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Der weiße Kranich schlägt mit den Flügeln

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Tai Chi ist in Hongkong Volkssport. Nicht jeder Europäer erweist sich dabei allerdings als Talent

Der Ausblick ist einmalig und meine Bewegungen sind ungelenk. Ich stehe am Ufer des Victoria Harbour und schaue hinüber auf die Wolkenkratzer von Aberdeen und hinauf zum Victoria Peak. Mein rechtes Bein strecke ich weit nach vorne, so weit, dass ich aus dem Gleichgewicht komme und ziemlich wackelig unter der Hongkonger Morgensonne stehe. Vorne, ganz in Rot gewandet und in weiter Seidenhose, zeigt Herr Lo, wie es richtig geht. Den vorderen Fuß nicht belasten, ermahnt er uns, ohne dass sich meine Pose dadurch entscheidend verbessern würde. Da hilft es auch nichts, dass die Übung, die wir machen, den poetischen Namen »Der weiße Kranich schlägt mit den Flügeln« trägt. In meinem Fall sollte die Übung ohnehin passender »Ein Bär versucht dem Orkan zu trotzen« heißen.

Herr Lo ist Tai-Chi-Lehrer und versucht einer Gruppe Touristen die Grundlagen seines Sports beizubringen. Jeden Morgen wartet er, vom Hongkong Tourist Board beauftragt, hinter dem Kunstmuseum der Stadt auf wissbegierige Besucher. Immer wieder zeigt er ihnen mit Engelsgeduld die einfachsten Übungen. »Jeder Mensch kann Tai Chi erlernen, und jeder profitiert davon.« Das erklärt mir Herr Lo nach Ende der Trainingsstunde. Dass er das zu mir sagt, finde ich nett, nehme ich doch an, dass ihm meine ungelenken Anstrengungen der letzten Stunde nicht verborgen geblieben sind.

Dann erzählt mir Herr Lo noch, dass Tai Chi eine sehr lange Geschichte hat und bereits im 17. Jahrhundert entstanden sei. General Chen Wangting hat’s erfunden, als er verschiedene Komponenten damals bekannter Kampfsportarten verband. Schöner ist aber die Legende, nach der Tai Chi von einem taoistischen Mönch kreiert wurde. Der hatte angeblich den Kampf zwischen einer Schlange und einem Kranich beobachtet und dann einfach deren Bewegungen imitiert.

Nicht nur hinter dem Kunstmuseum trainiert man Tai Chi. Weniger unbeholfen als dort gehen die Sportler andernorts zu Werke. Fast jeder Park Hongkongs wird frühmorgens zur Übungsfläche, wenn sich die Menschen aus der jeweiligen Nachbarschaft zum gemeinschaftlichen Training treffen. Meist sind es ältere Damen und Herren, die ihre Körper geschmeidig in der Morgensonne wiegen, während die jüngeren mit dem Aktenkoffer auf dem Schoß, in der U-Bahn oder dem Bus, auf dem Weg zur Arbeit sind.

Mit fließenden Bewegungen absolvieren die Alten ihre Übungen. Auf den flügelschlagenden Kranich lassen sie die Libelle folgen, die das Wasser umarmt. Oder sie machen Übungen, die »Die Mähne des Wildpferdes teilen« und »Ein Erleuchteter berührt den Boden« heißen. Jeder Name klingt wie ein Gedicht, und so formen die Übenden im Laufe des Trainings mit ihren Körpern eine Art Geschichte.

Im Deutschen wird Tai Chi oft mit »Schattenboxen« übersetzt, was nicht unbedingt den Kern der Sache trifft, denn beim Boxen kommt es darauf an, in die Bewegungen Explosivität und Kraft hineinzulegen, während beim Tai Chi alles langsam wie in Zeitlupe abläuft.

Für die Chinesen ist Tai Chi ein Wundermittel, das auf harmonische Weise Körper, Geist und Seele verbindet. Es reguliert die Atmung, stärkt Herz, Kreislauf und Nervensystem. Und führt angeblich auch zu einer gelasseneren Stimmung, zu mehr Wohlbefinden und Entspannung. Bei mir hat das noch nicht geklappt. Aber Herr Lo wartet ja jeden Tag hinter dem Kunstmuseum. Vielleicht gehe ich morgen einfach noch mal hin.

Rasso Knoller

Lesereise Hongkong

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