Читать книгу Klub Drushba - Rebecca Maria Salentin - Страница 9

Thüringen, April 2019

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Schwer atmend kämpfe ich mich den Berg hinauf und habe dabei noch nicht mal den offiziellen Startpunkt erreicht. Irgendwo da oben, verdeckt durch Baumwipfel, thront sie, die weltberühmte Wartburg, in der sich einst Martin Luther versteckte und die Bibel übersetzte. Und an dieser historischen, zum UNESCO-Welterbe gehörenden Stätte geht er los, der EB. Das Kürzel EB steht für Eisenach–Budapest. Und genau das habe ich vor: zu Fuß von Eisenach nach Budapest gehen. Bepackt mit Rucksack, Zelt und Kocher will ich beinahe 2.700 Kilometer weit laufen.

Angesichts dessen, dass meine Unterschenkel schon auf den ersten Metern ebenso erbarmungslos brennen wie die für den Monat April ungewöhnlich heiße Sonne, frage ich mich allerdings einmal mehr, wie ausgerechnet ich auf die Idee kommen konnte, eine solche Wanderung zu bewältigen. Ich bin weder mutig noch trainiert. Ich ächze und schnaufe bei jeder Treppenstufe, breche bei der kleinsten Anstrengung in Schweiß aus, werde beim Radfahren von Rentnern überholt, habe Angst vor Spinnen, Hunden, vor Gewitter, tiefen Seen und steilen Höhen, ich fürchte mich im Wald und bin außerdem nachtblind. Ich war schon als Kleinkind motorisch ungeschickt, lernte erst spät laufen und galt als Stubenhockerin. In der Grundschule blieb ich bei Mannschaftsspielen übrig bis zum Schluss, stand neben denen, die als dick galten, und dem Spätaussiedler, der in einem schwarzen Anzug zum Unterricht kam, dem er längst entwachsen war. Mit uns wollte keiner spielen, uns wollte keiner in seiner Mannschaft haben. Ich war so ungeschickt und ängstlich, dass ich zu den ersten gehörte, die abgeworfen wurden und auf der langen Holzbank Platz nehmen mussten. Bundesjugendspiele waren mir ein derartiges Grauen, dass ich mir einmal mit Absicht einen großen Stein auf den Fuß plumpsen ließ, nur um nicht teilnehmen zu müssen.

Damit noch nicht genug: Ich finde Funktionskleidung hässlich. Bei mir passen normalerweise die Schuhe zum Gürtel, der Gürtel zur Handtasche, die Handtasche zu den Ohrringen und die Ohrringe zum Nagellack. Ich liebe Blümchen, Rüschen und Stickerei. Wandern hingegen mag ich nicht. Und schon gar nicht, wenn es bergauf geht.

Was treibt mich also an? Zum einen bin ich ziemlich stur, was die Durchsetzung meiner Pläne und Träume angeht. Und davon habe ich so viele, dass ich zum anderen berüchtigt bin für meine Wutzideen. Eine Wutzidee, das ist in der Region, in der ich aufwuchs, nämlich in der Eifel, der Begriff für einen dummen Einfall, ein absurdes Vorhaben oder eine verbissene Fixierung. Wutzideen sind in der Regel etwas, worüber das Umfeld lacht, den Kopf schüttelt oder schimpft.

Aber wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich es auch durch, egal wie hanebüchen oder spinnert andere es finden. Ich meckere laut vor mich hin, irritiere Spaziergänger und Anwohner. Wie ich bloß auf eine so dumme Idee kommen konnte, bis Budapest zu laufen, nur weil ich drei Jahre zuvor im Elbsandsteingebirge zufällig über eine EB-Hinweistafel stolperte!

»Man kann von Eisenach bis Budapest wandern?«, wunderte ich mich damals angesichts des beeindruckenden Schaubilds – und beschloss noch in derselben Minute: »Das will ich machen!«

Natürlich hatte ich schon vom Fernwandern gehört, wusste, dass man tausende Kilometer von Mexiko bis Kanada, von Italien bis ans norwegische Nordkap oder ganz populär auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela wandern konnte. Aber von diesem Weg hatte ich noch nie gehört, obwohl er direkt um die Ecke lag. Ich lebe in Leipzig, nur 200 Kilometer entfernt von Eisenach – das Abenteuer wartet quasi vor der Haustür. Wozu weit reisen oder über den Atlantik fliegen, wenn man abgeschiedene Wälder, einsame Moore, zerklüftete Gebirge, schwindelerregende Gratwege und freilebende Bären von zu Hause aus erreichen konnte? Denn so interessant ich die Berichte über die großen amerikanischen Trails auch fand, mich schreckte ab, dass man dafür nicht nur so fit sein musste, dass man dreißig Kilometer täglich schaffte, sondern außerdem teure und umweltschädliche Flüge buchen, Visa, Feuergenehmigungen und Nationalparktickets beantragen und Versorgungspakete vorschicken musste. Und sollte ich auf den ersten Kilometern merken, dass ein sogenannter Thruhike doch nicht das Richtige ist, wäre es schon ein bisschen blöder, diese Erkenntnis in der kalifornischen Wüste zu haben als in der thüringischen Provinz. Ich fand es beruhigend, zu wissen, dass ich bei einer Kapitulation vor meiner eigenen Courage einfach in den Zug steigen und wieder nach Hause fahren konnte.

Kurzentschlossen legte ich an diesem Tag im Sommer 2016 auch direkt das Startdatum fest: Am 19.04.2019 würde ich an der Wartburg losmarschieren und den EB bezwingen! Ob Isergebirge, Altvatergebirge oder die Karpaten – ich war bereit, jede einzelne Bergkuppe der Mittelgebirge zu erklimmen, auf die der Bergwanderweg führt! Doch mit dem Wort Bergwanderweg fangen die Probleme schon an: Aufgrund einer Autoimmunkrankheit ist jeder Höhenmeter für mich eine besondere Belastung. Dumm nur, dass der EB mit rund 75.000 Höhenmetern aufwartet. Manch einer munkelt sogar, es wären 90.000! Dazu kommt: Ich vertrage kein Gluten. Brot, Nudeln, Mehlspeisen, Soßen, Bier: nichts für mich. Wenn ich glutenhaltige Speisen verzehre, quelle ich auf wie ein Wasserballon, bekomme fürchterliche Kopfschmerzen, werde müde und kraftlos und bin mehrere Tage außer Gefecht gesetzt. Von den Darmproblemen ganz zu schweigen. Verpflegung außerhalb meiner eigenen Küche ist wie Russisch Roulette. Daran kann ich nichts ändern, aber was die Fitness betrifft, hatte ich Hoffnung. Denn auch darum ging es mir in der Sekunde des spontanen Entschlusses: die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen, die mir seit Langem verloren schien. Früher ging ich mehrmals die Woche klettern, raste mit dem Fahrrad durch die Gegend und tanzte mich leidenschaftlich durch die Tangosalons, aber dann wurde ich immer schlapper. Irgendwann ging es mir so schlecht, dass ich die Treppe zu meiner Wohnung im ersten Stock kaum noch hochkam. Ich war ausgelaugt, ständig müde, wahlweise gereizt oder niedergeschlagen und nahm in kurzer Zeit beinahe dreißig Kilo zu.

»Sie sind selbstständig und ziehen zwei Kinder alleine groß, Sie brauchen mal eine Pause«, sprach der Hausarzt und verordnete mir eine Mutter-Kind-Kur, die an meinen Beschwerden nicht das Geringste änderte. Stattdessen wurde es immer schlimmer; das dunkelste Kapitel meines Lebens begann, denn morgens klappte ich direkt nach dem Aufstehen regelmäßig zusammen. Ich musste meine Kinder an diesen Tagen vom Bett aus in den Tag dirigieren und fühlte mich dabei wie eine Rabenmutter. Weil es nach dem Urteil des Arztes keine physische Ursache gab, zweifelte ich an meiner Psyche. Ich glaubte, einfach nicht stabil und stark genug zu sein. Erst als ich ein paar Jahre später den Arzt wechselte, bekamen die Symptome mit der Diagnose Hashimoto-Thyreoiditis einen Namen. Diese Autoimmunkrankheit äußert sich in einer dauerhaften Entzündung der Schilddrüse und der Zerstörung des Schilddrüsengewebes, wodurch eine chronische Unterfunktion entsteht. Man überwies mich zu einem Endokrinologen, der feststellte, dass die Zerstörung schon so weit fortgeschritten war, dass ich kurz davorstand, ins Koma zu fallen, seit Jahren unfruchtbar sei, und sich auch an meinem Gewicht nichts mehr ändern werde. Ich bekam Hormontabletten und warf meine Personenwaage weg. Nach ein paar Monaten konnte ich meinen Alltag wieder bewältigen, erreichte aber nie mehr das Aktivitätslevel, das ich vor der Krankheit hatte (und war froh, dass meine Familienplanung schon längst abgeschlossen war).

Dennoch: Schwindel, Herzrasen und Atemlosigkeit bleiben meine ständigen Begleiter, besonders wenn es aufwärts geht.

Die Trekkingstöcke liegen ungewohnt und sperrig in meinen Händen, das Gewicht des Rucksacks drückt mich nieder. Ich stolpere auf den steil hinauf führenden Pflastersteinen. Die Gasse ist gesäumt von akkuraten Vorgärten, bunte Plastik-Ostereier baumeln an beinahe jedem Strauch. An den Laternen prangen nicht minder bunte Wahlplakate für die bevorstehende Europawahl, vornehmlich von AfD und NPD. Vornüber auf die Stöcke gestützt, rackere ich mich voran und fühle mich dabei ungefähr so flink und beweglich wie Lonesome George, das letzte Exemplar einer Galapagos-Schildkröten-Art.

Diese Fernwanderung sollte der symbolische Übergang von meinem Leben als Mutter und Cafébesitzerin zur neuen Unabhängigkeit sein. Doch wenn ich ehrlich bin, ist das Gefühl, alles verloren zu haben, in diesem Moment stark und übermächtig.

Als ich endlich an der Wartburg ankomme und mir der Wind ungewohnt kühl um den rasierten Nacken fährt, denke ich einmal mehr daran, dass innerhalb des letzten Jahres alle Konstanten weggebrochen sind, die mein Leben prägten.

Geplant waren nur der Verkauf meines Cafés und der Kurzhaarschnitt. Extra für die Wanderung habe ich mich von meinen langen, roten Locken getrennt, die mein Leben lang das auffälligste meiner äußeren Merkmale waren. Als ich verkündete, sie abzuschneiden, waren die Reaktionen heftig. Alle waren dagegen. Dabei war es eine rein pragmatische Entscheidung: Ich kann meine Haare nur kämmen, wenn sie nass und mit Conditioner getränkt sind. Tue ich das nicht, habe ich eine Frisur, die meine Kinder stets zum Lachen brachte. »Mama ist fluffy Amadeus!«, riefen sie kichernd, wenn ich morgens aus dem Bett stieg. In ihren Augen sah ich aus wie Mozart mit aufgebürsteter Perücke.

Was habe ich als Kind geweint, wenn meine Oma mir das Haar bürstete! Meine Oma wurde während der Inflation als jüngstes von achtzehn Kindern eines Bäckermeisters geboren. Im Krieg wurde sie ausgebombt und evakuiert. Sie heiratete und zog neben ihrer Tätigkeit als Sekretärin neun Kinder groß, in Zeiten, in denen Schmalhans Küchenmeister und die Prügelstrafe noch gängig war. Da hatte sie wenig Verständnis für meinen Widerstand gegen das Kämmen. »Wie die Haare, so der Sinn«, schalt sie mich.

Sie abzuschneiden war ein radikaler Schritt, denn meine Frisur war Markenzeichen und Schutzschild zugleich. »Die mit den roten Locken«, so beschreiben mich die meisten Leute (auch wenn der Kupferton längst aus der Tube kam). Warum ich als Einzige in der Familie eine so starke Krause habe, weiß ich nicht. Allerdings weiß es eine nicht geringe Zahl von Menschen, die hören, dass mein Vater Israeli ist: »Ach daher die Haare! Ihr Juden habt ja alle Locken!«

Ganz bestimmt die richtige Fährte, Sherlock!

Es störte mich, dass man mich davon abbringen wollte, sie abzuschneiden. Zuvor gab es nur eine Sache, zu der mir noch mehr Leute ihre Meinung aufdrängten: meine Gewichtszunahme im Zuge der noch nicht entdeckten Schilddrüsenunterfunktion. Ständig wies man mich darauf hin, wie dick ich geworden sei. Als ob ich selbst nicht merkte, dass ich innerhalb eines Jahres von Kleidergröße 36 zu 44 wechseln musste. Und vor allem: Als ob ich die Leute damit persönlich beleidigen wolle. Mich trafen die abschätzigen Kommentare und Blicke. Sie machten es mir noch schwerer, und ich hatte ja schon mit immer schlimmeren Stimmungsschwankungen, Herzrasen und Atemnot zu kämpfen. Sobald ich mich nach der Arbeit aufs Rad setzte, liefen mir Rotz und Wasser übers Gesicht, ohne dass ich selbst wusste, warum ich weinte. Ich schrie meine Söhne wegen Nichtigkeiten an, etwa wenn sie ihr Zimmer nicht aufräumten oder sich Brote schmierten und alles auf der Arbeitsplatte liegen ließen. Ich schlief vierzehn Stunden und war immer noch müde. Ich war zittrig, nervös und labil. Und alles, was die Leute interessierte, war, dass ich dick wurde. Die meisten Tipps und Ratschläge, die ich in dieser Zeit bekam, bezogen sich aufs Abnehmen.

Als ich dann die Diagnose und Hormone bekam, hörte es nicht auf. »Dann wirst du dank der Tabletten hoffentlich schnell wieder schlank!«, hörte ich oft.

Die Lektion war klar: Dick ist doof. Tatsächlich waren meine roten Locken das Einzige, wofür ich noch Komplimente bekam. Bis ich ankündigte, sie für die Tour abzuschneiden. Dick und kurze Haare – das ist anscheinend doppelt doof.

Und ja, ich steckte im Konflikt: Ich wollte meine Haare abschneiden und zugleich fürchtete ich mich davor.

Es war mir egal, ein paar Monate lang mit zwei T-Shirts, einer langen und einer kurzen Hose, einem Pullover, drei Unterhosen und zwei paar Socken auskommen zu müssen, obwohl ich über einen Kleiderschrank verfüge, mit dem ich ganze Karnevalszüge ausstatten könnte. Es war mir auch egal, mich in dieser Zeit auf ein Stück Seife, Zahnbürste, Zahnpasta und Sonnencreme zu beschränken, obwohl ich Kosmetika in Hülle und Fülle besitze.

Aber mit dem Haarschnitt, da haderte ich: Wenn dick und kurzhaarig schon doof war, was sagte man dann erst zu dick, kurzhaarig und grau? Ich färbte meine Haare schon so lange, dass ich gar nicht mehr wusste, welche Naturhaarfarbe ich habe. Aber die Ansätze verrieten: Viel war davon eh nicht mehr übrig.

Als ich wenige Tage vor der Tour bei meiner Friseurin saß, lagen meine Nerven blank. Der Friseurtermin kam mir vor wie der Point of no Return: Waren die Haare ab, gab es kein Zurück mehr. Ich saß auf dem alten ledernen Drehstuhl in dem kleinen Salon, der im Fünfziger-Jahre-Stil eingerichtet ist. Es war Anfang April, aber beinahe sommerlich warm. Vor der großen Fensterfront tummelten sich auf dem breiten Bürgersteig Flaneure, Radler und Eisesser. Die Friseurin war mindestens so nervös wie ich. Als sie anfing zu schneiden, fiel es mir schwer, in den Spiegel zu gucken. Und es war, wie ich befürchtet hatte: Sobald die ersten Strähnen fielen, war alles grau. Ich würde als Oma den Salon verlassen! Aber zugleich war es, als ob mit jeder roten Locke, die zu Boden segelte, eine riesige Last von mir abfiel. (Trotzdem war mir klar, dass ich nach der Tour stante pede den Friseursalon stürmen würde.)

Am Ende sah ich übrigens überhaupt nicht aus wie eine Oma, vielmehr war ich Punk! Die Spitzen des Deckhaars trugen immer noch Spuren der künstlichen Farbe. Wie rote Schaumkronen wippten sie auf meinem Kopf, als ich auf die Straße trat. Der warme Aprilwind fuhr säuselnd durch die Bäume, deren Kronen noch kein einziges grünes Blatt trugen. Ich traf mehrere Bekannte. Niemand erkannte mich. Ich schickte ein Foto an meine Söhne. Ihr Urteil: »Mama, so siehst du cool aus, so kannst du bleiben!«

Die Umkehrgrenze war überschritten, der letzte aller Punkte auf meiner To-do-Liste erledigt, nun konnte es endlich losgehen.

Im Jahr zuvor hatte ich wie geplant mein Sommercafé verkauft. Als ich es 2009 in einem alten Zirkuswagen am Leipziger Richard-Wagner-Hain eröffnete, stand für mich schon fest, dass ich es nur zehn Jahre betreiben wollte. Dafür gab es einen ganz einfachen Grund: meinen vierzigsten Geburtstag.

»Mit vierzig gehe ich in Rente«, war mein durchaus ernst gemeintes Motto, auch wenn »in Rente gehen« in meinem Fall bedeutete, mich nur noch aufs Schreiben zu konzentrieren. Jedenfalls wollte ich ab diesem Lebensjahr an nichts mehr gebunden sein. Manche fürchten dieses Alter wegen der berüchtigten Midlife-Crisis, ich freute mich drauf. Vierzig zu werden, bedeutete in meinem Fall, dass mein jüngster Sohn volljährig wurde. Und damit war Zeit für ein neues Kapitel in meinem Leben. Es fällt mir manchmal selbst schwer zu glauben, dass diese zwei kleinen süßen Racker, die mein größtes Glück im Leben sind, jetzt erwachsen und selbstständig sind. Es macht mich unglaublich stolz, ihnen dabei zuzusehen, wie sie von Tag zu Tag ihr Leben mehr und mehr ohne mich meistern. Sie brauchen mich nicht mehr in ihrem Alltag, aber wir sprechen oder schreiben uns beinahe täglich.

Zurück zu meinem Sommercafé: Obwohl ich es liebte, fiel mir der Abschied nicht schwer. Denn was mir anfänglich das Schreiben ermöglichen sollte, war über die Jahre zu seinem größten Konkurrenten geworden. Ich hatte es als zweites Standbein zur Schriftstellerei eröffnet, da ich erstens mit dem Schreiben meine Kinder nicht ernähren konnte und zweitens Abwechslung zum Alltag im stillen Schreibkämmerlein suchte. Als gebürtige Rheinländerin brauche ich Gesellschaft und Geselligkeit, um nicht einzugehen wie ein schlecht gegossenes Zimmerpflänzchen. Also beschloss ich, jedes Jahr zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober Kaffee, Kuchen, Limo, Eis und Baguettes in einem umgebauten Zirkuswagen zu verkaufen. Das restliche Jahr blieb zum Schreiben. Ich hatte nichts: kein Kapital, keine Gastronomieerfahrung und auch keinen Verkaufswagen. Aber ich hatte einen Namen: ZierlichManierlich. Und ich glaubte fest daran, dass es allerhöchste Zeit war für eine Alternative zu den üblichen Leipziger Bier- und Bratwurstständen, die in ihren Blechbüchsen außer ihrem faden Angebot meist auch sächsische Unfreundlichkeit servierten. Mein Konzept stand schnell und war einfach: Der Wagen sollte schön sein, das Speisenangebot qualitativ hochwertig und der Service freundlich. Ich hatte keine Ausbildung und kein geregeltes Einkommen, war alleinerziehend und bekam Hartz IV. Das Arbeitsamt verweigerte mir den Existenzgründerzuschuss, weil sie nicht an den Erfolg des Unternehmens glaubten. Das Stadtplanungsamt wollte keine Gastronomie im Park, und bio schon mal gar nicht. Selbst meine beste Freundin war skeptisch, weil der Richard-Wagner-Hain zwar zentrumsnah liegt, nachts aber verlassen und unbewacht ist. Der Wagen war Vandalen und Dieben schutzlos ausgeliefert. Ich wollte aber keinen anderen Ort, ich wollte, dass das kleine Büdchen genau an der Stelle stand, wo ich jedes Mal, wenn ich mit meinen Kindern zum Badesee radelte, dachte: Jetzt und hier ein Kaffee! Dazu ein Stück Kuchen und ein Eis für die Kinder, das wär’s doch!

Also blieb ich unbeirrt dran an dieser Wutzidee, erst recht, als ich zufällig im Garten einer Freundin einen alten, heruntergekommenen Bauwagen aus den sechziger Jahren entdeckte, den sie mir kurzerhand schenkte. Der Wagen hatte jahrelang vor sich hin gemodert, die gelbe Farbe war verwittert, das Holz feucht und mit Moos bewachsen. Die Reifen waren platt. Efeu hatte sich um die rostigen Achsen geschlungen, als wolle er das klapprige Gefährt für immer festhalten. Um den Wagen freizubekommen, mussten wir eine Schneise in das Gestrüpp schlagen, das ihn eingekesselt hatte wie eine feindliche Armee. Bei Glatteis wurde er von einem Wagenplatzbewohner mit einer alten Diesel-Pritsche über Landstraßen 600 Kilometer bis Leipzig gezogen. Dort konnte ich ihn auf dem Wagenplatz entkernen und ausbauen. Mit Hilfe von Familie, Freunden und Freundinnen riss ich alles raus, schliff die Außenwände ab, entrostete das Dach und baute den Innenraum zum Speisewagen um. Ich lieh mir Geld, besuchte Hygiene- und Existenzgründervorträge, lernte das Bedienen einer Siebträgermaschine, überzeugte die zuständigen Ämter, bis ich alle Genehmigungen zusammen hatte, castete Personal und eröffnete entgegen aller Widerstände und Zweifel am Karfreitag 2009. Karfreitage scheinen in meinem Leben eine große Rolle bezüglich neuer Lebensabschnitte zu spielen.

Zugegeben: Anfangs lief es schleppend. Es kam zu wenig Kundschaft, wir arbeiteten nicht professionell genug, und ja: randaliert oder eingebrochen wurde auch ständig. Doch ab dem dritten Geschäftsjahr wurde das ZierlichManierlich immer bekannter und beliebter. Und ehe ich mich versah, dirigierte ich plötzlich ein Team aus mehr als zehn Festangestellten und Minijobberinnen. Das, was ich an meinem kleinen Sommercafé so liebte, nämlich den persönlichen Kontakt mit den Kolleginnen und Kunden, geriet immer mehr in den Hintergrund. Wenn die Ladenluke abends und in den Wintermonaten geschlossen war, war für mich noch lange nicht Feierabend: Buchhaltung, Steuer, Lohnabrechnungen und Reparaturen nahmen mehr von meiner Zeit in Anspruch, als mir lieb war.

Also war ich froh, dass es mit dem Verkauf nach genau zehn Jahren klappte: 2018 arbeitete ich meine zehnte und letzte Saison im ZierlichManierlich und es war zugleich die erste, in der der Wagen nicht mehr unter meinem Kommando stand. Das ZierlichManierlich gehört nun Julia, die seit dem ersten Jahr Stammkundin war. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich noch eine Saison im Café das Zepter in der Hand hielt, während sie im Hintergrund die Fäden zog. So war der Übergang für alle sanft. Die sieben Monate in meinem ehemaligen Café waren übrigens bisher die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich angestellt war.

So weit, so gut. Alles schien bestens zu laufen: Das Café war verkauft, die Kinder wurden erwachsen, ich hörte auf, mir die Haare zu färben, kaufte Funktionskleidung und Wanderequipment.

Trotzdem ist jetzt nichts, wie es sein sollte. Denn eigentlich wollte ich nicht alleine an der Wartburg stehen, sondern mit meinem langjährigen Lebenspartner. Seinetwegen hatte ich den Karfreitag als Starttag ausgesucht, er konnte mich nur in den Ferien und an den Wochenenden begleiten. Mein Plan war: Wir starten zusammen, damit ich mich noch ein bisschen länger vor meiner Angst drücken konnte, alleine im Wald zu zelten. Kehrte er am Ende der Osterferien nach Leipzig zurück, war ich diesbezüglich hoffentlich gestärkt genug, um alleine weiterzuziehen. Danach wollte er mich an den Wochenenden und in den Ferien so oft wie möglich auf dem Trail besuchen. Mein Freund fand, dass ich zu naiv an die Vorbereitungen ging.

»Ich würde ab jetzt nur noch zu Fuß gehen, egal was du zu erledigen hast. Du musst dich unbedingt im Fitnessstudio anmelden oder wenigstens Intervalltraining machen. Am besten steigst du jedes Wochenende auf den Brocken. Aber mindestens einen Halbmarathon musst du laufen!«

Um ehrlich zu sein: Ich tat von alledem nichts. Ich googelte lieber Ausrüstungsgegenstände und las Erfahrungsberichte von Thruhikerinnen.

»Wandern ist Gehen und Tragen«, antwortete ich. »Dazu brauche ich nur zwei gesunde Beine und einen starken Rücken. Hab ich beides. Die Fitness kommt dann schon von alleine. Ich gehe den Weg, egal wie lang es dauert! Und wenn ich zu Beginn nur fünf Kilometer am Tag schaffe, mir doch wurscht! Du kannst ja vorrennen und abends mit aufgebautem Zelt und 3-Sterne-Camping-Menü auf mich warten.«

Also beschäftigte ich mich stoisch weiter mit Themen wie Campingkochern, Offlinekarten, Powerbanks, Isomatten, Merinowäsche, glutenfreiem Proviant, Wasserfiltern, Schlafsäcken, Ultraleichtzelten und Wanderschuhen. Bevor ich viel Geld für falsche Produkte ausgab, wollte ich mir das Wichtigste für einen Testlauf leihen. Wir planten eine mehrtägige Probewanderung, um alles in Ruhe auszuprobieren, überlegten, ob wir ins Elbsandsteingebirge fahren sollten, wo wir uns beide gut auskannten, oder in den Harz, wo mein Freund regelmäßig alleine wanderte. Es war noch ein Jahr hin bis zum Start auf dem EB.

Und dann brach innerhalb kürzester Zeit alles zusammen. Es flog eine so große Lüge auf, dass eine Trennung unausweichlich war. Mir blieb der Atem weg, wochenlang. Zum Luftholen kam ich nicht, denn die erste Entdeckung war nur der Auftakt zu einem wahren Lügencrescendo. Es war, als ob man eine Dominosteinkette zu Fall gebracht hatte: Immer mehr unglaubliche Dinge kamen zum Vorschein, das ganze Kartenhaus unserer Beziehung fiel in sich zusammen. Nichts war mehr sicher, außer dass nichts mehr sicher war. Aber das ist eine andere Geschichte, die hier keinen Platz finden soll, denn es kostete mich schon genug Zeit, Kraft und Aufwand, mir nach der Trennung meine Räume wieder zurückzuerobern. Mir war der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Meine Wanderpläne waren das Einzige, was ich noch hatte.

An der Wartburg tummeln sich die Feiertagsausflügler. Um mich herum wird gelacht und fotografiert. Dazwischen fühle ich mich mit meinem knallroten Kopf, dem schweißnassen Hemd, dem dicken Rucksack und den störrischen Trekkingstöcken plump und unbeholfen. Einen kurzen Moment überlege ich, einfach nur die Burganlage zu besichtigen und wieder nach Hause zu fahren. Nur, dass ich kein Zuhause mehr habe: Meine geliebte Wohnung fiel wie so vieles der Trennung zum Opfer. Ich bin im Grunde obdachlos. Was ich im Zuge der Wohnungsauflösung behalten habe, steht im ehemaligen Kinderzimmer meines Nachbarn, der sich auch um meine Post und Zimmerpflanzen kümmert. Alles, was ich in den nächsten Monaten brauche, trage ich am Leib und auf dem Rücken. Ich habe keine Alternative. Also ziehe ich los, um mir den Boden unter den Füßen zurückzuerlaufen.

An der Zugbrücke zeigt eine Schautafel den einschüchternden Verlauf des EB: Eine 2.690 Kilometer lange Schlaufe durch Thüringen, Sachsen, Tschechien, Polen und die Slowakei bis in Ungarns Hauptstadt. Dabei führt der Weg zwar immer wieder durch populäre und touristisch erschlossene Abschnitte, verläuft aber meist durch abgelegene Landstriche mit ursprünglichen Wäldern, sprudelnden Bächen, stillen Mooren und steilen Kammwegen. Ich werde also mutterseelenallein unberührte Natur durchschreiten und dort zelten, wo Braunbären und Wolfsrudel leben. Mich erwarten verwunschene Landschaften, einzigartige Naturphänomene und altertümliche Dörfer, in denen die Uhren stillstehen. Spuren der Ära von Köhlern, Flößern und Silbererzminengräbern. Alte Handelswege und Salzstraßen, Heilquellen und Thermalbäder. Hirten, die mit ihren Herden über die Bergwiesen ziehen. Umgebinde- und Laubenganghäuser, Burgen, Schlösser, orthodoxe Zwiebeltürmchen und Holzkirchen. Mich erwarten auch: die stummen Zeugen vergangener Kriege. Wehranlagen, Bunker, Mahnmale.

Gegründet im Jahr 1983 war der EB der einzige grenzüberschreitende Fernwanderweg im Sozialismus. Während die großen amerikanischen Trails längst kein Geheimtipp mehr sind, geriet der EB nach der Wende in Vergessenheit. Es gibt zwar Reiseführer, die den EB in sieben große Abschnitte teilen, aber die meisten davon sind vergriffen. Über Antiquariate bekam ich sie doch noch alle zusammen. Ein kurzer Wikipedia-Eintrag, eine private Website und ein Blog von einer EB-Wanderin – das waren alle Informationen, die ich damals fand. Ich erfuhr: Nur in Deutschland ist der Weg noch als EB ausgewiesen, ansonsten wurde er ins Netz europäischer Fernwege integriert. Es gibt eine Interessengemeinschaft, die sich um die Beschilderung des Wegs kümmert, Stempelhefte, Aufnäher sowie das alte sozialistische Reglement verschickt, und ein jährliches Treffen für alle organisiert, die die Gesamtstrecke bewältigt haben. Das sind nach Angaben des Freundeskreis EB in den beinahe vierzig Jahren seit seiner Gründung nicht einmal hundert Leute. Und lediglich zwölf davon haben es nach dieser Statistik bisher in einem Rutsch geschafft.

Der offizielle Name des EB lautet: Internationaler Bergwanderweg Eisenach–Budapest. Angelegt im Sinne der Völkerverständigung verliehen ihm die Mitgliedsländer DDR, Tschechoslowakei, Polen und Ungarn den Beinamen Weg der Freundschaft.

»Der Name ist Programm!«, sagte ich mir, nachdem der erste Schock über meine Trennung verdaut war. Ich lud meine Freundinnen und Freunde ein, mich auf dem Weg zu besuchen.

Mir waren Freundschaften schon immer mit das Wichtigste im Leben. Ich liebe es, in Gesellschaft zu sein und zu plaudern, ich brauche regelmäßigen Kontakt zu meinen engsten Vertrauten, um glücklich zu sein. Und ich lebe lange genug im Osten, um zu wissen, dass sich Sozialisten und Kommunisten mit »Freundschaft!« grüßten: Drushba! So gründete ich den Klub Drushba und eröffnete eine gleichnamige WhatsApp-Gruppe, über die ich alle, die an meinem Abenteuer teilhaben wollen, auf dem Laufenden hielt.

Ich druckte ein Schaubild vom Verlauf des Wegs aus und trug dort ein, wann ich wo sein wollte. Um das zu errechnen, halbierte ich alle Etappen, die im Wanderführer mit mehr als sieben Stunden reine Gehzeit angegeben wurden, rechnete einen Ruhetag pro Woche und zusätzlich zwei pro Monat obendrauf. Ich würde also meinen vierzigsten Geburtstag irgendwo in den Karpaten feiern. Dann markierte ich in dem Ausdruck, wer mich wo und wann besuchen wollte. Fünfzehn Freunde und Freundinnen hatten sich zum Mitwandern gemeldet. Ich war beeindruckt, in welch entlegene Ecken sie anreisen wollten, nur um ein paar Tage mit mir zu verbringen. Da wusste ich: Vielleicht mag ich so gut wie alles verloren haben, aber ich war nicht verloren.

»Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt«, stand auf dem zerknitterten Zettelchen eines Glückskeks, den ich bei einem vietnamesischen Mittagessen geschenkt bekam. Diesen Spruch machte ich zum Gruppenbild des Klub Drushba.

Ich googelte Supermärkte am deutschen Abschnitt und trug mir in die Wanderführer ein, für wie viele Tage im Voraus ich Proviant kaufen musste. Außerdem suchte ich nach Schwimmbädern und Saunen am Wegesrand, denn ich war entschlossen, jeden Pool, jede heiße Quelle und jede Therme mitzunehmen. Folglich waren Badesachen unter den wenigen Luxusgegenständen, die ich einpackte. Wie man einem Esel eine Möhre vor die Nase bindet, um ihn voranzutreiben, hielt ich mir die berühmten Thermalbäder in Budapest vor Augen. Ich wollte mich in jedes einzelne davon stürzen, wenn ich es bis ans Ziel schaffte, und bevor ich überhaupt den ersten Schritt gemacht hatte, malte ich mir schon aus, wie ich in Budapest umgehend alle Wanderklamotten in die Tonne pfefferte und mir ein schönes Sommerkleid kaufte.

Mit den Personen, die sich verbindlich angemeldet hatten, plante ich, was sie mir mitbringen konnten, damit ich nicht von Anfang an alles mitschleppen musste – alle sieben Wanderführer, säckeweise glutenfreie Asianudeln, 150 Hormontabletten, ebenso viele Tütchen Magnesiumpulver und ein Bärenseil brauchte ich in Thüringen sicherlich noch nicht.

Die einzige vorbereitende Maßnahme, die ich nicht an meinem Schreibtisch traf, war die Probewanderung zum Testen der Ausrüstung. Aber ich fuhr weder ins Elbsandsteingebirge noch in den Harz. Stattdessen startete ich direkt an meiner Haustür. Von dort waren es nur 900 Meter auf den Pilgerweg Via Regia. Ich packte mir den Rucksack so voll, dass er das Maximalgewicht hatte, das ich mir für die Fernwanderung ausgerechnet hatte, lief durch spätsommerliche Buchen- und Eichenwälder, stapfte im Nieselregen stundenlang über den Damm der Luppe, immer dem auf Baumstämmen, Schildern und Pollern aufgemalten Muschelsymbol der Jakobswege hinterher, folgte mit meinem Blick den über abgeernteten Getreidefeldern kreisenden Raubvögeln und lauschte dem Rauschen des Winds in den hoch stehenden Maisfeldern. Schwärme wilder Wespen schwirrten auf den Landstraßen um aufgeplatztes Fallobst, Hochzeitgesellschaften fuhren klappernd und hupend mit glänzend polierten Oldtimern und Blechbüchsen im Schlepptau über die Alleen, und Traktoren zogen Ellipsen in ihre Felder. Verstreute Gruppen wilder Schwäne und dunkler Enten schaukelten auf den vom Wind aufgeblasenen Wellen ehemaliger Bergbaugruben. Ich durchquerte putzige Provinzdörfer vor den Toren Leipzigs, von deren Existenz ich zuvor nichts geahnt hatte. Schmale Kopfsteinpflasterstraßen erstreckten sich unter der flirrenden Sommerhitze staubig und verlassen vor mir, umgeben von der gespenstischen Stille zugezogener Gardinen, die höchstens vom Widerhall meiner Schritte und dem Kläffen aufgeschreckter Hofhunde durchbrochen wurde. Ich kochte mir Nudeln auf dem Spirituskocher und füllte meine Wasserflasche in rustikalen Gaststätten. Eigentlich lief alles super, bis ich abends meine Schuhe auszog. Ich hatte keine Schmerzen beim Gehen gehabt, aber die verstärkte Kappe hatte an den Zehen gedrückt. Das Resultat waren riesige Blasen an und unter den Zehennägeln. Ich schickte ein Foto davon an eine Freundin, die mir befahl, die Wanderung sofort abzubrechen, sie würde sich jetzt ein Auto leihen und mich retten. In Socken setzte ich mich auf meinen Rucksack an den Wegesrand und wartete Grashalme kauend im Schein der langsam untergehenden Sonne an einem Landwirtschaftsweg in the middle of nowhere. Diese kurze Probewanderung kostete mich sechs Zehennägel, die mir in den Wochen danach abfielen.

Meine erste Lektion hatte ich gelernt: Es muss nicht weh tun, um falsch zu sein. Es reicht, wenn es drückt. Und ohne gute Freundinnen und Freunde bin ich verloren.

So ist das einzig Beruhigende beim Blick auf die riesige Schlaufe, die der EB von der Wartburg aus bis nach Budapest schlägt, die Gewissheit, dass ich die Strecke nicht in Einsamkeit bewältigen muss.

Ehrfürchtig setze ich die Füße auf den Pfad. Ich beschließe es anzugehen wie Beppo, der Straßenkehrer: Schritt für Schritt. Zum Glück ist der Einstieg leicht, denn er führt mich auf den populären Rennsteig. Ich füge mich in die Massen der Ausflügler ein, die in Richtung des beliebtesten Fernwegs Deutschlands strömen, und gehe die ersten Schritte auf dem Weg der Freundschaft.

Die moosbewachsene Drachenschlucht ist so eng, dass ich mit meinem Rucksack beinahe stecken bleibe. Dann geht es steil hinauf zum Rennsteig. Der historische Grenzweg führt vom Eisenacher Ortsteil Hörschel bis Blankenstein. Für die ersten hundert Kilometer wird sein Erkennungszeichen, das weiße »R«, auch mein Wegweiser sein. Zwischen gestressten Eltern schlecht hörender Kinder, rüstigen Rentnern und rasanten Radfahrern schiebe ich mich durch die wärmende Sonne, deren Strahlen flackernd durch die kahlen Baumkronen fallen. Kolonnen von Motorrädern rasen auf einer angrenzenden Straße die Kurven hinauf oder hinunter. Überfüllte Gaststätten und Biergärten säumen den Weg. Schwitzende Wirte stehen hinter Zapfhähnen, Fritteusen und Grillrosten. Spätestens jetzt wird mir klar, wie überflüssig es war, Proviant für mehrere Tage einzupacken und drei Liter Wasser mitzuschleppen. Ich muss über mich lachen, darüber, dass ich davon ausging, mich tagelang in tiefster Wildnis fern jeglicher Zivilisation komplett selbst verpflegen zu müssen. Statt Instantsuppe gibt’s Fritten und Cola. Alle Leute mit großen Rucksäcken spreche ich an, hoffe, dass es noch weitere gibt, die den EB in Angriff nehmen, aber ich treffe nur Menschen, die das Osterwochenende für eine kleine Auszeit nutzen.

»Gut Runst!«, ruft mir eine Gruppe zum Abschied hinterher und ich wiederhole winkend den traditionellen Gruß der Rennsteigwanderer.

Der Weg ist breit und eben, kahle Laubbäume und grüne Fichten werfen lange Schatten. Im Licht der goldenen Abendsonne erreiche ich eine der vielen Schutzhütten am Rennsteig. Oft sind es nur rudimentäre Unterstände, aber diese ist komfortabler: ein hölzernes Finnhäuschen mit offener Front und einem großen Plexiglasfenster an der Rückseite. Der Boden ist mit Schotter aufgefüllt, es gibt eine lange hölzerne Tafel und zwei Bänke. Der Tisch ist liebevoll dekoriert: Teelichter, Blumen und sogar ein mit bunten Ostereiern gefüllter Kranz warten neben dem Hüttenbuch auf mich. Angesichts des breiten Holztischs verzichte ich darauf, mein Zelt aufzubauen. Mit der untergehenden Sonne mache ich meine müden Beine und den schmerzenden Rücken lang, der mir sagt, dass ich ganz schnell meinen zu üppig kalkulierten Proviant essen muss. Beim Rest der Ausrüstung habe ich nicht den Eindruck, dass es noch Spielraum für Reduktion gibt, obwohl ich beileibe nicht ultraleicht unterwegs bin. Mir war wichtig, einen gewissen Komfort zu haben. Dafür war ich bereit, ein paar Kilo mehr zu tragen.

Internet und Handyempfang gibt es im Thüringer Wald nicht, und so kann ich die Mitglieder des Klub Drushba weder über meinen Standort noch den Verlauf des ersten Tages informieren. Schade, denn ich hätte mich gerne von den Geräuschen abgelenkt, die aus der Dunkelheit tönen. Dabei handelt es sich allerdings weniger um röhrende Hirsche und knackende Äste, sondern um röhrende Auspuffe knackender Mopeds. Die Jugend ist auf der Suche nach einer leerstehenden Hütte für ihr Osterbesäufnis.

Ich denke daran, wie es wäre, jetzt nicht alleine, sondern mit meinem Exfreund hier zu liegen. Die Trennung liegt nun ungefähr ein Jahr zurück.

Während der Beziehung war mein Partner lange arbeitslos. Er wurde antriebslos und unzufrieden. Dieser Zustand wurde mit der Zeit so belastend, dass ich nicht mehr weiterwusste. Ich dachte ein erstes Mal über Trennung nach. Aber ich dachte auch: So ist das eben in einer Beziehung, da geht man gemeinsam durch dick und dünn. Ich glaubte, dass wir aus seiner Krise als Paar noch viel stärker hervortreten würden. Meine größte Stärke ist zugleich meine größte Schwäche: Wenn ich einmal mein Herz an einen Menschen verschenke, dann für immer. Und dabei ist es vollkommen egal, um welche Form der Liebe es sich handelt. Ob Agape, Philia oder Eros, wenn ich mich für jemanden entscheide, bin ich treu, loyal und kämpferisch. Das führt aber auch dazu, dass ich zu lange über unentschuldbares Verhalten wegsehe und Menschen auch dann noch in Schutz nehme, wenn ich mich eigentlich selber schützen sollte. Es fällt mir schwer, mich zu trennen. Heute wünschte ich, ich hätte besser auf meine Intuition vertraut und sofort die Turnschuhe angezogen, um ganz schnell ganz weit weg zu rennen.

Als ich herausfand, dass er mir jahrelang Existenzielles verschwiegen und mich grob belogen hatte, musste ich einsehen, dass vieles nur vorgespielt war. Ich musste begreifen, dass ich unfreiwillig Zuschauerin eines One-man-Theaters gewesen war, und dass es viele Rollen auf seinem Storyboard gab.

Nachdem das Husten des letzten frisierten Auspuffs verklungen ist, wälze und drehe ich mich angespannt auf der quietschenden Isomatte umher, lausche auf jedes Knacken im Unterholz. In dieser Nacht schlafe ich nicht wirklich fest. Es ist ungewohnt, auf der Isomatte zu schlafen, auch wenn diese dick wie eine Luftmatratze und somit sehr komfortabel ist. Und meine Gedanken kreisen um alles, was passieren könnte: Wildschweine, die die offene Hütte stürmen. Ich kenne aus der Eifel ausreichend Horrorstorys von Keilern, die auf Menschen zurasten, ihnen mit ihren mächtigen Hauern die Oberschenkel aufschlitzten und die Verblutenden bei lebendigem Leib fraßen. Gut, dass ich auf einem Tisch liege und nicht in meinem kleinen Zelt, denn da könnten kapitale Dammhirsche über die Schnüre stolpern und mein gut getarntes Kabäuschen und mich platt walzen. Wenn mich nicht vorher der Förster mit vorgehaltener Flinte aus seinem Revier verjagt, weil Wildzelten in Deutschland nicht erlaubt ist. Ein Jäger ist mir aber immer noch lieber als irgendwelche zwielichtigen Gestalten, die sich mit unlauteren Absichten nachts im Wald herumtreiben. Und ein bisschen Angst habe ich auch vor den Gefühlen, die auftauchen, wenn man tagelang alleine durch die Gegend stapft.

Morgens bin ich gerädert: Mein Nacken schmerzt, mein Hals knirscht, mein Kiefer drückt, und kalt ist mir auch noch. Letzteres zumindest ändert sich schnell, denn es herrscht wieder Kaiserwetter. Und so ist der Rennsteig schon am frühen Morgen gut gefüllt mit Mountainbike- und Wandergruppen. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, jemanden zu treffen, der sich ebenfalls auf den weiten Weg bis Budapest gemacht hat. Ich quatsche weiterhin alle Menschen mit großen, verdächtig nach Fernwanderung aussehenden Rucksäcken an. Meine angeborene rheinische Frohnatur und die dem Eifelvölkchen eigene Neugierde kommen mir dabei zugute. Wir sind ja der Prototyp der am Gartenzaun stehenden Plaudertasche. Wir kommentieren alles, was vor unseren Augen geschieht, und haben zu jedem Thema unseren Senf beizutragen.

Obwohl einige Wanderer dickere Rucksäcke schleppen als ich, absolvieren sie doch nur ihre Runst. Aber dann werde ich plötzlich selbst angesprochen: Ob ich denn die Person sei, die bis Budapest laufe, will man wissen. Hat sich wohl schon rumgesprochen.

»Hast du keine Angst, so allein als Frau?«, werde ich häufig gefragt.

»Natürlich habe ich Angst!«, antworte ich. »Aber ich mach’s halt trotzdem.«

Schon im Vorfeld der Wanderung gab es jede Menge Tipps, und zwar ungefragt und umsonst. Und natürlich gab es viele Skeptiker, kaum jemand glaubte, dass ich lange durchhalten würde (ich selbst am wenigsten). Die vehementesten Einwände und eifrigsten Tipps kamen von Leuten, die selbst nie wandern. Insbesondere Männer fühlten sich bemüßigt, mir in aller Ausführlichkeit von ihren einsamen Nächten in Kanada oder Spitzbergen zu berichten, wo mindestens Kojoten, Wölfe, Grizzlys und Eisbären ums Lagerfeuer schlichen. Maschinengewehrähnlich ratterten sie ab, wie ich mich vorbereiten, was ich mitnehmen und wie ich mich während der Wanderung verhalten sollte. Maßgeblich hatten sie so wertvolle Tipps wie:

»Trailrunner gehen gar nicht. Es müssen richtig schwere Boots sein, am besten Armeestiefel. Einmal reinpinkeln, dann kann nichts mehr schiefgehen.«

»Hirschtalg für die Füße? Na damit wirst du dein blaues Wunder erleben! Der Schwager von einem Freund seinem Bruder fährt Downhill und cremt sich für die Buckelpisten immer ordentlich den Hintern mit Hirschtalg ein. Und dann ist ihm eines Tages doch tatsächlich ein brünftiger Zweiender auf die Pelle gerückt und kilometerweit sabbernd hinterhergaloppiert!«

»Das wichtigste Accessoire auf einem Survival-Trip? Feuchttücher. Es gibt auf so einer Tour nämlich nichts Geileres, als sich den Arsch mit Feuchttüchern sauber zu wischen!«

Ahja, dachte ich, sehr umweltfreundlich und naturnah, du Outdoor-Held! Diese großspurigen Tausendsassas behandelten mich, als ob ich mir keinerlei Gedanken gemacht hätte. Ich hatte vielleicht noch nie eine Fernwanderung unternommen, aber ich war doch nicht bescheuert! Schnell merkte ich: Ich konnte diese harten Kerle mit einem einzigen Argument in Angst und Schrecken versetzen. Ich musste nur erwähnen, dass ich nicht vorhatte, einen Rasierer mitzunehmen, schon schüttelten sie sich vor Ekel und Entsetzen.

Bald sprechen mich zwei junge Leute an. Auch sie haben von der Frau gehört, die nach Budapest laufen will, und identifizieren mich anhand des Solarpaneels an meinem Rucksack. So lerne ich Richard und Pauline kennen, zwei Studenten, die ebenfalls mit dem Zelt unterwegs sind. Wir laufen ein Stück zusammen und tauschen uns über Ausrüstung, Proviant und Schlafplätze aus. Und obwohl mein Rucksack dank meiner Verpflegungs-Misskalkulation viel zu schwer ist, haben sie zu zweit sogar doppelt so viele Kilos für ein langes Wochenende dabei, wobei Richard den größten Teil davon trägt. Plaudernd folgen wir dem mit roten Nadeln und altem Laub bedeckten Waldweg. Mittags trennen sich unsere Wege wieder. Die beiden wollen sich an einer Bank ein Mittagessen kochen, ich aber will unbedingt den Großen Inselsberg erklimmen, bevor ich raste. Auf dem Gipfelplateau habe ich genau ein Prozent der Gesamtstrecke geschafft, und diesen heroischen Meilenstein verewige ich mit einem verschwitzten Selfie vor dem Wegweiser.

Der Weg hinunter führt über steile unebene Stufen im festgetretenen lehmigen Waldboden. Erst am Fuße des Bergs lege ich mich nahe einer großen Wiese für ein Stündchen ins Moos.

Abends baue ich zum ersten Mal mein Zelt auf, versteckt zwischen ein paar Bäumen, aber nur einen Steinwurf entfernt von einer Schutzhütte. Mit der untergehenden Sonne gehe ich schlafen. Ich lausche ängstlich in die Nacht. Aber sobald es duster wird, merke ich, wie mucksmäuschenstill es ist, so tief im Wald. Da ist nichts bis auf das Rauschen des Windes in den Wipfeln und das Zwitschern der Vögel im Morgengrauen.

Trotzdem wird es ein paar Tage dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Ebenso lange dauert es, herauszufinden, wie ich mich im Zelt am besten bette, welche Kleiderkombination am wärmsten ist und woraus sich das komfortabelste Kissen formen lässt, nämlich aus den Wanderkleidern. So vergisst man auch nachts nicht, wie man tagsüber stinkt. Auch beim Packen dauert es, bis jeder Gegenstand den optimalen Platz im Rucksack hat.

Ich schlafe zwölf Stunden und krieche erst um halb neun aus dem Zelt. Dass sich mein Rhythmus mit der Zeit dem der Natur anpassen wird, davon gehe ich aus. Dass ich nach wenigen Tagen mit dem ersten Vogelträllern putzmunter aus dem Zelt springe. Nun, ich kann vorwegnehmen: Das wird nicht passieren. Ich bin eine Langschläferin. Und war es schon immer. Deswegen wurde ich sogar ein Jahr später eingeschult. Mein Exfreund sagte immer: »Rebecca gehört zur Bohème, denn sie schläft bis um zehne!«

Das stimmt zwar nicht so ganz, denn ich hatte ja Schulkinder und ein Café, das um zehn Uhr öffnete, aber wann immer es ging, schlief ich aus. Und warum sollte ich das jetzt nicht tun? Es ist ja meine Wanderung, meine Auszeit, während der ich mich ganz nach meinem Rhythmus richten kann. Also beschließe ich, mir auf der Tour niemals einen Wecker zu stellen. Ich will aufstehen, wenn ich von alleine wach werde und ich will aufhören zu laufen, wenn mir die Füße weh tun oder ich einen perfekten Schlafplatz gefunden habe. Ich sehe keinen Sinn darin, jemals im Leben wieder früh aufzustehen, wo der Schulalltag meiner Söhne es mir nicht mehr diktiert. Außerdem bin ich erschöpft von den Ereignissen des letzten Jahres, die mir so viel abverlangten.

Die Zeit nach der Trennung verbrachte ich in einem Zustand zwischen Trance, Trauer und Wut. Aber wenigstens war jetzt jeder Tag Adrien-Brody-Tag. Das half. Wenn ich vor lauter Kummer nicht einschlafen konnte, holte Adrien mich mit dem Motorrad ab und brauste mit mir in den Sonnenuntergang. So wurde ich morgens mit einem breiten Grinsen wach. Was vielleicht auch daran lag, dass die größte Spannung in meinem Alltag weg war. Konnte es Zufall sein, dass meine Migräne mit dem Tag der Trennung verschwunden war? Hätte ich gewusst, dass das Heilmittel im Schlussmachen bestand, hätte ich mir viel Geld für Akupunktur, Ayurvedakuren, Osteopathie, Medikamente und sonstige Therapien sparen können. Ich beschloss, eine »happy crab alone« zu sein, bei uns ein geflügelter Begriff, seit mein jüngerer Sohn Pharrell Williams’ Song »Happy« falsch interpretierte: Statt »because I’m happy clap along«, sang er fröhlich klatschend: »Because I’m a happy crab alone.« Natürlich war ich auch als happy crab alone nicht dauernd glücklich. Nur noch in den Trümmern der vertrauten Wohnung zu sitzen, war deprimierend. Ich kam gar nicht dazu, mich in irgendeiner Form auf die Wanderung einzustellen, befürchtete sogar, dass ich, wenn endlich der ganze Druck von mir abfiel, als heulendes Elend über den Rennsteig wanken würde, wie ein Gespenst durch leere Schlosshallen um Mitternacht. Die eigens geplante Abschiedsparty von der Wohnung, in der ich die längste Zeit meines Lebens mit meinen Kindern und vielen tollen Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen gelebt und in der wir rauschende Feste gefeiert hatten, blies ich kurzfristig ab, weil ich mich nicht feierlich fühlte, sondern auf allen Ebenen gescheitert. Ich hatte eigentlich alles erreicht, was ich im Leben erreichen wollte, die Kinder waren aus dem Haus, ich hatte zwei Romane veröffentlicht, ein Café gegründet und wieder verkauft, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mir alles unter den Händen wegbrach und ich vor dem Nichts stand. Von fröhlicher Aufbruchstimmung konnte keine Rede sein. Ich stand am Nullpunkt. Der letzte Tag hatte es dann nochmal richtig in sich, denn die Hausverwaltung hatte meine Wohnungsabnahme vergessen und verlangte nun von mir, die Stadt nicht zu verlassen, bis sie irgendwann nach den Osterfeiertagen wieder Zeit hätten.

»Denen zeigen wir’s jetzt aber!«, rief mein Nachbar, bei dem ich meine Sachen einlagerte, und zog seine Lederjacke an, die aus dem respektablen Arzt umgehend einen knallharten Kerl machte. Wir fuhren zur Hausverwaltung und knallten die Wohnungsschlüssel auf den Tresen.

Es gab eine hitzige Diskussion. Mein Nachbar haute ziemlich auf den Putz, während ich mir in meinen Wanderklamotten und mit der punkigen Frisur unseriös vorkam. Schließlich gelang es uns, alles über eine Vollmacht für meinen Nachbarn zu regeln. Als die Tür der Hausverwaltung hinter uns zufiel, war ich ein schlüsselloser Mensch.

Mit meinem Rucksack, in den ich in der Eile alles nur lose hineingeworfen hatte, fuhr ich zum ZierlichManierlich. Eigentlich hatte ich dort ganz in Ruhe mit meinen Freundinnen Julia und Magdalena einen Abschiedskaffee trinken wollen. Stattdessen kippte ich den Inhalt des Rucksacks auf die Wiese und begutachtete ein letztes Mal meine Ausrüstung. Was ich aussortierte, bekam Magdalena, die mich in der Sächsischen Schweiz besuchen wollte. Während ich hastig meinen Kaffee trank, ging ich mit Magdalena auch nochmal meine Medikamente durch. Dabei fielen die drei Kondome, die ich vorsichtshalber in das Verbandspäckchen gesteckt hatte, heraus. Kurzerhand nahm Magdalena mir zwei weg.

»Eins reicht. Für dein Sicherheitsgefühl. Die anderen zwei brauche ich, ich will nämlich meine Wasserhähne entkalken.«

»Ich werde wahrscheinlich auch das eine ungenutzt bis Budapest schleppen!« Männer waren das Letzte, woran ich dachte. Ich war immer noch eine offene Wunde, die nässte und eiterte, sobald man am Schorf kratzte. Und so eine Wanderung, wo man zwar täglich den Ort wechselt, aber nicht die Kleider, erschien mir nicht die beste Gelegenheit, um Sex zu haben.

Julia postet gerne furchtbar unvorteilhafte Fotos von mir auf den Social-Media-Kanälen des Cafés. Das tat sie auch an diesem Tag: Auf dem Abschiedsfoto mit geschultertem Rucksack vor dem grünen Zirkuswagencafé sehe ich noch viel blöder und draller aus als in Wirklichkeit.

Magdalena fuhr mich zum Bahnhof, wo wir zum Abschied Spaghetti-Eis aßen. Magdalena gehörte zu den ersten Menschen, die ich in Leipzig kennenlernte. Ich traf sie und ihren Mann zum ersten Mal beim Elternabend im Kindergarten. Damals hielt sie einen Säugling im Arm und ich dachte: Ach sieh an, ganz junge Eltern, die sich schon mal informieren wollen. Weil wir uns gleich sympathisch waren, kamen wir direkt ins Gespräch und ich war ganz entsetzt, als ich erfuhr, dass es mitnichten das erste, sondern das vierte Kind war! Die mittleren zwei sind genauso alt wie meine Söhne. Wir wurden ziemlich schnell ziemlich dicke Freundinnen. Trafen uns nachmittags mit der Rasselbande bei einer von uns, im Park, am See oder im Freibad und quatschten, zumindest soweit es das Tohuwabohu zuließ, das sechs kleine Kinder veranstalten können. Magdalena erfüllt als gebürtige Polin das Klischee, einem immer direkt einen gefüllten Teller vor die Nase zu setzen, sobald man ihre Wohnung betritt, und zwar unabhängig davon, ob man hungrig ist oder nicht. Ohne ihre Unterstützung wäre ich vor allem in den ersten Jahren in Leipzig oft aufgeschmissen gewesen. Wenn ich auf Lesereise oder krank war, schliefen meine Kinder bei ihr. Mit ihrem alten VW-Bus half sie mir, wann immer ich etwas Großes transportieren musste. Sie schliff mit mir den alten Bauwagen ab, half beim Umbau und dem ersten Saisonstart. Am Gleis drückten wir uns lange.

Als ich endlich im Zug saß, konnte der wegen irgendwelchen Komplikationen erst eine halbe Stunde später losfahren.

»Leipzig lässt mich so einfach nicht los!«, beschwerte ich mich im Klub Drushba und berichtete gleich noch von der turbulenten Wohnungsübergabe.

»Gelassenheit wird wahrscheinlich sowieso einer deiner wichtigsten Begleiter«, schrieb meine Schulfreundin Tamara, die mich mit Mann und Kind in der polnischen Tatra besuchen würde.

Zwei Tage später sitze ich nun also an einer Schutzhütte, rühre in scheußlichem Instant-Kaffee und esse noch scheußlicheres Chia-Porridge. Ich bin vor dem ersten Kaffee nicht ansprechbar, aber diese Plörre macht es nicht besser. Welch freudige Überraschung, als sich Richard und Pauline nähern. Ich creme meine Füße wider den urbanen Mythos um das paarungswillige Rotwild mit Hirschtalg ein, packe zusammen und gemeinsam laufen wir weiter.

Die beiden kommen aus dem Eichsfeld, einem katholisch geprägten thüringischen Landstrich an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, leben und studieren aber in Halle.

Richard erzählt von seinem Auslandsjahr zu Schulzeiten, das er in Amerika verbrachte. Der Aufenthalt sei für ihn wie eine Offenbarung gewesen. Er habe begriffen, wie isoliert und homogen die Bevölkerung in seiner Heimat lebe. Wir reden noch ein bisschen über Politik, plaudern aber bald wieder übers Wandern. Richard erzählt von einer Tour, wo sich einer der Mitwanderer komplett übernommen hatte und zur Achillesferse der ganzen Truppe wurde. Ich fühle mich ertappt: »Ihr habt es ja schon gemerkt: Ich bin die langsamste Wanderin der Welt! Mein Ziel ist es, mit der Zeit so fit zu werden, dass ich im Schnitt 30 Kilometer täglich schaffe. Aber nutzt ja nichts, sich gleich zu Beginn zu überlasten.«

Mittags trennen sich unsere Wege wieder. Der Rennsteig führt an alten Grenz- und Dreiherrensteinen und niedrigen Heidelbeersträuchern vorbei. Es ist so warm, dass ich die kurze Hose trage, aber an einigen Stellen liegt noch schmutziger Altschnee. Meist verläuft der Pfad eben zwischen hohen Fichten, durch die das warme Sonnenlicht in dünnen Strahlen fällt. Geht es doch einmal bergauf, keuche und ächze ich wie gewohnt, da hilft es auch nicht, dass ich ständig nebenbei esse, um die Last des Rucksacks zu minimieren. Sobald es bergauf geht, bekomme ich eine Art Tourette-Syndrom und schimpfe unflätig vor mich hin. Ich frage mich, ob ich nicht doch besser auf den Trainingsrat meines Exfreunds hätte hören sollen. Und dann komme ich ausgerechnet an der Bergwachthütte vorbei, in der unsere kleine Familie ein paar Jahre zuvor ein Winterwochenende verbrachte.

Damals waren wir einfach eine kleine, glückliche Patchwork-familie. Wir rodelten, grillten im Schnee und er rannte abends mit den Kindern barfuß, in Unterhosen, mit dämlichen Hüten, Kochschürzen und Wunderkerzen ums Haus. Dafür, dass er mir in allem, was die Kinder betraf, den Rücken stärkte, bin ich ihm immer noch dankbar. Kennengelernt hatten wir uns auf einer Hochzeit. Neben der verwitweten Brautmutter und dem Trauzeugen waren wir die einzigen Singles in der über hundert Leute zählenden Hochzeitsgesellschaft. Man platzierte uns am Kindertisch, und während wir uns darüber mokierten, knisterte es zwischen uns. Am nächsten Tag fragte er per SMS nach einem Date. Schnell wurden wir ein Paar. Und als ein halbes Jahr später unsere damalige Mitbewohnerin auszog, zog er ein. Wir hatten wahnsinnig viel Spaß, fuhren zu viert mit dem VW-Bus durch halb Europa und reisten mit dem Zug durch Südostasien. Er baute meinem jüngeren Sohn eine Angel aus einem einfachen Stock, einem Stück Schnur und einem Angelhaken und sie fingen tatsächlich Fische damit. Er diskutierte mit dem älteren über die Theorien der großen Philosophen und die griechische Götterwelt. Als der eine Sohn sich für die Aventiuren des Parzival begeisterte, gingen sie in die gleichnamige Oper. Und als der Oberlippenflaum im Gesicht meiner Babys nicht mehr zu ignorieren war, brachte er ihnen das Rasieren bei. Er begleitete mich zu Elternabenden und hatte für alle Sorgen ein offenes Ohr. Nach vielen Jahren als alleinstehende Mutter war ich glücklich, endlich einen Partner an meiner Seite zu wissen, der sowohl das Schöne als auch das Schwierige rund ums Elternsein mit mir teilte. Wenn man jung Mutter wird, macht es tatsächlich einen sehr großen Unterschied, ob man alleine ist oder einen Mann an der Seite hat. Denn oh Wunder, oh Wunder, ab dem Moment, wo mich der promovierte Herr Geisteswissenschaftler begleitete, bekamen meine Söhne umgehend bessere Noten. Vorher hatte mich die Klassenlehrerin meines jüngeren Sohnes allen Ernstes gefragt, ob ich meinen Kindern jemals vorlesen würde.

»Natürlich«, antwortete ich einigermaßen irritiert. »Ich bin schließlich Schriftstellerin!« Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass sie uns für einen bildungsfernen Haushalt hielt.

Trotzdem empfinde ich es im Vorbeigehen als symbolisch, dass die Berghütte, in der wir damals bei Keksen und Punsch hockten, nun von einem gigantischen Misthaufen verdeckt ist.

Den Rest des Tages laufe ich einsam zwischen dichten Fichten, wo außer mir keine Menschenseele unterwegs ist. Langsam habe ich zwar das Bedürfnis nach einer Dusche, finde es aber zugleich beeindruckend, wie einfach es ist, ohne diese Alltäglichkeiten auszukommen.

Als ich anfange, nach einem geeigneten Zeltplatz Ausschau zu halten, holt mich ein Paar aus Bayern ein. Wir kommen ins Gespräch, reden über unsere Wanderpläne, unsere Berufe, unsere Herkunft. Ich gucke zwar weiter aus den Augenwinkeln nach einem Zeltplatz, bin aber zugleich so ins Gespräch vertieft, dass ich gar nicht merke, wie die Zeit verfliegt. Dem Mann geht es nicht gut, er hat starke Hüftschmerzen. Bald werden seine Beschwerden so schlimm, dass er kaum noch laufen kann. Er zieht sogar seine Schuhe aus, um vorsichtiger auftreten zu können. Wir entscheiden, Hilfe zu holen und laufen vor.

Oberhalb vom Wintersportort Oberhof spuckt uns der Wald unvermittelt vor einem gigantischen Parkplatz und einem gesicherten flachen Gebäudekomplex aus. Bewaffnete Wachposten patrouillieren an der Eingangsschranke. Was nach militärischem Stützpunkt aussieht, entpuppt sich als Trainingslager der Wintersportprofis. Die Pförtnerin weist uns ab, gibt uns aber immerhin die Nummer des örtlichen Taxiunternehmens. Das entpuppt sich als Ein-Mann-Business, dessen einziger Fahrer die gesamte Region bedient und das auch nur tagsüber oder auf mehrtägige Vorbestellung. Nun sei es zu spät und selbst wenn er noch losfahre, brauche er mindestens eine Stunde.

»Wir sollten trampen«, schlage ich vor. Nur: Auf der Straße herrscht überhaupt kein Verkehr. In diesem Moment radeln ein paar Mountainbiker auf den Parkplatz und steuern auf das einzige Auto zu, einen schwarzen Pick-up. Wir winken und rufen und tatsächlich erklärt sich der Fahrer bereit, die beiden auf der Ladefläche des Pick-ups zum Hotel zu fahren. Da ich hier und jetzt sowieso keinen Zeltplatz mehr finde, fahre ich kurzerhand mit.

Bis Oberhof wollte ich an diesem Tag überhaupt nicht kommen, aber wie das so ist mit den Plänen … Und als ich im Hotel die Schuhe ausziehe, muss ich feststellen, dass ich den ungeplanten Kilometern meine erste Blase verdanke. Pochend und stechend sitzt sie neben der Ferse und erinnert mich daran, dass ich es langsam angehen wollte. Außerdem habe ich mein Nickituch verloren, Mist!

Aber: Internet, Fernseher, Dusche und ein weiches Bett sind an einem Ostersonntag auch nicht zu verachten. Beeindruckend auch, wie viel Dreck nach drei Tagen in der Natur an einem Körper haften kann. Ich telefoniere, gucke Tatort und schlafe selig ein.

In den nächsten Tagen entrollen sich die ersten grünen Blätter, ich kann der Natur beim Erwachen zusehen. Es wird so warm, dass mein Sonnenhut zum Einsatz kommt.

»Mein Wanderhut heißt Kibbuzhut und mein Tape kommt aus Tuntenhausen, da kann ja eigentlich nichts schiefgehen«, schreibe ich im Klub.

»Ich sag’s ja ungern«, antwortet Hanna, die regelmäßig nach Israel reist, »aber ein Kibbuzhut ist quasi ein Idiotenhut!«

Das stimmt allerdings, denn dementsprechend sieht man auch aus.

Nach dem Osterwochenende sind die Waldwege menschenleer. Obwohl ich die Blase abgeklebt habe, schmerzt sie bei jedem Schritt und wird immer größer. Und weitere kommen dazu. Ich creme, tape und lüfte meine Füße, trage Nylonstrümpfe unter den Wandersocken, aber anstatt besser wird es immer schlimmer. Niedergeschlagen trotte ich mit meinem Hape-Kerkeling-Gedächtnis-Hut auf dem Kopf über den Rennsteig. Einzig als ich aus Tannenzapfen eine »100« für die Kilometer lege, die ich geschafft habe, verspüre ich ein kleines Hochgefühl. Meine Söhne jedenfalls, die als Erste über jeden Schritt informiert werden, sind jetzt schon mächtig stolz auf ihre Mutter. Sobald ich abends in meinem Zelt liege und die Augen schließe, taucht eine endlose Aneinanderreihung von Wegweisern und Markierungen auf.

Am letzten Abend der ersten Woche, der zugleich der letzte Abend ist, bevor mein erster Besuch anrückt, schlafe ich an der Schwarzaquelle, die abseits des Weges mitten im Wald entspringt. Tief hinab steigt man zwischen Fichten und Mooskissen bis zur Quelle, an der es eine Schutzhütte, Tische und Bänke gibt. Die Quelle ist von einer runden Mauer eingefasst und wird durch eine schmale Rinne ins natürliche Bachbett geleitet. Ich baue nur das Unterzelt auf und stelle es in die offene Hütte. Gerade koche ich Kartoffelpüree, als zwei Frauen mit mehreren Hunden den steilen Pfad herabkommen. Während die Hunde durch das Quellbächlein toben, beäugen mich die Frauen kritisch. Mit meiner rheinischen Zaunplauderer-Art verwickle ich sie trotzdem in ein Gespräch. So erfahre ich, dass sie in der Nähe wohnen und täglich eine Gassirunde in den umliegenden Wäldern drehen. Ich löffle derweil meinen Kartoffelbrei, der überhaupt nicht schmeckt, weil ich Salz vergessen habe. Die Frauen gestehen, dass sie mich für eine Obdachlose hielten, die in der Hütte lebe. Dass sie damit nicht komplett falsch liegen, verrate ich ihnen lieber nicht und erzähle nur von meiner Wanderung.

»Ja, wissen Sie«, sagt die eine, »bei uns am Dorfrand hat sich nämlich erst neulich ein Mann in einer Schutzhütte häuslich eingerichtet, mit Sack und Pack hockte er da jeden Abend bei Kerzenschein.«

»Keiner wusste, was der da macht«, fügt die andere hinzu. »Es war das Dorfgespräch! Ist er obdachlos? Oder auf der Flucht vor der Obrigkeit? Irgendwann war er einfach weg.«

Tja, denke ich, in der Eifel hätte man den Mann direkt mit einer kleinen Delegation beehrt und einfach gefragt … Natürlich stellen die Frauen mir auch die obligatorische Angstfrage. Ich wiegle prätentiös ab, vor allem, um mir selbst Mut zu machen, und winke ihnen lange nach. Tatsächlich habe ich an diesem Abend allerdings ziemlich Angst, denn hier unten ist die Nacht rabenschwarz und es knarzt und kracht gewaltig, wenn der Wind die mächtigen Fichten mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung biegt.

Aber dann kommt der Morgen und nichts ist passiert. Ich frühstücke einen Müsliriegel und breche zügig auf. Es sind nur sechs Kilometer bis nach Neuhaus am Rennweg, wo ich mit Katrin verabredet bin und meinen ersten Ruhetag einlege. Für unser Treffen haben wir uns ganz mondän im örtlichen Boutique-Hotel eingebucht. Als ich meinen Personalausweis auf den Empfangstresen lege, sehe ich in den glänzenden Spiegeln dahinter zum ersten Mal seit Tagen mein Spiegelbild. Das ist noch derangierter als befürchtet, man sieht mir an, dass ich frisch aus dem Wald gekrochen komme. Von meinen Schuhen bröseln Dreck und Tannenadeln auf den sauberen Teppichboden. Die Dame an der Rezeption schaut zwar etwas skeptisch, bleibt aber professionell und freundlich. Da unser Zimmer noch nicht frei ist, bietet sie mir einen Kaffee an. Ich wage kaum, am Tisch mit gestärkter weißer Tischdecke Platz zu nehmen. Nachdem ich mein Handy aufgeladen habe, bitte ich die Rezeptionistin, meinen Rucksack aufzubewahren und mir ein Handtuch zu leihen, damit ich ins örtliche Schwimmbad gehen kann.

»Wissen Sie, für mich ist es auch ungewohnt, tagelang im Wald zu schlafen und so schmutzig zu sein«, beichte ich und erzähle von meinem Wanderprojekt.

Sie ist total begeistert und händigt mir eine große Tasche aus, die mit Handtüchern, Bademantel und allem, was man sonst für einen Saunabesuch braucht, ausgestattet ist.

In der Sauna bin ich mit Abstand die Jüngste. Allein zwischen Rentnerinnen stoße ich auf ein Phänomen, das mich schon die letzten Tage begleitete: Ich verstehe die Leute kaum. Von Dorf zu Dorf reden die Menschen am Rennsteig anders. Das wenige, was ich verstehe, dreht sich genau um dieses Thema, denn die Damen wiederum verstehen den neuen Bademeister nicht, der aus einem Nachbarort kommt. Ansonsten kennt hier jeder jeden. Die lustige Rentnerinnenrunde empört sich über eine Familie im Ort, die sich in aller Öffentlichkeit mit Schneeketten verdroschen hat.

Die zur Saunarunde stoßenden Männer schließen sich dem Urteil der Damen an: »Das sind keine Menschen!«

In dieser eingeschworenen Gesellschaft und dem warmen Wasserdampf aale ich mich bis zum späten Nachmittag. Als ich wieder im Hotel aufschlage, erkennt mich die Empfangsdame nicht wieder.

»Sehen Sie, das ist mein ziviles Ich!«, sage ich und lasse mir den schweren Rucksack reichen. Und als ich in dem todschicken Zimmer meine Ausrüstung ausbreite, die schmutzige Wäsche im Waschbecken einweiche und meinen Kocher unter der Dusche spüle, fühlt sich das ein klein bisschen rebellisch an. Meine Merinowäsche ist zwar erst eine Woche in Benutzung, hat aber schon ein paar prächtige Löcher. Das liegt nicht etwa an der schlechten Qualität, denn ich habe sehr viel Geld dafür ausgegeben, sondern an elenden Kleidermotten, die aus den Bergen von Schmutzwäsche flatterten, die mein Exfreund mir hinterlassen hatte. Denn er hatte mir nicht nur einen Haufen ungeklärter Fragen hinterlassen, sondern auch sein Hab und Gut. Die Kleidermotten breiteten sich fröhlich in der ganzen Wohnung aus. Ich stopfte alles, was einen Wollanteil hatte, in Plastiksäcke, die ich einfror, und verteilte Mottenfallen in allen Schränken. Aber als ich Monate später meinen Rucksack packte, musste ich feststellen, dass sein nettes Souvenir die teure Merinowäsche angefressen hatte.

»Was soll’s?«, sagte ich mir. »Während der Wanderung wird mir eh niemand ans wollene Höschen gehen!«

Ich kann ja nicht ahnen, dass ich bald feststellen werde, dass ich nicht die Einzige mit löchriger Wäsche bin. Löcher in Unterhosen gehören anscheinend zu einer Fernwanderung wie Blasen an den Füßen und Bauarbeiterbräune an den Armen.

Am frühen Abend hole ich Katrin am Bus ab.

»Zwei Stunden Busfahrt durch die Provinz und schon hab ich das stressige Berlin komplett vergessen!«, ruft sie zur Begrüßung und drückt mich.

Katrin war für ein Jahr meine Agentin. Ich liebe es, sie mit diesem Satz vorzustellen. Das klingt, als ob sie jederzeit bereit ist, eine Waffe zu zücken, um mich zu verteidigen. Und da sie meist dunkle Kleidung trägt und mit ihren eisblauen Augen bei Bedarf ganz ernst gucken kann, ist das Bild perfekt. Der Anschein der Strenge entpuppt sich spätestens dann als Farce, wenn sie zu lachen beginnt. Zur Leipziger Buchmesse kam Katrin immer bei uns unter. Unsere Beziehung hat sich von einer rein beruflichen zu einer privaten verändert, als wir bei einem der Buchmessenbesuche ein überraschend langes Zeitfenster zum Plaudern hatten. Es war ein ungewöhnlich warmer Märztag. Zwei Stunden saßen wir vor einem Café in der Sonne und zum ersten Mal sprachen wir über Privates. An diesem Tag lernte ich eine andere Katrin kennen als die taffe Agentin, eine, die ebenso emotional und sensibel ist wie ich. Dieses Gespräch hat den Schalter in unserer Beziehung umgelegt und wir wurden Freundinnen. Seitdem treffen wir uns nicht nur zur Messe, sondern auch in Berlin. Dort sitzen wir am liebsten beim Portugiesen, trinken einen Café Galao nach dem anderen, essen Bolo de Arroz und Pastel de Natas und sezieren den Literaturbetrieb. Obwohl Katrin nicht mehr meine Agentin ist, ist sie mein literarischer Schutzengel. Wenn ich Fragen zu meinen Texten habe, ist sie die Erste, die ich um Rat bitte.

Katrin hat ihre dunklen Locken zusammengebunden und trägt dicke Wanderstiefel, die an ihren dünnen Beinen, in enger Laufhose, groß und klobig wirken. Wir bringen ihren Rucksack ins Hotelzimmer und gehen im hauseigenen Restaurant essen. Alles klingt edel und ist teuer, wir können uns kaum entscheiden. Damit sind wir wohl nicht die Einzigen, denn auf der Karte gibt es ein Gericht, das »egal« heißt. Ich nehme egal, denn egal gibt es nach Wunsch auch in glutenfrei.

»Das liegt an unserem Koch, der Zöliakie hat«, verrät uns die Kellnerin. Egal schmeckt wunderbar und alles andere auch. Danach sitzen wir noch bei einem Glas Rotwein zusammen und schauen ins Wanderbuch. Katrin hat sich eine ganze Woche freigenommen. Sie wollte unbedingt durch Thüringen laufen, die Heimat ihrer Oma. Am liebsten wäre sie direkt mit mir zusammen losgewandert, aber ich wollte die ersten Schritte unbedingt alleine machen. Ich habe sowieso Bedenken, ob ich mir mit den ganzen Besuchen während der Wanderung nicht zu viel zumute. Das ununterbrochene Zusammensein auf engstem Raum macht mir zwar keine Sorgen, da weiß ich, dass ich mich mit allen prima arrangieren kann. Aber die Koordination bereitet mir Kopfschmerzen. Und ich habe Angst, neben meinen sportlichen Freunden und Freundinnen eine schlechte Figur abzugeben. Dass Schlanke nicht unbedingt fitter sind als ich, konnte ich schon oft beobachten, aber bei Katrin weiß ich: Sie ist flott.

»Katrin, ich bin die langsamste Wanderin der Welt. Ich hab Angst, dass du dich unterfordert fühlst!«

Sie versichert mir, dass allen klar sei, dass mein Tempo und meine Etappenplanung Vorrang hätten und niemand bespaßt werden oder ein Intensivtraining absolvieren, sondern einfach nur Teil von diesem Riesenprojekt sein wolle.

Am nächsten Morgen wollen wir herauszufinden, was es mit dem im Wanderführer erwähnten ominösen Olitätenland auf sich hat. Statt an Olitäten führt der Weg jedoch erstmal an einer Wildwest-Ranch vorbei, über der eine Südstaatenflagge weht.

»Ich finde jetzt schon alles toll!«, ruft Katrin. »Natürlich nicht diese rassistische crazy Ranch, aber die Natur! Das Draußen-Sein! Raus aus Berlin zu sein! Keine Arbeit! Kein Verkehr! Keine mies gelaunten Leute!«

Die monotone Düsternis des Fichtenwalds ist immer wieder von leuchtend grünen Wiesen durchsetzt.

Sie fragt mich nach der Wohnung.

Ich hatte diese Wohnung geliebt und um jeden Preis halten wollen, dort hatte ich länger gelebt als in meinem Elternhaus. Und für meine Söhne war sie genau das: ihr Elternhaus. Es war eine schöne Altbauwohnung. Sechs Zimmer mit Stuck, Parkett und geölten Dielen hatten uns aufgrund eines uralten Mietvertrags ein mehr als geräumiges Zuhause geboten.

»Ich hab ja die letzten Tage in den Bruchstücken der einstigen Möblierung gewohnt: In der Küche stand nur noch der Herd, es gab keine Schränke, keinen Tisch und keinen Stuhl mehr. Im Schlafzimmer lag eine Matratze. Die einzige Lichtquelle war eine Stehlampe, mit der ich abends von Zimmer zu Zimmer wanderte. Aber irgendwie war es, als ob die Wohnung mir mitteilen wollte, dass es wirklich an der Zeit war, zu gehen! Die alten, freiliegenden Leitungen fingen plötzlich an zu tropfen, das Toilettenrohr fiel ab, hinter den abgehängten Küchenschränken blühte der Schimmel und von den Wänden bröckelte der Putz.«

Die ganze Bausubstanz schrie: Raus hier, aber flott!

Natürlich fragt sie auch nach meinem Ex. Sie weiß, dass mir, als immer mehr Lügen aufflogen, irgendwann der Kragen platzte, aber so richtig: »Ich gehe jetzt zur Arbeit und wenn ich wiederkomme, bist entweder du weg oder ich werde hier nicht mehr schlafen! Einer von uns beiden verlässt auf jeden Fall ab heute diese Wohnung!«

Er schlief ein paar Nächte in unserer Gartenlaube, zog dann zu einem Freund und hatte umgehend eine neue Partnerin. Von Antriebslosigkeit plötzlich keine Spur mehr. Ich dachte, er startet jetzt richtig durch. Als wir noch zusammen waren, hatte ich zuletzt das Gefühl, er hing mir am Bein wie die dicke Bleikugel an der rostigen Kette eines Schlossgespenstes. Nach der Trennung hab ich mich gefragt, ob in Wahrheit ich die Bleikugel an seinem Bein war.

»Aber das interessiert mich nicht mehr. Denn ich kann ganz offiziell verkünden: Ich brauche ihn nicht! Ich kann alleine im Zelt schlafen, ist sogar ruhiger ohne sein Schnarchen, und den Schnellkochtopf kann ich auch selbst bedienen.« Ich habe nämlich nicht nur Angst vor Spinnen, Hunden, Höhe, Gewitter und Dunkelheit, sondern auch vor Sektkorken, Silvesterknallern, Fahrgeschäften, die sich schneller drehen als ein Kettenkarussell. Und Schnellkochtöpfen. Meine Angst war so groß, dass ich sogar die Küche verließ, sobald das Ding auf dem Herd stand. Schuld waren die Horrorstorys, die man in meiner Kindheit über explodierende Schnellkochtöpfe verbreitet hatte. Im Sommer nach der Trennung beschloss ich todesmutig, Kichererbsen zu kochen. Was soll ich sagen? Die Bedienung war denkbar einfach, nichts explodierte, der Topf pfiff nicht einmal.

Weil er sein Zeug einfach nicht abholte, war die neue Mitbewohnerin vorerst im ehemaligen Kinderzimmer meines schon ausgezogenen Sohnes untergekommen, aber zwischen Jugendpostern, Boxsack und Legokiste zu hausen, war keine Dauerlösung. Also übernahmen seine Eltern die Räumung. Das Rentnerpaar holte mit seinem Kleinwagen Fuhre um Fuhre ab. Auch sie waren fassungslos. Und das war das Einzige, was mich noch beruhigte: Dass auch alle anderen ahnungslos waren. Dass ich nicht die einzige war, die getäuscht wurde.

Trotzdem war ich in meinen Grundfesten so heftig erschüttert, dass ich nicht mehr wusste, wem ich noch glauben und vertrauen konnte. Ich hatte die Orientierung verloren, war nur noch ein kümmerlicher Haufen Menschlein mit einer durchgeschüttelten Seele.

Weil keine Wahrheit so schmerzlich ist, wie angelogen zu werden, brach ich den Kontakt ab, so einfach war das. Dachte ich zumindest. Bis er begann, mit seiner Neuen am ZierlichManierlich aufzukreuzen. Ich ging durch die Hölle. Jede Schicht wurde zur Zitterpartie. Ich konnte nichts mehr essen. Mein Magen brannte. Ich war nervös und fahrig, machte blöde Fehler und ließ ständig was fallen. Wenn ich verliebte Pärchen bedienen sollte, brach ich in Tränen aus. Meine Kollegen und Kolleginnen trösteten mich und halfen mir, zumindest den Raum rund um meine Arbeitsstelle zurückzuerobern. Das tat gut. Also sorgte ich dafür, seine Spuren auch aus allen anderen Bereichen meines Lebens zu tilgen. Im Gartenhaus, wo er ein paar Tage gehaust hatte, fing ich an. Auch zu Hause warf ich alles weg, was seine Eltern nicht hatten mitnehmen wollen.

Heute kann ich über das meiste lachen. Damals halfen nur Adrien Brody, Sarkasmus und Galgenhumor. Ich tanzte in der Küche zu Andrea Bergs Schlager »Du hast mich tausendmal belogen«. Ich ging zum Altglascontainer, um mich abzureagieren. Ich donnerte jede leere Flasche einzeln und mit extra Karacho in den Container, feuerte quasi für jede Münchhausiade ein Geschoss ab.

An einer Lichtung neben dem breiten Forstweg legen Katrin und ich die erste Pause ein. Von der Sonne ist nicht mehr viel zu sehen, der Himmel ist grau und trüb geworden. Mit den Köpfen auf den Rucksäcken starren wir den Wolken nach, die immer dichter aufziehen, sich mit weit geöffnetem Maul nähern, als wollten sie die Berge, den Wald und alles, was ihnen sonst in die Quere kommt, verschlucken wie der biblische Wal den Propheten Jona.

»Weißt du«, sage ich, »als alle Spuren von ihm getilgt waren, hatte ich das Gefühl, ich sollte seinen Geist vertreiben. Also räucherte ich sein leeres Zimmer aus. Ich habe keine Ahnung von so was und glaube auch nicht daran, es war mehr eine symbolische Geste. Ich trocknete Salbei aus dem Garten. Den hab ich auf mehreren, im Zimmer verteilten Untertellern abgefackelt. Es stank bestialisch und rauchte wie die Hölle. Aber statt seinen Geist zu vertreiben, habe ich ihn anscheinend gerufen!«

Er hörte einfach nicht auf, mich zu kontaktieren. Jetzt ging es um die Wohnung. Ich hatte ihn bei seinem Einzug als Hauptmieter mit in den Vertrag aufgenommen. Wir hatten einen uralten Mietvertrag und seitdem das Haus verkauft worden war, wollte uns der neue Besitzer gerne loswerden. Bei Kündigung einer Partei hätte er einen komplett neuen Vertrag aufsetzen können. Damit setzte mich mein Exfreund unter Druck. Ich sah meinen Sohn, meine Mitbewohnerin und mich schon mitten im Januar mit einem Köfferchen in der Hand im Schneetreiben auf der Straße stehen.

Wir packen zusammen und marschieren weiter, vorbei an Pferdekoppeln, die von Butterblumen und Löwenzahn gelb gefleckt sind. Das Olitätenland entpuppt sich als Landstrich, der einst für die Herstellung von Ölen, Heilmitteln und Balsamen bekannt war. In den Tälern drängen sich kleine Dörfer und weite Felder. Wir stapfen durch altes Laub, das herbstliche Stimmung hervorruft, obwohl Frühling ist. Katrin hört mir zu. Die ganze Zeit.

Ich denke daran, wie ich nach einer schlaflosen Nacht entschied, die Wohnung und den Schrebergarten aufzugeben. Ich wollte nicht erpressbar sein. Ich wollte auch nicht, dass es in irgendeiner Form noch eine Verbindung zwischen uns gab. Das war genau drei Monate und drei Tage vor der Wanderung. Drei Monate, in denen es für meinen Sohn und meine Mitbewohnerin galt, eine neue Bleibe zu finden, und für mich, zu entscheiden, was ich von einem Vier-Personen-Haushalt für mein zukünftiges Singleleben noch brauchen würde. Man glaubt ja gar nicht, was sich alles ansammelt, wenn man erstens Kinder hat und zweitens jede Menge Platz zur Verfügung. Von der gut gefüllten Karnevalskiste über aufblasbare Gummitiere, Jahreszeitendeko, Spielsachen und Weihnachtsschmuck gab es wirklich viel, was ich für meine Zukunft nicht mehr brauchte. Ich öffnete jede Schublade, jede Kiste, jeden Aktenordner, nahm jeden einzelnen Gegenstand, der sich in unseren sechs Zimmern befand, in die Hand, wo ich ihn betrachtend abwog: Brauche ich dich noch oder nicht? Wochenlang sortierte ich aus und versuchte, so wenig wie möglich wegzuwerfen. Ich verkaufte online und auf Flohmärkten, kontaktierte Selbsthilfewerkstätten, die Obdachlosen- und die Flüchtlingshilfe, inserierte auf Verschenkeplattformen und fuhr zum Schluss doch mehrfach zum Sperrmüll.

Anfangs war ich noch wehmütig, weil ich die Strampler meiner Söhne, meine eigenen Babykissen und die Holzeisenbahn aussortierte, Dinge, die ich eigentlich für meine Enkel aufheben wollte. Aber irgendwann fing es an, Spaß zu machen, meinen Besitz zu dezimieren, obwohl ich überhaupt keine Anhängerin von Minimalismus bin, sondern es in allen Lebensbereichen bunt, opulent, verspielt und überbordend mag. Aber allein beim Anblick meines Arsenals an Kleidern, Schmuck, Schuhen und Handtaschen war ich beinahe erleichtert, mich für ein paar Monate auf zwei Hemden und zwei Hosen zu beschränken. Ich reduzierte den Inhalt meines Kleiderschrankes um die Hälfte. Ich ging nicht mehr einkaufen, kochte mit dem, was in Vorratsschränken und Kühlschrank stand, improvisierte die seltsamsten Gerichte, verbuk zerbröselte Kekse, Dosenobst und Likör, verkochte Dinge, die seit Urzeiten in den hintersten Ecken verstaubten und löffelte Konserven, Einmachgläser und Konfitüren aus. So leerte ich in allen Räumen der Wohnung Behälter für Behälter, Regalbord für Regalbord und Schrank für Schrank.

Das Aussortieren war eine Reise durch die Vergangenheit. Ich kramte in Fotokisten und sah Alben durch, blätterte in uralten Kalendern und Briefen. In einer alten Blechdose stieß ich auf meinen Punkerschmuck aus Teenagertagen, von dem ich nicht mal mehr wusste, dass ich ihn aufgehoben hatte. Die Tagebücher, die ich zwischen meinem elften und siebzehnten Lebensjahr geführt hatte, fand ich so deprimierend, dass ich sie wegwarf.

Der größte Brocken war meine stattliche Bibliothek. In meinem Arbeitszimmer standen die Regale bis unter die hohe Altbaudecke, voll mit Büchern, geordnet nach Farben. Dazu kamen turmhohe Stapel ungelesener Bücher. In mein Bücherregal dürfen nämlich nur Bücher einziehen, die brav waren, sprich, von mir gelesen und für gut befunden wurden. Das Aussortieren der Bibliothek tat richtig weh, es war, als ob ich mir einen lebenswichtigen Teil aus meinem Körper riss. Aber einmal angefangen, fiel es mir immer leichter, und letztendlich trennte ich mich von der Hälfte des Bestands.

Und noch etwas tat ich in diesen Wochen: Ich nahm jede Einladung an, egal zu welchem Anlass. Ob Kino, Sauna, Kindergeburtstag, Jubiläumsfeier, ob in großer Runde oder nur zu zweit: ich versuchte so viel von meinen Freunden und Freundinnen zu bekommen wie möglich, bevor ich sie für so lange Zeit vermissen musste.

Was ich behielt, stapelte ich bei meinem Nachbarn bis unter die Decke. Magdalenas Sohn, der half, die Möbel aufeinanderzuhieven, meinte angesichts des schwankenden Gerümpelturms, er fühle sich wie im Raum der Wünsche in Hogwarts. Am Ende passte alles, was ich für die kommenden Monate brauchte, in einen Wäschekorb.

»Ich hab übrigens deine Socken-Wegwerf-Methode übernommen, tut wirklich gut!«

Ich weiß, was Katrin meint: Während der Wohnungsauflösung zog ich mit Absicht nur alte, abgetragene Sachen an. Mit löchrigen Socken, ausgeleierten Strumpfhosen, verfärbten T-Shirts, zerrissenen Hosen und verwaschener Unterwäsche entrümpelte ich Zimmer für Zimmer und es war außerordentlich befriedigend, abends die Kleidung nicht in die Schmutzwäsche, sondern in den Mülleimer zu stopfen.

Mittags erreichen wir einen Aussichtsturm, der dem Pädagogen Friedrich Fröbel gewidmet ist. Fröbel, in Oberweißbach geboren, war Begründer des Kindergartens. Wir lassen uns an einem Holztisch nieder und essen ein paar Snacks. Auf dem Plateau weht der Wind so kalt, dass wir nicht lange pausieren. Und dann fängt es auch noch an zu regnen! Katrin schlüpft unter einen blauen Poncho. Weil ihre Isomatte quer am Rucksack steckt, ist sie jetzt ein wandelndes Quadrat auf zwei dünnen Beinen. Wie Spongebob oder Bernd das Brot, nur in Blau.

Auf nassem Gras schlittern wir den steilen Hang in den Ort hinab. In Oberweißbach reihen sich die Schieferhäuser schräg am Hang aneinander und verströmen den Charme englischer Arbeitersiedlungen. Weiter bergab schweben wir mühelos und trocken in der Oberweißbacher Bergbahn. Seit 1922 kann man mithilfe der Standseilbahn die Strecke zwischen Hochfläche und Tal durch eine achtzehnminütige Fahrt überbrücken. Die Bahn ist ein Touristenmagnet. Der Schaffner erklärt alles Wissenswerte zur Bahn, mit der er täglich von früh bis spät den Berg hinauf- und wieder hinabfährt. Er ist engagiert und euphorisch, dabei sind wir die Einzigen in der Kabine, die ihm zuhören.

»Wird Ihnen das denn nie langweilig?«, frage ich.

»Überhaupt nicht!«, ruft er. »Ich hab ja jahrelang darauf gewartet, hierhin versetzt zu werden, das ist mein absoluter Traumjob!« Und tatsächlich wirkt er unglaublich zufrieden.

Mit dem GPS des Handys lotse ich uns über Forstwege auf den EB zurück. Vorbei an der Tristesse verlassener Provinzdörfchen, ruinöser Schiefervillen, verfallener, einst mondäner Hotels und einem riesigen, aufblasbaren Nikolaus, der traurig und ausgeblichen auf einem alten Bahnhofsgebäude sitzt, gelangen wir an die Schwarza, an deren Quelle ich zwei Nächte zuvor gezeltet habe. Aus dem schmalen Rinnsal ist ein dunkles Flüsschen geworden. Im saftigen Grün weitläufiger Auen rauscht das Wasser im steinigen Bett zügig voran, und vom schmutzig grauen Himmel rauscht der Regen zügig auf uns nieder. Meine Schuhe und Socken sind komplett durchweicht, die Pflaster haben sich längst gelöst. Es pocht und sticht gleich an mehreren Stellen.

Die letzten Kilometer quäle ich mich nur noch. In einer Flusskurve bauen wir im strömenden Regen hinter Weidengestrüpp das Zelt auf. Ich klebe mir im strömenden Regen neues Tape auf die Blasen. Wir kochen im strömenden Regen Kartoffelpüree mit Rotkohl. Wir essen im strömenden Regen. Wir ziehen uns im strömenden Regen aus und hängen unsere Regenjacken, die längst auch von innen klatschnass sind, an einen Ast. Pink und Blau leuchten sie und flackern bei jedem Windstoß, so wie unsere Hoffnung, dass eben dieser Wind den Regen in die Schranken weist und unsere Jacken trocken bläst. Nass und verfroren kriechen wir ins Zelt.

Es tropft und tropft, und trotzdem schlafen wir tief und fest, eingelullt vom Plätschern der Schwarza und dem Rauschen von Regen und Wind, die zusammen ein Wiegenlied für uns müde Wanderinnen singen, das süßer nicht sein könnte.

Am nächsten Tag kann ich kaum Schritt halten mit Katrin, bin aber fest entschlossen, mich von ein paar dummen Blasen nicht aufhalten zu lassen. Der Himmel ist grau, mit tief hängenden Wolken, doch wenigstens regnet es nicht mehr. Feuersalamander kreuzen unseren Weg. An einem Freibad mitten im Wald ist Subbotnik angesagt: Freiwillige harken das Laub auf den Wiesen zusammen und säubern das leere Becken. Hoch oben auf der anderen Uferseite thront das Schloss Schwarzburg über den Wipfeln frisch geschossenen Grüns. Trotz seiner maroden Fassade wirkt es vornehm und herrschaftlich. »Goldwaschen verboten« steht auf einem Schild am Flussufer. Die Schwarza ist nicht nur reich an Forellen: Früher wurde hier Goldwaschen im großen Stil betrieben. Angekommen im pittoresken Örtchen, das mit Fachwerk- und Schieferhäusern auftrumpft, gönnen wir uns ein zweites Frühstück in einer Konditorei und tratschen ein bisschen über den Literaturbetrieb.

Immer am wildromantischen Fluss entlang geht es unter steil aufragenden Hängen durch tiefen Wald. Ich kühle meine Füße im eiskalten Wasser. Aber bald beginnt es wieder zu regnen. Es regnet und regnet und regnet. Nichts bleibt trocken. Wir sind nass bis auf die Haut, meine Blasen werden immer größer und dicker, und es ist kalt. Die Laune ist im Keller. Abends kapitulieren wir und suchen uns ein Hotel.

Während ich jeden freien Zentimeter mit Isomatten, Schlafsäcken, Zeltplanen und Kleidern behänge, schnippelt Katrin uns einen Salat im Kochertopf.

Das Motto der folgenden Etappe ist Asphaltromantik. Wir passieren eine Lärmschutzwand, queren die Bundesstraße, marschieren durch ein Industriegebiet mit stinkenden Schloten und laufen kilometerweit über einen geteerten Fahrradweg, immer an einer Bahntrasse lang. Auf den Schienen rauscht ein Zug nach dem anderen vorbei. Das Ganze natürlich im Dauerregen. Zwar führt der Radweg irgendwann an die Saale und an ihrem Lauf wieder durchs Grün, bleibt aber asphaltiert. Die Blasen an meinem Fuß schwellen pflaumengroß an. Ich laufe neben dem Weg im nassen Gras, aber es hilft alles nichts, jeder Schritt bleibt die Hölle, und weil eine Blase am Fußballen sitzt, kann ich kaum auftreten.

»Nur die Aussicht auf Kaffee und Kuchen treibt mich noch an!«, gestehe ich Katrin.

»Sollst du haben!«

Also erobern wir in Saalfeld schnurstracks das erstbeste Café. Während ich in meinem Cappuccino rühre, sind meine Gedanken in Aufruhr. Meine Füße tun so weh, dass ich eigentlich keinen einzigen Schritt mehr gehen möchte, zumal es immer noch in Strömen regnet. Aber Katrin hat sich ja extra Urlaub genommen. Und wir haben diesen Trip so lange zusammen geplant, ich möchte sie nicht enttäuschen. Trotzdem weiß ich, dass Weitergehen keine Option ist. Also nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und sage ihr, dass ich nicht mehr laufen kann. Ich fange an, herumzustammeln, aber Katrin winkt ab und beruhigt mich, dass ich mir um sie keine Gedanken machen soll, daran sei ja nichts zu ändern.

»Und vor allem: Es ist gar nicht schlimm!«, ruft sie und bestellt fröhlich noch eine Runde Kaffee und Kuchen.

Ich bin total erleichtert. Wir quartieren uns in der nächsten Pension ein.

Dort desinfiziere ich die Blasen und steche sie mit einer Nähnadel auf. Ich bohre in jede Blase zwei Löcher, durch die ich Zahnseide ziehe. Die Enden verknote ich. So kann die Wundflüssigkeit dauerhaft abfließen und die Blasen trocknen aus.

Während ich in meinem Medizintäschchen nach Wundsalbe krame, fällt mal wieder das Kondom raus.

»Das kann ich eigentlich gleich wegwerfen. Unnötiger Ballast.«

»Bloß nicht! Sortier andere Sachen aus, aber das nicht!«, ruft Katrin. »Man weiß doch nie.«

»Das meinte Magda auch schon. Glaubt ihr wirklich, dass es zum Einsatz kommt?«

»Nee, eigentlich nicht. Aber es wäre doch dumm, wenn’s im Fall der Fälle daran scheitert.«

Ich stecke das schon leicht zerknitterte Kondom also folgsam zurück in die Medikamentenbeutel. Es erinnerte mich an das eine Kondom, das ich als Teenager jahrelang in meinem Portemonnaie mit mir herumgetragen hatte, einfach weil unsere Mädchen-Clique einstimmig beschlossen hatte, dass wir ab nun stets für den Fall der Fälle gewappnet sein mussten. Wo wir die Kondome her hatten, weiß ich nicht mehr, vermute aber, dass wir uns zusammen unter lautem Gekicher und mit hochroten Köpfen eine Packung gekauft und zwischen uns aufgeteilt hatten. Meins zumindest war nie zum Einsatz gekommen. Es war höchstens in den unpassendsten Situationen zwischen Münzen und zerknitterten Einkaufszetteln rausgerutscht, bis ich es eines Tages entsorgte, weil es vollkommen zerkratzt, luftleer und vertrocknet war.

Weil der Hotelbesitzer denkbar unfreundlich ist, verzichten wir auf ein Essen in seiner Gaststube und kochen auf unserem Zimmer mit dem Spirituskocher Tütenreis. Danach verlustieren wir uns auf der furchtbar hässlichen weißen Ledercouch, zappen durch das Fernsehprogramm und bleiben an einer Doku über die slowakische Tatra hängen.

Katrin durchforstet nebenbei die Webseite der Interessengemeinschaft EB, auf der alle Informationen rund um den Weg gebündelt sind. »Guck mal, hier gibt es eine Tabelle, in der angegeben ist, wie viele Wanderer sich jährlich auf den Weg machen und wie viele davon das Ziel erreichen. Da ist ja nicht gerade viel los auf dem EB. Für dieses Jahr sind drei Starter registriert.«

»Naja, da haben die mich aber nicht mitgezählt. Die können ja nur Leute erfassen, die sich bei denen gemeldet haben.«

»Mach das doch mal, es wäre doch interessant herauszufinden, wer die anderen sind. Vielleicht sind sie nett und ihr trefft euch unterwegs! Hier steht eine Mailadresse. Bert heißt der Mann, dem du schreiben kannst.«

Und das tue ich am nächsten Tag, nachdem ich Katrin zum Bahnhof gebracht hab. Weil es immer noch ohne Unterlass regnet, bin ich umso froher, zu pausieren. Ich habe nicht einmal Lust, die örtlichen Feengrotten zu besichtigen, bleibe stattdessen einfach den ganzen Tag auf der scheußlichen Couch liegen, esse Tütenpudding und sehe den Wasserschlieren auf der Fensterscheibe beim Herunterrinnen zu.

Als Bert antwortet, stellt sich heraus, dass er längst von meiner Wanderung weiß. Das kam so: Bert hat ein paar Jahre zuvor bei einem Preisausschreiben meinen zweiten Roman gewonnen. Und weil er daraufhin meine Karriere verfolgte, bekam er mit, als ich auf meiner Homepage großspurig verkündete, mich am EB zu versuchen. Nun versorgt er mich mit Tipps und vernetzt mich mit den anderen zwei EB-Wanderern. Beide wollen am 1. Mai aufbrechen. Ein Mann startet in Budapest und eine ältere Dame in Eisenach. Bert lädt mich außerdem ein, bei ihm zu übernachten, wenn ich in Sachsen bin, denn er wohnt nicht weit weg vom EB. Als ich meinen Klubbies davon berichte, schreibt Nina, übrigens die nächste auf meiner Besucherliste: »Jewish Mama says be careful!«

»Nina, ich glaub, der Mann ist Rentner!«

»Na das sind doch die schlimmsten!«

»Du darfst bestimmt unter einem Bild mit röhrendem Hirsch schlafen«, wirft jemand anders ein.

»Oder der Rentner wird selbst zum röhrenden Hirsch«, trägt Vera bei.

Am nächsten Morgen scheint endlich wieder die Sonne. Ich starte vorsichtig in den Tag. Vorbei an der alten Stollwerck-Schokoladenfabrik geht es aus dem Städtchen hinaus. Fachwerkdörfer, Felder und Forst wechseln sich ab.

Der andere EB-Wanderer meldet sich bei mir. Er ist auf dem Weg nach Budapest, wo er ein paar Tage verbringen will, bevor es losgeht. Drei Monate hat er für den gesamten Weg angesetzt.

»Ich bin sehr minimalistisch unterwegs«, schreibt er, »bin ein Ultraleicht-Hiker der verrückten Sorte. Meine gesamte Ausrüstung wiegt nur 4,5 kg. Wird aber unterwegs noch weniger werden, da ich vorhabe, noch was rauszuschmeißen.« Er erklärt, aus der Bushcraft-Szene zu kommen, nicht viel zu brauchen und gerne im Wald zu schlafen, im Zelt fühle er sich eingesperrt. Von mir will er wissen, ob ich die Variante über Riesengebirge und Tatra gehe und ob ich auf einem Selbstfindungstrip sei. Über letzteres kann ich lachen, aber mit meinem dicken Rucksack fühle ich mich plötzlich total überladen. Und von Wegvarianten weiß ich nichts. Ich komme mir also auch noch schlecht informiert und mies vorbereitet vor. Außerdem habe ich fünf Monate für die Strecke angesetzt und von den angepeilten 30 Kilometern Tagesleistung bin ich mit den kaputten Füßen noch weiter entfernt als ich es in der ersten Woche war. Ich röchele bergauf immer noch wie eine Oma am Rollator, aber wenigstens muss ich nicht mehr alle fünf Meter stehen bleiben, um Luft zu holen, sondern nur noch alle zwanzig. Im Angesicht der euphorischen Nachrichten des Ultraleicht-Typen fühle ich mich wie eine Versagerin. Kurz später stellt sich auch die EB-Wanderin am Handy vor, sie ist frisch in Rente und erfüllt sich mit der Wanderung einen lang gehegten Traum.

Die Luft ist erfüllt vom Duft blühender Rapsfelder und Obstbäume. Mit Löwenzahn übersäte Wiesen schmiegen sich an die Bergflanken. Bald erreiche ich die Talsperren Thüringens. Der Oberlauf der Saale mäandert in scheinbar natürlichen Schleifen durchs tiefe Tal und schmiegt sich dabei so sanft um die bewaldeten Hügel, dass man kaum glauben mag, wie sehr der Mensch hier seine Finger im Spiel hatte. Die sogenannte Saalekaskade, ein Stausystem aus fünf Talsperren, wurde in den dreißiger und vierziger Jahren gebaut. Was einst den Elbschiffsverkehr auch bei Niedrigwasser sichern sollte, dient heute der Energiegewinnung. Aus der Höhe blitzen zwischen den roten Fichtenstämmen immer wieder die tiefblauen Flussschleifen auf. Manchmal führt der fußbreite Pfad aber auch direkt zwischen Seen und steilen Schieferhängen entlang.

An der monumentalen Staumauer des oberen Speicherbeckens der Talsperre Hohenwarte treffe ich zwei ortskundige Spaziergänger, die mir das gigantische, ins Tal führende Röhrensystem des Pumpspeicherwerks zeigen. Als ich ein Panoramabild von den Fallrohren und dem darunter liegenden unteren Speicherbecken, das sich in einer runden Schlaufe um den Hügel windet, schießen möchte, entreißt mir ein heftiger Windstoß einen meiner Trekkingstöcke. Klackernd purzelt er zwischen die riesigen weißen Rohre, rutscht mehrere Meter und bleibt schließlich – gerade noch in Sichtweite – an einer Querstrebe hängen.

»Ui, Mist! Ob ich ganz frech über die Absperrung klettern kann?«

»Naja, ich glaube, das ist keine gute Idee«, sagt der Mann, und seine Frau fügt hinzu: »Man kann es schon schaffen, aber es ist alles videoüberwacht und die hohen Zäune und Sicherheitsabsperrungen gibt’s sicher nicht umsonst …«

»Aber wir kennen jemanden, der beim Energieversorger arbeitet. Wir könnten da mal nachhaken«, bieten sie mir schließlich an und notieren sich meine Telefonnummer.

Abends frage ich an einer Jugendherberge, ob ich mein Zelt im Garten aufschlagen darf. Der Herbergsvater mustert mich von Kopf bis Fuß und brüllt: »Beim nächsten Mal aber richtige Schuhe an! Das sind doch keine Wanderschuhe!«

Es muss für manche Männer echt ein Problem sein, wenn da so eine kleine dicke Frau kommt, die das Ding einfach macht.

Auf der Bank vor der Herberge unterhalte ich mich mit den einzigen anderen Gästen, einem Paar, das eine mehrtägige Talsperrentour macht. Die Frau streckt ihre schmerzenden Beine von sich. Als sie aufsteht, um sich ein Glas Wasser zu holen, ist ihr Gang holprig und steif. Diese Art zu gehen ist mir nur zu vertraut, auch ich bekomme abends kaum noch gerade Schritte hin. Fersen und Sehnen ziehen derart schmerzhaft, dass es dauert, bis man wieder in Gang kommt. Der Fernwanderergang zeichnet sich dadurch aus, dass man breitbeinig läuft wie ein Cowboy, der sieben Wochen durch die Wüste geritten ist, und zugleich so krumm und lahm wie ein Tattergreis. Landet man abends in einer Pension mit Treppen, stakst man diese hoch, als hätte man sich in die Hose gemacht. Ich gebe der Frau ein Tütchen Magnesium gegen die schmerzenden Glieder. Wir verstehen uns prima und hätten gerne noch ein wenig in Ruhe geplaudert, aber der Herbergsvater muss jetzt beweisen, dass er the next Rüdiger Nehberg ist und fällt uns permanent ins Wort, um uns die frohe Kunde seiner Survival-Erlebnisse zu überbringen. Weil sein Augenzeugenbericht nicht den nötigen Eindruck hinterlässt, fühlt er sich bemüßigt, uns Videobeweise vorzulegen. Er hält uns sein Handy in voller Lautstärke vor die Gesichter, damit wir auch jedes Detail seines letzten afrikanischen Abenteuers verfolgen, wo er unter einer briefmarkengroßen Plane mitten in einem unzugänglichen Kaktuswald nächtigte und dabei natürlich auch noch einem Unwetter ausgesetzt war, wie es die Savanne seit Jahrhunderten nicht erlebt hatte. Glücklicherweise wird der große Held von seiner Frau bald zu Bett gerufen und wir haben endlich Ruhe.

Es ist der 1. Mai und somit der Tag, an dem die beiden anderen EB-Wanderer ihre Tour starten. Sie nehmen mich in ihre WhatsApp-Gruppen auf, denn genau wie ich halten auch sie ihre Bekannten auf diesem Weg auf dem Laufenden. Der Ultraleicht-Typ postet ein Video von sich am ungarischen Startpunkt. Darin lobt er Budapest als weltoffene Stadt, die dank Orbán glücklicherweise frei von Salafisten sei. Erschrocken und wütend klicke ich das Video weg.

Als ich mich wieder beruhigt habe, schreibe ich zuckersüß in die Gruppe, dass ich ihm einen guten Start auf dem Weg der Freundschaft wünsche, der ja zur Völkerverständigung gegründet wurde und füge noch hinzu: »Und da würde ich direkt gerne wissen, was du mit deiner Bemerkung zu Orbán und den Salafisten meinst.«

Daraufhin entschuldigt er sich immerhin für seine »leicht politisch angehauchte Äußerung, die in einer Wandergruppe nichts zu suchen hat«. Da sich sonst niemand distanziert, entscheide ich, nur noch stumme Beobachterin in der Gruppe zu sein. Täglich erreichen mich nun Nachrichten heroischer Leistungen. Die Rentnerin stürmt schon in aller Herrgottsfrühe die Piste. Sie rast in einem Tempo über den Rennsteig, als habe sie die Bundesbank ausgeraubt und sei auf der Flucht. Wofür ich zwei Tage brauchte, das schafft sie an einem. Der Ultraleicht-Typ ist nicht minder flott unterwegs. Während ich mich noch frage, ob ich jemals dreißig Kilometer an einem Tag schaffen werde, rennt er schon vierzig. Nachts schläft er unter einem selbstgenähten Tarp und einem Regenschirm im blanken Laub und tagsüber springt er über die Budaer Berge wie Super Mario. Ich krieche derweil in gewohnter Schneckenmanier die Hügel hoch und keuche wie eine Dampflokomotive.

Durch das Schneetreiben der Kirsch- und Apfelblüten buckliger alter Obstbaumalleen laufe ich von Dorf zu Dorf, wo sich Fachwerk- oder Schieferhäuser um Weiher und Kirchen drängen. Die Friedhöfe sind alt und klein, meist werfen nur eine handvoll Grabsteine ihre Schatten über die Wiesen. An den Bächen klappern alte Mühlräder. Postmeilensäulen markieren das historische Wegenetz. Immer wieder führt der Weg an die mächtigen Seen des Talsperrensystems. Noch sind einige Bäume kahl, und so fällt mein Blick oft durch ihre Kronen auf die Weiten des zuweilen schwarz schimmernden Wassers.

In diesen Tagen erreicht mich eine E-Mail der Hausverwaltung. Erstens akzeptieren sie meinen Nachbarn nun doch nicht als Bevollmächtigten und erklären aus diesem Grund das Mietverhältnis als nicht ordentlich beendet, und zweitens wollen sie, dass ich die Wohnung renoviere. Und zwar innerhalb von vierzehn Tagen. Dabei steht im Übergabeprotokoll schwarz auf Weiß, dass ich die Wohnung unsaniert übernommen habe und nur besenrein hinterlassen muss. Jetzt soll ich die Tapete abreißen, die Wände weißen, Fenster, Wanne und Fliesen putzen und den Balkon fegen. Ich fange an zu heulen. Als ich mich beruhigt habe, rufe ich eine Anwältin an. Die lacht nur, als ich ihr die Mail und das alte Wohnungsprotokoll weiterleite: »Nu wandern Sie mal schön weiter, Frau Salentin, ich schreib denen einen knackigen Dreizeiler und damit ist die Sache vom Tisch. Sollte die Kaution bis zu Ihrer Rückkehr noch nicht überwiesen sein, kümmere ich mich gern kostenpflichtig, aber für den Witz hier will ich nichts.«

Ich atme auf, sah ich mich doch schon im Zug nach Leipzig sitzen und Tapete von den Wänden kratzen, und gehe weiter meines Weges.

Abends erreiche ich eine offene Schutzhütte oberhalb von Ziegenrück. Ich baue nur mein Innenzelt in der Hütte auf. Aus dem Fenster kann ich auf das Dorf im Tal und die Flussschleife gucken. Langsam versinkt die Sonne über dem fernen Bergrücken und überzieht die Wipfel der Nadelbäume mit einem goldenen Orange. Diesen idyllischen Anblick genieße ich beim Abendessen. Es ist so kalt, dass ich mir zum Schlafen Mütze und Daunenjacke überziehe, an der noch ein Hauch Parfum aus meinem zivilen Leben hängt. Ich schlafe trotz der Kälte tief und fest.

Bis mich ein lautes Knurren weckt.

Vor der Hütte grollt, bellt und schnauft es so archaisch, dass ich zu Tode erschrecke. Ich weiß nicht, was nur wenige Zentimeter neben meinem Zelt tobt, aber mir ist klar: Es ist groß und es ist gefährlich.

Oh mein Gott, es gibt ihn doch, den Werwolf! Jetzt geht’s dir an den Kragen!, wimmere ich innerlich, unfähig, mich zu rühren. Zerberus, der Höllenhund, knurrt immer lauter. Und dann klingt es, als ob direkt neben mir jemand abgemurkst wird. Der eine grollt und knurrt, der andere quietscht und kreischt, als werde ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen.

Ich zittere. Mein Herz pocht so stark, dass mein Brustkorb fast platzt. Es ist stockduster, ich sehe meine Hand vor Augen nicht und fühle mich in meinem Zelt wehrlos ausgeliefert wie in einem Käfig. Irgendwann begreife ich, dass es weder Werwolf noch Bluthund noch Wächter der Unterwelt sind, die direkt neben mir ihr Unwesen treiben, sondern aufgebrachte Bachen, die ihre Frischlinge schützen wollen.

Du musst die blenden, das ist deine einzige Chance!, denke ich und greife nach der Stirnlampe. Die Isomatte knarzt. Meine Rettung! Denn das Geräusch macht den Tieren anscheinend mehr Angst als sie mir: So plötzlich, wie das Spektakel losging, ist es auch vorbei, die Wildschweinrotte verschwindet von alleine und ward nicht mehr gehört. Den Rest der Nacht klammere ich mich an meine Stirnlampe und bekomme kein Auge mehr zu.

Aber am nächsten Morgen bin ich glücklich. Es ist genau das passiert, wovor ich am meisten Angst hatte, und ich habe es überlebt! Ich fühle mich, als ob ich den Adventure-Ritterschlag erhalten hätte. Und deshalb ist es auch in Ordnung, dass mein Körpergeruch nach mehreren Zeltnächten am ehesten mit odeur de sanglier zu bezeichnen ist.

Es wird nun täglich kälter. Die Täler sind nebelverhangen, Rehe springen über frostige Wiesen, Krähen krächzen von den starren Kronen.

An der Bleilochtalsperre schlage ich mein Zelt auf und friere so sehr, dass ich kaum ein Auge zumache. Morgens krieche ich in zentimeterhohen Schnee. Im Mai. Der Rundweg um den Stausee ist mit einer knirschenden weißen Schicht bedeckt. Immerhin: Ein Rundweg, so könnte man meinen, ist eigentlich eine sichere Sache, um sich nicht zu verlaufen. Ich schaffe es trotzdem. Überhaupt habe ich mich schon ziemlich oft auf dem EB verlaufen, weil ich keine Markierungen gefunden oder die Wegbeschreibung im Wanderführer falsch verstanden habe.

Es schneit fröhlich weiter. Meine Brillengläser sind nass und beschlagen, ich fühle mich wie ein Grottenolm. Dieser Lurch ist nämlich nicht nur der König der Langsamkeit, sondern auch noch blind. Der Grottenolm kommt im Lauf eines Jahres höchstens fünf Meter voran. Eine weitere Gemeinsamkeit verbindet uns: die blasse, rosafarbene Haut. Die Faulheit des Grottenolms dient der Energieersparnis, das ist mir sehr sympathisch, denn auch darin sind wir uns ähnlich: Der Lurch bewegt sich nur, wenn er auf Nahrungssuche geht. Und Grottenolme werden nicht erwachsen. Auch darin bin ich gut. Deshalb singe ich jetzt laut Karnevalslieder, um mich aufzumuntern. Ich bin eigentlich kein Jeck, aber die Lieder habe ich quasi mit der Muttermilch aufgesogen.

»Ich ben ne Räuber, leev Marielche, ich ben ne Räuber durch un durch. Ich kann nit treu sin, läv en dr Daach ren, ich ben ne Räuber, maach mr kein Sorch!«, gröle ich und »Op dem Markt, op dem Markt stonn de Buure, decke Eier, fuhle Prumme, lange Muhre! Un die Lück, un die Lück sin am luure, op die Eier, op die Prumme, op die Muhre! In Colooooohooonia!« Und natürlich: »Echte Fründe ston zesamme, ston zusamme so wie eine Jott un Pott. Echte Fründe ston zesamme, es och dih ein Jlück op Jöck un läuf dir fott!«

Als ich davon im Klub berichte, gesteht Gaëlle, die schon viele Jahre im ZierlichManierlich arbeitet und in Tschechien mit mir wandern wird, dass lautes Singen im Wald eine ihrer geheimsten Leidenschaften wäre.

»Das machen wir zusammen, wenn du im Juni kommst!«, antworte ich.

Eine andere Freundin schreibt: »Wenn Stare in der Nähe sind, kannst du ihnen dadurch die Lieder beibringen.«

Eine schöne Vorstellung! Was wohl der nächste Wanderer denkt, wenn es an Deutschlands größtem Stausee plötzlich von den Bäumen trällert: »Dicke Mädchen haben schöne Namen, heißen Tosca, Rosa oder Carmen!«

So komme ich einigermaßen amüsiert voran, während die Schneeschicht immer höher wird. Mittags wische ich den Schnee von einer Bank und koche mir mit dem Schmelzwasser Kartoffelpüree, das schneller kalt wird, als ich es mit meinen behandschuhten Fingern essen kann. Am Nachmittag erreiche ich vollkommen durchnässt und verfroren eine Straße. Vor mir liegen zwei Optionen: Auf dieser Straße den Stausee überqueren und in Saalburg landen, wo es eine Pension gibt, oder weiter um die südliche Bleilochtalsperre laufen, bis ich nach deren Umrundung anderthalb Tage später von der anderen Seite ebenfalls Saalburg erreiche. Von Bert weiß ich, dass auf dieser Schlaufe zurzeit alle Gaststätten und Unterkünfte geschlossen sind, was eine weitere Zeltnacht im Schnee bedeuten würde. In meinem Kopf kämpft die Streberin gegen die faule Socke. Tatsächlich kämpfe ich mich noch ein paar Meter weiter durch den Schnee am Seeufer, bevor ich mir innerlich selbst an die Stirn tippe und umdrehe. Vernunft ist auch nicht das Schlechteste, denke ich und mache mich bibbernd auf die Suche nach der Pension. Als ich mich im Zimmer aus den nassen Kleidern schäle, ist meine Daunenjacke völlig verklumpt und um den Schlafsack ist es auch nicht besser bestellt. Das Tauwasser ist nämlich seitlich unter den Regenschutz gelaufen und hat sich unten in einer dicken Blase gesammelt. Kein Wunder, dass mir der Rucksack seltsam schwer vorkam. Der gesamte Inhalt ist durchtränkt. Also heißt es mal wieder Ausrüstung im Zimmer verteilen und hoffen, dass alles über Nacht trocknet. Generell entwickelt man sich als Fernwanderer zum Schrecken aller Zimmermädchen: Zelt und Isomatte, Schlafsack und Kleider werden zum Trocknen aufgehängt, jede Ecke des Raums mit nassen Socken und Unterhosen dekoriert, das rußverschmierte Kochgeschirr im Waschbecken ausgewaschen und Klopapierrollen geklaut. Ich drehe die Heizung hoch und krieche nach einer heißen Dusche immer noch frierend unter die Decke. Trotzdem fühle ich mich wie ein Weichei, denn richtige Survival-Outdoor-Cracks hätten natürlich auch im klatschnassen Schlafsack und bei minus dreißig Grad noch im Schnee gezeltet. Mitten in diesem Stimmungs- und Motivationstief schreibt auch noch die rasende Rentnerin, dass sie mich bald einholen möchte. Eigentlich ist es eine nette Nachricht, denn sie lädt mich in ihr Zuhause ein, das nicht weit vom Weg liegt. Aber jetzt fühle ich mich erst recht wie eine Niete, denn sie ist ja zwölf Tage nach mir gestartet und beinahe doppelt so alt! Deprimiert und voller Versagensängste heule ich meinen Klubbies die Ohren voll.

»Man soll sich nur mit sich selbst vergleichen, weißt du das noch nicht?«, tröstet mich Vera.

Gut, wenn ich es von diesem Standpunkt betrachte, habe ich natürlich Grund, stolz auf mich zu sein, denn immerhin bin ich schon 260 Kilometer weit gekommen. Andererseits bin ich noch keine 300 Kilometer gelaufen und lege schon den ersten Cheatday ein … Dabei habe ich in den Blogs der Thruhiker gelesen, dass die oberste Devise connecting footsteps heißt!

»Rebecca, kein Hahn wird am Ende danach krähen, ob du wirklich jede Etappe einzeln abgelatscht bist!«, sagt Magdalena und fügt hinzu: »Ich kann nicht mal verstehen, dass du dir darüber überhaupt Gedanken machst! Ich hätte keine Sekunde gezögert! Und jetzt genieß bitte alle Vorzüge, die ein Pensionszimmer zu bieten hat!«

Ich bin eben jemand, der immer alles richtig machen möchte. Das ist ein Problem. Und Probleme hab ich eigentlich schon genug. Also beschließt die rheinische Frohnatur, sich nicht mehr daran zu stören, dass sie so langsam ist. Ich treffe eine grundsätzliche Entscheidung: Weg mit dem Leistungsdruck. Sollen doch andere vierzig Kilometer am Tag und steile Bergpassagen im Eiltempo schaffen, für mich ist nicht wichtig, wie ich die Berge hochkomme, sondern dass ich sie hochkomme.

Wenn ich es bis Tschechien schaffe, schaffe ich auch den Rest! Das ist meine neue Devise.

Der Ultraleicht-Typ schmeißt übrigens nach einer Woche das Handtuch. Er bricht die Wanderung ab, weil seine Ausrüstung im Regen versagt hat und sein Knie geschwollen ist. Bert versucht noch, ihm aus der Ferne zu helfen. Der Trailangel googelt ungarische Busfahrpläne und Läden für Campingartikel in der Nähe des Bushcrafters. Aber der möchte sich kein Zelt kaufen und es langsamer angehen, er tritt lieber die Heimreise an. Und auch die rasende Rentnerin werde ich nie treffen. Sie stürzt und muss ein paar Wochen pausieren. In der Zeit wird mein Vorsprung zu groß, um mich noch einzuholen.

»Mama, Hauptsache, du gibst nicht auf!«, mahnen mich meine Söhne, als ich ihnen davon berichte.

Klub Drushba

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