Читать книгу Tausend Wellen fern 1 - Rebecca Maly - Страница 7

KAPITEL 1

Оглавление

IRLAND, 1872

Dublin, Mündung des River Liffey

Der Wind drückte die schwere Rußwolke hinunter. Wie ein Leichentuch senkte sie sich auf die hellen Häuserfronten und Hafengebäude. Kleine Segler und Jollen verschwanden hinter grauen Schleiern.

Kaylee hustete und nahm ihren Hut ab, den sie extra für diese Reise ausgewählt hatte. Sie klopfte die Ascheflocken von dem hellblauen Leinenstoff und konnte dennoch nicht verhindern, dass sie dünne Streifen hinterließen. Ändern ließ sich daran nichts. Es würden sicher noch viel mehr dazukommen, wenn sie sich nicht unter Deck begab.

Sie sah sich nach einem besseren Platz um, wo sie weniger im Rauch stehen würde, doch die Menschen drängten sich entlang der Reling dicht an dicht. Einige weinten, andere winkten mit weißen Taschentüchern, obwohl sie die Liebsten, die sie im Hafen von Dublin zurückgelassen hatten, längst nicht mehr sehen konnten.

Kaylee fühlte sich leer. Wie ein Blatt Papier, von dem alle Worte getilgt waren. Hier und da schimmerten noch einige Linien auf, wo das Schicksal den Stift mit Druck geführt hatte. Diese Leere machte sie benommen, sie war wie betäubt.

In der Ferne schmolzen die einzelnen Häuser zu einer hellen Linie zusammen. Dahinter erhoben sich sanfte grüne Hügel. Ob sie Irland je wiedersehen würde?

Die Mündung des Liffey erweiterte sich. Schmutzig braun von den Regenfällen der letzten Tage, die den Unrat aus den Straßen Dublins gespült hatten, ergoss sich der Fluss in das schäumende Meer. Auf der rechten Seite zog sich eine lange Mole dahin, an deren Ende ein Leuchtturm stand.

Kaylee hatte Poolbeg Lighthouse bislang nur vom Ufer aus gesehen. So nah wie jetzt war sie dem Leuchtturm noch nie gekommen. Seine konisch zulaufenden Wände waren ochsenblutrot. Vier Etagen kleiner Fenster gab es, die in alle Himmelsrichtungen gingen. Obenauf, in einem rundum verglasten Raum, war ein Feuer zu erkennen. Ein Mann stand oben auf dem Balkon des Leuchtturms und winkte dem Schiff, während er eine Pfeife rauchte.

Kaylee hörte plötzlich ihre Mutter Erin weinen. Bis zu diesem Moment hatte sie keinen Laut von sich gegeben. Ohne hinzusehen, griff sie nach ihrer Hand. Sie fühlte sich fremd an, und das lag nicht am Spitzenstoff ihrer Handschuhe. Erin Heagan hatte sich verändert. Kaylee hatte sie immer als weiche, üppige Frau in Erinnerung, manchmal ein wenig schwerfällig, aber nie träge. Die Frau, die jetzt neben ihr stand, war eine andere. Sie war dünn und nervös, um die Augen war die Haut vom vielen Weinen gerötet und angeschwollen.

„Weine nicht, Mama“, sagte sie und beugte sich nah zu ihr, damit der Wind ihre Worte nicht ungehört davontrug.

„Ich weine doch gar nicht, es ist nur der Rauch von diesem Schornstein“, sagte sie mit belegter Stimme und verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln.

Kaylee wusste, dass ihre Mutter nicht die Wahrheit sagte, aber sie drang nicht weiter in sie. Was Erin Heagan hinter sich hatte, war Rechtfertigung genug für einen Ozean aus Tränen.

Sie legte ihr einen Arm um die Hüfte. „Jetzt musst du ihn nie wiedersehen, Mama.“

Sie nickte nur. „Aber ich sehe auch Irland nie wieder. Ob es das wert ist? Ich habe nicht gewusst, wie sehr ich dieses Land liebe, bis wir Abschied nehmen mussten.“

„Aber wir haben einander und die grüne Insel im Herzen. Wo wir hinfahren, soll es gar nicht so anders aussehen, das hast du doch auch gelesen.“

Ihre Mutter sah sie mit glänzenden Augen an und strich ihr in einer liebevollen Geste einige Haare zurück, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatten.

Kaylee hatte die Haarfarbe ihres Vaters geerbt. Ihre Haare waren kastanienbraun und lockig. Von der Mutter stammte der rötliche Schimmer. Erin war in den vergangenen Monaten ergraut, und Kaylee wunderte sich noch immer, wie das Haar schneller die Farbe verlieren konnte als zu wachsen. Vielleicht würde die Farbe in ihrem neuen Leben wieder zurückkommen. Sie wünschte sich so sehr, ihre Mutter irgendwann wieder glücklich zu sehen.

Sobald sie Poolbeg Lighthouse hinter sich hatten, fuhr der Kapitän die Geschwindigkeit hoch. Unter Deck keuchte die Dampfmaschine. Der Boden vibrierte und sandte die Erschütterungen durch Kaylees Körper. Es fühlte sich ganz merkwürdig an. Sie hielt sich nun wieder mit beiden Händen an der Reling fest.

Von Westen rollten allmählich immer größere Wellen heran und hoben das Schiff an, als sei die SS Christopherus für sie nur ein Spielzeug.

„Oh Gott, steh uns bei!“, keuchte eine Frau nicht weit von ihnen und ließ sich von ihrem Begleiter stützen. Sie war aschfahl im Gesicht.

Kaylees Magen fühlte sich seltsam an, als hätte sich das Meer auch in ihn geschlichen und schwappe darin umher, doch schlecht war ihr nicht.

„Ich hoffe, ich habe das Richtige getan“, sagte ihre Mutter mit einem Mal.

„Sicher hast du das.“

„Ich meine nicht mich, ich meine, dass ich dich mitgenommen habe. Vielleicht hättest du doch besser bei deinem Vater bleiben sollen.“

„Niemals, Mutter! Und ihn tagein, tagaus mit seiner neuen Frau sehen, während du allein am anderen Ende der Welt bist? Niemals.“

Kaylee schloss die Augen, ließ den Wind gegen ihr Gesicht wüten und dachte an den verhängnisvollen Tag vor einem halben Jahr, der die kleine Welt der Familie zum Einsturz gebracht hatte.

Sie hatten den ganzen Tag unterwegs verbracht. Waren mit dem Einspänner von einem kleinen Hof zum nächsten gefahren, um dort bei den Bauern frische Kräuter einzukaufen, die sie extra für die Apotheke ihres Vaters anbauten.

Auf dem offenen Wagen duftete es nach Kamille und Ringelblume, Baldrian und Lavendel. Die Sonne brachte die Kräuter schnell zum Welken und entlockte ihnen ihren Duft. Kaylee meinte, sich schon durch das Einatmen ihrer Essenzen belebter und gesünder zu fühlen. Die Tagesreisen aufs Land gehörten zu den Annehmlichkeiten, welche die Arbeit in der Apotheke mit sich brachte.

Dublin war eine laute, schmutzige Stadt. An windstillen, drückenden Tagen machte der Rauch zahlloser Kohlefeuer das Atmen zur Qual. Mehr und mehr Fabriken entstanden in den Vororten, und mit ihnen kamen Tausende Menschen, die sich in überfüllten Häusern und Baracken einquartierten. Manchmal wünschte sich Kaylee, gar nicht mehr in die Stadt zurückkehren zu müssen.

Viel zu schnell erreichten sie die Vororte und dann auch die besseren Viertel, bis sie schließlich vor der Apotheke anhielten. Groß und in goldenen Lettern stand der Name HEAGAN über dem Eingang. Das Schmuckstück der Fassade war ein bronzenes Einhorn, das neben einem Äskulapstab auf den Hinterbeinen stand.

Es war noch früher Nachmittag, dennoch hing ein Schild an der Tür. Geschlossen stand darauf. Da stimmte etwas nicht. Vater schloss die Apotheke nie vor der Zeit. Kaylee sprang von dem Kutschbock, noch ehe der Einspänner ganz angehalten hatte, und konnte von Glück sagen, dass sie nicht fiel, als sich ihr weiter Rock kurz verhedderte.

Strauchelnd erreichte sie die Tür, die nicht abgeschlossen war. Ein Glöckchen klingelte.

„Vater, Vater, geht es dir gut?“ Kaylee sah sich hektisch und mit pochendem Herzen um. Durch die Fenster fiel nur gedämpftes Licht.

„Ja, Kind.“ Ihr Vater saß in einem grünen Lederstuhl, der eigentlich für wartende Kunden vorgesehen war. Mit seinem grauen Anzug und dem sorgfältig gestutzten braunen Vollbart hob er sich kaum von den dunklen Holzregalen hinter sich ab.

Nur seine runden Brillengläser reflektierten das Licht wie kleine Spiegel.

„Warum sitzt du hier im Dunklen und warum hast du so früh geschlossen?“

„Ist deine Mutter auch mitgekommen?“ Ehe er die Frage ganz zu Ende gebracht hatte, ging das Türglöckchen erneut, und Erin Heagan trat ein.

„George, ist alles in Ordnung?“

Die Sorge war ihr anzusehen. Als sie ihren Mann im Sessel entdeckte und er offenbar wohlauf war, wich die Anspannung.

„Ob alles in Ordnung ist? Nein. Wir müssen reden, Erin. Dort auf dem Tresen liegt ein Brief, er ist für dich.

Kaylee, du bringst am besten eine Fuhre Kräuter hinein, bevor sie auf dem Wagen einstauben. Du kannst sie hinten zum Trocknen vorbereiten, und störe uns nicht.“

„Ja, Vater.“ Wenn sie damals nur gewusst hätte, was er plante. Folgsam ging sie zur Kutsche, nahm zwei Fuhren Kamille und Ringelblume und drückte dann mit dem Rücken die Tür zur Apotheke auf.

Als sie den Verkaufsraum durchquerte, hatte ihre Mutter soeben den Brief geöffnet. Sie stützte sich mit einer Hand an der Theke ab, während sie zu lesen begann. Kaylee huschte mit ihrer Fracht an ihr vorbei und bemerkte gerade noch, wie blass ihre Mutter geworden war.

Vielleicht ein Todesfall, dachte sie erschrocken.

„Schließ bitte die Tür hinter dir“, sagte ihr Vater.

Kaylee stellte die Kisten ab und schob die Tür zu. Im Arbeitsraum und dem kleinen Labor war es still. Sie nahm einen weißen Kittel vom Haken und streifte ihn über, zog sich noch Handschuhe mit langen Stulpen an, damit ihr Kleid nicht schmutzig wurde und der Pflanzensaft ihre Haut nicht verfärbte.

Dann begann sie an der Arbeitsbank unter einem Fenster damit, die Kräuter zu reinigen und von Schmutz und welken Blättern zu befreien.

Bis auf das leise Rascheln der Pflanzen war es still. Der Hinterraum war hellhörig, die Tür nur sehr dünn. Knarrende Dielen verrieten, dass ihr Vater aufgestanden war, sie erkannte seine energischen, raumgreifenden Schritte.

Aber was war das? Mutter weinte.

Kaylee hätte am liebsten alles hingeschmissen und wäre zu ihr gelaufen. Aber Vater war ja da, um sie zu trösten.

Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus und trat nah an die Tür.

„Du willst unsere Ehe annullieren? Aber was habe ich dir denn getan?“, stotterte ihre Mutter unter Tränen. Kaylee glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie lugte durch das Schlüsselloch und entdeckte Erin zusammengesunken auf einem Stuhl, den Brief in den Händen haltend. Sie zitterte und sah zu ihrem Mann auf, der wie eine Felswand vor ihr stand.

„Du musst nur noch hier unterschreiben, dass du bei der Eheschließung noch keine seelische Reife hattest. Ich erwarte, dass du keine große Angelegenheit daraus machst. Die Leute werden ohnehin schon genug reden.“

„Warum, George? Warum? Was habe ich dir denn getan?“

„Nichts. Aber vielleicht ist es gerade das. Und nicht so laut bitte, Kaylee muss davon vorerst nichts erfahren.“

Das Schriftstück raschelte, weil Erins Hände so sehr zitterten.

George Heagan stand noch immer steif vor seiner Frau und blickte auf sie hinab wie auf ein Heer besiegter Feinde. Als hätte er einen spektakulären Sieg errungen.

„Nun unterschreibe schon, ich habe mit dem Notar ausgemacht, dass du gut versorgt bist. Du wirst auch vor dem Kirchengericht aussagen. Wenn du es nicht tust, wird noch mehr Schande über dich kommen und das wollen wir sicher beide nicht. Es ist nun mal so, dass ich eine Frau gefunden habe, die besser zu mir passt. Du weißt, es waren unsere Eltern, die uns vor dem Altar sehen wollten, nicht wir.“

„Aber bin ich dir nicht eine gute Ehefrau gewesen?“

George Heagan schlug mit der Faust auf den Tisch neben ihr. Erin zuckte zusammen. „Und was passiert mit unserer Tochter? Was werden die Leute über sie sagen? Das arme Kind, dann ist sie unehelich.“

„Das arme Kind ist achtzehn Jahre alt und beinahe erwachsen!“

„Aber gerade jetzt, wo sie erst in die Gesellschaft eingeführt wird. Es wird ihr Untergang sein.“

Kaylees Vater schnaufte. So kaltherzig hatte sie ihn noch nie erlebt. Kühl – ja, in sich gekehrt auch, aber wie er sich jetzt zeigte, das war böse.

Mutter sah ihn noch immer mit diesem Blick eines geprügelten Hundes an, doch für ihn schien die Unterhaltung beendet.

„Unterschreibe, bitte. Du kannst nichts daran ändern, wenn du dein Gesicht nicht vollends verlieren willst“, sagte er und kehrte zu seinem Sessel zurück, wo er sich in aller Seelenruhe eine Pfeife stopfte.

In diesem Moment hasste Kaylee ihren Vater. Ganz gleich was er je zu ihr sagen oder tun würde - was er ihrer Mutter angetan hatte, hatte auch sie so verletzt, dass er es niemals wieder würde gutmachen können.

Kaylees Rücken und Schultern begannen von ihrer gekrümmten Körperhaltung zu schmerzen. Ihr Magen fühlte sich an wie ein kleiner, eisiger Stein. Gefühle schlugen ihr immer auf den Magen.

Erin richtete sich auf ihrem Stuhl auf, drückte den Rücken durch und tupfte sich mit einem kleinen hellblauen Taschentuch die Tränen von den Wangen. Kaylee erkannte sie kaum noch wieder. Erin hatte den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst, durch die angespannten Kiefermuskeln wirkte ihr sonst weiches Gesicht eher kantig. Entschlossen zog sie Tintenfässchen und Feder zu sich heran und unterschrieb die Urkunde.

Kaylee meinte das Kratzen der Feder auf ihrer eigenen Haut zu spüren. Es tat weh!

Erin wollte die Feder in die Halterung neben dem Tintenfässchen zurückstecken, doch sie brauchte mehrere Versuche, bis es endlich klappte. Ihre Hände zeugten noch immer von jener Unruhe, die in ihr tobte und die sie sich eigentlich nicht zugestehen wollte. Als sie aufstand, tat sie es langsam, als sei sie um Jahre gealtert.

Sie hatte es getan. Von nun an waren Kaylees Eltern geschiedene Leute.

Vater musste alles seit Monaten vorbereitet haben, denn es war nicht leicht, vor der Kirche eine Auflösung der Ehe vorzunehmen. Was er ihnen wohl für Unwahrheiten über Mutter erzählt haben musste.

Erin Heagan stand da und ordnete ihre Kleidung mit unsicheren Bewegungen, dann knickten ihre Beine plötzlich ein und sie fiel.

Kaylee riss die Tür auf und eilte zu ihrer Mutter, aber sie konnte ihren Sturz nicht mehr verhindern. „Mama, Mama, hast du dir wehgetan?“

„Kümmere dich um deine Mutter, Kaylee“, sagte ihr Vater ungerührt. Er ging zum Tresen, nahm die unterzeichnete Urkunde an sich und verließ die Apotheke.

Tausend Wellen fern 1

Подняться наверх