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II. Forschungsgeschichte

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Funktionen von Forschungsgeschichte

Forschungsgeschichte hat die Funktion einer Vergegenwärtigung des jeweils Erreichten und ist damit integraler Bestandteil jeder Wissenschaft. Sie dient einerseits der Wissenschaftsökonomie, indem sie präsent macht, welche Themen und Inhalte im Verlauf der Forschung behandelt worden, welche Fragen offengeblieben sind. Sie hat aber auch Älteres auf seine potenzielle Weiterverwendbarkeit zu untersuchen, also ein heuristisches Potenzial älterer Arbeiten zu eruieren. Und indem sie Paradigmenwechsel nachzeichnet, ist sie gleichzeitig eine Geschichte wissenschaftlicher Interessen.

Bibliographien

Die Literatur zu Gottfried von Straßburg ist gut dokumentiert, muss aber aus einer ganzen Reihe von Bibliographien und Forschungsberichten zusammengestellt werden: Neben vollständigen Verzeichnissen zu fortlaufenden Zeiträumen stehen solche, die kleinere Ausschnitte abdecken, damit zwar Übersehenes nachliefern, aber die Übersicht auch erschweren. Auch werden die unter Gottfrieds Namen kursierenden lyrischen Texte nicht immer mit einbezogen, und auf der anderen Seite muss Literatur über Gottfried und den Tristan erst aus Bibliographien herausgefiltert werden, die dem Tristan-Stoff im internationalen Zusammenhang und seinen verschiedenen Bearbeitungen gelten (z.B. Walden Adams 1935/1943). Bibliographien, die in Teilen erschienen sind, sortieren das Material nicht immer unter gleichen Rubriken. Manchmal stößt man bei der Kategorienbildung auf terminologische Änderungen; so trägt etwa Teil XI. in Steinhoff 1971 die Überschrift „Weltanschauung“, in Steinhoff 1986 liest man „Interpretationen“, und die Weltanschauung findet sich nur noch in der Formulierung „Geistesgeschichtlich/weltanschaulich“ als Titulus für eine Unterrubrik.

Die bis zum Erscheinen seines Referenzwerkes erschienenen Bibliographien hat Batts 1969 zusammengestellt. Zu Rate zu ziehen sind immer auch die allgemeinen germanistischen Standardbibliographien. Die Bibliographien von Steinhoff 1971 und 1986 versammeln Ausgaben und Untersuchungen bis 1983 relativ vollständig und weisen vor allem auch Rezensionen nach. Eine Anschlussbibliographie für die Zeit von 1984 bis 2002 von Huber – allerdings nur zum Tristan – steht im Internet; sie ist eine Erweiterung der gedruckten Bibliographie Hubers (2002a) und enthält auch ein Schlagwortregister, wenn auch mit Lücken und Fehlern. Kontinuierliche Veröffentlichungsnachweise für i.d.R. einjährige Berichtszeiträume liefern die Bibliography of Critical Arthurian Literature (ab 1940 in der Zs. Modern Language Quarterly) und das Bulletin bibliographique de la Societé internationale arthurienne. Bibliographical bulletin of the International Arthurian Society (1949–1969). Ergänzungen liefert ab 1975 die Zs. Tristania.

Forschungsberichte

Wichtige Forschungsberichte, also Vertreter einer ‚Gattung’ der Wissenschaftsliteratur, die das Material nicht nur bibliographisch erfasst, sondern auch kritisch sichtet und in Zusammenhänge stellt, liegen vor von Batts 1983/84, Bindschedler 1953, van Dam 1930, Dietz 1974, Fromm 1954, Picozzi 1971. Der früheste bekannte Forschungsbericht ist wohl Röttigers Schul-Programmschrift von 1897 – Indiz dafür, dass zu dieser Zeit bereits Veranlassung für eine Sichtung bestanden haben muss. Aus Forschungsbericht und angehängter Bibliographie besteht die (ungedruckte) Arbeit von Reinnagel 1967. Einen Sonderfall stellt die detaillierte und nützliche Arbeit von Fritsch-Rößler 1989 dar: Untersucht wird darin die Behandlung von Gottfrieds Tristan speziell in deutschen Literaturgeschichten aus der Zeit von 1768 bis 1985, wobei differenziert wird zwischen wissenschaftlichen, populären und Schul-Literaturgeschichten und auch Seitenblicke auf Lehrpläne erfolgen; zu vergleichen ist der Aufsatz von Schneider 1992 zur Darstellung des Tristan in der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung nach Ehrismann. Einen Schwerpunkt auf Stoff- und Motivgeschichte legt der Forschungsbericht von Langmeier 1978. Den Charakter eines Forschungsberichtes haben auch Passagen in G. Weber 1953 (I, 9–31, II, 7–46), Wetzel 1996 sowie in den Einführungsbänden von G. Weber (11962, 51981 zus. mit Hoffmann), Chinca 1997, Huber 22001 (12000), Tomasek 2007b. Eine Zusammenstellung forschungsgeschichtlich wichtiger Aufsätze bis zum Beginn der 70er Jahre enthält der Sammelband von Wolf 1973.

Primärtexte (Editionen, Übersetzungen)

Angesichts der Spezifika der Überlieferungslage mittelalterlicher Texte beginnt die Forschungsgeschichte nicht mit deren Existenz schlechthin: Da Handschriften nur Unikate sind, also nicht an mehreren Orten und für eine größere Anzahl von Wissenschaftler/inne/n greifbar, kann ihr prinzipielles Vorhandensein noch keine kohärente Forschung in Gang setzen. Eine solche beginnt vielmehr erst mit der Umsetzung des Manuskripts in Medien, die den Text der Wissenschaft in größerer Anzahl und in identischen Fassungen zur Verfügung stellen.

Auf ein frühes Interesse an Gottfrieds Tristan deutet eine Abschrift, die 1722 von einer verlorenen Handschrift genommen wurde (Sigle S); auch diese Abschrift ist aber unikal und nimmt damit forschungsgeschichtlich die gleiche Position ein wie mittelalterliche Handschriften. Die ersten mit Gottfrieds Namen verbundenen Texte, die ediert wurden, waren dann keine Handschriften des Tristan, sondern die heute verbreitet als unecht geltenden Lieder. Sie finden sich in der Ausgabe von Texten der Minnesang-Sammelhandschrift C, die Bodmer und Breitinger 1759 herausgegeben haben („Proben“ daraus schon 1748).

Die erste Tristan-Ausgabe

1785 folgte dann die erste Tristan-Ausgabe (zur Geschichte der Ausgaben s. Picozzi 1971) des Bodmer-Schülers Myller; ihr liegt die Florentiner Hs. F zugrunde, die nicht lange vorher entdeckt worden war. Die zeitliche Nähe zwischen Auffindung und Edition deutet also auf ein bereits entwickelteres Interesse am Autor hin. Dass es sich bei der Edition um einen einfachen Abdruck ohne text- und überlieferungskritische Bearbeitung handelte, kennzeichnet andererseits ihre Isoliertheit – andere Handschriften waren durchaus schon bekannt. Die Ausgabe wird also noch nicht den Ansprüchen der sich seit kurz vor der Mitte des 18. Jhs. entwickelnden editorischen Prämissen und Forderungen Karl Lachmanns und seiner Schule gerecht, hat jedoch heute wieder einen besonderen Stellenwert: Mit der Abkehr von den Bemühungen um die Rekonstruktion einer möglichst autornahen Textfassung aus verschiedenen Hss. wird der einzelne Überlieferungsträger wieder interessant: Bei ihm kann man davon ausgehen, dass es sich um einen Text handelt, der in seiner Zeit so und nicht anders existiert hat – und ein solcher Text kann Grundlage für Interpretationen werden, ohne dass man mit den Unsicherheiten einer künstlich rekonstruierten Fassung leben muss.

Die erste Tristan-Ausgabe, die mehrere Handschriften einbezogen hat, ist die von Groote 1821. Sie stützt sich auf H, bezieht aber Lesarten aus B, F, N, O, R, W mit ein, gibt Erläuterungen und enthält ein Glossar. Diese Edition hat in der Wissenschaft Anstöße gegeben, denn bereits 1823 erschien eine weitere Ausgabe (von der Hagen). Sie stand insofern unter einem ungünstigen Stern, als vor dem Satz das Manuskript mit den Lesarten verbrannte, weshalb sie ohne diese gedruckt werden musste. Dafür enthält sie aber schon die Fortsetzung Ulrichs von Türheim, französische und englische Tristan-Texte sowie ein in der Liederhs. C unter ‚Gottfried’ rubriziertes Lied über die Armut. Gegen diese Ausgaben wurden verschiedene Einwände erhoben, aber offensichtlich reichten sie für die Bedürfnisse der Forschung zunächst aus, so dass es bis zur nächsten Edition (Maßmann 1843) 20 Jahre dauerte. Maßmann stützte sich ebenfalls auf H, arbeitete aber auch als erster Lesarten aus M ein. Damit ist neben gemeinsamen Schwerpunkten (eben der Bevorzugung von M) ein gewisses Auseinanderlaufen der editorischen Bemühungen zu konstatieren, das eine Zusammenführung der bisherigen Lesarten aus den anderen Handschriften wünschenswert erscheinen ließ. Diesem Desiderat kommen die nächsten beiden Ausgaben (Bechstein 1869/70, Golther 1888/89) im Ansatz nach, indem sie zwar ganz offensichtlich auf bisherigen Editionen gründen, aber auch inzwischen neu bekannt gewordene Textzeugen erfassten. Die Vermutung, dass Wort- und Sacherklärungen sowohl bei Bechstein als auch bei Golther auf die Absicht hindeuten, „ein breiteres Publikum“ zu bedienen (Tomasek 2007b, S. 61), ist nicht von der Hand zu weisen; mehr für eine Popularisierung haben aber sicher die ersten Übersetzungen geleistet – überwiegend von Autoren, die im Bereich der Übersetzung oder Nachdichtung mittelalterlicher deutscher Literatur auch sonst produktiv waren: Kurtz 1844, Simrock 1855, Hertz 1877 (unter Einbezug des afrz. Tristan von Thomas de Bretagne!), Pannier 1903 (auch mit einer Übersetzung des Spruchs ‚Vom gläsernen Glück’), von Kremer 1926. Diese Übersetzungen folgen also zeitlich auf die Edition von Massmann und ‚umrahmen’ die Ausgaben von Bechstein und Golther. Zwischen Kurtz und Simrock erschien noch Haupts Ausgabe des Gottfried zugeschriebenen Marien- und Christuslobs (1844), kurz nach Pannier abgedruckt wurde der Spruch ‚Vom gläsernen Glück’ von Junk (1904) im Kontext seiner Darstellung der Überlieferungsgeschichte von Rudolfs von Ems Alexander, wo Gottfried dieser Spruch zugeschrieben wird. Diesen und einen weiteren Spruch zum Thema ‚Mein und Dein’, den die Forschung wegen Formgleichheit ebenfalls Gottfried zugeschrieben hat, findet man in von der Hagens Minnesingern (1838).

Die Tristan-Editionen von Marold und Ranke

Unterbrochen von einer neuen Ausgabe des Marien- und Christuslobs durch Wolff 1924 folgen nun zwei Tristan-Editionen, die bis heute folgenreich geblieben sind, nämlich die von Marold (1906, 21912) und Ranke (1930). Über ihren Stellenwert informieren Schröder in der vorerst letzten Neubearbeitung von Marolds Edition (2004) sowie (mit Kritik an Schröders Handschriftenüberblick) K. Klein 2006. Um den Stellenwert einschätzen zu können, muss erwähnt werden, dass Marold, wo er Grundlage der Neuedition geworden ist, wichtige Ergänzungen findet durch die eingearbeiteten Kollationen Rankes. Ob Marold oder Ranke die zu benutzende maßgebliche Ausgabe bietet, war lange umstritten; die erwähnte ‚Synthese’ von Schröder hat diesen Streit nun erledigt, da sie mehr bietet als die beiden Editionen zusammen; aber ganz glücklich ist man auch mit der neuen Ausgabe nicht. Eine Auswahlausgabe seines Tristan hat Ranke 1946 veranstaltet.

In den Deutschen Liederdichtern des 13. Jahrhunderts von Carl von Kraus (1952) finden sich Teile der Gottfried zugeschriebenen Lyrik. Dann folgen zunächst wieder nur Ausgaben (Weber 1967 mit Nacherz., Ganz 1978) und Übersetzungen des Tristan (Kramer 1966, Mohr 1979; engl. Hatto 1972). Die Editionen bieten hinsichtlich des Textes keine wesentlichen Fortschritte, wohl aber in Bezug auf Kommentare u.Ä. Die Ausgabe von Ganz, die sich auf Bechstein stützt, ist in der Reihe Deutsche Klassiker des Mittelalters erschienen und war daher verbreitet. Ein wichtiges Arbeitsinstrument für eigenständige Textvergleiche stellt das Faksimile der Hs. M dar (1997 mit Beitr. von Montag und Gichtel). Die Frage nach der Zuverlässigkeit von Editionen zieht sich natürlich weiter in den Bereich der Übersetzungen, deren Kette nicht abreißt: von Ertzdorff u.a. 1979, Krohn 1980 u.ö., Gentry 1988 (engl.), Kühn 1991. Am einflussreichsten im akademischen Ausbildungsbetrieb ist derzeit Krohn (nach Ranke); von Ertzdorff (inzwischen vergriffen, aber nicht selten benutzt) stützt sich dagegen auf Marold in der Ausgabe von 1977, die eine Vorform der Bearbeitung durch Schröder darstellt).

In einem Beitrag zu einem Sammelband über Marienverehrung bietet Brinker 1993 einen nützlichen Parallelabdruck des Marien- und Christuslobs aus den Hss. K, B und C; die Echtheit wird auch von ihr bestritten.

Eine Ausgabe von Gottfrieds Tristan in einem Band mit frühen europäischen Stoff-Fassungen wurde besorgt von Buschinger 1995. Echte Fortschritte für die wissenschaftliche Arbeit am Text (über die sukzessive Verbesserung von Marolds Ausgabe hinaus) bietet nur der diplomatische Abdruck der Hs. W durch Firchow. Die Edition von Spiewok dagegen stützt sich wieder auf H und fügt dem Vorhandenen wenig hinzu. Keinen eigenständigen editorischen Wert, aber angesichts der beigegebenen Erschließungs-Hilfsmittel Vorteile für die praktische Arbeit besitzt die Ausgabe von Putmans 1995.

Neue Übersetzungen

2008 und 2009 sind dann noch einmal gleich vier Übersetzungen erschienen. Kann die von Gravigny (Versuch einer Nachdichtung in frz. assonierenden Versen) noch als manieristisches Experiment einen gewissen Reiz besitzen, so bieten die von Kurtz/Mohr 2008 (Neuauflage von Kurtz/Mohr 1979, geadelt durch ein Nachwort von Peter Wapnewski), und Kühn 2008 nichts wirklich Neues. Dass Kühn nun in das ‚Korpus’ mittelalterlicher Texte des Fischer Verlags geraten ist, kann als bedenklich gelten, weil sein Text damit in eine Reihe gestellt wird mit wissenschaftlichen Übersetzungen dieser Reihe von de Boor, Brackert, Cramer usw. Eine Auseinandersetzung mit modernen Tristan-Übersetzungen unter kulturwissenschaftlicher Perspektive findet sich bei Batts 1993.

Fazit: Textkritische Bemühungen um die Lyrik dümpeln vor sich hin, was damit zusammenhängt, dass keine wirklichen neuen Bemühungen um die Echtheitsfrage zu verzeichnen sind. Die editorische Arbeit am Tristan dagegen ist nicht zum Stillstand gekommen, zeigt aber gleichermaßen Lücken wie Redundanzen. Zu fragen ist auch, ob unter Berücksichtigung des Wechsels editorischer Prämissen von kritischen Ausgaben mit Kontaminationen, Emendationen, Konjekturen zu überlieferungsnäheren Editionen eine weitere Arbeit an Marolds Ausgabe nicht an Sinn verloren hat. Selbst wenn die Tristan-Überlieferung in den Handschriften durchweg als relativ homogen und qualitativ besser als bei anderen Texten gilt, rechtfertigt das doch nicht, die überwiegende inhaltliche ‚Festigkeit’ als Anlass dafür zu nehmen, die vorhandenen Divergenzen durch Vereinheitlichung in kritischen Ausgaben zu negieren. Gerade aktuellere inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem Tristan unter kulturwissenschaftlicher Perspektive zwingen oft zu einer Entscheidung dahingehend, dem Wortlaut welcher Handschrift man sich anschließt, bzw. zu einer Überprüfung von auf eine spezielle Handschrift gegründeten Hypothesen an anderen Überlieferungsträgern. Die Alternative einer Ausgabe mit umfassendem Lesartenapparat dürfte in der Benutzung unpraktisch sein. Es besteht also Bedarf an Einzelausgaben der vollständigen Handschriften und Sammelausgaben der Fragmente (beides in Form diplomatischer Abdrucke), möglicherweise auch an synoptischen Ausgaben.

Forschungsgeschichte: Sekundärliteratur

Quantitativer Befund: Statistik ist nicht alles – aber eine statistische Aufbereitung von Bibliographien gewährt oft Einblicke in Forschungsentwicklungen, die sonst verborgen bleiben würden. Eine Gesamterhebung einschlägiger Daten für die Gottfried-Forschung fehlt; sie ist aus den Bibliographien auch nicht ohne Mühen zu erstellen. So nummeriert Steinhoff 1976 innerhalb sämtlicher Kategorien die Titel fortlaufend durch, was zumindest schon einen groben quantitativen Überblick bietet. In seiner Bibliographie von 1986 verwendet er aber ein anderes Nummerierungssystem, und bei Huber 2002b findet man gar keine Nummerierung, so dass man in diesen beiden Fällen von Hand auszählen muss. Bibliographien, die die Titel chronologisch nach Erscheinen anordnen, stehen solche gegenüber, die eine alphabetische Reihenfolge verwenden. Rezensionen werden manchmal mitgezählt, manchmal nicht.

Forschung bis 1969

Bis 1969 (erster Berichtszeitraum von Steinhoff), also innerhalb der ersten ca. 170 Jahre der Gottfried-Forschung sind 769 Forschungsbeiträge erschienen. Zieht man davon Ausgaben und Übersetzungen, Beiträge in Handbüchern und Literaturgeschichten, stoffgeschichtliche Darstellungen, die sich mit anderen Tristan-Fassungen beschäftigen, sowie Rezensionen ab, kommt man auf eine Zahl von rund 690 Untersuchungen zu Gottfried (darunter 16 zu den Liedern, den Sprüchen und zum Marien-/Christus-Lob), was vier Veröffentlichungen pro Jahr bedeuten würde. Dieser Durchschnitt ist natürlich rein fiktiv; eine Auszählung für Dekaden etwa würde andere Ergebnisse liefern. Für einen ersten Eindruck und zur Gewinnung von Vergleichsmöglichkeiten mag das Konstrukt erlaubt sein. In den folgenden 14 Jahren zwischen 1970 und 1983 (zweiter Berichtszeitraum von Steinhoff) lassen sich 646 Titel registrieren. Nach einer Bereinigung um die o.a. ‚Genres’ verbleiben 527 Titel, nun also im Schnitt bereits 37 pro Jahr. Huber 2002b führt dann für die nächsten 14 Jahre bis 2002 bereinigt 496 Titel auf: pro Jahr durchschnittlich 35. Die Zeiträume 1970–1983 und 1984–2002 sind also gut vergleichbar, und der allgemeine statistische Befund verliert an Abstraktheit. Von 2003–2010 sind dann mindestens 160 weitere Abhandlungen erschienen, damit ergibt sich ein Zuwachs von rund 20 Veröffentlichungen pro Jahr, der immer noch annähernd zur Entwicklung seit 1970 passt.

Qualitativer Befund: Im allgemeinen zeigt die Geschichte der Arbeiten über den Tristan und die Lyrik unter Gottfrieds Namen zunächst ein ähnliches Bild wie bei anderen mittelalterlichen Autoren und Werken, die ab dem 18. Jh. Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung wurden und sich dann in der universitär institutionalisierten Germanistik als Gegenstände etablierten: Auf Bekanntmachung von Handschriften, Editionen, textkritische Beiträge folgen Arbeiten zu Grammatik, Wortschatz, Form, Sprache, Stil, Rhetorik, z.T. schon gemischt mit inhaltlichen Wertungen und Interpretationen; danach dann Stoff- und Textvergleiche, ebenfalls manchmal interpretatorisch affiziert, und motivgeschichtliche Untersuchungen; schließlich umfassendere Interpretationen zu ‚Gehalt’ und Aussage. In Bezug auf die Gottfried zugeschriebenen lyrischen Texte ist dieses Bild unscharf, da dazu viel weniger Arbeiten vorliegen als zum Tristan; dafür ist es bei diesem dann um so deutlicher. Allerdings gibt es Kategorisierungsprobleme – sie vergrößern sich, je feiner die Differenzierung wird. So fällt eine Behandlung der Akrosticha sicher unter die Kategorie ‚Bauformen/Strukturen’, lässt sich aber auch einordnen unter ‚Einzelprobleme/Teile’; ein ‚Einzelproblem’ ist sicher auch das Konzept der edelen herzen, es handelt sich dabei jedoch auch um ein wort- und bedeutungsgeschichtliches Thema; Analysen von Raum- und Zeitdarstellungen können motivgeschichtlich-deskriptiv erfolgen, aber auch im Rahmen einer Untersuchung kulturell gesteuerter Wahrnehmungsformen, so dass eine Zusammenfassung beider Vorgehensweisen zum Teil irreführend ist usw. Auch hier geht es also i. F. nur um die Skizzierung von forschungsgeschichtlichen Tendenzen.

Charakteristik

Weber 1962, 47ff. charakterisiert die Forschung des 19. Jhs. zu Gottfried in Bezug auf den Tristan als gekennzeichnet durch die Schwerpunkte Stoffgeschichte, Verhältnis zur Quelle, Stil, dichterische Technik; das ist der oben beschriebene Normalfall in Forschungsfrühphasen, wobei Stoffanalysen beim Tristan zeitiger ansetzen und reichhaltiger sind, weil sich dafür angesichts der Internationalität des Stoffs mehr Anlässe bieten. Einige Arbeiten aus dieser Zeit sind auch heute noch brauchbare Hilfsmittel (z.B. Lobedanz 1878, Preuss 1881 und 1883, Kaindl 1892 und 1893, Rothe 1895), aber zunehmend schwerer greifbar; oft gelten sie nicht nur Gottfried, sondern sind vergleichend angelegt (Steiner 1875, Badstüber 1897/1901). Der stoffgeschichtliche Schwerpunkt zeigt nach Weber drei Facettierungen: Gestellt wurden die Fragen 1. nach „Vorgeschichte“ und geographischem „Ursprung“ des Tristan-Stoffs, 2. nach der Existenzform der ersten Tristan-Dichtungen (Liedertheorie – Entstehung durch Zusammenfügung von Einzelliedern – vs. Theorie eines von einem Autor verfassten, selbständig existierenden ‚Ur-Tristan’), 3. nach dem Verhältnis des Gottfriedschen Tristan zum Tristan des Thomas de Bretagne. In Bezug auf die erste Frage ist man von Versuchen abgekommen, die eine oder andere Theorie beweisen zu wollen: anglonormannische und französisch-bretonische Einflüsse sind beide für die Entstehung konstitutiv gewesen. Außerdem haben Untersuchungen an außereuropäischen Texten plausibel gemacht, dass manche Bestandteile des Tristan-Stoffs als internationale Erzählmotive gelten können, so dass man also auch von Phänomenen der Polygenese ausgehen muss. Bei der zweiten Frage dominierte zunächst die Liedertheorie, bis sie durch vergleichende Untersuchungen an Einzeltexten an Überzeugungskraft verlor.

Moralische Vorbehalte

Man kann häufig lesen, dass die frühe Germanistik sich bis auf philologische Aspekte aus moralischen Gründen inhaltlich wenig mit dem Tristan auseinandergesetzt habe. Diese Ansicht stützt sich vor allem auf ein berühmtes Lachmann-Zitat (Lachmann 1820 bzw. 1876 [zit.], S. 159), demzufolge das Epos zwar in sprachlich-stilistischer Hinsicht „eine gehaltene, verständig geschmückte Darstellungsweise“ zeige; „aber anderes als Üppigkeit oder Gotteslästerung boten die Hauptteile seiner weichlichen, unsittlichen Erzählung nicht dar“. Auch in frühen Literaturgeschichten, etwa bei Gervinus, findet sich Ähnliches. Fritsch-Rößler 1988, die die einschlägigen Passagen zusammengestellt hat, kann aber auch belegen, dass solchen Einschätzungen widersprochen wurde. Sie weist ferner auf die Beobachtung Pfaffenbergers (1981) hin, dass sich die Kanonisierung der drei ‚großen Epenautoren’ (Gottfried neben Hartmann und Wolfram) schon 1815 bei Jacob Grimm nachweisen lässt. Zu fragen wäre auch, wie die Übersetzungen von Kurtz 1844, Hertz 1877, Simrock 1855, Pannier 1903 zu erklären sind, wenn es wirklich so große Inhibitionen gegeben hätte. Und die frühen editorischen Bemühungen würden dann zumindest zeigen, dass sich die Forschung trotz möglicher inhaltlicher Abneigungen nicht von einer professionellen Zugangsweise hat abhalten lassen. Ich vermute daher, dass eine zunächst nur zögerliche inhaltliche Beschäftigung mit dem Tristan eher an der beschriebenen ‚natürlichen’ Abfolge der Forschungsentwicklung liegt als an moralischen Vorbehalten. Spätestens ab 1850 kann man von einer festen Etablierung Gottfrieds in der Germanistik ausgehen, und bis 1900 liegt auch außerhalb von Literaturgeschichten schon eine Reihe von ‚Gesamtwürdigungen’ vor; es gibt einen ersten Forschungsbericht (Röttiger 1897), und neben Stoffgeschichtlichem, Stil, Rhetorik, Versbau, Metrik sind in diesem Zeitraum vor allem literarische Beziehungen zu anderen mhd. Dichtern untersucht worden, wobei Gottfrieds Rolle als Geber häufiger im Vordergrund steht als die des Nehmers.

Forschung 1900–1950

Die Zeit zwischen 1900 und 1950 erbringt für die Gottfried-Forschung, speziell wieder die zum Tristan, in den schon behandelten Bereichen Verdichtung und Ausbau, teilweise auch schon Korrekturen bisheriger Ansichten. Im Bereich der Stilforschung zeigt sich eine große Kontinuität (rund 50 Neuveröffentlichungen, allerdings wenige Synthesen). Vor allem jedoch erscheint eine Reihe von Untersuchungen zu religiösen, geistesgeschichtlichen, kulturellen Hintergründen (Vorarbeiten zu Weber 1953 enthält Weber 1948/1950), deren Thesen zwar mittlerweile mit Distanz betrachtet werden, an denen sich aber zumindest tendenziell auch die heutige Forschung noch abarbeitet – etwa dann, wenn es um die Frage geht, ob der Tristan ein philosophischer’ Roman sei. Gesonderte Erwähnung verdient, weil die betreffenden Abhandlungen nicht nur in der Gottfried-Forschung Spuren hinterlassen haben, der Einbezug des Tristan bei Ehrismann 1919 (zum ‚höfischen Tugendsystem’), Müller 1924 (Übertragung des Gradualismus-Gedankens auf die mittelalterliche deutsche Literatur), Rehm 1928 (zum ‚Todesgedanken’ vom Mittelalter bis zur Romantik), Mockenhaupt 1924 (Frömmigkeit in Wolframs Parzival), Schwietering 1943 (der Tristan und die Mystik Bernhards von Clairvaux). Weitergewirkt in die Literaturgeschichte des Verfassers hat der (von heute aus leicht als reduktionistisch missverstehbare) Aufsatz von de Boor 1940. Eine erste und schon recht gründliche Auseinandersetzung mit latenter Hofkritik im Tristan bietet Keferstein 1936. Nach wie vor aktuell und neben den neueren Darstellungen von Assunto 1963 und Eco 1991 mit Gewinn zu lesen ist Glunz 1937: Die Kontextualisierung von Verfahrensweisen und Äußerungen in einzelnen Werken im Rahmen literar- und kunstästhetischer Schriften des Mittelalters bewahrt einerseits davor, einzelne Autoren vorschnell als originell und einzigartig zu bewerten, macht andererseits aber auch den Blick frei für tatsächlich Innovatives und Singuläres. In die Antike greifen z.B. aus Hoffa 1910, Traub 1933 und Schwander 1944 – prinzipiell wichtige Untersuchungen, die jedoch nicht immer genügend über mögliche Einflusswege reflektieren, daher manchmal im Motivgeschichtlichen stecken bleiben und nicht im eigentlichen Sinn rezeptionsgeschichtlich akzentuiert sind. Die wahrscheinlich wichtigste Arbeit aus diesem Zeitraum ist die von Ranke (1925) zur Allegorie der Minnegrotte, weil sie für Jahrzehnte eine Sichtweise geprägt hat, die sich an theologischen Deutungsmustern orientierte. Dass Gottfried in der Germanistik auch außerhalb Deutschlands zunehmendes Prestige gewinnt, zeigt die vergleichsweise hohe Zahl englischer und französischer Sekundärliteratur, die bis heute nicht abgenommen hat.

1951 bis heute

Bei den Publikationen ab 1951 fällt zunächst das Erscheinen einer Reihe weiterer wichtiger Hilfsmittel auf; hervorzuheben sind die ältere Einzelarbeiten zusammenfassende und ausbauende Darstellung des Wortschatzes von Mosselman 1954; der Index von Valk 1958 und die Wortkonkordanz von Hall 1992; der dreibändige Stellenkommentar von Okken 1984ff. Wichtig sind in Hinsicht auf einzelne Passagen auch immer übergreifende Spezialwörterbücher, in denen das Material aus Gottfrieds Roman aufgenommen und erläutert wird (wie Dalby 1964 zum ma. dt. Wortschatz im Bereich der Jagd). Selbstverständlich haben die neuen computergestützten Möglichkeiten der Lexikographie auch den Tristan erreicht (Sappler/Schneider-Lastin 1991). Stilistische Untersuchungen fristen heute eine unauffälligere Existenz, sind aber wieder mit 67 Abhandlungen vertreten. Ihr Schwerpunkt hat sich verschoben von der Deskription hin zu Versuchen, Stilspezifika für das Werkverständnis nutzbar zu machen (am deutlichsten wohl bei Christ 1977). Bei Analysen von Bauformen und Strukturen (11 Abh.) herrscht gegenüber dem vorhergehenden Zeitraum (10) Konstanz. Untersuchungen zu topographischen und Zeitdarstellungen (auf 26) und Beiträge zu realien- und kulturgeschichtlichen Themen (von 28 auf 67) haben sich dagegen mehr als verdoppelt. Reim- und Versanalysen sind weiter zurückgegangen (von 11 auf 4), offensichtlich aber nach wie vor nicht uninteressant geworden. Vergleiche zwischen Gottfrieds Tristan und anderen Fassungen haben sich von 13 auf 35 fast verdreifacht; das hängt damit zusammen, dass diese Vergleiche nicht mehr nur unter quellengeschichtlichem, sondern vermehrt auch unter dem Aspekt von Motivvergleichen stattfinden. Vergleiche mit Thomas – gefördert sicher durch die Publikation des Carlisle-Fragments 1995 – dominieren mit 24 der genannten 35 immer noch, aber unter motivgeschichtlicher, oft kulturwissenschaftlich angereicherter Perspektive werden nun auch wieder Berol und Eilhart interessant. Neu gegenüber der Forschung bis 1950 ist das gewachsene Interesse an der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rezeption (14 Untersuchungen). Und gefördert durch den allgemeinen Forschungstrend zur Mittelalterrezeption seit den späten 70er Jahren des 20. Jhs. sind Forschungen zur Rezeption in der Neuzeit beträchtlich angestiegen (von 13 auf mindestens 36 Beiträge). Darstellungen und Analysen bildlicher Darstellungen sowie zu Handschriftenillustrationen haben sich fast verzehnfacht (28 statt zwischen 1900 und 1950 drei Veröffentlichungen); hier liegt ein entscheidender Grund in der mediengeschichtlich und medientheoretisch induzierten Diskussion über das Verhältnis von Bild und Text. Diese Beobachtung führt zu Aspekten von Paradigmenwechseln:

Ältere und neuere Perspektiven und Methoden

Tomasek 2007, 237–248 gibt einen Überblick über „Grundpositionen der Werkanalyse seit dem 19. Jahrhundert“. Er unterscheidet zwischen 1. der moralisierenden Betrachtungsweise des 19. Jhs.; 2. einer Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Alterität, die dem Text ein Recht auf zeitgenössische Werte ebenso belässt wie die Möglichkeit, in seiner Zeit gegen das theoretisch Verpflichtende Alternativen zu entwickeln; 3. stilistisch-rhetorischen Untersuchungen mit Ausweitung in grundsätzlichere Fragestellungen; 4. einer traditionellen Texthermeneutik, die an einer Sinnrekonstruktion in Bezug auf das Textganze interessiert ist; 5. Herangehensweisen, die mit mehr oder weniger Anlehnung an postrukturalistisch-dekonstruktivistische Methodik und Axiomatik die Existenz eines einheitlichen Textsinns bestreiten. Diese Unterscheidungen sind wichtig und erhellend, lassen aber die Methoden- und Aspektvielfalt der Forschung seit etwa 1970 noch nicht deutlich werden: Nach der herkömmlichen Rubrizierung der Bibliographien müsste man weit über 400 Publikationen der letzten 30 Jahre unter der Sammelkategorie ‚einzelne Stellen, Motive, Passagen, Details, Rollen, literarische Figuren’ usw. einordnen – das macht nur noch für begrenzte Zwecke Sinn. Bei Steinhoff 1971 war diese Kategorie noch eine Restklasse, unter der bis 1950 24 Beiträge verbucht wurden, von 1951 bis heute aber die genannten über 400 hätten verbucht werden können. Steinhoff hatte einer genaueren Kategorisierung schon vorgearbeitet, indem er eine Sonderkategorie ‚Einzelprobleme’ ausgliederte, die wieder in einige besonders zentrale Themenbereiche aufgefächert wurde; im Überblick:

Veröffentlichung 1900–1950 1950–heute
Prolog und Akrostichon 5 38
edelez herze 2 9
Literaturexkurs 7 37
Gottesurteil 5 26
Minnegrotte 2 42
Musik, Kunst 3 3 0
‚Sonstiges’ 19 257
zus. 43 439

Die Relevanz der von Steinhoff gesondert aufgestellten und anfänglich noch nicht besonders umfangreich bestückbaren Kategorien hat sich also bestätigt – die Zuwächse sind fast durchweg enorm, meist sogar im Vergleich mit anderen Rubriken überproportional. Fächert man das ‚Sonstige’ auf, ergibt sich der Befund, dass sich hier der Bezug zu bestimmten Passagen oder speziellen Aspekten des Tristan löst zugunsten einer Bindung eben an verschiedene Paradigmen: Der seit langer Zeit prominente Text öffnet sich fast selbstverständlich für – jeweils – aktuelle Fragestellungen. Sein Erkenntniswert ist dabei im Prinzip zunächst nicht größer als der anderer Texte; aber er gewinnt sein Aussagepotenzial aus seiner Bekanntheit: aus der mittelalterlichen wie aus der seit dem 18. Jh. in der Forschung neu einsetzenden.

Dabei ergeben sich zwei gegensätzliche Gefahren: Der Text kann zum Steinbruch degradiert werden, aus dem man sich für bestimmte Zwecke bedient, ohne auf eine mögliche eigene Kohärenz Rücksicht zu nehmen. 2. Der Text gewinnt wegen seiner Popularität in der Diskussion um bestimmte Themen mehr Gewicht, als ihm eigentlich zukommt. Man vergleiche dazu die Sottisen hinsichtlich einer angeblichen ‚Verflachung’ des Liebestodes durch Konrad von Würzburg im Herzmaere durch ‚banales’ Wörtlichnehmen des Eucharistiegedankens aus dem Tristan-Prolog; hier hatte man sich daran gewöhnt, Gottfried als unerreichbares Muster zu sehen, und verkannte demgegenüber die Implikationen der Radikalität dieses Wörtlichnehmens ebenso wie die Tatsache, dass Konrad das Motiv des gegessenen Herzens übernommen, durch seine Berufung auf Gottfried jedoch in einen neuen Kontext gestellt und somit Re-Interpretationsarbeit geleistet hat.

Widersprüche?

Was man als Widersprüchlichkeiten usw. im Text betrachtet, scheint mir daher nicht unbedingt immer aus diesem selbst zu resultieren. Je mehr und je kleinteiligere Aspekte untersucht werden, desto eher muss es fast notwendig zu Widersprüchen kommen. Der Tristan öffnet sich für alle möglichen Ansätze; aber er verschließt sich deswegen auch gegenüber dem Versuch, alle diese Ansätze zu vereinen.

Neue Paradigmen

Von den seit ca. 1970 in der Altgermanistik in regem Wechsel neu auftretenden Paradigmen hat sich die Literatursoziologie auf den Tristan vergleichsweise wenig ausgewirkt (engagierte Versuche haben vorgelegt Seitz 1979 und Bräuer 1985; speziell zur Kaufmannsdarstellung Buschinger 1987; zur Rolle von Intellektualität in der Stadtkultur Ernst 2008; Thesen zu Gottfrieds Gönner: Krohn 1997; zusammen mit semiotischen und Gender-Aspekten Schultz 1996; frühe Beiträge in Bezug auf die in germanistischer Mediävistik und Geschichtswissenschaft immer aktueller gewordenen Kategorien mittelalterlicher Privatheit und Öffentlichkeit: Wenzel 1986b, 1988). Beziehungen zu diesem Paradigma haben sich ergeben durch die Verortung des Textes in einer Stadt und mögliche Bindungen an einen Hof – aber entsprechende Versuche sind ins Stocken geraten, weil städtische Literatur im Mittelalter noch keine so ausgeprägten Konturen besitzt wie die bürgerliche Literatur seit dem 18. Jh. Literaturpsychologische Ansätze sind in Bezug auf Gottfried ebenfalls spärlich geblieben; die Übertragung Freudscher Theorien und Axiome auf mittelalterliche Verhältnisse hatte sich zu sehr diskreditiert, als dass noch jemand grundlegende Anstrengungen unternommen hätte. Das ist insofern zu bedauern, als die Fortführungen und Umakzentuierungen Freuds durch Lacan durchaus Ansatzpunkte für entsprechende Sichtweisen auf den Tristan, möglicherweise auch auf die beiden Sangsprüche erlauben. Interessante Grundlagen für psychologische Deutungen bieten etwa Vrablik 1989 und Altpeter-Jones 2009. Affinität zum Psychologischen weisen die zahlreichen Untersuchungen zu Identitätskonzepten auf (Gottzmann 1989, Hohenberg Thompson 1994, Feistner 1996, Haug 1996, Schausten 2001, Hermann 2006, Koch 2006, Becker 2009) sowie emotionsanalytische Arbeiten (Tomasek 1999, Bleumer 2006, Sassenhausen 2007, Eming 2009). Strukturalistische Arbeiten sind in der Gottfried-Forschung eher spärlich und selten so elaboriert wie bei Simon (1990 a). Deutliche Einflüsse auf die Gottfried-Forschung hat dagegen der semiotic turn genommen: Das Spektrum reicht von dezidiert zeichentheoretisch fundierten Abhandlungen bis zu Beiträgen, in denen der Terminus ‚Zeichen’ mit eher wissenschafts-umgangssprachlicher Bedeutung verwendet wird (s. etwa Raudszus 1985, die allerdings nützliches Material bietet). Verstärkt Interesse gefunden hat die Zeichenfunktion von Körpern, so dass auch für den Tristan einige Untersuchungen zu verzeichnen sind, die sich diesem Zusammenhang widmen (Draesner 1996, Schulz 2007, Kaminski 2008). Dass diskursanalytische Arbeiten in spürbarem Ausmaß vorhanden sind, ist weniger Folge einer Mode als vielmehr des Sachverhalts, dass der Tristan über seine Inhalte an einer ganzen Reihe von mittelalterlichen Diskursen beteiligt ist – literarischen, ethischen, religiösen, rechtlichen, ästhetischen. Zu allen diesen Bereichen lagen schon recht früh Untersuchungen vor; aber neuere Diskurstheorien in der Tradition Foucaults mit Fortführungen etwa bei Link und Jäger haben die Untersuchungsrichtung neu akzentuiert. Es geht nicht mehr nur um die Feststellung von Parallelen und Unterschieden zwischen Texten, was die Behandlung spezieller Themen betrifft, sondern vor allem um die aktive Gestaltungskraft von Diskursen etwa hinsichtlich der Strukturierung ihrer Gegenstände (vgl. die Arbeiten von Wharton 1990, Meyer 1996, Thibault-Schäfer 1996, Haug 2000, Stevens 2005, Tomasek 2005, Clason 2008b). In breitem Ausmaß ist die Tristan-Forschung auch von Fragestellungen der Mediengeschichte und Medientheorie (mit Subkategorien wie Text und Bild, Vergessen/Erinnerung, Visualität, Wahrnehmung, Gesten/Gebärden, Mündlichkeit/Schriftlichkeit) erfasst worden; Überschneidungen mit anderen Aspekten sind hier besonders zahlreich, weshalb hier keine Namen aufgeführt werden. Auch Gendertheorie und feministische Perspektiven fanden im Fall des Tristan Anwendung (von Ertzdorff 1984, Classen 1989, Dallapiazza 1995, Rabine 1995, Diem 1999, Sterling-Hellenbrand 1999 und 2001, Maier-Eroms 2009, Uttenreuter 2009). Interessant wäre eine Ausweitung dieser Perspektiven in die neuzeitliche Rezeptionsgeschichte – dort könnte man nämlich feststellen, wie lange Gottfriedsche Rollenkonfigurationen (oft unter Inkaufnahme von Missverständnissen) weitergewirkt haben. Und auch die Erzähltheorie – früher eher allgemeiner, mittlerweile häufiger unter Anlehnung an die Narratologie Genettes – hat in die Gottfried-Forschung Einzug gehalten (Schultz 1987a und b, Simon 1990b, Peschel-Rentsch 1991, Classen 1992, Haug 1996 und 2002, Kellner 1999, A. Weber 1999, Haferland 2000, Schausten 2001, Casson-Szabad 2006).

Kulturwissenschaftliche Ansätze

Fast alle diese Aspekte kann man je nach Ausrichtung dem Paradigma eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes im Sinn der Cultural Studies zu- oder unterordnen. Diese weisen in Deutschland z.T. weit zurückreichende Traditionen vor allem in den Bereichen der Kulturanthropologie, der Kulturphilosophie und der Soziologie auf, erhielten aber seit den 60er Jahren einen von England und später den USA ausgehenden neuen Impetus durch interdisziplinäre Ausrichtung und die Erforschung der Konstruktion von Alltagspraxis einschließlich der Kunst. Kulturrelevante Denk- und Verhaltensweisen, Kommunikationsformen, Begriffe u.a.m. werden des Charakters der Selbstverständlichkeit entkleidet, indem man sich bemüht, sie als Produkte gesellschaftlicher Übereinkunft zu erweisen (sogar Textkritik wurde in diesen Ansatz eingebunden: Baisch 2006). Die Soziologie steuert dazu Analysen gesellschaftlicher Ordnungen und Regeln bei; die Psychologie kann die Internalisierung literarischer Gefühlsvorgaben untersuchen; die Semiotik beschäftigt sich mit der Rolle von Zeichen im Rahmen gesellschaftlicher Kommunikation; Medientheorie untersucht die Einflüsse spezieller Medien auf die Kommunikation (ein Medium ist nicht nur Transportmittel für Informationen, sondern steuert und verändert diese auch), gendertheoretische Untersuchungen versuchen die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechterrollen nachzuvollziehen und liefern dadurch eine Kritik an deren Festschreibung; Diskursanalysen zeigen, dass Diskurse es nicht mit starren Objekten zu tun haben, sondern ihre Gegenstände auch beeinflussen und so selbst Realitäten schaffen können.

Rezeptionsgeschichte

Unabhängig von diesem cultural turn (und vor ihm) lässt sich ein beachtlicher Aufschwung der Rezeptionsgeschichte feststellen. Im Fall der Gottfried-Forschung zeigen die meisten rezeptionsgeschichtlichen Arbeiten nur begrenzte Bindung an die Rezeptionsästhetik der sog. ‚Konstanzer Schule’ (Fuhrmann, Iser, Jauß, Preisendanz) und ihrer Nachfolger/innen; sie sind aber fast durchweg ertragreich, weil sie mit der Rezeptionsästhetik ein wesentliches Element teilen: Mit der Verlagerung der Perspektive von Werk und Autor auf die Reaktion bei Zeitgenossen und Nachfahren können sie Sinnkonstruktionen der Wissenschaft aufbrechen oder relativieren – durch Befunde zu anderen Sinngebungen und Lektüredispositionen.

Zu einem eigenen kleinen ‚Subparadigma’ haben sich Vergleiche zwischen Gottfried und Konrad von Würzburg entwickelt; sie besitzen schon eine längere Tradition, vor allem in Bezug auf Stilvergleiche (vgl. Halbach 1930 und zahlreiche kleinere Untersuchungen), verlagern sich aber zunehmend auf den kulturwissenschaftlichen Bereich. Dabei werden durchaus nicht nur Tristan und Konrads Herzmaere verglichen (Kiening 2007); unter speziellen Aspekten ergeben sich auch Vergleiche mit dem Engelhard (Jackson 2003, Witthöft 2005, Marani 2006) und dem Partonopier (Ridder 1999, Dallapiazza 2003, Classen 2007).

Gesamtcharakteristik

Versucht man sich an einer Bilanz des heutigen Forschungsstands, kann man prinzipielle quantitative Konstanz bei einer gewissen inhaltlichen Zerfaserung konstatieren. Diese Zerfaserung ist aber kein vermeidbares Manko, sondern notwendige Folge der Auflösung der literaturwissenschaftlichen Kategorie ‚Autor’. Damit wird nicht der radikalisierten These vom Tod des Autors das Wort geredet (für bestimmte Fragestellungen ist dieser bei Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen nach wie vor relevant). Der Verlust deutlicher Konturen der heutigen Gottfried-Forschung resultiert aus einer fehlenden Mitte; die Möglichkeit der Existenz einer solchen Mitte wird aus theoretischen Erwägungen heraus zunehmend bestritten. Die einzige Mitte, die bleibt, ist künstlich: Das Gottfried-Bild der Wissenschaft wird zusammengehalten durch den Tristan; aber angesichts lediglich vager biographischer Bezüge ist der Name ‚Gottfried’ nur Sigle für ‚Verfasser des Tristan’. Dieser Tristan jedoch entzieht sich einer einheitlichen Deutung. Damit ist auch die Zeit großer Gottfried-Synopsen wohl vorbei. Bei all ihren Qualitäten zeigen dies doch gerade die zuletzt erschienenen Darstellungen von Huber 2000 (22001, neu konzipierter Nachfolgeband von Huber 1986) und Tomasek 2007b: Sie bieten Vieles und Wesentliches – aber umfassend repräsentativ konnten sie nicht mehr sein (was selbstverständlich auch für meine Einführung gilt). Was aber möglich ist und bald realisiert werden sollte, bevor noch mehr Unübersichtlichkeit um sich greift, das ist eine Zusammenfassung und Ergänzung vorliegender Bibliographien, geordnet nach praktikablen und forschungsadäquaten Kategorien und zusätzlich erschlossen durch ausführliche Register. Möglicherweise stellen sich dann bei einer Auswertung ja doch neue verbindende Elemente heraus.

Einführung in das Werk Gottfrieds von Straßburg

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