Читать книгу Die Doors, Jim Morrison und ich - Ray Manzarek - Страница 7

Оглавление

Zweites Kapitel

Die South Side von Chicago

Daß mir dieses Stück einmal fehlen würde, wußte ich damals noch nicht, als ich zwischen 34. Straße und Bell Avenue in Chicago/Illinois aufwuchs und zur Schule ging. In dieser Stadt wurde ich am 12. Februar 1939 geboren. Ich wußte nur, daß ich lebte und daß das Abenteuer an eben jener Kreuzung begann. Sie war meine „axis mundi“.

Um halb vier Uhr morgens erblickte ich zum erstenmal das Licht dieses Planeten, genau zur Stunde des Wolfes, und noch dazu am Geburtstag von ­Abraham Lincoln. Er ist auch ein Wassermann, und unsere Karte ist der Karokönig. Ich kam zur Welt im Jahr des Hasen, der das Glückssymbol unter den chinesischen Sternzeichen ist … und ich konnte mich sicher in dieser Hinsicht nie beklagen. Der Mond steht bei mir im Schützen, Jims Aszendent.

Ich ging auf ein kleines Gymnasium, die Everett School. Dort verbrachte ich acht Jahre. Wir wohnten gleich gegenüber, 3358 South Bell Avenue. Das war sehr bequem. Ich ging jeden Tag zum Mittagessen nach Hause – hatte ich ein Glück! Meine beiden jüngeren Brüder auch, Rich und Jim. Was für ein Leben! Mama kochte zu Hause! Mein Vater, Ray Senior, arbeitete in der Fabrik von ­International Har­vester McCormick als Mechaniker. Ein ordentlicher Gewerkschaftler. Meine Mutter Helen kümmerte sich um ihre vier Männer. Sie ­machten ihre Sache beide hervor­ragend. Wunderbare Eltern. Sie gaben uns viel Unterstützung … meist jedenfalls.

Ich bin polnischer Abstammung. Manzarek (eigentlich Manczarek geschrieben) ist ein polnischer Name. Ich gehöre zur dritten Generation, die hier ansässig ist; meine Großeltern waren mit der großen Auswandererwelle aus Ost- und ­Südeuropa Ende des letzten Jahrhunderts rübergekommen.

Sie arbeiteten wahnsinnig hart. Und unsere Eltern arbeiteten ebenso hart und wollten, daß ihre Kinder zur Schule gingen. Damit sie mal was Besseres wurden. Damit sie eine gute Ausbildung hatten. Und die bekamen wir. Wir ­gingen aufs College. „Ihr sollt mal studieren und es besser haben als wir.“ „Klar, Mom, klar, Dad, machen wir.“ Leider gingen wir dann an die UCLA und wurden Künstler. Das hatten sie sich vermutlich anders vorgestellt. Wir sollten solide Berufe ergreifen. Ich sollte Anwalt werden. Dorothy Fujikawa – meine spätere Frau – sollte Medizin studieren. Jim Morrison sollte Diplomat werden. Wenn er nicht auf die U.S. Naval Academy in Annapolis ginge (wie sein Vater), sollte er in den diplomatischen Dienst eintreten. Jim Morrison auf der Militärakademie? Unmöglich, sich das ­vorzustellen. Anstatt also die Träume unserer Eltern zu leben, begannen wir zu ihrem großen Ärger, unsere eigenen zu entwickeln. Wir wurden Künstler! Und schlimmer noch … wir experimentierten mit Drogen. Wir konsumierten psychedelische Substanzen, rauchten Grass und durchbrachen die Bewußtseinsmauer. Der Schleier – das Netz von maya, wie die Hindus sagen – fiel von unseren Augen, als wir die Pforten der Wahrnehmung öffneten. Ich glaube nicht, daß Mom und Dad sich das so für uns gedacht hatten. „Ihr jungen Leute müßt mit dem Marihuana­rauchen aufhören“, sagte mein Vater einmal zu mir. „Aber Dad“, entgegnete ich, „ich bin jetzt glücklicher als je zuvor in meinem ganzen Leben.“ Was konnte er darauf schon sagen? „Und du solltest nicht mit dieser Chinesin zusammenleben … du weißt doch, das sind zwei Kulturen, das verträgt sich nicht.“ Ich hätte beinahe laut losgelacht. „Nein, Dad“, sagte ich mit unterdrücktem Grinsen, „erstens ist sie Japanerin, und außerdem liebe ich sie.“ Was hätte er mir jetzt erwidern können? Er ging dann meist, nachdem er gesagt hatte, was er seiner Meinung nach hatte sagen müssen, damit alles seine Ordnung hatte. Die reine väterliche Sorge. Er tat das nur, um seinen Prinzipien Ausdruck zu verleihen, seiner Auffassung davon, wie die Dinge sein sollten. Und das konnte ich ihm nicht zum Vorwurf machen. Ich liebte meinen Vater. Er starb 1986. Er hielt die Doors für das Größte, und er liebte Dorothy schließlich auch; in seinen Enkel, unseren kleinen Pablo, war er völlig vernarrt. Meine Aufnahme von Carl Orffs „Carmina Burana“ mochte er besonders. Abtrünnige Mönche und Gesänge in wildem Latein berührten ihn richtig. Er hatte sich im Alter vom katholischen Glauben abgewandt … nachdem er mit der ganzen ­Familie nach Kalifornien gezogen war. Das Licht und die Freiheit hatten schließlich auch ihn gepackt. Er wollte, daß „The Roasted Swan“ aus den „Carmina“ bei seiner Beerdigung gespielt werden sollte. Er war ein irrer Typ.

Chicago war eine gut geplante, gut angelegte Stadt, und Familie Manzarek nutzte alles, was sie bot. Mein Vater ging mit uns überall hin. In die Parks, zu den Sommerstränden am Michigansee, in die Museen – für Naturgeschichte, für Wissenschaft und Industrie –, ins großartige „Loop“ downtown, in die ­Premierentheater wie das Chicago und das Oriental, in die Waldgebiete im Westen der Stadt, wo man zelten, Fleisch grillen, picknicken und wandern konnte, zum Soldier’s Field, wo Stockcar-Rennen und Football-Spiele stattfanden, zum Achterbahnfahren im Riverview Amusement Park, zu den Rodeos und Sportveranstaltungen im International Amphitheater und zu der jährlichen ­Automobilausstellung … wir machten einfach alles! Mein Vater war dabei immer der Anführer. Er war wunderbar. Er konnte allerdings auch ziemlich hart sein und dir einen Tritt in den Hintern geben, wenn dein Hintern das brauchte. Aber meist war er wunderbar und aufbauend, stark, männlich und ­beschützend.

Natürlich hatte er keine Ahnung, wie ich mich mal entwickeln würde. Aber er liebte es, wenn ich mich ans Klavier setzte und ein bißchen Boogie-Woogie oder eine kleine zweistimmige Bach-Invention spielte. Dann lag er mir zu Füßen. Ich war sein Erstgeborener, und er war stolz auf seinen Nachwuchs. Er stärkte mir stets den Rücken … solange ich ordentlich zur Schule ging und gute Noten nach Hause brachte.

Meine Mutter war in unserem Haus natürlich die ungekrönte Königin. Ihr Mädchenname war Helen Kolenda (sie erzählt gern, daß das auf Polnisch „Weihnachtslied“ heißt). Sie hat eine wunderbare Singstimme, ganz klar und rein. Sie liebt Musik, und sie liebt die Doors. Sie verliebte sich geradezu in Jim Morrison und behandelte ihn wie ihren vierten Sohn. Sie hätte ihn sicher liebend gern selbst großgezogen und sich um ihn gekümmert, so wie um ihre anderen drei Jungs. Mit ihrer Herzlichkeit und ihrer guten Küche. Mit ihrem großen, ­golden gebackenen Truthahnbraten, zart und saftig und mit einer knusprigen, knackigen Kruste. Mit ihren gebratenen, nach Knoblauch duftenden Lamm­keulen, der selbstgemachten Rinderbrühe mit Einlage, den Maiskolben und ­aufgeschnittenen Tomaten von den Bauernhöfen und Feldern der Kornkammer des amerikanischen Mittelwestens. Nicht zu vergessen das selbstgebackene Weißbrot mit Mohn, heiß und golden und mit frischer Landbutter beschmiert. Und ihre Zitronenbaiser-Pasteten, ganz süß und sauer, fast dreißig Zentimeter hoch, mit Gipfeln und Strudeln blassen weiß­goldenen Baisers. Und ihr Apfel­kuchen, den sie in großen Backformen zubereitete, außen mit zartem, weißem Zuckerguß und innen gefüllt mit Zimt- und Zucker-­gewürzten Äpfeln. Lecker.

Wie wurde ich in meiner Kindheit gut ernährt! War es nicht schon allein ein Genuß, unter der Woche zum Mittagessen von der Schule nach Hause zu kommen? Kein fades Schulküchenessen. Keine Pausenbrote. Ein schönes, heißes Mittagessen, von der eigenen Mutter gekocht. Nichts Außergewöhn­liches, nur der typische ­amerikanische Lunch der Fünfziger, zum Beispiel ­Tomatensuppe von Campbell’s, ein Käsetoast, ein paar Karotten oder Sellerie und ein Glas Milch. Wir schlangen unsere Mahlzeit hinunter, und ruck, zuck waren wir wieder weg. Über die Straße rannten wir auf den Schulhof zurück, spielten noch einmal fünfzehn oder zwanzig Minuten, und dann ging’s wieder in die Klasse. Eine verläßliche Routine.

Meine zwei Brüder und ich waren viel in Chicago unterwegs. Wir trieben viel Sport, wir waren nicht zu bremsen. Die Stadt war ideal, wenn man draußen etwas unternehmen wollte. Sie war wie ein Gitter angelegt, das sich an den Michigansee schmiegte, und alle vier Häuserblocks oder so gab es einen öffentlichen Spielplatz oder einen städtischen Park – im ganzen Stadtgebiet. Kids und Teenager konnten ihre überschüssige Energie überall spielerisch loswerden. In der Nähe unseres Hauses, drei Straßen weiter an der Ecke 34./Hoyne Street, lag der Hoyne Play­ground, unser Stammsportplatz. Dort gab es ein Baseball-Feld – sogar mit einer Flutlichtanlage für die spätabends stattfindenden Spiele der größeren Jungs –, eine Basketballanlage, wo ich mich um Kopf und Kragen spielte, einen Tennisplatz sowie Schaukeln, Wippen und einen Sandkasten für die Kleinen. Ein kleines ­Ziegelhäuschen beherbergte das Büro und den Geräteraum – man bekam hier tatsächlich auch Bälle, Schläger, Springseile und so. Hier hatte der alte Ralph, der sich um die Sportanlage kümmerte, seinen Platz. Er hatte vierzig Jahre lang für die „Chicago Playground District“-Verwaltung gearbeitet, und das hier war nun seine letzte Stelle. Er war ein netter, alter Knabe, er liebte Kinder, und er hielt Hoyne tiptop in Ordnung. Zusammen mit ein paar anderen Jungs aus der Gegend gewann ich die Stadtmeisterschaft im Softball für ihn. Wir hatten ein tolles Team.

Ich spielte am ersten Mal und war beim Schlagen als dritter an der Reihe. Wir waren alle dreizehn und vierzehn Jahre alt. Typische Chicagoer Kids der ­Fünfziger, und wir konnten werfen, fangen und rennen wie der Wind. Für den alten Ralph war es der erste Titelgewinn seiner ganzen Laufbahn. Er brach ­beinahe ­zusammen und weinte vor Freude, als das Spiel zu Ende war.

Mein Vater nannte uns stets die Hoyne Giants; er sagte das im Scherz mit so einer Art chinesischem Dialekt. Der Spaßvogel. Im darauffolgenden Herbst machten wir auch beim City-Touch-Football den ersten Platz – mit ­derselben Horde Sportplatz­typen, die Pässe schlugen, angriffen und sich ihre jugendlichen Ärsche abspielten.

Aber mein Lieblingssport war Basketball. In Chicago gab es im Winter zwei Möglichkeiten für organisierten Sport: Hockey oder Basketball. Hockey?! Hockey kam nicht in Frage, vergiß es, Mann. Es war draußen arschkalt. So kalt wie in ­Dantes neuntem Kreis der Hölle. Wer will bei Eis und Schnee schon draußen sein? In der Eiseskälte rumglitschen und diesem Hockeypuck hinterherlaufen. Die Fußgelenke biegen sich irgendwann zur Seite, entweder o-beinig nach außen oder x-beinig nach innen. Irgend jemand haut dich mit diesem riesigen, harten Hockeyschläger vors Schienbein. Das sind doch echte Totschläger, diese Dinger. Und der Puck ist viel zu hart. Das reinste Gummi­geschoß, das mit diesem Totschläger abgefeuert wird. Du selbst in bester Schußlinie, und dann ist es auch noch so saukalt. Im Gegensatz dazu der ­Basketballplatz … der ist zunächst mal in der Halle … und es ist warm. Man zieht sich die dicken Sachen aus, es ist wie auf Hawaii, man läuft in kurzen Shorts und einem Trägerhemd rum. Bei dreißig Grad. Ahhh … paradiesisch.

Ich war vierzehn, einsachtzig groß, und ich war gut. Ich spielte viel Basketball mit meinem besten Freund Joe Nies, und wir beide wurden im folgenden Winter als Schlüsselspieler ins McKinley Park City Championship-Basketballteam berufen. Ich spielte im Mittelfeld, er war Verteidiger. Damals war ich schon genauso groß wie heute. Ich war der Lange. Einsachtzig, fünfundsechzig Kilo, ein „Kämpfer“ in der Mitte. Die verschiedenen Wurf- und Schrittechniken hatte ich bestens drauf. Und Joe Nies war gut in Ballbeherrschung und bei ­Pässen. Wir gewannen die Meisterschaft für Jungen unter 14. Ich war sehr stolz auf unser Team. Klasse Jungs.

In unserem Siegestaumel erkannte ich noch nicht, daß das der Höhepunkt meiner Basketballkarriere sein würde. Im nächsten Jahr war ich immer noch ­einsachtzig, fünfundsechzig Kilo, und die Jungs, die vorher hinten gespielt hatten, gingen nun nach vorn. Sie waren gewachsen und ich nicht. Als ich sechzehn war, waren die früheren Verteidiger einsneunzig – und ich noch immer einsachtzig, fünfundsechzig Kilo. Alle wuchsen und wuchsen und wuchsen – außer mir. Mit vierzehn noch der Große, mit fünfzehn dann Stürmer, und als ich sechzehn war, hieß es: „Ray, du gehst in die Verteidigung.“ Ich sagte: „Ich spiel’ nicht hinten. Ich bin kein Dribbler, ich spiele auf den Korb. Ich bin ein Rebounder, ein Korbjäger.“ Und sie sagten: „Nein, für einen Rebounder bist du nicht mehr groß genug, Ray. Du mußt jetzt hinten rein.“ Und das war das Ende meiner Basketballzeit. Ich war sechzehn, und ich war nicht gewachsen. Also sagte ich mir: „Dann muß ich mich jetzt wohl auf die Musik konzentrieren.“

***

Die ersten Schritte auf meinem langer Weg in die „fließende Welt“ der Musik waren … Klavierstunden! Meine Eltern hatten ein riesiges Klavier gekauft, aus geschnitztem Holz. Es sah für mich nach altdeutschem Bauernstil aus; gedrechselte Beine, hier und da mal ein Blumenornament, dunkelbraun und absolut massiv gebaut. Sie ließen es von einem halben Dutzend Möbelpackern in den Partykeller hinunterwuchten und sagten: „Raymond, du wirst Klavierspielen lernen.“ Ich war sieben oder acht. Ich hämmerte auf die Tasten, alberte ein bißchen rum, machte ein wenig Krach und dachte mir, warum nicht? Vielleicht macht das Spaß. Glücklicherweise waren meine Eltern wirklich hip und hatten kein Akkordeon gekauft. Das war im Mittelwesten in den Nachkriegsjahren nämlich ein höchst beliebtes Instrument. Auf den Bühnen der ganzen Stadt standen Gruppen von Kindern, die „Lady Of Spain“ spielen mußten. Kein schöner Anblick. Chicago, Milwaukee und der gesamte Staat Pennsylvania waren die Akkordeon-Hochburgen Amerikas. Aber meine Eltern waren dafür zu ­modern. Mein Vater spielte Gitarre und war auf der Ukulele nicht zu schlagen. In den wilden Zwanzigern und in den krisengeschüttelten Dreißigern hatte jeder junge Draufgänger im Waschbärpelz eine Ukulele und sang dazu seiner Liebsten von Sonne und Wonne vor. Mein Vater hatte für meine Mutter genauso gesungen. Und sie sang zurück, aber noch viel schöner. Sie hatte in unserer Familie die beste Stimme. Aber sie sangen auch gern zweistimmig, Liebeslieder von der kleinen Stadt in Spanien oder flotte Melodien wie „Steig doch ins Taxi, mein Liebling“. Viele Jahre später ­erzählten sie mir einmal von ihrer Plattensammlung, lauter alten 78ern, die vor ­meiner Geburt in einem Feuer dahingeschmolzen waren. Bluesplatten. Bessie Smith und alle möglichen anderen Sänger und Gruppen, die ihnen nicht mehr einfielen. Und nur Schwarze. Die Musik der South Side von Chicago. Meine Mutter erzählte, wie sie und Dad zusammen auf die Jagd nach Platten gegangen waren.

„Meist begaben wir uns in die Maxwell Street, wo diese kleinen Plattenläden waren“, berichtete sie. „Eigentlich waren es gar keine richtigen Läden. Die Leute ­lebten da und verkauften außerdem Scheiben. Es herrschte Armut. Die Türen waren mit einer Decke zugehängt, damit es nicht so kalt wurde, und hinter ­dieser Decke ­verkauften sie Schallplatten. Wenn man die Straße entlangging, dann hörte man die Musik, zog einfach die Decke beiseite und ging rein. Sie spielten die tollsten Sachen. Ich sag’s dir, Raymond, diese Schwarzen … die haben’s drauf!“

„Ja, Mom, da hast du recht“, lachte ich. „Diese Schwarzen, die haben’s drauf.“ Mann, was würde ich für diese Plattensammlung heute geben!

Also bekam ich Klavierunterricht. Die erste schicksalshafte Stunde schlug an einem Samstagmorgen um genau zehn Uhr. Mein Vater und ich gingen zur Ecke 35./Archer Avenue, einer Gegend mit vielen kleinen Geschäften, betraten ein zweistöckiges Gebäude, dann ging’s eine Treppe hoch, bis zu dem Studio, wo der „kleine Professor“ hauste, wie mein Vater, der Spaßvogel, ihn immer nannte. Nie werde ich diesen Morgen vergessen. Er ist in meine Gehirnwindungen eingebrannt. Das Studio war abgedunkelt, ich weiß nicht warum, und es war ein bißchen unheimlich. Es war Samstag morgen, ein schulfreier Tag – und sein Zimmer war dunkel! Mach die Fensterläden auf, schrie mein Gehirn. Mehr Licht! Und es roch ein bißchen muffig, wie eben bei einem alten Mann zu erwarten, der noch vor dem Krieg aus Europa rübergekommen war. Der Mann begrüßte mich, und ich ging ­unwillkürlich einen Schritt zurück. Er war ein komischer, verhutzelter Kerl. Heute weiß ich, wer er war – Shygoltz aus dem Film „Die Büchse der Pandora“. (Das war Louise Brooks’ erster Freier. Sie spielte die Lulu, und der zwergenhafte Shygoltz war ihr erster Geliebter.) Ich wollte da raus, und zwar sofort! Es war Samstag ­morgen. Im Radio liefen die Kindersendungen, so wie heute die Zeichentrick­serien im Fernsehen. Das war damals gerade die Übergangszeit zwischen Radio und Fernsehen, und jeder wußte, daß ich diese Samstagssendungen liebte. „The Lone Ranger“ und der großartige „Captain Midnight“ – man mußte damals einfach einen Dekoderring haben. Für zwei Sammelpunkte von den Cornflakes-Paketen und einen Vierteldollar bekam man einen kleinen billigen Plastikring, den man dann innig liebte; wenn man ihn ein paarmal benutzt hatte, ging er kaputt, aber man trug ihn trotzdem, weil es cool war, und weil man damit zu „Captain ­Midnight’s Billy Batson Boy Rangers Club“ gehörte, und zu Smiling Ed McConnel’s Gang, ­zusammen mit Froggy, dem Kobold. „Spiel deinen Zauberbogen, Froggy … boinnggggg!“ Ich liebte diese Sachen, und nun saß ich hier mit Shygoltz, ohne daß eine Lulu für uns getanzt hätte. Scheiße!

Als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre – die geistige Quälerei fing erst richtig an. Er öffnete ein rotes Notenheft, das verschiedene ­Musikstücke enthielt. Sehr einfache, kleine Stücke.

Er sagte mit seinem osteuropäischen Akzent: „Okay, Rehmont … das ist die Musick. Und so wird sie aufgeschribben.“

Ich sah mir das an und dachte: Das ist irgendeine Botschaft aus dem Weltall. Garantiert verfaßt von Ming, dem Grausamen. Es war nicht zu entziffern. Hätte ich doch bloß meinen „Captain Midnight“-Dekoderring mitgehabt, wünschte ich. Die Seite war mit Punkten und Strichen übersät. Irgend jemand hatte noch ein paar horizontale Linien mit Punkten über die Seite verteilt. ­Vertikale Linien faßten die Punkte zu Gruppen ohne erkennbares Muster ­zusammen. Die Punkte hatten ­kleine Stiele, die sich nach oben reckten. ­Manche Stiele hatten am Ende noch eine kleine Flagge, manche zwei Flaggen. Links am Anfang der Seite trugen die Linien ein bizarres Symbol: einen barocken Kringel, der über alle fünf Striche hinwegging. Was für eine komplizierte Geheimsprache!

„Was bedeuten diese Punkte und Striche, Sir?“, fragte ich den kleinen ­Professor. „Das sagt mir überhaupt nichts.“

Er kicherte. „Das iss ganz leicht, mein Kleiner. Siehst du diese Note?“

Aha, diese Punkte mit Stielen nannte man Noten. Er zeigte auf einen Punkt unterhalb der fünf Linien, der von einem kleinen Strich gekreuzt wurde.

„Das ist das mittlere C. Das entspricht dem mittleren C auf dem ­Klavier.“ Und er spielte ein C an. Da saß ich also vor 88 Tasten. Alle sind schwarz oder weiß. Sie sehen alle absolut gleich aus. Und Shygoltz kann sie ­irgendwie von­einander unterscheiden. Wie zum Teufel macht er das? Mein Hirn verwandelte sich in Hafergrütze. Sie sehen alle gleich aus, schrie mein Haferflocken-Hirn. All diese weißen und all diese schwarzen Tasten. Hier links sind ein paar tiefe und hier rechts ein paar hohe … aber sie sehen alle gleich aus! Das ist total verrückt! Wie kann man das jemals begreifen? Es war mir ­völlig schleierhaft, wie sich ­irgendjemand merken konnte, wo irgendwas bei diesen Tasten lag.

Er wiederholte: „Das ist das mittlere C“ und schlug den Ton an. „Versuch du es, Rehmont.“ Er nahm meine Hand, ich streckte den Zeigefinger aus, und dann bewegte er meinen Arm rauf und runter, so daß ich den Ton mehrfach anspielte.

Ich dachte: Laß meine Hand los! Ich bin kein Baby. Ich kann den Ton ohne deine Hilfe spielen, vielen Dank. Ich war sauer. Warum hatte mich mein Vater in dieses Höllenhaus gebracht?

„Sehr gut, Rehmont. Jetzt spiele ich einmal das ganze Stück für dich.“

Ich wollte ihn bremsen. Nicht weitermachen! Ich kann das nicht, dachte ich. Ich werde niemals, nicht in tausend Jahren, diese verschlüsselte Botschaft des grausamen Ming lesen lernen. Aufhören!! Aber er machte immer weiter, und das Stück, das er spielte, ging so (jetzt bitte zum Klavier gehen, lieber Leser): C-D-E, E-D-C, D-E-C. Das war alles.

„Lei-ter auf, Lei-ter ab, jetzt ein Sprung.“

Und mir ging ein Licht auf. Der Haferbrei war weg. Ich war wieder Raymond Daniel Manzarek Junior. Mit einem IQ von 135. Das kann ich auch! Ja! Das ist nicht zu schwer für mich, verklickerte mir mein Hirn.

„Versuch du es“, drängte Shygoltz.

Und das tat ich … ich klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tasten. Das ­machte ich einmal, und dann sang ich die Worte, während ich spielte: „Lei-ter auf, Lei-ter ab, jetzt ein Sprung.“

Und der kleine Professor grinste. „Sähr gutt, Rehmont.“

Mein Vater klatschte in die Hände – mein erster Applaus – und strahlte ­seinen kleinen Jungen an. So fing es für mich an. Der kleine Musiker.

And we’re on our way and we can’t turn back.

Damit begannen lange Jahre des Übens. Eine halbe Stunde nach der Schule und eine halbe Stunde nach dem Abendessen. Die halbe Stunde nach dem Essen war kein Problem, weil meine Mutter mir hinterhältig die Wahl ließ, Klavier zu üben oder beim Abwasch zu helfen. Ich entschied mich natürlich für ersteres. Und sie liebte es. Sie machte den Abwasch und summte mit, während ihr Junge nebenan Klavier spielte, ihr Ehemann die Zeitung las und Rich und Jim auf dem Boden ­herumwuselten. Das war ihre Familie. Und sie war eine glückliche Frau.

Das Üben nach der Schule war allerdings eine Strafe. Meine Mutter und ich ­gerieten ständig aneinander. Eine halbe Stunde nach der Schule? Kam gar nicht in Frage. Nicht für einen Jungen, dem die Energie zu den Ohren rausschoß. Ich mußte Dampf ablassen, hatte Hummeln im Hintern und brauchte Bewegung! Außerdem wohnten wir ja gerade gegenüber von der Schule mit den zwei Pausenhöfen. Den Spielhöfen. Ich konnte hören, wieviel Spaß die anderen Kinder hatten. Ich konnte das helle Geschrei und das Kreischen hören, das im Kinderhirn den Schalter für „wilde Spiele“ umlegt und das gesamte Nervensystem aktiviert. Ich lugte zum Fenster raus und sah, wie die anderen herumtollten, und natürlich wollte ich unbedingt dabeisein.

„Ich will heute nicht üben, Mom“, quengelte ich. „Ich will raus und spielen.“

Meine Mutter versuchte dann, ruhig zu bleiben. „Nach dem Üben kannst du spielen gehen.“

„Aber das dauert noch endlos … ich habe keine Lust“, erwiderte ich.

„Es ist nur eine halbe Stunde, Raymond“, sagte sie auf diese beruhigende Art und Weise, die einen jungen Wilden die Wand hochtreiben kann.

Vielleicht kann ich mit ihr handeln, dachte ich. Mein gemeines Hirn war zu jeder Lüge bereit. „Ich hol’ es nach dem Essen nach. Dann übe ich eine ganze Stunde“, behauptete ich.

„Raymond …“ Ich haßte es, wenn sie in diesem Ton sprach und mich ­Raymond nannte. „Du kannst mir nichts vormachen. Ich bin deine Mutter. Ich weiß genau, daß du nach dem Essen keine Stunde spielst. Dann kommst du mit der nächsten Ausrede.“ Da hatte sie natürlich recht. Und dann kam sie mir mit Vernunft. „Du verschwendest mit dem Streiten soviel Zeit. Du könntest schneller draußen sein, als du denkst, wenn du jetzt anfängst.“

Ihre Logik war unangreifbar. Mir blieb nur noch ein Wutausbruch. „Ich hasse das Klavier“, brüllte ich. „Ich will nie wieder üben … ich hasse es!“ Was für ein Auftritt! Darauf kann sie ja wohl nichts mehr erwidern, dachte ich.

Von wegen. Es kam die ganz große Geste, schicksalsergeben, mit zitternder Stimme und einer falschen Träne. „Wenn das so ist … dann weg mit dem Klavier. Dann schmeißen wir es einfach auf die Straße …“ Gespieltes Schluchzen. „Mir ist das egal. Dann mußt du nie wieder spielen.“ Und mit Nachdruck: „Nie wieder!“

Hey Mom. Augenblick mal. Nie wieder? So sehr hasse ich es nun auch ­wieder nicht! Mein Hirn begann angesichts ihres Frontalangriffs fieberhaft zu ­arbeiten. Erwachsene können die Auseinandersetzung immer noch einen Schritt weiter drängen, als die Kinder es eigentlich wollen. Mit ihrer psychischen Stärke kriegen sie ein Kind ohne weiteres klein. Sie gewinnen immer. Wenn sie das ­untereinander versuchen, nennt man das Krieg. Oder Mord.

„Okay, okay. Ich fang ja schon an“, maulte ich.

Sie war nicht bereit, ihren Sieg so schnell zu genießen.

„Nein. Brauchst du nicht … wir schmeißen das Klavier weg. Geh raus auf die Straße.“

Ich wollte das Klavier nicht wegschmeißen. Verdammt noch mal, ich spielte ja gern. Und ich war gut. Sie wußte das auch, und deswegen hatte sie genau diese Knöpfe bei mir gedrückt. Erwachsene können so clever sein. Ich gab mich geschlagen.

„Mom, ich übe jetzt.“ Und dann ging ich runter in den Partykeller und machte meine Czerny-Fingerübungen, während von draußen weiter die hellen Schreie und das Lachen zu hören waren. Die reinste Folter!

So ging es die nächsten zwei Jahre weiter, bis ich einen neuen Klavierlehrer bekam. Shygoltz war Geschichte, um mich kümmerte sich nun ein junger Lehrer, Bruno Michelotti. Er war Leiter einer Tanzkapelle und ein richtig cooler Typ. Von ihm lernte ich im Grunde alles, was ich über Musik weiß. Er gab mir ein Notenblatt mit dem „Rag Mop“, einem der großen Hits der damaligen Zeit. Eine fröhliche, lockere Melodie, die auf einem Bluesschema aufbaute. Er brachte mir bei, wie man mit der linken Hand Stride Piano spielt. In C-Dur sah das so aus: das tiefe C mit dem kleinen Finger im ersten Takt, dann im zweiten Takt einen C-Dreiklang eine Oktave höher, das tiefe G unterhalb des C für den dritten Takt, dann im vierten wieder einen C-Dreiklang. Das war die kitzlige Stelle: vom G im dritten Takt zum C-Dreiklang im vierten. Aber wenn man das einmal geschafft hatte, machte Stride Piano Spaß. Die linke Hand gab einen Wumtata-Rhythmus vor, die rechte spielte die „Rag Mop“-Melodie dazu, und ich dachte: Hey! Das ist gar nicht übel. Das ist irgendwie cool. Da steckt Rhythmus drin. Dazu kann man tanzen. Das hat Groove. Diese Stride-Sachen spielte ich, ohne mich deswegen vorher mit meiner Mutter anzulegen.

Ich spielte Stride, bis ich ein Jahr später eine zweite Erleuchtung erfuhr: Boogie-Woogie! Das fesselte mich noch mehr. Und um ehrlich zu sein: Dem Boogie bin ich heute noch verfallen. Dieser wogende Schlangenbeat der linken Hand. Das sich stets wiederholende Mantra von Hüften, die sich im Paarungsrhythmus hin und her wiegen. Immer und immer wieder. Und immer wieder gleich. Da mußte sich nichts verändern. Warum auch? Wie konnte einen das langweilen? Es war der Rhythmus des Liebesakts. Der Rhythmus der Schöpfung. Der Schwung weiblicher Hüften. Der Stoß männlicher Lenden. Ein harter Backbeat auf zwei und vier. Angedeutete Verführung. Unausgesprochenes, aber stets deutlich erkennbares Eindringen. Und die Spielereien der rechten Hand? Mein Gott, was gab es da für phantastische Fingertänze, ganz wie bei Bach. Sauber und präzise. Euphorisch und spontan. Mit einem leisen Hauch von Traurigkeit.

Ich hörte eine Aufnahme von den Giants Of Boogie Woogie – Albert ­Ammons, Meade Lux Lewis (ich liebe dieses Lux in der Mitte; das Wörterbuch ­definiert lux als die „internationale Einheit für Leuchtkraft“) und Pine Top Smith. Sie waren brandheiß. Sie heizten dem Elfenbein richtig ein und ließen Weiß und Schwarz verschmelzen. Ich war wie versteinert. Die Zeit blieb einen Schlag lang stehen, und dann ging ich ganz in der Musik auf.

Das muß ich lernen, sagte ich mir. Stride Piano kam gegen Boogie-Woogie nicht an. Stride war Klavier für Weiße. Etwas steif, aber mit der guten Absicht, ein bißchen zu grooven. Aber, Alter, wenn man dagegen einen Schwarzen hörte, wie er Boogie-Piano spielte, dann konnte man das vergessen. Man mußte den Boogie einfach selbst probieren. Und so setzte ich mich an unser rustikales deutsches Klavier und trainierte meine linke Hand, um diesen Beat hinzukriegen, um diese Schlange aus meinen eigenen Fingern kriechen zu lassen. Ich versuchte, mich selbst mit diesem Mantra-artigen, sich wiederholenden Rhythmus zu hypnotisieren. Und ich schaffte es. Irgendwann hatte ich es raus. Ich konnte es! Meine Eltern, die früher alte Blues-Platten gesammelt hatten, fanden es toll. Meine Mutter lächelte, und mein Vater wippte mit dem Fuß, wenn er sich mit der „Chicago Sun-Times“ im Sessel ausruhte. Einmal hörte ich, wie er zu meiner Mutter meinte: „Der Junge wird richtig gut, Helen.“ Um es mit John Lee Hooker zu sagen: „Ich fühlte mich sooo gut. Der Boogie ging mir durch und durch!“ Und wißt Ihr was? … Meine linke Hand wurde schließlich der Bassist der Doors. Diese Boogie-Woogie-Technik, die „linken Finger“ und der Fender Rhodes-Keyboard-Baß verbanden sich zu dem hypnotischen, dunklen Dröhn-Sound der Doors. Durch all dieses Üben erlangte meine linke Hand genug Geschicklichkeit, um den Grundstein für die bauhausähnliche Struktur der Doors-Musik zu legen. Die klaren und effektvollen Mies-van-der-Rohe-Baßlinien waren die Weiterentwicklung dessen, was ich als zwölfjähriger Chicago-Boy im Barrelhouse-Boogie-Woogie entdeckt hatte und ein ums andere Mal wiederholte. Ihr kennt doch bestimmt auch den alten Witz: Fragt ein Tourist in New York einen Polizisten: „Wachtmeister, wie kommt man in die Carnegie Hall?“ Und der Cop sagt: „Üben, üben, üben.“

***

Meine linke Hand wußte nun, wo es langging; jetzt war es an der Zeit, ins wahre Zauberreich einzudringen. In den Blues!

Hochsommer in Chicago. Es ist heiß, feucht und schwül. Das Land von Tennessee Williams, Norden. Der lange, heiße Sommer in der Sauna Amerikas. ­Sobald man sich bewegt, läuft einem der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Aber das stört nicht weiter. Mit dreizehn wartet man auf irgendetwas Aufregendes, das plötzlich auftaucht und das ganze Leben verändert. Das einem neue Welten eröffnet. Für mich war das der Blues.

Es war im Hoyne Playground, beim Ballspielen. Wenn man Baseball spielt, dann wartet man das ganze Match über nur darauf, daß man beim Schlagen an die Reihe kommt. Selbst abschlagen! Darauf kommt es an. Auf dem Feld spielt man nur deswegen mit, weil die Regeln das eben so verlangen. Man gibt dem anderen Team die Chance zu schlagen und rennt dann aufs Feld, um den Ball zu fangen. Aber wen interessiert das schon? Es ist langweilig. Man will einfach nur selbst schlagen. Vorher ist man total angespannt, umklammert seinen Louisville Slugger und wartet darauf, daß er am eigenen Arm explodieren kann. Am liebsten würde man seinen ganzen Körper in diese eine Bewegung legen. Wie bei einer Frau. Der Werfer spielt den Ball rüber – in Chicago benutzte man den langsameren, weichen Softball –, und alles ist ein schwebender Traum, in dem man explodiert. Hau ihn weg. Schlag zu, mit voller Kraft. Und ich hatte schon eine ganze Menge Kraft. Zu Hause stemmte ich Gewichte. Ich trainierte ziemlich viel und war recht stark, bei einem Gewicht von etwa 60 Kilo. Mit dreizehn begannen sich bei mir die ersten Teenagermuskeln zu entwickeln. Sperma und Muskeln, was für eine gefährliche Mischung. Ich ließ all meine Aggressionen am Ball aus. „Laß mich den Ball schlagen, verdammt! Laß mich schlagen!“

Wir waren an der Reihe, und ich war der zweite Schläger dieses Innings. Der erste Typ hatte uns in eine gute Position gebracht, und es stand jemand von uns am zweiten Base. Das war super – jetzt konnte man den Ball richtig wegdonnern und einen Run einfahren. Das, liebe Freunde, ist Sinn und Zweck beim Baseball. Ich kam also ans Schlagmal und schwenkte meine Keule, und als ich gerade loslegen wollte, vernahm ich von der rechten Seite des Feldes aus einem Radio irgendwo auf der Tribüne einen klagenden Sound. So etwas hatte ich noch nie gehört. Ein dunk­les, trauriges Heulen, wie aus einer tiefen, blauen Höhle. Es elektrisierte mich. Der trauernde Klang einer Mundharmonika. Dahinter lag ein auf zwei und vier betonter Backbeat. Hart und düster. Eine elektrische Gitarre spielte ein schlangenartiges Ich-weiß-nicht-was. Noch nie zuvor hatte ich jemanden so Gitarrespielen gehört. Wie „How High The Moon“ von Les Paul und Mary Ford war es ­jedenfalls nicht. Es klang, als hätte sich der Gitarrenhals in ein Reptil verwandelt, und die Bünde seien dessen Rippen. Über all dem lag die Stimme eines Mannes. Voll, tief und kehlig. Voller Schmerz und Leidenschaft und Wissen, wie ich es noch niemals gehört hatte. Von dem ich noch nicht mal gewußt hatte, daß es existierte. Ich hörte diese Musik, blieb stehen und lauschte. Jetzt hätte ich ans Schlagmal treten sollen, aber ich war wie gelähmt, starrte hinüber zu der Musik, und die Zeit blieb stehen.

Der Junge hinter mir, der nächste Schläger, sagte: „Hey, Ray, geh schon … vorwärts, schlag, du bist dran. Einer von uns steht am zweiten Base. Los, geh schon. Worauf wartest du denn?“

Und ich drehte mich um, gab ihm meine Waffe und sagte: „Hier, Alter, mach du das. Ich muß gucken, was da drüben los ist.“ Ich opferte den zentralen Moment des Spiels, den kostbaren Augenblick meines Schlages, um diese Musik zu hören … diese düstere, klagende, fremde Musik.

Ich ging zur Quelle dieser Töne und wußte immer noch nicht, was das für Musik war. Schließlich nahm ich das Radio in die Hand und sah, an welcher Stelle der Senderskala der Zeiger stand. Ganz weit rechts auf der Seite, wo die Stationen der ethnischen Volksgruppen lagen. Die von Deutschen, Polen, Italienern, Griechen, Litauern … und Negern. Ich sah den Kerl an, dem das Radio gehörte und sagte: „Tolle Musik.“ Er war einer dieser Schlägertypen mit Levi’s und groben Arbeiterboots. Sogar jetzt im Sommer trug er eine Armeejacke. Was für ein Neanderthaler.

„Yeah“, sagte er. „Das sind echt coole Säcke.“

„Wer ist das denn?“, fragte ich.

„Scheiße, weiß ich doch nicht“, grunzte er.

Nun, meine Lieben, heute weiß ich, was es war. Es war der Blues. Es war die South Side von Chicago. Es war die Musik der Schwarzafrikaner. Sie war schwarz, schwarzer Blues. Eine einzigartige Erfindung auf diesem Planeten. Eine Musikform, die sich völlig von allem unterscheidet, was es je gegeben hat.

Ich weiß bis heute nicht, wer es war, der mir an diesem heißen Sommernachmittag ins Ohr sang. Aber er veränderte mein Leben. Er öffnete die Tür, um die Traurigkeit in mein Leben zu lassen. Den Schmerz und das Leid verlorener Liebe. Die Tragik. Die Franzosen kennen das: triste. Vielleicht war es Muddy Waters, oder John Lee Hooker, Magic Sam, Sonny Boy Williamson, Howlin’ Wolf. Oder einer von den hundert anderen, die es sonst noch gab. Aber als ich diese Klänge hörte, wußte ich, oh Gott, das ist die bewegendste Musik, die mir je begegnet ist. Sie hat dieses Schlangenhafte. Diesen Rhythmus. Sie hat diese Wildheit … diese Leidenschaft … und ein Gefühl des Verstehens, des Mitleidenkönnens. Die Stimme des Sängers war voller Weisheit. Und so voller Schmerz. Wißt Ihr, wie es war? Wie ­klassische Musik aus Rußland. Wie Tschaikowsky und Prokofieff und Strawinsky. Oder wie Bartók und Smetana. Wie eine Polonaise von Chopin. Es war wie slawische Musik. Heavy und tiefgründig und traurig. Kombiniert mit dem Backbeat auf zwei und vier und dem zwölftaktigen Bluesschema, führte es den Chicago Boy von damals in den ­siebten Himmel. Der Blues! Das war’s. Er veränderte mein ganzes Leben. Warum … ich gab sogar meinen Schlag ab, als ich dran war … für den Blues.

***

In diesen entscheidenden Jahren meiner Entwicklung konnte ich den Blues tatsächlich noch live sehen. Nicht in Nightclubs – das kam erst, als ich älter war –, aber statt dessen auf dem legendären Straßenmarkt an der Maxwell Street, wo meine Eltern in der Zeit, als sie sich kennenlernten, ihre Platten gekauft hatten. Das war ein riesiger Markt unter freiem Himmel, mitten im sogenannten „Ghetto“. Jedes Wochenende waren die Gehwege ganzer Straßenzüge in allen Richtungen von den verschiedensten Ständen gesäumt, an denen es tausenderlei Sachen zu kaufen gab. Plunder und Langgesuchtes aller Art. Haarwaschmittel und Radkappen. Werkzeuge und Autoreifen. Damenkleider und Nylonstrümpfe. Haushalts­waren und Schuhreparaturen (die sofort ausgeführt wurden). Trödel, Krimskrams und Nippes. Alte Flaschen aus blauem Kobalt, das bei der Flaschenherstellung nicht mehr verwendet wurde, seit man die Gefährlichkeit dieses Stoffes entdeckt hatte, das aber für eine tolle, tiefblaue Farbe sorgte. Alte Lampen, alte Töpfe und Pfannen, alte Autoteile, alte Klamotten, alte Familienfotos, alte Bücher, alte Vorhänge, alte Möbel, alte Platten (aber nichts Angesagtes), alte Zeitungen, altes dies und altes das. All das befand sich auf provisorischen Tischen, die aus zwei Böcken und einer Holzplanke bestanden, oder es lag auf einer Decke auf der Straße ­ausgebreitet, oder der Anbieter hielt es einfach in der Hand – ganz traurig und zu Herzen gehend. An den Ecken standen Musiker. Straßenmusiker, die ein bißchen Kleingeld sammelten und Gospelmusik machten; einige, aber nicht viele, spielten auch Blues. Dieser Maxwell Street Market war voller Menschen, voller Leben und Schwung, und er bot Erfahrungen einer Art, die ein Junge wie ich nie zuvor erlebt hatte. Es war wie am Markttag im Mittelalter. Oder auf einem Straßenverkauf in ­Islamabad. Ich war auf einem persischen Bazar, an einem Ort voller Zauber und Geheimnis. Und ich fühlte mich sicher und beschützt. Mein Vater war bei mir. Und seine starke Hand hielt die meine ganz fest, als wir die Zauberwelt betraten.

Meine Eltern waren in dieser Gegend Chicagos, rund um Bridgeport, aufgewachsen. Sie waren dort am Rande des Ghettos zur Schule gegangen, hatten sich kennengelernt und umworben und schließlich geheiratet, daher hatten sie noch viele Freunde, die nun an der Ecke Halsted/14. Straße kleine Geschäfte betrieben. Kleidung, Schuhe, Billigkosmetika und Friseurutensilien, Eisenwaren und Feinkost. Mein Vater kannte dort sehr viele Leute. Und manchmal nahm er mich in die Großmärkte mit, wo wir dann zum Beispiel eine Friseursalonflasche Vitalis kauften. Das mußte sein, ich hatte überall Wirbel. Nach dem Haarewaschen mußte irgendwas her, um die irre Energie einzudämmen, die sonst die kornblonden Locken eines ­Chicago Boys in hundert verschiedene Richtungen vom Kopf abstehen ließ. Und bei drei Jungs und einem Mann im Haus war der Verbrauch an Vitalis ganz enorm.

Manchmal gingen wir auch irgendwo rein, um bei einem seiner Bekannten ein paar Schuhe zu kaufen. Bei Sid’s Shoes. Dort stellte er mich dann vor: „Sid, das ist mein Sohn.“

„Hey, Ray!“ Sid begrüßte zuerst meinen Vater; schließlich mußten bestimmte Männerrituale eingehalten werden, bevor ein Jungspund wie ich an die Reihe kam. „Lange nicht gesehen. Wie geht’s Frau und Kindern?“

„Helen geht’s gut. Das ist mein Ältester, Ray Junior.“

„Ein hübscher Junge, Ray“, meinte Sid.

„Raymond, sag Mr. Bernstein Guten Tag“, befahl mein Vater.

„Hallo, Mr. Bernstein. Wie geht es Ihnen, Sir?“ Ich gab mich betont höflich.

Sid hob und senkte meine Hand wie einen Pumpenschwengel. „Na, mir geht’s gut, Ray Junior. Danke der Nachfrage.“ Er schüttelte mir weiter die Hand, grinste und ließ mich dann los. Was für ein Bär von einem Mann! Groß und knallhart, wie alle Einwandererkinder, die das Trauma der Entwurzelung in den 1890er Jahren überstanden hatten.

„Weißt du, Ray“, sagte er zu meinem Vater, „wenn der Junge soweit ist, daß er einen schicken Anzug für seine Abschlußfeier braucht“ ... er wandte sich wieder mir zu: „In welche Klasse gehst du, mein Junge?“

„In die achte, Sir.“

„Dann kommst du mit ihm wieder, und ich besorge ihm was ganz Beson­deres. Wir gehen nach nebenan zu meinem Bruder. Der hat immer die neuesten ­Sachen.“ Die Bernstein-Brüder waren sehr modebewußt. Sehr au courant – aber mit der Coolness der Straße, nicht der Salons. Und zehn Monate später war es ­soweit. Als ich von der Everett School abging, kaufte mir mein Vater (bei den Bernstein-Brüdern) einen der schärfsten Anzüge, die ich je getragen habe. Es war ein Einreiher in einem dunklen, coolen Blau. Nicht dieses Business-Blau, sondern eine verrückte, elektrisierende Farbe. Total cool.

Und dazu trug ich ein rosa „Mr. B“-Hemd. Es hatte einen ausgestellten, breiten Kragen, ganz weich und biegsam, so daß man die Spitzen gut einrollen konnte. Es sah aus, als ob ich die Tragflächen eines Pan Am-Clippers oder einer viermotorigen TWA-Transatlantikmaschine um den Hals hatte. Es war der letzte Schrei. Einfach „zu cool“. Und aufgepaßt, ich hatte dazu einen grellgrünen Schlips umgebunden. Auuuu! ­Achtung … der Typ war scharf! Der sah aus wie Bo Diddley, vielleicht noch mit ’nem Schuß Jelly Roll Morton, um den Stilmix abzurunden.

Nach unserem Besuch bei Mr. Bernstein – Sid’s Shoes – war es Zeit zum Mittagessen, und mein Vater führte mich in die Geheimnisse der Imbißläden ein. Es war das erste Mal, daß ich ein Corned-Beef-Sandwich bekam. Wir gingen in eins der Imbißgeschäfte auf der Halsted Street, und göttliche Gerüche umspielten meine Nase. Ich atmete tief ein und dachte, ich bin im Fleischwarenhimmel. Aus der Warmhaltetheke roch es nach Knoblauch und Gewürzen … Ambrosia. Berge von Corned Beef und Salami und Roggenbrot, alles schon fertig aufgeschnitten zum Mitnehmen. Daneben waren Zwiebeln und Chicago Hot Dogs aufgeschichtet. Auf dem Grill brutzelten Dutzende von ihnen mit knackiger Kruste vor sich hin; sie warteten nur darauf, einer der berühmten Heißen aus Chicago zu werden.

„Willst du einen Red-Hot?! Hey, Kleiner, willst du einen Red-Hot? Ray, willst du ein Corn Beef?“ Hinter der Theke stand ein Mann mit Hängebacken, der meinen Vater begrüßte; ein weiterer Jugendfreund, Marty Glickman.

„Ein Roggenbrot mit Pastrami, Marty. Und nicht so viel Senf“, rief mein Vater zurück. „Für dich ein Hot Dog, Ray?“

Ich nickte, wobei mir schon das Wasser im Mund zusammenlief.

„Einen Red-Hot für Ray Junior, Marty.“ Er dachte eine Sekunde nach, faßte sich an den Bauch und sagte: „Gib mir mal doch lieber ein Corned Beef. Mein Magen macht mir wieder Probleme.“ (Das geht mir heute auch so.)

„Aber mit Senf, Ray?“

„Nicht so viel, Marty. Du bist da immer ziemlich großzügig, alter Freund.“

Marty lachte, und seine Backen schwabbelten. Jahrelang hatte er ein ­Corned-Beef-Sandwich nach dem anderen verschlungen, und das sah man ihm an. Er stellte zwei Teller hin, türmte gegrillte Zwiebeln darauf, und dann legte er ein dreißig Zentimeter dickes, überaus großzügig belegtes Sandwich auf den einen und ein mindestens einen halben Meter langes Würstchen in einem Mohnbrötchen auf den anderen. Wow!

Ich verschlang meinen Hotdog und mein Vater sein Sandwich. Dann waren wir pappsatt und zufrieden. Ich lehnte mich zurück … und rülpste. Was für ein ­Erlebnis! Ein Geruchserlebnis. Eine Erfahrung für meinen Geruchssinn, so wie der Blues im Hoyne Playground meine Ohren überwältigt hatte. Wieder tat sich eine neue Welt für mich auf. Und ich war bereit!

Zwei glückliche Männer waren es, die den Imbißladen verließen, und wir tauchten wieder ein in den türkischen Bazar. Gingen die Maxwell Street hinunter. Zum Blues.

Denn da war er … gleich an der nächsten Ecke. Da saß ein Typ mit elektrischer Gitarre und einem kleinen Verstärker (hinter ihm ringelte sich ein Strom­kabel in das Haus eines Nachbarn) – und noch einer, der Schlagzeug spielte. Sie hatten einen herrlich dreckig-funkigen Sound, spuckten einen blechernen, ­verzerrten, primitiven Electro-Blues aus. Sie spielten in Trance, sie waren beide ganz woanders. Der Gitarrist hatte die Augen geschlossen und sang in ein kleines Mikrofon von unerfüllter und erfüllter Liebe. Von Unterdrückung und Erlösung. Seine Songs berichteten von der Tragik und der Zerbrechlichkeit des Lebens auf dem Planeten Erde. Er hatte eine schrille Stimme, die wie ein Klappmesser durch die Luft schnitt. Der Schlagzeuger hatte seine Augen in den Höhlen verdreht, so daß nur das Weiße unter den halbgeschlossenen Lidern zu sehen war. Zuerst hielt ich ihn für einen Blinden, aber er war nur völlig weggetreten. Er spielte einen sehr eintönigen Rhythmus, der einem einzigen Muster folgte und sich nie änderte, immer derselbe Shuffle, immer gleich; das war wohl auch der Grund für den ­tranceähnlichen Zustand der beiden.

Ich war ebenfalls wie gebannt. Das war ja genau das, was ich im Radio gehört hatte. Aber live! Es gab tatsächlich Typen, die so etwas spielten, hier direkt vor mir, auf der Straße. Menschen aus Fleisch und Blut. Mein Blut kochte. Und, du lieber Gott, es war gut. Ich dachte, das gibt’s nicht! Das gibt’s einfach nicht!

Ich sagte mir, Weiße können das nicht. Hier drin steckt so viel Seele, Würde, Leidenschaft – und noch etwas anderes, das Weiße nie erreichen werden. Anfang der Fünfziger schon gar nicht. Das hatte man noch nie gehört. Es war ein unerreichbarer Bewußtseinszustand, der einfach nicht erlaubt war. Darüber prangte ein großes Schild: „Bewerbungen von Weißen zwecklos“. Gott sei Dank kam dann der Rock ’n’ Roll und ermöglichte auch den Weißen den Zutritt zu dieser Leidenschaftlichkeit. Wir haben es dem Genie von Bluesgrößen wie Muddy Waters, Howlin’ Wolf, John Lee Hooker, Jimmy Reed und Little Walter zu verdanken, daß wir alle an der Macht des Rhythmus teilhaben dürfen. Sie schlossen die Tür für uns auf, und die Rocker rissen sie schließlich aus den Angeln. Chuck Berry und Little ­Richard explodierten geradezu! Sie waren die Zwillingserfinder, sie waren Castor und Pollux des Rock ’n’ Roll-Imperiums.

Hail, hail, rock and roll

deliver me from the days of old

Long live rock and roll

– Chuck Berry

Tutti frutti, aw-rooti!

– Little Richard

Nach der Everett School, einer öffentlichen Gesamtschule, kam ich auf die Highschool von St. Rita. Eine kirchliche Privatschule … und dort waren nur Jungs. Auf den katholischen Highschools gab es strikte Geschlechtertrennung. Auf der einen nur Mädchen, auf der anderen nur Jungs. Das war vielleicht deprimierend. Nur Jungs. Pubertierende Jungs. In St. Rita waren es zweitausend. Allesamt nach Schweiß riechend, spitz, geil, voller Angriffslust und Sperma und zu irgendwas ­bereit. Wozu, das wußte niemand … aber jedenfalls bereit. Tja, was sollte man ­machen, übereinander herfallen? Dazu gab es keinen Grund. Es waren doch bloß Jungs da. Es gab kaum Schlägereien oder anderen Ärger in St. Rita. Ein paar Typen schubsten sich mal. Das war’s aber auch schon. Weiter ging es nie, weil es keine Mädchen gab. Keine Mädchen, die man hätte beeindrucken müssen. Nur ein Haufen Jungs. Zweitausend an der Zahl. Mann, war das deprimierend.

Der Unterricht allerdings war sehr streng. Wir hatten hervorragende Lehrer. Dominikanerpater in langen braunen Mönchskutten, mit Kapuze und einem ­gedrehten Seil um die Taille. Es sah klasse aus. Sehr gelehrt und mittelalterlich. Gott segne diese Männer, die ihr Leben dem Zweck geweiht hatten, jungen Taugenichtsen etwas beizubringen! Jungen Spermatüten, die außer ihrem Schwanz meist nichts im Kopf hatten, allerdings über einen hohen IQ verfügten. Diese ­Priester waren tatsächlich in der Lage, uns anzusprechen. Jeder hatte eine andere Methode, um das Unmögliche möglich zu machen. Pater Crawford gab dir eins auf die Glocke, wenn es sein mußte. Er war der stellvertretende Direktor und gleichzeitig der Boxtrainer. Damals durften die Lehrer ihre Schüler durchaus noch ­schlagen – in den katholischen Schulen jedenfalls, in den öffentlichen nicht mehr. Das kam zwar in St. Rita selten vor, aber die Drohung stand stets im Raum, und bei Gott, diese Angst hielt die Verrückten im Zaum. Pater Foley wiederum brachte dich zum Lachen. Er unterrichtete Latein, und die Vermittlung dieser trockenen, toten Sprache erforderte ein gewisses Maß an Leichtigkeit und Witz. Er war großartig. Pater O’Malley schließlich versuchte, jeden mit Liebe, Aufmerksamkeit und Fürsorge einzuwickeln. Er hatte stets Verständnis für unsere Probleme. Man konnte über alles mit ihm reden, und er war immer auf unserer Seite.

Es sei denn, es ging um Sex. Dieses Thema war natürlich tabu. Sie waren Priester und lebten im Zölibat. Ich fragte mich immer, wie sie das aushielten. Es schien mir so unnatürlich, dabei waren sie so gut drauf – auf der Höhe der Zeit, ­absolut modern. Intelligent. Echte Vorbilder. Kein Junge an der Schule, der nicht zu irgendeiner Zeit erwogen hätte, selbst Priester zu werden. Alle Katholiken ­denken irgendwann mal darüber nach. Ich auch. Aber die Vorstellung, nie den Zauberstab zum Einsatz bringen zu können … nein, das kam nicht in Frage. Und selber rubbeln war auch nicht drin. Selbstbefriedigung, liebe Freunde, ist eine Todsünde; und das bedeutet, daß man auf immer und ewig im Fegefeuer schmoren wird. Wenn du nicht zur Messe gehst, dann kommst du in die Hölle und wirst in alle Ewigkeit verdammt. Wissentlich an einem Freitag Fleisch essen? Fegefeuer und ewige Verdammnis. Geschlechtsverkehr vor der Ehe? Ewige Verdammnis. ­Abtreibung? Fegefeuer, ganz klar. Benutzung eines Kondoms – das legt noch ein paar Scheite auf die Feuer der Hölle. Wieviel Brennen, Schmerz und Leid ist das … für alle Ewigkeit. Herr, wir erbitten deine Gnade.

Schließlich begriff ich, daß ich mich den Worten des Königs der Herzen, Jesus Christus, öffnen mußte. Und diese vermittelten mir im Gegensatz zur offiziellen Doktrin der katholischen Kirche ein unglaublich schönes Gefühl. Sie lauteten: Liebe, Liebe, Liebe. Liebe alles und jeden! Liebe unsere ganze große Mutter Erde und liebe deinen Nächsten so wie dich selbst. Liebt alles, meine lieben Freunde. Es ist ein echt gutes Gefühl. Und wir können alle Buddha sein!

***

Die vier Jahre Highschool überstand ich nur mit Hilfe der Radiostationen in ­Chicago. Rhythm & Blues-Sender. Al Benson und Big Bill Hill. DJs mit Soul und Biß. Die spielten den wirklich guten Stoff. Die Schlangengesänge, direkt aus dem Radio. Al Benson war am Nachmittag und am frühen Abend dran, dann, von neun bis nach Mitternacht, folgte Big Bill Hill.

Ich kam von der Schule nach Hause, schaltete das Radio an, und da waren sie auch schon. Meine Helden. Die echten Typen. Die Giganten. Und für Al Benson schien das alles ganz normal.

„Hier ist eine neue Single von Muddy Waters, die wir gerade auf den Tisch ­bekommen haben. Hören wir doch mal rein, der Titel heißt ‚Hoochie Coochie Man‘.“

Und das spielte er dann. Es war unglaublich. Eine Mundharmonika mit so viel Seele hatte ich noch nie gehört. Einen so druckvollen Groove auch nicht. Der Gesang klang wunderbar gefährlich, und in ihm schwangen die bösesten ­Gedanken mit, schon allein durch die Essenz dieses Songs und die Art und Weise, wie Muddy Waters diesen Klassiker von Willie Dixon brachte …

I got a black cat bone

I got a mojo, too

I got a John the Conqueror root

I’m gonna mess with you (Lord, have mercy)

I’m gonna make you girls

Lead me by the hand

Then the world will know

That’s a hoochie coochie man.

Und dann stürzte sich die ganze Band in den Akkordwechsel hinein. Little Walter, Otis Spann und die Jungs rockten los. Und mir flog fast das Hirn weg. Mein Kundalini entrollte sich und jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Die Band heulte auf. Muddy erzählte, daß er tatsächlich dieser Hoochie Coochie Man war … und ich war wieder total weg. Was für ein geiles Stück Musik! Heute ist das ein Klassiker … damals war es weiter nichts als die neueste Single von Muddy Waters, erschienen auf Chess Records. Sie kam aus dem absoluten Nichts. Und sie war aufregend. Sie gehörte zu einer Welle von Inspiration, die über die ­Bluesmen der South Side von Chicago hereinbrach.

Das Radio spuckte eine „Hitsingle“ nach der anderen aus, aber Popsongs waren das nicht. Es waren Bluesklassiker! Brandneu! Frisch aus dem Aufnahmestudio; das Vinyl kam noch fast warm aus dem Preßwerk und direkt in die Radiosender, die es augenblicklich über den Äther schickten, bis es aus dem Lautsprecher in mein überhitztes Hirn gelangte. Dionysos hatte von mir Besitz ergriffen … über die Ohren!

Und so ging es nonstop weiter. „Hier ist die neue Platte von Howlin’ Wolf.“ Dann kam „Smokestack Lightnin’“. Die Nummer ging mir durch und durch, vor allem wegen des repetitiven Riffs. Kein einziger Akkordwechsel! Immer wieder ein und derselbe Akkord. Er hämmerte auf das innere Rhythmuszentrum. Immer ­wieder. Funky, düster, rauh, böse. Immer wieder. Derselbe Akkord. Dasselbe Riff. Wieder und wieder. Jaaa … ich geriet langsam in einen tranceähnlichen Zustand. Mein Radio hypnotisierte mich. Howlin’ Wolf hatte mich voll unter seiner Kontrolle. Und dann dieser Text …

Smokestack lightning, shining just like gold.

– Howlin’ Wolf

Und dann heulte und jaulte er tatsächlich wie ein verirrter Wolf. Er trauerte um eine gescheiterte Liebe. Einsam und voller Furcht, verletzlich und doch voller Macht. Ein Mann. Ein wahrer Mensch. Was für eine Stimme.

Und was zum Teufel bedeutete dieser Text? Was ist ein Schornstein-Blitz, und warum glänzt er wie Gold? Ich weiß es immer noch nicht. Und ich finde es toll. So verdammt mysteriös. Ein Mann, der wie ein Wolf heult, und dieses Riff, das sich ein ums andere Mal wiederholt. Düstere, unvorhersehbare Wendungen der Blue Notes. Die gleichen Akkorde, die gleichen Töne. Wieder und wieder, sie brannten mir ein hypnotisches Loch in den Verstand. Ein Mantra. Ein Mantra des schwarzen Amerika. Später öffneten mir meine Studien über die Yoga-Mantras die Tür zur indischen Weisheits-Lehre und der inneren Energie der menschlichen Existenzform. Howlin’ Wolf öffnete Dionysos die Tür … mit einem Satz durch meine Ohren war er drin.

„Hier ist ein neuer Song von meinem Freund Bo Diddley“ – so kannte ich Al Bensons Stimme –, „,Who Do You Love?‘“ Und schon ging’s wieder los. Diesmal ritt ich auf dem Bo-Diddley-Beat, jenem Rhythmus der afrikanischen Urvölker, und darüber schickte Bo seine düsteren und gefährlichen Worte:

Tell me, hoodoo you love?

– Bo Diddley

Ist klar, oder? Hoodoo you love. Juju und Voodoo und Gris-gris und Hoodoo geisterten alle nach der Schule durch mein Zimmer – und durch meinen Kopf!

Und dann sprang John Lee Hooker geradewegs aus dem Radio – nach einem Werbespot für „Dixie Peach“-Haarpomade –, und er brachte seinen neuesten Hit „Boogie Chillun“. Danach sang Jimmy Reed „You got me runnin’, you got me hidin’“. Magic Sam … „I’m A King Bee“. All das kam im Radio. Topaktuell. Die Klassiker waren brandneu und schwammen in meinem Hirn herum. Das Radio war eine unglaubliche Inspiration, als ich fünfzehn, sechzehn war, einer von zwei­tausend Schülern der St. Rita High, für den nichts lief. Noch nie hatte mich eine rangelassen. Ob ich schon mal ein Mädchen geküßt hatte? Wie lernte man Mädchen kennen? Wie sprach man sie an? Aber im Radio glühte es geradezu. Das war reiner Sex, reine Energie, reine Power, reine Leidenschaft. Für mich war es das Größte. Liebe Freunde, das Radio rettete mir das Leben. Es rettete meine Seele.

***

Dann: Elvis Presley war im Fernsehen! Es passierte in einer Ersatzsendung für die „Jackie Gleason Hour“. Jackie Gleason guckten wir immer, das war ein Familienritual. Sid Caesar auch, sowie alle Sendungen mit Laurel und Hardy; „The Twilight Zone“. Mein Vater schaute Boxen, und ich wollte Baseball und Fußball sehen. Das waren die Fernsehgewohnheiten bei Familie Manzarek. Dann lief noch ein bißchen „Playhouse 90“ oder andere der tollen Fernsehserien der Fünfziger.

In der Sommerpause gab es Ersatzprogramm. Meine Eltern guckten aus ­Gewohnheit die Show von Tommy & Jimmy Dorsey, die als Band für Jackie Gleason auftraten. Und zu den Gästen in jener Woche gehörte kein Geringerer als Elvis Presley. Im amerikanischen Fernsehen! Ich war in einem anderen Zimmer, las oder holte mir einen runter. So eine blöde alte Bigband im Fernsehen interessierte mich überhaupt nicht, ich war ein Blues Boy … und dann rief meine Mutter nach mir. „Raymond! Raymond, komm mal her! Den hier mußt du dir ansehen, das ist ein ganz cooler Typ. Der wird dir gefallen.“ Und ich hörte aus dem Fernseher: „One for the money, two for the show, three to get ready, now go cat go!“ Ich sprang auf, rannte ins Wohnzimmer, sah zum Bildschirm, und da war Elvis und sang „Blue Suede Shoes“. Ein Killer! Ich war hin und weg. Endlich ein Weißer, der das brachte. Den Blues. Ich hatte vorher all den Schwarzen zugehört und so sein wollen wie sie. Ich versuchte, sie zu imitieren, spielte Muddy und Jimmy Reed, John Lee Hooker und Howlin’ Wolf auf dem Klavier nach, so gut ich konnte – und ich war noch nicht sehr gut –, und dann war da plötzlich ein Weißer, der es im Fernsehen krachen ließ. Er trug einen cremefarbenen Anzug, ein dunkles Hemd und einen cremefarbenen Schlips. Er sah sogar so aus, als ob er tatsächlich blaue Wildlederschuhe anhatte. Scottie Moore spielte die Gitarre, Bill Black zupfte den Baß, und D. J. Fontana traktierte das Schlagzeug. Diese Jungs rockten wie die Teufel. Elvis sang mit dieser ­tiefen, vollen Stimme und wackelte geradezu dionysisch mit den Hüften. Mir fielen fast die Augen raus. Wow! „Ich hab doch geahnt, daß dir das gefallen wird“, sagte meine Mutter mit wissendem Grinsen, als der Song zu Ende war. „Aber ehrlich!“ Und dann brachte er noch einen. Und der war genauso cool und rockig. Das Coole daran war, daß es etwas Countrymäßiges hatte. Es war nicht der traurige, klagende Chicago-Sound, den ich kannte. Es war ein bißchen lockerer. Es war weiß. Elvis mit Akustikgitarre, Stehbaß, elektrischer Countryblues-Gitarre und Schlagzeug. Es war Rockabilly. Die Seele der Schwarzen war in einen weißen Mann gefahren. Der ­Provinzler, der Honky, konnte den Neger jetzt verstehen und respektieren. Das ­Paradies war in Sicht. Und die Schleusen ­brachen unter der Kraft des Rock ’n’ Roll!

Nachdem Elvis im Fernsehen gewesen war, eroberte Rockmusik das Radio. Little Richard spielte „Tutti Frutti“, Jerry Lee Lewis „Good Rockin’ Tonight“. Chuck Berry sang „Roll over Beethoven and tell Tchaikovsky the news!“, Fats Domino trumpfte mit „I’m Walking“ auf, Bill Haley mit „Rock Around The Clock“, Gene Vincent sang mit seinen Blue Caps „Be-bop-a-lula, she’s my baby“. Das weiße Amerika hörte solche Sounds zum allererstenmal. Die weißen US-Kids flippten aus und gingen voll in dieser neuen Sache auf. Und die Eltern wußten: „Das ist das Ende. Das ist das Ende der westlichen Zivilisation in ihrer bisherigen Form. Unsere ­Töchter sind nicht mehr zu bremsen. Sie hören diese wilde, verrückte Musik, in der Sex nicht nur versteckt angedeutet wird.“ Und die Jungen, die schon vorher nur Sex im Kopf gehabt hatten, wußten jetzt um die kreisenden Bewegungen eines Elvis Presley und konnten sie den Töchtern Amerikas vorführen. Wir drehten durch!

Das hatte enormen Einfluß auf mein Klavierspiel. Ich stellte meinen Bluesmen jetzt noch die Rocker zur Seite und sang aus vollem Hals bei allen Hits des Tages mit, während ich mit der Linken den Rhythmus hämmerte und mit der Rechten Glissandi und Triolen spielte. Mittlerweile war ich dem Partykeller und dem klobigen deutschen Ungetüm längst entwachsen und hatte ein besseres, anspruchsvolleres Spinettklavier im Wohnzimmer stehen. Das mußte nun allerlei aushalten. Klavierstunden gewannen bei mir bald einen ganz anderen Sinn. Ich hätte ja Bach spielen sollen – und tat das auch –, aber ich liebte nun mal die Rockmusik. Und verdammt noch mal, meine Eltern liebten sie auch. Solange ich gute Noten nach Hause brachte und meinen klassischen Musikunterricht nicht vernachlässigte, konnte ich alles spielen, was mir in meinen verrückten Teenagergedanken herumspukte. Und mein fieberndes Hirn dachte an nichts anderes als an Rock ’n’ Roll und Blues.

***

1958, als ich dann etwas älter war, sah ich Muddy Waters tatsächlich live, wie er im Pepper’s Lounge an der Ecke Vincennes/43. Street spielte. Der Hoochie Coochie Man höchstpersönlich sang an jenem Wochenende für seine Getreuen. Das ­Pepper’s war ein angesagter Nachtclub mitten in der South Side. Ein ­blutrotes Neonschild vorn im Fenster mit der Aufschrift PEPPER’S LOUNGE lockte zum Eintreten. Die Stühle und Tische waren aus Holz und kündeten noch von einer ­anderen Ära – in den Dreißigern war der Laden wohl mal eine Flüsterkneipe gewesen. Der Tresen wurde von unten mit Neonlicht beleuchtet, damit die Bar jenen Film-noir-Touch bekam. An diesem Wochenende, als ich meine heidnische Taufe ­empfing, war der Club rappelvoll. Vielleicht 350 Zuschauer, darunter drei Weiße, ich und zwei Schulfreunde, Dick Ellman und Frank Mazzoni. Drei weiße Jungs auf der Suche nach der Wahrheit. Und die fanden wir in dieser Neonspelunke.

An jenem Abend spielte Muddy für sein Publikum, für die Arbeiter Chicagos. Für Männer, die wie mein Vater in der Autoindustrie, beim Flugzeugbau oder bei der Landmaschinenproduktion beschäftigt waren. Fabrik­arbeiter aus der Stadt der breiten Schultern. Gewerkschaftsleute. Männer mit gutbezahlten Jobs. Männer, die für ordentliches Geld ordentlich arbeiteten. Und jetzt war Wochenende. Sie hatten Geld in der Tasche. Sie waren hier, um den großen Muddy Waters zu sehen.

I’m drinkin’ T.N.T. I’m smokin’ dynamite

I hope some screwball starts a fight.

’Cause I’m ready, ready as anybody can be.

I’m ready for you, I hope you’re ready for me.

– Willie Dixon

Sie hatten sich herausgeputzt. In einem Blues-Club. Die Männer trugen Schlips und Kragen. Die Frauen kamen frisch vom Friseur, hatten Parfüm aufgelegt und sich feingemacht. Jeder war gut angezogen. Schließlich war es etwas ­Besonderes, wenn man abends ausging. Die Männer der South Side von Chicago gingen mit ihren Ehefrauen oder Freundinnen ins Pepper’s Lounge, um sich einen schönen Abend zu machen, mit ein paar Drinks und einer Show. Aber dieser ­Showman war ein Schamane reinsten Wassers.

Muddy war an jenem Abend in großer Form. Er brannte. Er war der Bluesman in Vollendung, und ich erlebte eine der überwältigendsten Vorstellungen meines Lebens. Muddy schlug uns alle in seinen Bann, niemand konnte sich entziehen. Er war in seinem Element. Er spielte nicht vor einem weißen Studentenpublikum oder trat beim Newport Folk Festival vor Dilettanten auf, die ihn gar nicht recht zu schätzen wußten. Nein. Dionysos war in seinen Tempel zurückgekehrt, und seine Anhänger bezeugten ihre Ergebenheit. Und er gab es uns!

I want you to rock me

Rock me all night long.

I want you to rock me, baby

Like my back ain’t got no bone.

– Muddy Waters

Die Band wußte genau, worauf es ankam und spielte fordernd und präzise: Schlagzeug, Baß, Gitarre, Klavier und Mundharmonika. Eine typische Bluesband aus Chicago. James Cotton griff zur Mundharmonika – Little Walter weilte zu jener Zeit leider schon nicht mehr unter uns –, und der überragende Otis Spann saß am Klavier. Spann war der Größte. Er und Johnny Johnson, der bei Chuck Berry ­spielte: Diese beiden zeigten mir, was Blues/Rock-Piano bedeutet. Sie waren die Meister dieser Kunst. Indem ich ihnen zuhörte, fand ich den Weg in das Labyrinth: Der Weg war die Stille. Die Pause. Denn es geht so: Du läßt dem Gitarristen Raum, sich auszudrücken, vielleicht begleitest du ihn ein wenig und spielst eine kleine, einfache Figur, die ihm als Grundlage zum Improvisieren dienen kann. Aber du läßt ihm Spielraum für sein Statement … und dann antwortest du ihm. Genauso läuft es mit dem Sänger. Doch sobald die Zeit für dein eigenes Solo gekommen ist, führst du selbst. Dann liegt die ganze Energie bei dir. Wenn ich ein Solo spiele, bin ich der Herr und Meister. Ich habe es in der Hand, wohin der Song geht und wie er sich entwickelt. Alle müssen sich mir unterordnen. Ich kriege Krämpfe, ich flippe aus … und dann füge ich mich wieder und verschmelze erneut mit der Energie der Band. Mit der kollektiven Energie. Dann bin ich wieder ein Rädchen im Getriebe.

Das Geheimnis liegt im Zuhören. Du mußt den anderen zuhören, ihnen Raum lassen, du mußt das, was sie rüberbringen wollen, mit kleinen Tupfern ­ergänzen, und dann kannst du ihren Statements mit der eigenen durchdachten und geistreichen Aussage antworten. Und: „Üben, üben, üben!“

Daher war es einfach das Größte, Otis Spann zu sehen. In diesem Club zu sein und Otis und Muddy live zu erleben … mir fehlen schlicht die Worte. Sie hatten eine Ebene erreicht, für die es keine Worte gibt. Die Ebene, auf der Energien und Vibrations fließen. Wo die Elementargeister zu Hause sind. Die innersten Kräfte. Und sie nahmen uns alle mit. Als der Abend fortschritt und der Blues immer stärker seine Zauberkraft entfaltete, begannen die Herren mit Schlips und Kragen und die frisch frisierten und mit Schmuck behängten Damen zunehmend lockerer zu werden. Der oberste Knopf wurde aufgemacht, der Schlips ein wenig heruntergezogen, so daß die arbeitende Halsmuskulatur, die solche Fesseln nicht gewöhnt war, Platz bekam. Das Haar der Ladies begann sich aus der sauber ­auftoupierten Frisur zu lösen. Eine Locke machte sich frei und rutschte ein wenig in die Stirn. Die war mittlerweile feucht und glänzte verschwitzt. Ein Tropfen Schweiß fiel von der Nase eines der Gentlemen herunter. Die Hitze steigerte sich ständig … und die nächste Runde Drinks wurde serviert. Die Stimmung stieg. Die Atmosphäre wurde dunkler und intensiver. Die Hemmschwelle sank, Konven­tionen gerieten in Vergessenheit. Und dann begann das Publikum, mit Muddy auf der Bühne zu sprechen. „Los, Muddy! Mach schon, Mann! All right, all night!“ Auf solche Zwischenrufe reagierte er mit kleinen Gesten, mit einem kurzen Hüftwackeln, oder er fuhr sich blitzschnell mit der Hand über den Schritt, bis dann, später am Abend, das beste Stück von Mr. Morganfield auch mal kurz und kräftig angepackt wurde. Ein paar Frauen quiekten dann richtig. Ein kleiner Schrei des Entzückens, der Vorfreude. Ich drehte mich um, und die Ladies kicherten, während ihre Männer die Augen halb geschlossen hielten und sich in den Hüften wiegten. Das Pepper’s Lounge war wie elektrisiert. Mann, was für ein Abend! Die Leidenschaft und die unbändige Kraft, die hier entfesselt wurden, überwältigten den weißen Boy.

Ich begriff in diesem Moment, daß ich ein fremdes Reich betreten hatte, das Reich des Dionysos, in dem die Kraft der Fruchtbarkeit herrschte. In Europa – der westlichen Zivilisation – hätte man von Düsternis gesprochen; aber diese Düsternis war nicht negativ, es war die Düsternis der Fruchtbarkeit. Die Düsternis der Langeweile. Dort war der Sex zu Hause, hier lagen die regenerativen Kräfte der Erde. Die ganze Natur, alle Lebewesen erneuern sich über diese dunklen Energien. Die dionysischen Energien. 1958 in Chicago hatte ich noch keine Ahnung, wie man das nannte, aber ich wußte, daß ich hier etwas erlebte, was mir noch nie zuvor ­begegnet war. Es war nichts Europäisches. Es war nicht sauber oder ordentlich. Es war nicht korrekt. Aber es war so voller Leidenschaft und Frohsinn, daß ganz ­zweifelsfrei feststand: So mußte man sein Leben leben.

An jenem Abend im Pepper’s tanzten und bewegten sich die Menschen auf ihren Stühlen, an der Bar, in den Gängen. Eine Tanzfläche gab es nicht, dazu standen zu viele Tische im Raum. Schließlich spielte Muddy Waters, und der Laden war voll, weit über die zugelassene Gästezahl hinaus. Die Musik übertraf ohnehin alles, was sich nach jüdisch-christlichen Maßstäben schickte. Wir waren ganz nah dran, Dick, Frank und ich. Und wir waren voll dabei. Trinken, rumwackeln, lachen, reden – ganz kehlig und genußvoll. Man merkte, wie die Stimmen der Leute im Laufe des Abends unwillkürlich in eine tiefere Tonart verfielen. Vielleicht war das dem Alkohol zuzuschreiben, aber ich denke, daß es an dem dionysischen ­Freudentaumel lag, an der Leidenschaft und an dem Zauber, den Muddy ausübte. Muddy Waters zauberte wie ein echter Schamane. Das war es, was an jenem Abend lief. Es war ein schamanisches Ritual, und wenn wir bis zum Schluß, bis vier Uhr früh geblieben wären – wir gingen um zwei, das war das längste, was wir drei weißen Novizen aushalten konnten –, wer weiß, wozu wir dann in der Lage ­gewesen wären. Vielleicht hätten wir die Kranken heilen können. Oder die Toten auferstehen lassen. Wir hätten kleine Mädchen aus ihren Köpfen sprechen lassen können. Wir mußten nur bereit sein. Und … der Mojo-Zauber mußte richtig ­wirken! In dieser Nacht tat er das bei jedem. Lieber Gott, sei uns gnädig!

***

Nachdem ich an der St. Rita High School meinen Abschluß gemacht hatte und diese zweitausend Jungen endgültig zurückließ, ging ich an die De Paul Universität. Das College lag in einer sehr guten Gegend von Chicago, und dort wurde Koedukation praktiziert. Ja, endlich. Mädchen! Mit dir in der gleichen Klasse, in den Fluren, am Spind nebenan. Mädchen, mit denen du reden und lachen, von denen du schwärmen und die du ansprechen konntest. Mädchen! Wie süß und faszinierend sie sind. Ich wurde fast wahnsinnig.

Und wegen all dieser Schwärmerei lernte ich im Studium so gut wie gar nichts. In meinen vier Jahren auf der Uni hatte ich, wenn ich heute darüber nachdenke, nur studienfremde Aktivitäten im Kopf – um genau zu sein: Kunst und Mädchen. Ich hatte mich am College Of Commerce für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben, und dieses lag, zusammen mit der Musikschule, der juristischen Fakultät und der höheren Verwaltungsfachschule, im Herzen von Downtown Chicago. Die Kunstakademie war zwei Straßen weiter. Die Orchestra Hall, wo die Chicago Symphony unter der ­Leitung von Fritz Reiner arbeitete, war ein paar Schritte die Straße hinunter und gleich um die Ecke. Das World Cinema, Forum für den europäischen Film, befand sich direkt nebenan. Bis zum Michigansee waren es drei Straßen in östlicher Richtung. Das Naturgeschichtliche Museum, in dem es eine hervorragende Sammlung von Dinosaurierknochen sowie indianischer, ägyptischer und chinesischer Kunst zu sehen gab, war bequem zu Fuß zu erreichen, ebenso das Shedd Aquarium und das Hayden Planetarium. Die große Bibliothek von Chicago erhob sich auf der anderen Seite der Michigan Avenue, gegenüber dem Kunstinstitut. Überall im Zentrum fand man außerdem Hofbräuhäuser und Bierstuben aus der Zeit der Jahrhundertwende, wo man sich den Gaumen netzen konnte. Hier gab es Roastbeef auf Roggenbrot mit deutschem Senf; die Sandwiches wurden an einer Theke konsumiert, die in ihrem hölzernen Design an mein altes deutsches Klavier erinnerte. Die Downtown säumten obendrein die von Louis Sullivan entworfenen architektonischen Meisterleistungen wie das Marshall-Field-Kaufhaus und das Auditorium Theater, das wie eine Schmuckschatulle aussah. (Keine zehn Jahre später sollten die Doors dort tatsächlich auftreten. Wenn man auf der Bühne stand und auf die Sitzreihen herunterblickte, hatte man das Gefühl, sich in einer Tiffanylampe zu befinden … einer goldenen, mit Kerzen erleuchteten Tiffanylampe. Vielleicht die schönste Halle, in der ich jemals ­gespielt habe.) Und stets herrschte auf den Straßen reges Treiben von Geschäftsleuten, Sekretärinnen, Einkaufsbummlern, Touristen und Herumtreibern. Was für eine perfekte Mischung! Das College hatte eine schlicht einmalige Lage.

Ich traf mich mit Mädchen und beschäftigte mich mit Kunst. Ich war in der großartigen Picasso-Ausstellung Ende der Fünfziger. Eine Wanderausstellung, die sich Dorothy auch ansah, als sie nach Los Angeles kam. Schicksal, was? Ich sah dort, live und mit eigenen Augen, „Les Demoiselles d’Avignon“! Ich sah „Die drei Musiker“. Zu Hause hatte ich ein kleines Plakat von diesem Bild an der Wand. Für mich war es eine kubistische Interpretation von meinen zwei Brüdern, Rich und Jim, und meinem Rock ’n’ Roll-Trio, komplett mit dem Familienhund, der rechts als Schatten auftauchte. Als ich es im Original vor mir sah, überwältigte es mich geradezu. Die Farben waren so lebendig, die Größe war so enorm, die Beleuchtung so dramatisch, daß ich fast auf die Knie sank. Ein Kniefall und das Bekreuzigen nach Art der Katholiken schien das einzig Angemessene zu sein … angesichts von Gott auf Leinwand. Das war kein Druck. Picasso, der Meister selbst, hatte den Pinsel in die Ölfarben ­getaucht und dann das Öl auf die Leinwand gebracht. Auf diese Leinwand! Genau diese Leinwand, vor der ich jetzt stand, in Ehrfurcht erstarrt. Er hatte das Bild 1921 kreiert, und nun war es hier. In echt. Ah … die Kunst!

Ich ging ins World Cinema, um mir „ausländische Filme“ anzusehen. Ich sah Truffauts „Sie liebten und sie schlugen ihn“. Von Ingmar Bergman „Wilde Erd­beeren“ und „Das Siebte Siegel“. Marcel Camus’ „Orfeu Negro“ – meinen Lieblingsfilm. „L’Avventura (Die mit der Liebe spielen)“ von Michelangelo Antonioni, ein sehr erwachsener Streifen über Langeweile und Entfremdung. Er weckte Gefühle, die ich damals nicht verstand, und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie heute ­verstehe. Auch sah ich Orson Welles’ „Citizen Kane“. Ein phantastisches Werk. Seit der Aufführung im World Cinema habe ich diesen Film sicher fünfzehn oder zwanzig Mal gesehen. Ob er die Zeit überstanden hat? Ob man ihn sich öfters ansehen kann? Ob ich ihn noch einmal sehen möchte? Aber ganz sicher! Diese Fragen kann man bei einem cinematografischen Kunstwerk nur mit „ja“ beantworten. Wenn man das nicht kann … dann ist es keine Kunst. Akira Kurosawas „Rashomon“ und „Die sieben Samurai“ bekommen ein dickes Ja. Ein wunderbarer Regisseur. „Ran“ drehte er in seinen Siebzigern, vielleicht sein größtes Werk … mit 75 Jahren! Was für eine Willenskraft! Bergman schuf mit Ende sechzig den ebenfalls brillanten Film „Fanny und Alexander“. Man kann nur hoffen, daß wir in diesem Alter auch noch von solch einer Kraft und Leidenschaft für die Kunst erfüllt sein werden.

Die Filme, die ich in diesem kleinen Kino neben der Orchestra Hall sah, waren überwältigend. Vorher hatte ich nicht gewußt, daß man solche Streifen ­drehen konnte, ja drehen durfte. In den Fünfzigern war ich eigentlich kein Filmfreak. Hollywood-Produkte. Wen interessierte das? Mit James Dean vielleicht. Alles andere war mir egal. Aber das World Cinema öffnete mir die Augen für die Chance von Kunst im Kino.

***

Während meines Studiums hatte ich jede Menge Dates. Sehr viele gutaussehende Frauen gab es dort. Irische, italienische, polnische, deutsche, angelsächsische und jüdische Mädels. Wilde Zeiten mit wilden Dates. Tolle und frustrierende Flirts. Wir lebten in den Fünfzigern, und da wollten sich die Mädchen noch für ihre Ehemänner aufsparen. Damit machten sie dich vor Geilheit verrückt. Im Auto wurde geschmust. Umarmungen, ein bißchen Grabbelei und Zungenküsse, der Geschmack von Lippenstift und Speichel, zwei Körper erhitzten sich, bis die Autoscheiben ­beschlugen. Ich hatte eine Riesenlatte, und sie mußte feucht wie ein Regenwald sein, wir waren „ready as anybody can be“, bereit, endlich alle Glocken bimmeln zu lassen … und dann: „Nein, nein, nein. So weit wollen wir nicht gehen, Ray.“

Ich konnte es nicht fassen. Sie konnte doch jetzt nicht aufhören!

„Wir müssen es einfach tun, Barbara“, bettelte ich. „Ich kann nicht mehr länger warten.“

„Nein, Ray. Ich will mich aufsparen.“

„Wofür denn?“

„Ich weiß nicht. Es ist einfach nicht richtig.“ Jetzt kam sie mir mit Religion.

„Doch, es ist richtig … es ist schön“, lockte ich. „Wir sollten uns lieben … jetzt. Hier.“ Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, bitte zu sagen.

„Ich kann nicht, Ray. Es ist Sünde.“ Diese blöden katholischen Mädchen.

„Es ist keine Sünde, das verspreche ich dir.“

„Das kannst du nicht versprechen … das kann nur Gott.“

Meine Hand lag auf ihrem Busen. Er fühlte sich voll und hart und jung an. Mir kam der Dampf fast aus den Ohren. Sie ist wunderschön … dachte ich. Ich ­begehrte sie. Ich wollte diese Frau.

„Barbara, das ist alles Sünde. Alles, was wir heute abend gemacht haben.“ Ich versuchte es mit Logik. „Warum vollenden wir es jetzt nicht auch?“

„Ich will das nicht, Ray. Ich will nicht … ich will nicht.“

Ich zog sie an mich und küßte sie mitten auf den Mund. Ihre Zunge schoß der meinigen wie eine Schlange entgegen. Ich drückte mich gegen sie, ihr Bein berührte meinen Schwanz. Der kleine Ray pochte wie verrückt, er war schon völlig außer sich. Ich hatte keine Kontrolle mehr über ihn. Er beherrschte mich. Er wollte explodieren. Ich begann, gegen ihr Bein zu reiben. Ich konnte nicht mehr, ich hielt es nicht länger aus. Ich mußte jetzt kommen! Also – wamm! Ich ejakulierte in meine Hosen. Was für eine Erleichterung. Ekstatische Schauer durchliefen mich. Ich preßte mich gegen sie. War das warm. Ein gutes Gefühl. Aber jetzt ist es in ­meinen Hosen, nicht mehr in meinem Körper. Iiihh, wie eklig!

Ich sah auf die Uhr, während sich das warme Sperma in meinen Shorts ­verteilte. „Ich glaube, wir müssen gehen, Barb. Ich will nicht, daß deine Eltern auf mich sauer sind.“

„Oh Ray, bitte jetzt noch nicht.“ Sie war genauso heiß und wollte ihr Östrogen-High noch nicht aufgeben. Ich wollte das auch nicht. Aber das warme Sperma würde schnell abkühlen und anfangen zu kleben … na ja, und ich war halt auch fertig. Sie wollte mich ohnehin nicht an ihre Zuckerbüchse lassen.

„Nein, Barb, ich glaube, wir müssen wirklich los.“ Ich startete den Wagen, und es ging zurück. Raus aus dem Marquette Park. Zu ihr nach Hause. Ich gab ihr einen Gutenachtkuß. Zur Tür bringen konnte ich sie nicht, weil ich einen riesigen kalten Spermafleck auf der Hose hatte. Wie peinlich.

„Bis morgen in der Vorlesung, Ray.“ Und schon war es vorbei. Das, liebe Freunde, war Sex in den Fünfzigern. Ein Krampf.

Bis ich meine erste große Liebe traf. Wir begegneten uns in meinem zweiten Studienjahr. Sie war wunderschön. Sie trug schwarze einteilige Bodys. Sie war blond, und sie war hip. Einer meiner Freunde meinte, „Na, Ray, hast du dir ein ­Beatnik-Mädel geangelt?“ Wir bumsten gleich miteinander. Auf meinem eigenen Bett in meinem Zimmer. Ich hatte sie mit nach Hause gebracht – meine Familie war unterwegs –, wir zogen uns aus, und ich drang zum erstenmal in ­meinem Leben in eine Frau ein. Ja! Es war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich kam mächtig in ein Kondom, und wir fühlten uns sicher und satt. Danach ­erkundete ich ihren Körper. Die Lust hatte nachgelassen, und nun war Zeit für ­Poesie. Auf diese Weise – nackt und auf einer Frau – war die Liebe in den späten ­Jugendjahren beinahe göttlich perfekt. Das weiche Fleisch einer Frau, biegsam und voll elastischer Festigkeit, die Samtigkeit, die dir den Kopf verdrehte … also … ich war verliebt. Es war das tollste Gefühl auf Erden. Es war das höchste Ziel, der Sinn und Zweck des Fleisches. Mein Gott, sonst hätte ich genausogut aus Holz sein können.

Wir waren drei Jahre zusammen. Dann ging ich nach Kalifornien und sie nach Europa.

***

Für meine sexuelle Bildung war also gesorgt. Das war schließlich auch gar nicht so schwierig. Für meine künstlerische Bildung hatte ich jedoch noch einen weiten, weiten Weg zurückzulegen.

I’m sittin’ here wondering

if a match box’ll hold my clothes.

I ain’t got no matches but I sure

got a long way to go.

– Carl Perkins

Meine nächste Erleuchtung hatte ich dann in der Orchestra Hall, dank Fritz Reiner und der Chicago Symphony. Jeden Mittwoch nachmittag ging ich zur ­Matinee-Vorstellung; Studentenkarten kosteten zwei Dollar. Es war ganz gleich, was gespielt wurde – schließlich war es Fritz Reiner, und da mußte es gut werden. Man bekam natürlich die schlechtesten Plätze im ganzen Saal, aber was machte das schon? Es war die Orchestra Hall, und es kostete nur zwei Dollar.

Ich zahlte meinen Obulus und kletterte die Treppen bis ganz nach oben. Vor mir öffnete sich ein wundervoller Saal, als ich die Tür von Rang sechs aufstieß. Ich suchte mir einen Platz, mein Kopf stieß fast an die Decke, aber das war schon in Ordnung. Schließlich war es eine verzierte, barocke Decke, geschnitzt und bemalt, die einen tollen Anblick bot. Es war wie die erste Abwärtsstrecke einer Achterbahnfahrt. Es ging steil nach unten. Wenn das eine Jahrmarktsattraktion gewesen wäre, hätte sie die aufregendste Fahrt von allen geboten, denn es ging fast geradewegs nach unten. Ich bekam ein bißchen Höhenangst. Aber da hörte man schon das Orchester, das sich einstimmte. Die Akustik war phantastisch. Im Durchein­ander der Instrumente lagen so viele Möglichkeiten. Der Klang der Leere, aus dem schließlich etwas Wohlgeordnetes entstehen würde.

An jenem Tag hatte ich nicht einmal ein Programm gekauft. Ich wollte bloß dasitzen und die Welle über mich hinwegspülen lassen, wollte fühlen, wie die Töne des Orchesters heranschwollen, gegen die Decke prallten und von der Decke über den obersten Balkon strömten, über meinen Kopf und meine Schultern, bis sie hinter mir eintauchten. Ich saß immer in der letzten Reihe, so daß ich die Wand im Rücken hatte, während die Musik durch den Saal wirbelte, bis sie meinen Kopf erreichte, unter meinen Füßen hindurchtauchte und schließlich wieder vom Balkon herabtroff. Es war eine sehr sinnliche Erfahrung; die beste, um klassische Musik zu genießen.

Fritz Reiner kam auf die Bühne. Plötzlich verstummte alles. Und dann begann die Musik. Weich und sanft, eine Welle nach der anderen. Jede Woge brachte einen neuen Höhepunkt. Es hatte etwas Ozeanisches an sich, es war wie das Meer. Wie gesagt, es war, als ob Wasser über mich hinwegströmte. Es zog mich nach unten, ich ertrank in weichen, modernistischen Klängen. Es war so wunderbar, und ich hatte keine Ahnung, was es war. Aber es ging weiter und weiter; ich wollte nicht, daß es je wieder aufhörte. Es erinnerte so sehr an das Meer, daß es mich bis in die Mitte des Atlantik transportierte. Ich war umgeben von Wasser. Und ich dachte, was ist das für Musik? Wer ist dieser geniale Komponist? Wer ist dieser Mann?

Schließlich war es zu Ende, aber der Bann wirkte noch nach. Sofort stürzte ich zum Platzanweiser und holte mir ein Programm; ich blätterte eilig bis zur Seite dieser Vorstellung, und da stand es … Claude Debussy, „La Mer“. Es war das erste Mal, daß ich Debussy-Musik live gehört hatte, und zum erstenmal „La Mer“. Ich wurde zum Fanatiker – zum Debussy-Fanatiker. Später fand ich ihn in Bill Evans’ Musik wieder. Mein Lieblingspianist spielte Debussy in Jazz! Phantastisch. Diese Weichheit. Der französische Romantizismus des frühen 20. Jahrhunderts, diese schlichte Schönheit … im Jazz? Tja … das mußte ich auch ausprobieren! Ich verbrachte viel Zeit damit, diesen inneren Ausdruck, diese Toncluster hinzubekommen. Vielleicht werde ich es eines Tages auch richtig gut können. „Üben, üben, üben.“

Auch die Theaterszene war in den Fünfzigern sehr lebendig. Broadway-Theater kamen auf ihren Tourneen mit den heißesten Bühnenstücken und Musicals auch nach Chicago; die Häuser lagen alle direkt in der Nähe des Colleges. Ich versuchte, so viele Stücke zu sehen wie nur möglich. Beispielsweise Tennessee Williams’ „Plötzlich im letzten Sommer“, bei dem Diana Barrymore die Rolle übernahm, die Liz Taylor in der Filmversion innehatte, in der darüber hinaus auch noch Katherine Hepburn und Montgomery Clift mitspielten. Diesen Streifen sollte man unbedingt gesehen haben, es gibt ihn auch auf Video. Aber auf der Bühne war es noch ungleich besser. Wie Diana Barrymore am Ende aufschrie: „Sie hatten ihn verschlungen“, ließ einem das Blut gerinnen, der Schmerzenslaut einer verzweifelten Seele aus dem ­Abgrund der Hölle. Das Publikum war wie gelähmt, so viel Kraft hatte ihr Spiel. Der Schmerz dieser Zeilen. „Sie hatten ihn verschlungen.“ Überwältigend.

Die nächste Saison brachte Rip Torn und Geraldine Page in „Süßer Vogel ­Jugend“. Ein großartiges Theaterstück, toll geschrieben. Und brillant aufgeführt! Die unvergleichliche Geraldine Page in der Rolle der unvergleichlichen Prinzessin Kosmonopolis. Etwas Besseres konnte ich mir kaum vorstellen … und das für nur 2,50 Dollar. Ich fand es großartig. So viel Inspiration steckte im Theater der Fünfziger. Ich wollte auch daran teilhaben. Ich wollte solche Stücke aufführen – sie schreiben – oder Regie führen. Ich wollte Teil dieser Energie sein. Ich wollte ­meinem Leben eine Bedeutung geben. Ich wollte diese Leidenschaft, die ich auf der Bühne sah. Ich wollte dabeisein!

Und dann kam die „West Side Story“, mit Chita Rivera und Larry Kert aus der Original-Broadway-Besetzung. Ich wußte erst nicht, was mich erwartete. Romeo und Julia als Gangmitglieder in New York? Nun ja, vielleicht war das was. Musik von Leonard Bernstein/Stephen Sondheim … das mußte eigentlich gut sein. ­Verdammt, es war brillant. Die Musik war überragend. Großartige Motive wie von Aaron Copland. Tolle Rhythmen. Balladen von Liebe und Leid, die noch heute in der Jukebox meines Kopfes gespeichert sind. Eine heiße, brennende, ansteckende Tanzvorstellung von Jerome Robbins! Und eine tragische Liebesgeschichte … schließlich Tod. Was konnte sich ein junger Student mehr wünschen? Es war die beste Musicalvorstellung, die ich jemals sah. Die perfekte Kombination von amerikanischer Musik, Tanz und Theater. Nach wie vor ist es für mich das absolute Glanzlicht aller Broadway-Musicals. Und so etwas wollte ich auch machen. Ich wollte alles. Ich war gierig und lüstern und sehnte mich unbeschreiblich nach dieser Art von Leidenschaft. So ein tiefes Gefühl wollte ich auch empfinden … für die Kunst.

Jim Morrison ging das genauso. Er hatte auf die eine oder andere Art dieselben Erfahrungen und Begegnungen mit der Kunst gehabt wie ich. All diese kleinen Erleuchtungsmomente sind ein Teil der Seele der Doors. Diese kleinen Momente von Licht, Klarheit und Inspiration brachten uns zusammen, und wir wollten sie auch in unsere Musik einbringen. Jim war ebenfalls begeistert von Tennessee ­Williams. Er liebte sein Gesamtwerk, und er war auf diesem Gebiet sehr beschlagen. Er sah sich selbst ein bißchen wie Chance Wayne. Auf dem College in Florida war „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ aufgeführt worden, wobei Jim die ­Bühnenausstattung übernommen hatte. Ob er auch selbst mitspielte, weiß ich nicht. Aber sein Bühnenbild war wirklich eindrucksvoll. Er nahm ein Dia mit einer Krebszelle – Big Daddy stirbt in dem Stück an Krebs – und projizierte es an die hintere ­Bühnenwand. Dann ließ Jim die Zelle während des Stücks ganz langsam, aber unaufhörlich vergrößern. Am Schluß des Stücks – wenn herauskommt, daß Big Daddy den Krebs nicht besiegt hat, sondern tatsächlich an der Krankheit stirbt – füllte diese Zelle die ganze Rückwand aus, sie pulsierte, sie fraß sich weiter … zerstörte alles. „Sie hatten ihn verschlungen!“

Jim faszinierten dieselben Dinge wie mich, und das war auch der Grund, weshalb er sich auf der Filmakademie einschrieb: Er hatte die gleichen Filme ­gesehen, Filme wie „Orfeu Negro“ und „Das siebte Siegel“. Er hatte gesehen, wie Max von Sydow als Ritter mit dem Teufel Schach um sein Leben spielte. Das Leben des Antonius Block. Jim liebte Bergman; die tristen, gespenstischen Landschaften des großen schwedischen Filmemachers – die inneren wie die äußeren. Den ­Existentialismus. Als würde alles durch ein dunkles Glas betrachtet. Aber auch den nie versiegenden Mut seiner Figuren, die sich immer wieder dem Leben stellten, die es zu leben wagten. Lebendig sein, und durch die Angst das Leben spüren … und die Einsamkeit. Jim hatte auch „Rashomon“ gesehen sowie „Sie liebten und sie schlugen ihn“ und all die anderen ersten Brecher der Nouvelle Vague, und er war verliebt. Verliebt in die Möglichkeit, daß er ein Künstler sein könnte. Verliebt in das Konzept der Freiheit! Sich frei ausdrücken zu können, frei denken zu können – er selbst sein zu können. Und als er dann schließlich entscheiden mußte, in welche Richtung er gehen wollte … als er in diesem elementar wichtigen Augenblick am Scheideweg stand … da wählte er die UCLA. Die Filmakademie. Genau wie ich.

You got to meet me at the crossroads.

Meet me at the edge of town.

Outskirts of the city.

You better come alone …

Das Kino faszinierte ihn ebenso wie mich. Für uns beide kamen hier alle Kunstformen zusammen. Hier trafen sich Theater, Fotografie, Musik, Schauspielerei, Schriftstellerei … alles. Und Experten gab es keine! Genies schon, aber keine Experten. Jim sagte mir: „Das ist das Gute am Kino, daß es keine Experten gibt. Jeder hat Zugang zum kompletten Werk. Die Filmgeschichte ist erst sechzig Jahre alt. Jeder kann die gesamte Geschichte kennen. Jeder kann ein Experte sein. Das liebe ich so am Kino.“ Und er hatte recht. Wenn man sich ­ausführlich damit beschäftigte, war die Kinogeschichte leicht verständlich. Wir konnten Experten werden … und Künstler … und freie Männer.

Das waren die Gründe, die mich zur kinematographischen Fakultät der UCLA geführt hatten, und die gleichen Dinge hatten auch Jim Morrison aus den Sümpfen Floridas zur versinkenden Sonne des Western Dream und zur UCLA gelockt. Wir mußten die Aufgabe meistern, unsere künstlerischen Erfahrungen in die Doors einfließen zu lassen: Wie waren all die tollen Ideen zu verwirklichen? Wie konnten wir die Dramatik, die emotionale Tiefe, das Pathos, die Freude, das Leid, die Angst im Rock ’n’ Roll-Kontext ausdrücken? Die Angst vor allem. Darum ging es bei den Doors.

Die Doors, Jim Morrison und ich

Подняться наверх