Читать книгу Das Leben wohnt nebenan - Rebecca Hünicke - Страница 4
Der Sensenmann
ОглавлениеMeine zweite Besucherin am Morgen ist Martha. Meine mütterliche Freundin betritt wie jeden Tag mit einem Beutel in der Hand mein Zeilenreich. Zielstrebig trottet sie auf ihren alten Ledersessel zu, wo sie sich mit einem lauten Ächzen niederlässt. Erwartungsvoll blickt sie zur Theke, auf der ich längst einen Kaffeebecher zum Abkühlen platziert habe. Im Gegensatz zu Frederick kann sie keinen heißen Kaffee trinken. Lauwarm mit einem zusätzlichen Schluck kaltem Wasser schmeckt er ihr am besten. Als Martha mich, ihre liebste Freundin, mit der Tasse auf sich zukommen sieht, strahlt sie mir entgegen. Ich stelle Marthas Kaffee auf einen kleinen Holzhocker direkt neben dem Sessel. Diese Prozedur wiederhole ich fünfmal am Tag. So viele Tassen trinkt sie bis zum Ladenschluss um achtzehn Uhr.
„Ich danke dir, mein Kind“, sagt Martha an mich gewandt und übergeht damit einen Morgengruß.
„Ich wünsche dir einen schönen Morgen“, entgegne ich und drücke dabei leicht Marthas Schulter.
So habe ich mit jedem meiner Freunde ein ganz eigenes Ritual.
Für Martha ist meine Buchhandlung Zeilenreich wie ein Wohnzimmer. Sie sitzt den ganzen Tag in ihrem alten Sessel, den Frederick und Diether aus ihrer Wohnung hierher geholt haben. Das dunkelbraune Leder ist inzwischen an vielen Stellen zerschlissen. Hässliche Falten und Abschürfungen stellt er bereits fast überall zur Schau.
Mariola ist entsetzt über das Aufstellen des alten Möbels gewesen, denn ihrer Ansicht nach würde das alte Ding nur den gemütlichen Laden verschandeln. Außerdem würde bereits ein altes faltiges Ding, sie meinte Martha damit, bereits den ganzen Tag im Laden herumlungern, deshalb könne man hier liebend gern auf ein weiteres verzichten.
Es war der Tag, an dem Mariola von ihrer großen Liebe verlassen wurde, und ein Tag nachdem Martha dem Sensenmann noch einmal entkommen war. An Tagen, an denen Mariola schlechte Laune hatte, sagte sie jedem meist sehr unsensibel ihre Meinung ins Gesicht.
Ich wollte natürlich beiden beistehen und ließ Martha gewähren, und Mariola schlug ich vor, sie könne sich einfach mit dem Rücken zu Alois stellen, so nennt Martha ihren Sessel, dann wäre es so, als sei er gar nicht in ihrer Nähe.
Widerwillig musste sich Mariola mit Alois arrangieren, denn sie wollte auf ihre Besuche bei mir, ihrer besten Freundin, nicht verzichten. Am nächsten Tag entschuldigte sich Mariola bei Martha, als sie von mir erfuhr, dass Martha zwei Tage zuvor ihrem Leben ein Ende setzen wollte.
Martha war der Ansicht gewesen, sie hätte sich lang genug auf dieser Welt herum geplagt, und ihre Zeit zu gehen wäre nun gekommen. Voller Vorfreude auf irgendetwas Neues, was auch immer, hatte sie ihren Gasherd bis zum Anschlag aufgedreht und sich zufrieden in ihr Bett gelegt. Während sie immer länger darauf gewartet hatte, dass der schwarze Mann ihr seine Hand reichte, hatte sie irgendwann einen Wutausbruch bekommen, weil er sie so lange warten ließ. Empört war sie zum Herd gestapft und hatte noch mal überprüft, ob er auch wirklich an war. Erleichtert hatte sie sich erneut hingelegt, ihre Hände auf der Bettdecke gefaltet und war dann irgendwann in aller Seelenruhe eingeschlafen.
Ein lautes Donnern hatte Martha hochschrecken lassen. Im ersten verwirrten Moment hatte sie geglaubt, sie hätte den Sensenmann verpasst, und er hätte nach ihr gerufen. Schlaftrunken hatte sie sich aus dem Bett gehievt, war in ihre Filzpantoffeln geschlüpft und zur Wohnungstür geschlurft. Während sie einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte, hatte sie sich gefragt, warum er nicht einfach zur Tür hereingekommen war. Oder hatte sie die Tür abgeschlossen? Betrat der Tod wie jeder Mensch ein Gebäude durch eine Tür? Durch eine geöffnete Tür? Sie hatte sich vorgenommen, ihn gleich direkt nach dem Öffnen danach zu fragen, bevor sie diese Fragen nur unnötig mit sich herum schleppen musste.
Erwartungsvoll hatte Martha etwas zittrig den Wohnungsschlüssel im Schloss gedreht, die Klinke heruntergedrückt, die Tür aufgezogen und… in ein sorgenvolles Gesicht geschaut. Dieses Gesicht hatte sie aber nicht erwartet. Martha war davon ausgegangen, vor ihrer Tür würde ein Skelett in einen schwarzen Umhang gehüllt stehen, dessen Haupt mit einer schwarzen, spitzen Kapuze bedeckt sei und vor dessen Gesicht das silberfarbene Schneideblatt einer Sense aufblitzten würde.
Marthas Enttäuschung war riesig gewesen, und das konnte ihr Gegenüber ihr ansehen. Die Wohnungsinhaberin hatte ihrem Besucher gesagt, er bräuchte sich nicht zu verwandeln, schließlich wisse sie ja, wer er sei. Sie hätte keine Angst vor ihm. Außerdem hätte sie ihn selbst zu sich eingeladen.
Ich hatte nur verständnislos mit dem Kopf geschüttelt und Martha gefragt, ob sie vielleicht gestürzt sei und Kopfschmerzen hätte. Jetzt hatte Martha nur noch Bahnhof verstanden und den Tod aufgefordert, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Anstatt zu antworten, hatte ich Marthas Wohnung betreten und mich hektisch nach einem erklärenden Zeichen umgeschaut. Alles schien in Ordnung gewesen zu sein, doch als Martha in die Küche zum Ofen geschlichen war und versucht hatte, ihn heimlich auszudrehen, war mir schlagartig klar gewesen, was Martha versucht hatte. Ich war so entsetzt über ihr Handeln gewesen, dass ich vor Angst aufgeschrien und geweint habe.
In einem einstündigen Vortrag über Dummheit hatte meine mütterliche Freundin eine Litanei an Vorwürfen von mir über sich ergehen lassen, sodass sie sich am Ende für ihr Verhalten geschämt hatte. Und dumm hatte Martha sich wirklich angestellt. Sie hatte ihre Reise in eine andere Welt nicht richtig geplant. In ihrer Vorfreude hatte sie vergessen, das Küchenfenster zu schließen, durch das das Gas hinausziehen konnte. Seitdem hatte ich es Martha zur Auflage gemacht, jeden Tag in meiner Buchhandlung zu erscheinen, um sich selbst vor einer großen Dummheit zu bewahren.
Ich stelle ein Tablett mit Kaffee, Wasser, Milch, Zucker und Tassen mit Löffeln auf einem Tischchen vor Martha ab.
„Martha, ich muss mal eben ins Lager und die Weihnachtsdeko rauskramen“, sage ich beim Abstellen, damit sie weiß, wo ich zu finden bin, falls sich ein Kunde zu früh in meinen Laden verirren sollte.
Meine ältere Freundin registriert wie immer, was ich sage, sieht sich aber nicht genötigt, mir zu antworten. Für sie ist es gerade viel wichtiger Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes und Dr. Watson in Dartmoor auf ihrer Suche nach dem grauenhaften Hund von Baskerville zu begleiten.
Hinter meinem Tresen führt eine Tür zu den weiteren Räumlichkeiten, die aus einer winzigen Küche, einem genauso kleinen Bad und einem Lagerraum bestehen. Die Tür meines Abstellraumes liegt direkt gegenüber der Tür, die in die Buchhandlung führt.
Ich betrete mein Lager und muss erst mal viele Kisten hin und her räumen, um mir einen Weg zu meinen Weihnachtssachen zu bahnen. Den Raum betrete ich sehr ungern, denn es befindet sich auch die Heizungsanlage dort, die ihn im Winter so extrem aufheizt, dass man schnell das Gefühl bekommt, an einem Saunagang beteiligt zu sein. Deshalb ist es mir ein großes Anliegen, ihn so oft wie möglich zu meiden.
Als sich die ersten kleinen Schweißtropfen auf meiner Stirn sammeln, überlege ich kurz, ob ich mein Vorhaben wieder abbrechen sollte. Das Ergebnis meiner Überlegung spricht sich gegen mich aus. Meine Buchhandlung, ohne das übliche Bling-Bling ins neue Jahr zu entlassen, das würde mir der eine oder andere Kunde letztendlich doch übel nehmen. Manchmal waren sie wie Bücher mit sieben Siegeln, die es erfordert zu entschlüsseln, so wie ein Kunde vom letzten Monat.
Manche Besucher meines Ladens haben nicht nur eine ganz genaue Vorstellung von dem, was sie gerne kaufen wollen, sondern gehen auch davon aus, ich könne bei ihrem Eintreten in die Buchhandlung direkt erahnen, was sie von mir erwarten, ohne dass sie sich in irgendeiner Form bezüglich ihres Anliegens äußern müssten.
Also ergab es sich, dass ein Kunde und ich uns schweigend gegenüber standen, bis dieser unsicher fragte, ob ich ihn nicht bedienen wolle. Ich erwiderte ganz freundlich, er müsse mir schon verraten, was er denn suche, damit ich sein Problem eventuell lösen könne. Anstatt seinen Wunsch zu äußern, meckerte er los, er hätte kein Problem, und wenn doch, würde er zu einem Psychiater gehen und nicht in einen Buchladen. Er wolle lediglich ein Buch kaufen.
Während der vermeintliche Kunde die Lautstärke seiner Stimme erhöhte, blieb ich dagegen immer noch freundlich, stimmte ihm zu und fragte ihn, welches Buch er denn gerne hätte. Da er sich aber so in Rage geredet hatte und äußerst wütend über mein Verhalten war, hatte er ganz vergessen, welches Buch er eigentlich haben wollte. Weil ihn das dann noch mehr aufregte und er kurz davor war, irgendetwas zu zertrümmern, so schien es mir, verließ er mit knallender Tür mein Zeilenreich und schimpfte auf der Straße weiter vor sich hin und schoss dabei eine leere Getränkedose auf die Straße.
Ein vorbeifahrendes Auto kollidierte leicht mit dem fliegenden Gegenstand, was den Fahrer des Wagens wiederum in Wut versetzte und dieser dann mit quietschenden Reifen mitten im Berufsverkehr anhielt und total aufgebracht sein Auto verließ. Ohne groß zu reden, gingen die beiden Männer aufeinander los.
Am Ende stellte sich heraus, dass auch der Fahrer, dessen Fahrzeug nicht einen Kratzer abbekommen hatte, er dagegen aber reichlich, nur auf so eine Gelegenheit gewartet hatte. Er hatte schon seit Stunden unter Strom gestanden, wegen einer Sache, die ihm auf der Arbeit schlechte Laune bereitete. Die fliegende Dose gegen seinen schicken Mercedes war für ihn die Gelegenheit, den angestauten Frust zu entladen.
Das Spektakel auf der Straße war so spannend gewesen, dass sogar Martha ihren Schmöker zur Seite gelegt hatte. Gaffend hatte sie mit mir am Schaufenster gestanden und insgeheim Partei für den Autofahrer ergriffen. Sie mochte keine Menschen, die sich gerne mit ihren protzigen Autos zur Schau stellten, aber dieser hier hatte sie ein bisschen an Max Schmeling erinnert, den sie seit ihrer Jugend sehr verehrte. Eigentlich interessierte sie sich für keinen Sport, aber Boxen fand sie schon immer ganz aufregend.
Ein einziges Mal hatte sie einen richtigen Boxkampf gesehen. Der hatte jedoch nicht in einer Halle mit Boxring, Richter, zwei Akteuren und vielen Zuschauern stattgefunden, sondern auf der Straße. Es war ein spontaner Straßenkampf gewesen. Martha war aus dem Kino gekommen, und davor hielten sich zwei Gruppen junger Männer auf, die sich übel beschimpft hatten. Es war einer der typischen Revierkämpfe, die zu der Zeit zwischen einigen Banden geherrscht hatte, die der Ansicht waren, die Stadt gehöre ihnen allein.
Ein großer dunkelhaariger Typ mit schlaksiger Figur war vom Anführer seiner Gruppe zum Kampf Mann gegen Mann bestimmt worden. Die anderen hatten einen Stämmigen mit einer hässlichen Narbe an der Stirn geschickt, die ihm Ähnlichkeit mit Frankenstein verlieh, in den Ring, von dem Martha sich gefragt hatte, wie er dem ersten Schlag des Großen ausweichen wolle. Die beiden Kämpfer hatten nicht lange gefackelt und schlugen sich wechselseitig nieder, bis der Große am Ende reglos liegen geblieben war. In dem Moment hatte Martha sich unsterblich in den reglosen Kämpfer verliebt.
Diese unsterbliche Liebe hatte genau zwei Wochen gehalten, weil ihr großer Kämpfer schon der nächsten jungen Dame imponierte. Martha hatte er mit einem einzigen Satz „Ich hab genug von dir!“ verlassen, und er hatte sich dann seiner neuen Eroberung gewidmet.
Marthas Enttäuschung hatte einen Tag lang gedauert, bevor sie sich schnell mit dem nächsten Kämpfer einer anderen Straßengang getröste. Liebend gern hatte sie ihrer neuen Eroberung das eine oder andere über anstehende Aktivitäten ihrer verflossenen Liebe verraten.
Martha war kein Kind von Traurigkeit gewesen, das Gegenteil traf es da genauer. Sie hatte gelernt ihre Schönheit gezielt als Macht einzusetzen, um sich die Männer gefügig zu machen. Ihr Körper war zu einer Art Superwaffe mutiert, mit der sie das andere Geschlecht in den Wahnsinn treiben konnte. Ihr war ganz genau bewusst gewesen, wie kurz ihr Rock bei welcher Art Mann zu sein hatte.
Diese Zeit ihres Lebens hatte sie in vollen Zügen genossen und lernte dadurch ihre Unabhängigkeit zu lieben. Eine ehrbare Frau zu sein, war für Martha kein Lebensziel gewesen. Sie hatte sich auch nie nach einer schreienden Horde Kinder gesehnt, die sie zu ehrbaren Bürgern erziehen müsste. Doch mit zunehmenden Alter wäre es manchmal schön gewesen, einen Menschen an seiner Seite zu haben, der einem die Einsamkeit vertreiben könnte.
Ich schleppe eine Weihnachtskiste nach der anderen nach vorne in den Laden und stapele sie direkt neben dem Verkaufstresen. Nach der letzten wische ich mir mit dem Ärmel meines geringelten Pullovers die winzigen Schweißperlen von der Stirn und gieße mir den ersten Kaffee des Morgens ein. Eine halbe Tasse, auf die ein großer Schwall Milch folgt.
Die Eingangstür öffnet sich wieder, und Mariola und Diether gesellen sich frierend in unsere kleine Runde. Im Gegensatz zu Frederick sind sie in dicke Wintersachen gekleidet. Diether erinnert mich mit seiner Bommelmütze und seinen braunen langen Haaren, die ihm inzwischen bis zu den Schultern reichen, an Janoschs Kaspar Mütze. Wie in jedem Winter verwandelt sich Mariola in ihrem dicken langen Steppmantel in eine unscheinbare Persönlichkeit. Mit ihren etwa Einmetersechzig und fünfzig Kilogramm versinkt sie förmlich in ihrem Kleidungsstück. Am liebsten würde ich ihr dann einen Rettungsring zuwerfen, damit sie nicht in ihm ertrinkt. Aber meine Freundin friert so schnell, dass es ihr völlig egal ist, wie sie mit ihrem Mantel aussieht, sie will es nur warm haben.
Ich greife erneut zur Kaffeekanne und fülle die letzten leeren Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit. Jeder von uns besitzt seinen eigenen Kaffeebecher, aus dem sonst niemand anderer trinkt.
„Guten Morgen, ihr zwei“, begrüße ich meine anderen Freunde, während ich für Diether zwei Stücke Zucker in seinen Kaffee gebe und für Mariola etwas Milch in ihre geliebte Rosentasse gieße.
„Du bist ein Engel wie jeden Morgen“, sagt Mariola dankbar und schlingt ihre ausgekühlten Hände um die warme Tasse. „Die fünf Minuten an der kalten Luft reichen bei mir schon aus, um meine Finger in Eiszapfen zu verwandeln. Dein heißer Kaffee ist gerade meine letzte Rettung vorm Erfrieren.“
„Ist heute wieder mal das große Übertreiben angesagt, oder soll ich vorsorglich den Bestatter bestellen?“, fragt Martha in die Runde, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen.
Ich lasse diese Frage unkommentiert, weil das in der Regel Marthas Art von Teilnahme an unseren Gesprächen ist, zum häufigen Ärgernis der anderen. Sie tun sich nach all der gemeinsamen Zeit noch immer schwer damit, unsere älteste Freundin dahingehend zu ignorieren. Aber dann wäre es auch wieder langweilig, denn sie alle brauchen diese Art der Kommunikation.
Martha bereitet es großen Spaß, ihre Freunde mit solch ungebetenen Äußerungen in den Wahnsinn zu treiben, und die anderen lechzen danach, damit sie irgendetwas haben, worüber sie sich den ganzen Tag aufregen können. Und mit guten Ritualen solle man ja bekanntlich nicht brechen.
„Ein bisschen Mitleid würde dir nicht schaden. Du wohnst direkt nebenan und brauchst nur die nächste Tür betreten, dann bist du sofort wieder im Warmen. Diether und ich müssen erst die Straße hochlaufen, und bis dahin sind wir schon längst durchgefroren“, bemitleidet Mariola sich selbst, weil es kein anderer tut.
„Hallo Judy, ich danke dir“, begrüßt mich Diether und hebt dabei wie jeden Morgen seinen Kaffeebecher in meine Richtung. „Da wir schon beim Thema sind, also ich meine Engel nicht Maris‘ Wehklagen. Wann soll die Lichterparty bei dir steigen?“
Bevor ich ihm antworte, trinke ich einen großen Schluck meines karamellfarbenen Kaffees.
„Um sechs Uhr nach Ladenschluss, wie immer. Frederick weiß schon Bescheid. Eigentlich sollte er das an dich weitergeben, der Drückeberger.“
„Das wird dann mal wieder ganz lustig mit dem alten Weihnachtsmuffel“, meint Diether daraufhin entgeistert, der die Beleuchtung lieber alleine aufhängen würde.
Ich finde, Freunde sollten durch dick und dünn gehen, also auch Dinge tun, die man nicht gerne mag, um seinen Freunden einen Gefallen zu tun. Darauf bin ich stets sehr bedacht. Jeder soll vom anderen wissen, was er an ihm schätzen kann.
„Das Stressigste am Dekorieren ist immer die Beleuchtung. Und bevor du lange Arme und schlechte Laune bekommst, solltest du dich über Freddys Unterstützung freuen. Außerdem macht ihr das doch jedes Jahr zusammen“, erinnere ich ihn an das gemeinsame Tun.
„Ja, genau das ist das Problem. Er meckert die ganze Zeit herum und schimpft auf Weihnachten und vermiest mir damit die Vorfreude. Das hat er bisher jedes Jahr geschafft. Dieses Jahr will ich das nicht“, bringt Diether seinen ganzen Mut auf und sagt endlich mal das, was er seit Jahren loswerden will, auch wenn der eigentliche Adressat ein anderer ist.
„Okay. Ruf Freddy an und sag es ihm genauso, wie du es uns gerade gesagt hast. Und heute Abend kümmerst du dich alleine um die Beleuchtung“, bestätige ich ihn in seinem Mut.
Diethers klare Aussage hinterlässt Eindruck. Sogar Martha schaut kurz von ihrem Buch hoch, lächelt und begibt sich sogleich wieder auf Hundejagd.
Mariola sieht Diether für einen Augenblick mit großen Augen und geöffnetem Mund an.
„Wow! Das war ja mal klar und deutlich formuliert. Hast du das vorher auswendig gelernt? Sonst stammelst du dir doch immer einen ab, wenn du etwas Ernstes sagen willst. Da lernen wir nach so langer Zeit noch eine ganz neue Seite an dir kennen.“
„Ja, ja. Mach du dich nur wieder lustig über mich. Ihr wisst doch ganz genau, was ich meine. Ihr bekommt das Theater jedes Jahr mit“, setzt Diether erneut an.
„Das Weihnachtstheater ist traditionell das Einläuten der Weihnachtszeit in Judiths Laden. Es wäre doch sehr schade, wenn wir in diesem Jahr um das schöne Spektakel gebracht würden“, kommt ein Einwand aus Marthas Sessel.
„Wie wäre es mal mit einem neuen Programm? Martha, die Weihnachtselfe, verwandelt den mürrischen Frederick für heute in einen überaus hilfsbereiten Freund, der es kaum erwarten kann, dass es Weihnachten wird, um den armen Diether nur einmal vor dessen Tyrannei zu bewahren“, kontert Diether.
„Wenn du mir ein schickes Elfenkostüm besorgst, mache ich das gerne für dich, mein Liebster. Aber bitte mit viel Glitzer und Goldsternen, und ein Diamantdiadem will ich auch haben. Und einen Zauberstab brauche ich auch, sonst kann ich dir deinen Wunsch leider nicht erfüllen“, geht Martha auf Diethers Vorschlag ein.
„Kann ich dir sonst noch irgendwelche Kindheitswünsche erfüllen, Gnädigste?“, führt Diether das Spielchen weiter.
„Ach, du bist heute wieder so gut zu mir, mein allerliebster Freund“, entgegnet Martha gespielt theatralisch.
Mariola beginnt das Spiel zwischen den beiden zu nerven.
„Am Schluss eures Streits hängt die Beleuchtung, und das ist doch das Wichtigste. Wenn du heute Abend alles alleine machst, bist du am Ende sicherlich zunächst begeistert, dass du deine Ruhe hattest. Aber kurze Zeit später holt dich die Unzufriedenheit ein, weil du dieses traditionelle Erlebnis in diesem Jahr nicht mit deinem besten Freund teilen konntest“, begibt sich Mariola auf die Schlechtes-Gewissen-Schiene.
„Ich rede davon, dass ich das gerne mal in Ruhe machen möchte, ohne dass jemand ungefragt seine schlechte Laune bei mir ablädt“, gibt Diether jetzt genervt von sich.
Er trinkt seinen Kaffee zu Ende und macht sich auf den Weg ins Büro. In den letzten vier Wochen vor Jahresende wartet die meiste Arbeit auf ihn, denn das Telefon steht dann selten still. Komischerweise nutzen die Menschen dann weniger das E-Mail-System für ihre Bestellungen, sondern rufen ihn nur deshalb an, weil sie jemanden zum Reden brauchen.
Mindestens eine Kundin fragt nach seinem Wohlergehen, nur um dann darauf hinleiten zu können, wie schlecht es ihr gerade ergehe, weil ihre Beziehung in die Brüche gegangen sei und sie nun an Weihnachten alleine wäre. Um anschließend darauf hinzuleiten, was für eine sympathische Stimme er habe, so sanft und liebevoll. Diether verkauft Hundefutter und tut dies nicht besonders gern, was man als Anrufer seiner Stimme anhören müsste. Wenn er in diesem Moment jedoch an seine Einsamkeit denkt, ist er einen kurzen Augenblick geneigt, ein Gegenkompliment zu erwidern und die sich bietende Chance auf ein zweisames Weihnachten zu ergreifen, doch dann schüttelt er den Gedanken beiseite, indem er wild mit dem Kopf wackelt, und sagt sich, er wolle kein Weihnachtslückenbüßer sein und beendet das Gespräch.
„Vielleicht erleben wir heute Abend mal etwas Neues“, überlegt Mariola laut.
„Wie, was Neues?“, frage ich, weil ich ihr nicht ganz folgen kann.
„Na, Diether und Frederick. Ich bin ja so gespannt, ob er es ihm wirklich sagt“, erklärt sich Mariola aufgeregt.
„Ach, das meinst du. Spätestens heute Abend wird deine Neugier befriedigt sein“, sage ich unbeeindruckt.
Ich finde es gut, dass Diether mal ausspricht, was ihn stört, aber ich weiß auch, dass er es Frederick nicht sagen wird. Seine Freundschaft zu ihm ist ihm viel zu wichtig, als dass er sich vor Weihnachten richtig mit ihm verkrachen möchte. Für mich ist ganz klar, der ewig gleiche Weihnachtsstress zieht heute Abend wieder bei mir ein. Und das liebe ich. Der Streit zwischen den Männern beim Anbringen der Weihnachtsbeleuchtung ist mein ganz persönliches Einläuten einer besinnlichen Weihnachtszeit.