuchtem, Glibbrigem, nach Rausrutschen irgendwie. Scheint es aber nicht zu sein. Ist es auch nicht. Ist eine Bibliothek. Die Vivien aus Dresden, die schreibt, ihr ist sein Buch durch Zufall in die Hände gefallen.
Gut, er ist ein Schreiber und hat sogar mal ein paar Gedichte auf Papier und zwischen Pappe rausgebracht. Aber er ist kein bekannter Schreiber, nicht in Dresden, auch sonst nirgends, sonst wär das ganze finanzielle Dings ja auch nicht so das Problem, aber bitte, wie kommt eine Frau aus Dresden zu seinem Buch? Und will es dann auch bestellen, signiert, was ist Porto?
Jetzt mal was zur Eitelkeit. Der Sven, der sich ja gerne ein wenig aufplustert damit, dass er schreibt und davon lebt, er sagt natürlich nicht, dass er nur sehr schwer davon lebt, der hat ja durchaus auch ein Stück vom Eitelkeitskuchen abbekommen. Und da plustern sich die Federn und ein Röhren ertönt im Schädel vom Sven, haha, das ist, was man mag, wenn es nicht die ewigen Freunde und Bekannte sind, die dein Zeug lesen und unglaublich gut finden, danke, nein, es geht um die Fremden in der Welt, die, und sei es durch Zufall, auf dein literarisches Werk stoßen und es gut finden. Diese Vivien hätte ja nicht sagen müssen: Toll, will ich haben. Die hätte auch denken können: Scheiße, kann mir gestohlen bleiben. Hat sie aber nicht getan. Hurra. Das baut auf.
Sofort setzt der erfreute Sven sich hin, nein, er saß schon, er greift in die Tastatur und schreibt zurück, bleibt natürlich cool in der Wortwahl, sie kriegt ihr Buch. Da fällt ihm Folgendes auf: Der Vivien ist das Buch „durch Zufall" in die Hände gefallen. Was heißt denn das? Durch Zufall? Wie fällt einem denn durch Zufall ein Buch in die Hand? Ja, die Mail kommt von einer Bibliothek, da kann mal ein Buch aus einem Regal fallen und eine aufmerksame Bibliothekarin jumpt hin, um es zu fangen, könnte ja ein Goethe sein und ein unentdeckter Kafka, ist erst mal enttäuscht, weil es das
nicht ist, denkt sich, was ist mir denn da durch Zufall in die Hände gefallen?, blättert hinein, ist aber nein so was von begeistert, setzt sich hin, will haben. Signiert. Aber kann das wirklich passieren?
Nein. Die aufmerksame Bibliothekarin könnte natürlich auch eine Freundin haben in Dresden, die kommt aus Luxemburg, so wie der Sven, die ist, so wie der Sven, aus Luxemburg geflohen, die hat es nach Dresden verschlagen, ihre Mutter kennt die Mutter vom Sven, die Mutter vom Sven hat der Mutter der Freundin der Vivien das Buch geschenkt, weil der Vater von Sven gleich zehn davon gekauft hat, stolz wie Väter nun mal sind, die Mutter von der Freundin von der Vivien aber fand es Kacke und hatte noch kein Geburtstagsgeschenk für ihre Tochter, welches schnell mal postwegs nach Dresden zu schicken wäre, hat ihr das Buch vom Sven von seiner Mutter von seinem Vater flugs nach Dresden geschickt, die Freundin der Vivien lässt das Buch ungelesen, gar undurchblättert am Küchentisch liegen, Mutter hat ja keinen Geschmack, die Vivien, die gute Seele, kommt zu ihrer Freundin, die übrigens Claudine heißt, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, schenkt ihr den neuen Grisham, den Claudine zwar auch nicht mag, aber wenigstens keine Gedichte und auch viel dicker, macht mehr her, die Vivien singt ein Lied und gibt Bussi Bussi, ach nein, in Dresden Küsschen Küsschen, setzt eine Tasse Kaffee an, setzt eine Tasse Kaffee ab, fegt dabei das Buch vom Sven von der Claudine von der Claudine ihrer Mutter vom Sven seiner Mutter vom Sven seinem Vater vom Tisch, fängt es auf, nein der Zufall, der ihr das Buch in die Hände hat fallen lassen, und schon Begeisterung, die Claudine blättert jetzt auch rein, he, toll, passt, dass der nicht mehr in Luxemburg lebt, dieser Sven, passt, dass meine Mutter mir das Ding schickt, kann sie ja nicht mögen, weil: ist gut, Begeisterung, Claudine gibt das Buch nicht mehr her, also muss die Vivien, die buchlose, sich an den Autor wenden, hat ja auch was, und zwar was Persönliches. Nein, besser noch, ist ja ein Foto von ihm drin, vom Sven in seinem Buch, ein Autorenfoto, ja genau: Die beiden Mädels lesen die Gedichte und sind zutiefst gerührt und seufzen laut und sehen das Foto und seufzen lauter, weil, meingott, wer so schöne Gedichte schreibt und auch noch so toll aussieht, der muss einfach ein genialer Mann sein, abgesehen davon, dass er sicher gut im Bett ... Nein, das denken ja Frauen nicht, so nieder denken die nicht, aber trotzdem, den einmal kennen lernen, bitte bitte. Schreib ihm doch. Ich trau mich nicht. Und dann, Geburtstagslaune pur, ein wenig Sekt im Blut, na gut, ich mach's, ich schreib ihm, ich will sein Buch, ja, ja, gut, gut, gemacht. Und schon flattert beim Sven diese Email ins Haus und auch er freut sich und denkt sich in seiner unermesslichen Eitelkeit diese Geschichten zusammen. Das Leben ist schön und kein Film vom Benigni oder wie der heißt.
So ergeht es dem Sven also heute und das ist ja ein guter Tagesanfang, nicht? Doch.
Dann aber wieder diese leidige Angelegenheit mit der blöden Lesung, wo er ja noch hin muss, und was macht er denn jetzt?, das Geld bräuchte er schon auch, dochdoch, und so. Er nimmt sich beim Kragen, einen Riemen hat er nicht, an dem er hätte reißen können, und ruft nun selber bei der Luxair an, sonntags, gut, sicher, warum nicht. Da hebt auch eine junge, sehr sehr freundliche Dame ab, was ja immer schon suspekt ist. Sven erzählt ihr die Geschichte, sie schaut im Computer nach, und, tatsächlich, da hört und staunt man, das steht auch so bei ihr bei der Buchung vom Sven dabei, also doch die AUA was gemacht, aber, leider, da muss er bei einem anderen Service anrufen, und der andere Service, es ist ja Sonntag, nein?, der ist erst am Montag ab neun besetzt. Ja aber Montag, da müsste er schon weg, denkt er sich und sagt es, und wenn die erst um neun, wie soll er dann um halb neun den Flieger?
Es geht ja auch noch einer am Abend.
Ach so?
Jaja.
Na dann. Die AUA ruft er nicht mehr zurück, die können ihm sonstwas bleiben, was interessiert ihn die AUA, und diese Luxair-Dame da war schon sehr freundlich, doch, und Sven fragt sich, welche Farbe ihr Dress hat, ganz sicher nicht so ekelhaft rot, ganz sicher nicht, vielleicht blau, himmelblau, das ist die Farbe der Luxair, allerdings haben die Luxair-Stewardessen keine blauen Dings an, keine Ahnung, welche Farbe die haben, jedenfalls nicht blau, aber, so soll es sein, am nächsten Tag wird also dann die Luxair in der frühen Früh angerufen, sollen die ihm mal was besorgen, ein Ticket womöglich, auch wenn die von der AUA ihm das nicht geben wollten.
Anschließend sitzt der Sven noch ein wenig vor seinem PC und liest noch ein paar Mal die Email von der Vivien und dann kommt er drauf, dass die wahrscheinlich gar nicht so eine junge nette Studentin sein muss, wie er sich das vorstellt, ich mein, Bibliothekarin, nicht?, die sind doch eher mittelalterlich und tragen eine Halb- und trotzdem Hornbrille und Wollröcke und graue Westen und ihre Brille ist an so einem Band, das um den Hals gelegt wird, und sie schnauzen die Studenten an, die ihre Bücher nicht zurückbringen, weil sie sie für eine Arbeit brauchen, die Arbeit aber nicht schreiben konnten, weil das Seminar, das sie dafür brauchen, leider voll ist die nächsten fünf Semester und deswegen müssen sie warten, wollen aber das Buch nicht zurückgeben, weil sonst hat es jemand anderer, der es auch nicht zurückgeben will, wenn sie es brauchen, und, weil das haben sie sich vorgenommen, sie können ja trotzdem schon mal mit der Arbeit anfangen, rausschreiben und so, vorarbeiten sozusagen, das wär nicht schlecht, obwohl, das haben sie noch nie gemacht, aber diesmal, ja diesmal machen sie es bestimmt, nur noch das Wochenende abwarten und dann noch diese andere Sache, diese andere Arbeit, diese andere Vorlesung, diese andere Party, diesen anderen Mann, da kann die liebe Studentin doch nicht sagen, nö, tut mir leid, aber ficken ist nicht, ich muss noch vorarbeiten, meingott, so oft haben Studenten heutzutage ja dann doch auch keinen Sex, da muss die Gelegenheit warm gehalten werden, und das tut man nicht, indem man Arbeiten bearbeitet, die eh noch länger anstehen können, und von ernsthaften Beziehungen, die sich doch durchaus nach einer guten Nacht zusammen ergeben können, will ich gar nicht erst reden.
Allerdings die Vivien, die arbeitet in dieser Bibliothek, ärgert sich über die sexbesessenen Studentinnen, hat gar keine Freundin namens Claudine und denkt sich in ihrer Freizeit, sie arbeitet nicht in der Bibliothek, um Bücher zu sortieren, sondern weil sie literaturinteressiert ist, aber das wissen die Studentinnen, die überheblichen, nicht, die denken sich nur, komm, vergiss mal das Buch, geh doch auch mal aus, gibt ja auch Seniorenclubs oder Oldie-Partys, Hits aus den Siebzigern und Achtzigern, da ist dann was für dich dabei, ein Buchhalter oder Autobusfahrer mit Schnauzer und Bügelfalte in der Jeans, und dann siehst du schon, dass Pflichtbesessenheit nicht alles ist im Leben. Studenten denken nicht besonders freundlich, weil sie annehmen, dass Bibliotheksmitarbeiter ja keine Akademiker sind, sondern nur dort arbeiten, um sich den Hauch des Akademischen zu verleihen. So denken Studenten.
Studenten sind ganz ganz Schlimme. Deshalb brauchen sie auch so lang zum Studieren. Sie haben zu viel Scheiße im Kopf. Die sollten sich mal den Film Yentl anschauen, die Streisand, die nicht studieren darf und dann es doch tut, und die gibt sich Mühe, meingott, das ist echt hart, die hätte ihr Studium in mindestens unter der Mindeststudierzeit absolviert, wenn sie sich nicht verliebt hätte. Es ist immer diese junge Liebe, die dem Lernen im Weg steht. Und dann ist auch Pisa kein Wunder, ja, wenn statt Studium Kinder zur Welt gebracht werden, Eltern doof, Kinder blöd. Daran liegt es nämlich auch. Besser wär da mal wieder die Geschlechtertrennung, bis ein ordentlicher Beruf da ist und diese unnützen Studiengänge wie Ethnologie und Finnougristik gehören abgeschafft, damit kann man ja nichts anfangen. Ich bin Finnougrist. Toll, was kauf ich mir dafür? Ich kann dir sagen, dass Finnisch und Ungarisch Sprachen sind, die mit sonst keiner was am Hut haben, außer mit Estnisch. Oh, ja, das ist ein Hot Dog wert. Mahlzeit.
In der Zwischenzeit war der Sven, der neugierige, auf der Homepage von der SLUB, hört sich immer noch so irgendwie an, ich weiß nicht, und hat unter den dort angeführten Mitarbeitern nach einer Vivien gesucht, aber nicht gefunden. Was heißt das jetzt? Arbeitet die gar gar nicht dort? Hat sie eigentlich gesagt, dass sie dort arbeitet? Nein. Nein? Nein. Hat sie nicht. Hm. Komisch jetzt. Naja, aber, ich mein, selbst wenn sie dort arbeitet, wenn sie nicht aufgeführt ist bei den Mitarbeitern, dann ist sie zumindest eine kleine Nummer, dann hat sie nicht viel zu sagen, dann arbeitet sie noch nicht lange dort. Und das ist gut, denn ältliche Bibliothekarinnen arbeiten immer schon ein halbes Jahrhundert dort, mindestens, da erzählen sogar die Eltern immer schon, achgott, ja, die, ich weiß noch, ich wollte mal ein Buch haben, dieses eine da, wie hieß es noch und dann ...
Dann geht die alte Leier los, oh nein, da haben Elterngenerationsmitglieder eine Gelegenheit, aus ihrer so unglaublich wilden Jugend an der Uni zu erzählen, und von der Bibliothekarin kommen sie zu einem Professor, ist der auch immer noch da?, bei dem hatte ich mal eine Seminararbeit zu schreiben ... und dann: Lokale aufzählen und Saufkumpane oder Tratschtantenfreundinnen oder verflossene Liebschaften, was der jetzt wohl macht?, hat die nicht geheiratet?, ist der nicht wieder geschieden?, von ihr?, stundenlang, kein Fuß ist mehr auf den Boden zu bekommen, aber solche Legenden stehen ganz sicher immer bei den Mitarbeitern auf einer Homepage, das wär ja ein Sakrileg, solche zu vergessen. Und das spräche dann wiederum dafür, dass die Vivien doch noch eine junge ist, eine Studentin, eine, die sich halt das Taschengeld nicht als Tutorin, sondern als Bibliotheksaushilfe verdient, Studentenjob, man muss schauen, wo das Geld herkommt, und das ist ihm irgendwie sympathisch, das kann er nicht verstecken, das imponiert, besonders, da so was wieder von einem jüngeren Alter zeugt und von, doch, Literaturinteresse, und so langsam steigert der Sven sich in eine Art Star-Denken hinein, und Vivien mutiert zum Literatur-Groupie, die Claudine-Freundin-Schmacht-Theorie gewinnt an Dankbarkeit, Sven an Ach-ja-so-ist-das-Lebenals-Schreiber-Gefühl, und dieses ist ein gutes.
Und nun von wegen Besessenheit, weil, so muss man das ja auch nennen, wenn einer sich so viele Gedanken macht wie der Sven über eine einzige schnelle Email, dann gibt es Folgendes zu sagen: Besessenheit ist ja auch nichts Schlechtes, weil, es lässt einen sich wohler fühlen im Ganzen und im Allgemeinen, aber auch im Speziellen, und der Sven verschwendet weniger Gedanken an seine unrühmlichen Erfahrungen zeitverlierender Art am Flughafen und auch nicht daran, dass er noch lange nicht so weit ist, einen Flug noch zu bekommen, um diese Lesung schließlich doch noch abzuhalten.
Und woran er auch nicht mehr denkt, das ist dieser eine Gedanke, der ihm gestern noch das eine und das andere Mal durch den Kopf geschossen ist. Und apropos geschossen, das ist es ja: schießen. Wollte er nicht gestern noch umherlaufen und Menschen über den Haufen schießen? Doch, eben, das wollte er, und das Messer reichte ihm nicht aus, und wo ist der Gedanke daran jetzt? Eben, genau in dem Moment, wo auch Sven sich fragt, wo dieser Gedanke abgeblieben ist, schießt genau dieser Gedanke wieder zurück an Ort und Stelle. Nur: Reizvoll ist er nicht mehr ganz so sehr, der Gedanke, weil, Amokläufer die haben ja keine Chance. Amokläufer erschießen sich selbst oder werden erschossen. Und wenn beides nicht eintrifft, werden sie geschnappt und kommen in die Psychiatrische. Wobei Psychiatrische ja dann doch auch wieder nicht so schlecht wär, weil da könnte er in Ruhe und ohne Geldsorgen ein supertolles Buch über sein Leben verfertigen und seine Behandlung und über seine Morde und das wär dann ein Bestseller, ohne Zweifel, nur, und da ist er dann auch ein wenig wütend auf die Vivien, die hat ihm das vergällt, weil jetzt denkt er, es gibt doch noch Hoffnung im Leben und in der Karriere, wenn die schon in Dresden sitzen und meine Bücher geil finden, also bitte, da kann es nur bergauf gehen, und sich diese Chance entgehen lassen, nein, da teilt der Sven zu ungern sein Zimmer mit einem wirklich Bekloppten, der denkt, er sei Napoleon oder Thomas Bernhard oder so.
Also kein Amoklauf. Ach, schade irgendwie. Aber, meingott, das Leben spielt halt die verrücktesten Schnippchen mit uns armen Menschen, da kann man gar nichts denken, da kann man sich nur zurücklehnen satt und sagen: Ach.
Und nun hat sich der Sven auch noch so richtig schön zurückgelehnt und sein drittes bis viertes Ach ist ihm schon über die Lippen gekräuselt, und das in mannigfaltigen Variationen, laut und leise, sanft und unsanft und auch ein wenig überhaucht, da klingelt ihm das Telefon und zwar ins Ohr, weil er sitzt praktisch quasi direkt daneben, und so lümmelnd wie er da daneben sitzt, ist er tief in seinen Sessel eingesunken und das Ohr also nah am Telefon und das dann ziemlich laut, und vorbei ist die Zurücklehnerei, die angenehme. Wer läutet denn jetzt da in Svens Wohnung hinein? Er ist doch gar nicht da. Also offiziell ist er ja schon längst weg, die, die ihn haben wollen, die wissen es und klingeln über Handtelefon nach Luxemburg durch.
Aber jetzt. Das ist ja jetzt blöd, irgendwie. Natürlich, er kann jetzt eben mal schnell und nonchalant abheben, und wenn es wer ist, der ihn kennt, dann ist das ja kein Problem, dann erzählt er eben mehr oder minder detailfreudig seine Flughafenstory und aus, ist ja kein Problem, nicht? Aber das ist das Problem, es ist ein Problem, für den Sven schon.
Der Sven ist ein komischer Kauz, das muss ich schon sagen, da gibt es kein langes und breites Drumherumgerede, nein, der Sven ist ein Komischer. Der Sven, der mag es nicht, mit Leuten zu quatschen, wenn er keinen Bock drauf hat. Und der Sven, der komische, der hat eigentlich fast nie Bock drauf. Mit den meisten redet er ja eh nur Stuss, small-talk-Kacke, und das kann schon sehr anstrengend sein. Und deswegen telefoniert er nicht gern, weil da ist es viel schwieriger, nichts zu sagen, den anderen reden lassen, da kann man nicht mal schnell, wenn die übliche Frage kommt: Und?, mit den Achseln zucken und die Klappe halten, geht nicht. Und, ganz ehrlich, ein Ja, doch, das reicht dann auch nicht aus, das ist wie Schweigen, nur feiger.
Auf der Straße oder in der Bim, wenn der Sven da jemanden sieht, den er kennt, und es ist nicht gerade ein wirklich guter Freund, von denen es eigentlich eh nur maximal einen gibt, und selbst bei dem, oder es ist die Frau, in die er gerade verliebt ist oder die er gerade ins Bett haben will oder beides, dann sagt er nichts. Er sagt nicht: He, hallo, he, wie geht's?, schön dich mal wieder zu sehen, wie läuft's? Das tut er nicht. Er steigt dann in den zweiten Wagen ein, und wenn der andere nicht geht, dann schlängelt er sich bis zum anderen Ende des Wagens und versteckt sich hinter den Leuten, und wenn keine anderen Leute im Wagen sind, dann werden plötzlich die Leute auf der Straße so unglaublich interessant und auch die Schaufenster und Werbetafeln und Straßenschilder und Autos und Rinnsteine und Hunde. Alles, was den Blick in die andere Richtung lenkt. Und dann ist es am anderen, was zu sagen, zu sagen: He hallo, wie geht's?, was machst denn du da? Und dann kann er immer noch so erstaunt tun, und: He, hallo, hab dich gar nicht bemerkt, was machst du so?, geht's eh gut? Aber wenn der andere auch nichts sagt, dann denkt sich der Sven, haha, dem geht es wie mir, hat keinen Bock drauf, mit mir zu quatschen. Gottseidank sind solche Bimfahrten ja meistens kurz genug, sonst wär's ja fad.
Müsste man sich mal geben: Man besteigt zufällig das gleiche Auto und fährt dann nebeneinander sitzend von Wien nach Paris und zurück, ohne zu tanken oder zu pissen, und tut so, wie wenn man den anderen nicht sähe, das muss prickelnd sein. Ich glaube, wenn man das durchhält, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als bei Ankunft den anderen voll zu ficken, weil man es nicht mehr aushält, so zu tun, als wär man allein, da muss das Gegenteil passieren. Wah. Rein körperlich, denke ich.
Nun aber geht es nicht ums Autofahren, sondern ums Telefonabheben. Und es klingelt und klingelt und klingelt, es hört einfach nicht auf. Der Sven hat sich ja gedacht und erhofft, wenn ich mir jetzt einfach ein wenig Gedanken mache, bevor ich abhebe, dann hat dieser infame Mensch am anderen Ende der Leitung schon längst aufgegeben und -gelegt und ich habe meine Ruhe und kein Dilemma mehr und so. Der infame Mensch aber legt nicht auf. Der klingelt einfach so weiter. Hundertachtzig Mal lässt der das jetzt schon klingeln. Mindestens.
Und da ist es auch schon zu spät, den Anrufbeantworter einzuschalten, das fällt ja dann doch auf. Und dann denkt er an die AUA und die Luxair. Was ist, denkt er sich, wenn die jetzt wirklich ihr Versprechen wahr machen und sich bei ihm melden? Wär ja möglich, nicht? Also hebt er ab. Und dann? Und dann tutet es ihm nur mehr ins Ohr. Das war ja zu erwarten. So ein Scheiß. Das ist echt unmöglich ist das echt. Was soll denn das jetzt? Legen die einfach so auf. Das geht doch nicht. Da sieht man mal wieder, wie hoch die den Dienst am Kunden rechnen, nämlich so hoch wie eine Schnecke ohne eigenes Haus, aber schnell sind die, puh, unglaublich, wählen, lassen es ein zwei Mal tuten respektive klingeln auf der anderen Seite, und schon ist aus. Meingott, der Sven hätte ja jetzt auch grad am Klo sitzen können, muss sich noch den Hintern wischen und stolpert über seine Hose, die er hoch zu ziehen ganz vergessen hat, und dann geben sie ihm nicht einmal die Chance, die Hände zu waschen, dann muss er mit ungewaschenen Händen den Hörer greifen und ab da werden sich die Bakterien und unsichtbaren Kackepartikel auf dem Hörer verbreiten und wofür? Dafür, dass die dann schon aufgegeben haben. Fair ist das nicht. Nein, fair ist das wirklich nicht.
Da steigt sogleich wieder dieses Gefühl in ihm hoch, das er gestern schon in sich hatte und das die Vivien und die nette himmelblaue Dame von Luxair kurzweilig abgetötet hatten: Er könnte jetzt jemanden erwürgen. Gut, erwürgen war noch nicht, bis jetzt nur erschlagen, erschießen, erstechen, aber erwürgen, ja das wär's jetzt, mit beiden Händen durch den Telefonhörer hindurch greifen, die Hände kommen am anderen Ende der Leitung raus, so wie bei Tex Avery, er greift sich den Hals dieser bescheuerten, rotgewandeten Telefonistin, die sich die Fingernägel lackiert, natürlich auch rot, der Fingernagellack wird von der AUA gestellt, und dann drückt er zu. Oh ja, er drückt fest die Daumen auf ihrem Kehlkopf zusammen, drückt ihren Kehlkopf fest in ihren Hals hinein, und sie röchelt und läuft luxairblau und AUA-rot und irgendwie grün an und die Zunge hängt raus, und dann entsteht ein wenig Überdruck in ihrem Kopf, der Kopf platzt und sie ist tot. Hauptsache, es spritzt viel Blut.
Dann muss Sven an Bret Easton Ellis denken, das ist der, der „American Psycho" geschrieben hat, und er denkt nicht an die elendige Verfilmung davon, sondern an das Buch, das er, natürlich, schon lange vor dem Film gelesen hat, und dann denkt er daran, wie der Patrick Bateman im Buch die Leute umbringt, und, gut, das Sexuelle daran findet er jetzt nicht so das Kitzelndste, also er muss nicht Brustwarzen abbeißen, bevor er jemandem den Kopf abschlägt, oder ekelhaftere Dinge, es geht ihm ja nicht um sexuelle Befriedigung, sondern um, naja, wie soll ich es sagen?, um Rache, wenn man so will, aber das trifft es nicht genau, um Aggressionsabbau, aber das klingt nach Kompensation, wo man eben auf einen Sandsack eindrischt und nicht auf Fressen, aber er will ja das Wahre, nicht den Ersatz. Und dann denkt er, ja aber, selbst der im „American Psycho" hat es ja am Ende nicht fertig gebracht, die Morde wirklich perfekt zu veranstalten, so dieses Klischee, der perfekte Mord, nicht aufklärbar, das hat er nicht geschafft, weil der eine Polizist ist ihm ja schon auf den Fersen, das schon. Der Bateman hat ja nur so lange überlebt, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist in diesem Buch, niemand achtet auf niemanden und Namen gibt es keine und es geht nur um äußeren Schein, und ich werde jetzt nicht das Buch „American Psycho" erklären, um zu erklären, warum immerhin viele viele nahezu perfekte Morde für den Bateman möglich waren, aber nicht für den Sven. Und es geht jetzt auch nicht darum, sondern es geht darum, dass dem Sven dieser Gedanke jetzt gekommen ist, weil, wenn er jetzt diese Telefonistin erwürgen würde, dann kämen sie ja sofort auf ihn, weil die können ja nachvollziehen, wen die gerade angerufen hat, und schon schnappt die Falle zu. Und dazu kommt nicht, dass der Sven am Flughafen geschrien hat: Ich bring euch alle um, aber: Auffällig war sein Verhalten schon, das denke ich, weil freundlich war er nicht, und nicht freundlich ist nicht unauffällig heutzutage.
Es müsste doch einen Weg geben, einen wirklich perfekten Mord zu veranstalten.
Hm.