Читать книгу Spirituelle Sterbebegleitung - Rüdiger Maschwitz - Страница 8
ОглавлениеSterben ist einmalig
Es gibt zwei Fragen, die zum Sterben immer wieder gestellt werden: Wie ist das Sterben? Wie wird mein Sterben sein? Die beiden Fragen sind ähnlich und werden von Menschen jeden Alters gestellt. Natürlich spitzen sich diese beiden Fragen in einer akuten Situation zu. Doch es gibt dazu nur eine Antwort: Sterben ist einmalig, ganz im Sinne des Wortes. Jeder Mensch stirbt einmal. Darüber hinaus ist jedes Sterben eines Menschen in seiner Art und Weise einmalig. Jedes Sterben ist einzigartig. Manchmal ähnelt sich etwas, im Grunde genommen lässt sich aber keine Art und Weise des Sterbens vorhersagen. Ich habe Menschen erlebt, da dachte ich, sie sterben in Frieden und völliger Gelassenheit, und dann war es ein schweres Sterben voller Kampf und Festhalten. Bei anderen Menschen erwartete ich eher diesen Kampf, und sie starben in Frieden und tiefer Stille.
Diese Erfahrung »Sterben ist einmalig und höchst individuell« gilt ganz unabhängig vom Glauben und vom Vertrauen zu Gott; sie gilt unabhängig von einer langen Meditationspraxis, und erst recht ist sie unabhängig von jedem Alter.
Dabei ist es wichtig, das eigentliche Sterben von den Sterbemöglichkeiten, die es im Leben immer wieder geben kann, zu unterscheiden. So können schwere Verletzungen durch Unfälle, Krankheiten wie Herzinfarkte, schwere Lungenentzündungen, Folgen von Thrombosen und Ähnliches mehr an den Rand des Todes führen. Dank der Fortschritte in der Medizin, aber auch aufgrund der inneren Kraft des vom Tode Bedrohten kann sich dies aber auch noch einmal wenden und der Mensch ins Leben zurückfinden.
So haben wir es erfahren, als meine Mutter nach einem Unfall im Sterben lag (→ Seite 46 ff.). Als wir bei ihr im Krankenhaus waren, rüttelte eine der Enkelinnen ganz erschüttert und heftig an ihrem Bett und rief: »Du darfst noch nicht sterben, du musst doch bei meinem Fest dabei sein.« Die Botschaft erreichte sie. Sie war mit einem Schlag hellwach und schaute ihre Familie an. Gegen alle Wahrscheinlichkeit gesundete sie. Von dieser Frau gibt es noch einen zweiten Bericht. Ein halbes Jahr bevor sie in aller Stille und in tiefem Frieden wirklich starb, drohte sie zu ersticken. Sie wurde ins Krankenhaus eingeliefert, und der leitende Chefarzt sagte auf Lateinisch etwas über ihren Zustand.
Vielleicht gebrauchte er das Wort »prämortal«. Die alte Frau konnte Latein, hörte dieses Wort und verstand es anscheinend. Sie zuckte zusammen und machte die Augen auf. Sie erholte sich, stand später wieder auf und lebte noch ein halbes Jahr.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass nicht jeder Sterbeprozess zum Tod führt. Menschen können Sterbeerfahrungen machen und dabei nicht sterben. Manche von ihnen haben in eindrucksvollen Berichten ihre Nahtod-Erfahrungen geschildert (Moody). Sie wussten danach etwas über den Sterbeprozess und konnten es mitteilen, aber über ihr letztes Sterben und den Tod sagte es nichts aus. Sterben ist und bleibt einmalig.
Wann beginnt das Sterben?
Eine weitere Frage, die immer wieder gestellt wird, lautet: »Wann beginnt das Sterben?« Meist ist damit auch eine Altersfrage verbunden: »In welchem Alter beginnt das Sterben?« Manchmal ist auch gemeint: »Kann man erkennen, wann bei einem Menschen der eigentliche Sterbeprozess einsetzt?« Dieser Frage gehen wir weiter unten nach.
Oft steht hinter der Frage: »Wann beginnt das Sterben?«, die Hoffnung, dass man das Leben von dem Sterben abgrenzen kann. Dahinter steht die Erfahrung, dass viele Menschen sich ab Mitte 50 und ab Anfang 60 mit dem Älterwerden beschäftigen. Wer akzeptiert, dass er älter geworden ist, wird sich meist auch mit dem Tod auseinandersetzen oder, als gegenteilige Möglichkeit, versuchen, ihn aus dem Leben herauszuhalten. Dann begegnen uns ältere Menschen, die in Kleidung und Styling nicht älter werden wollen. Die alte Spruch: »Von hinten Lyzeum (Schule), von vorne Museum«, trifft in vielen Fällen zu. Der Mensch will nicht älter werden, um nicht zu sterben.
Dabei beginnt das Sterben eigentlich schon vor der Geburt (→ Seite 28 ff.). Mit dem Geborenwerden gehen wir stetig auf den Tod zu. Das gilt für uns alle und ganz allgemein. Aber auch konkret kann uns der Tod jederzeit treffen. Viele Menschen haben Angst, nicht alt zu werden, etwas vom Leben zu verpassen. Dabei kann die Angst so lähmen, dass sie das Leben heute wirklich verpassen. Wer sich bewusst ist, dass allein durch unsere Umwelt, durch die Teilnahme am Straßenverkehr oder durch andere äußere und innere Faktoren der Tod jederzeit möglich ist, lernt den Tag schätzen. Die Zahl der Tage oder Jahre sagt nichts aus über unsere Lebensqualität.
Dag Hammarskjöld sagt in seinem Tagebuch: »Noch einige Jahre, und dann? Das Leben hat nur Wert durch seinen Inhalt – für andere. Mein Leben ohne Wert für andere ist schlimmer als der Tod.«
Trotzdem trifft es uns immer wieder besonders, wenn ein Mensch vor der Zeit gehen muss, vor allem wenn es noch ein Kind ist. Doch auch hier liegt der Wert des Lebens nicht in den gelebten Jahren. Natürlich muss ein Kind nicht wissen, dass es sterben kann. Es drängt nach außen und will die Welt erkunden, sich seinen Platz suchen, sich entwickeln und sich die Zukunft vorstellen. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite aber sind Kinder schrecklich realistisch. Meine Erfahrungen mit todkranken Kindern zeigen, dass die Kinder – egal wie die Eltern sich verhielten – von ihrem nahen Tod wussten.
Eine Geschichte beschreibt dies:
Einmal noch will ich den Sonnenaufgang fangen
Werner war zehn Jahre alt. Er hatte Krebs. Schon ein paar Mal war er für mehrere Wochen in der Klinik gewesen. Er bekam Spritzen, ihm fielen die Haare aus, er hatte Schmerzen, Angst und Hoffnung. Er fühlte sich allein, auch wenn er von seinen Eltern Besuch hatte.
Er hörte den Ärzten zu, wenn sie ihm erzählten, was sie tun wollten. Er tat nichts, was er nicht tun sollte. Schon lang spielte er nicht mehr Fußball, dabei war er vor einem halben Jahr noch der beste Stürmer seiner Mannschaft gewesen. Er wollte gesund werden und fühlte sich immer schwächer. Seine Ärztin tröstete ihn: »Halte durch, wir können es schaffen!« Aus seiner Klasse kamen ihn hin und wieder Kinder besuchen. Manche Kinder durften auch nicht kommen, sie sollten das Elend nicht sehen. »Ich bin kein Elend«, dachte Werner dann, manchmal wurde er richtig wütend. Seit gestern war er wieder in der Klinik. »Die Werte waren nicht gut«, hatten sie gesagt.
Er wollte raus hier, nur ein bisschen spazieren gehen. Leise verließ er das Krankenhaus, er kannte sich aus. Er hatte sein ganzes Geld dabei. Niemand achtete am Hinterausgang des Kinderkrankenhauses auf den Jungen. Still und leise verschwand er. Er lief die Straße entlang und stieg in den Bus, der gerade ankam. Werner sah alles an sich vorbeiziehen . . . So sah er den Bahnhof und stieg aus.
Jetzt wusste er, was er wirklich wollte: Er wollte das Meer sehen, den Sonnenuntergang am Meer. Zu Opa wollte er reisen und allein ans Meer gehen. Es war toll dort. Langsam ging abends rot die Sonne unter, bis sie am nächsten Morgen wieder aufging. Noch nie war er so lang wach geblieben, er wollte jetzt die ganze dunkle Nacht wachen und dem Mond zusehen.
Am Schalter holte er eine Viertel-Kinderkarte, wer noch zwei Schwestern hat, reist billiger. Sein Geld reichte. »Einmal Grömitz – erst Zug – dann Bus«, hatte er gesagt.
Der Beamte lächelte: »Du weißt ja Bescheid. Fährst du ganz allein?« Werner zögerte nicht: »Nein! Ich wollte nur die Karte selbst kaufen.« Und leise sagte er: »Können Sie mir den Bahnsteig und den nächsten durchgehenden Zug sagen, dann weiß ich genauso viel wie die anderen?«
Wie zwei Verschwörer tauschten sich die beiden aus. Werner ergatterte einen Fensterplatz und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Es reichte gerade noch für den letzten Bus nach Grömitz.
Die Fahrerin weckte den Jungen an der letzten Station: »Sag mal, wer holt dich denn ab?«
Werner erschrak und stotterte: »Mein Opa – Telefon 7890.« Die Fahrerin benachrichtigte die Zentrale per Funk. Sie nahm den Jungen – so groß er schon war – in den Arm und wartete. Opa kam allein. Das war gut. Opa war schon alt, bald 70 Jahre, aber er war stark wie ein Bär.
Werner sah klein aus in seinen Armen, und die Arme waren fest und sicher. »Junge, was machst du denn allein hier?«, hörte Werner jemand sagen. Die Stimme war leise und brüchig. Werner staunte und sah Großvater an: »Ich wollte den Sonnenuntergang an deinem Meer sehen – einmal noch – auf unserem Platz. Und den Sonnenaufgang will ich fangen – ganz allein.«
Opa schaute Werner in die Augen, und Werner sah in Opas Augen Tränen. Werner drückte sich fest an ihn: »Du musst nicht um mich weinen, ich lebe noch ewig.«
Opa atmete tief aus.
Werner sah den feinen Atemhauch weiß in der Abendluft unter der Laterne. Und der Atemhauch löste sich auf. »So wie dem Atem geht es mir auch mal, Opa. Ich werde immer weniger. Aber das ist nicht schlimm. Ich habe keine Angst.«
Opa schluckte und sah Werner wieder ins Gesicht: »Ich bin über jeden Tag froh, den du lebst.«
»Na klar, Opa – und morgen fange ich die Sonne. Sei nicht traurig – der Tod ist mein bester Freund. Manchmal spricht er abends mit mir. Aber verrate es nicht Mama, Papa, Oma, Kristin und Birgit. Das ist mein Geheimnis.«
Sterben geschieht mitten im Leben. Sterben ist altersunabhängig und jederzeit möglich. Dies vergessen wir verständlicherweise gern, weil wir leben möchten. Aber es gilt die alte Weisheit: Das einzig Selbstverständliche ist der Tod.
Der römische Brunnen
Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt
er voll der Marmorschale Rund,
die, sich verschleiernd, überfließt
in einer zweiten Schale Grund;
die zweite gibt, sie wird zu reich,
der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.
Conrad Ferdinand Meyer