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Persönliche Erfahrungen mit Krankheit und Tod

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«Das Bild des Sarges, der aus dem Haus getragen wird, werde ich nie vergessen. Im Sarg lag mein Vater, und das Haus, in dem er bis zu seinem letzten Atemzug blieb, hatte er selbst gebaut.» Der Palliativmediziner Roland Kunz ist geprägt von eigenen Erfahrungen mit Krankheit und Tod. Die Wahl, sich als Arzt auf die Disziplinen Geriatrie und Palliative Care zu spezialisieren, fiel nicht zufällig: Sein Vater starb 1984 nach einer längeren Krebserkrankung. Er wurde 62 Jahre alt. Dieses Erlebnis hat Kunz tief beeindruckt und seinen Werdegang beeinflusst.

Dass er Arzt werden will, wusste Roland Kunz allerdings schon seit der Zeit im Gymnasium. Er erinnert sich, dass er damals, während der Schulzeit, auf ein Buch über den deutsch-französischen Mediziner Albert Schweitzer (1875 – 1965) stiess. Dieser war als «Urwaldarzt» bekannt geworden und hatte in Lambarene im zentralafrikanischen Gabun ein Spital gegründet. Die Philosophie Schweitzers, der den Respekt vor den Menschen, den Tieren und der Natur propagierte, faszinierte Kunz. Er las alles, was er über den Arzt finden konnte. Der Pioniergeist und die Idee eines Spitals im Urwaldgebiet, von der Schweitzer beseelt war und die er zielstrebig umsetzte, begeisterten ihn. Der legendäre «Urwalddoktor» wurde zu seinem Vorbild.

«Die Geschichte Schweitzers hat mich in der Auffassung bestärkt, dass man immer Wege findet, um das zu erreichen, was man wirklich will», sagt Roland Kunz. «Albert Schweitzers Grundhaltung sowie die Ehrfurcht vor dem Leben und vor den Patienten imponierten mir. In der Jugendzeit war dies sicher eine meiner wichtigsten Prägungen.» Schweitzer wurde für ihn zu einer Schlüsselfigur. «Nachdem ich ihn entdeckt hatte, war für mich klar, dass ich Medizin studieren wollte.»

Roland Kunz ist mit einem zwei Jahre älteren Bruder in Tagelswangen, einem Dorf zwischen Zürich und Winterthur, aufgewachsen. Das Haus der Familie, gebaut vom Vater, der Architekt war, steht am Waldrand. Heute wohnt Roland Kunz hier mit seiner Frau Angie, einem Hund und «zwei geriatrischen Pferden», wie er sagt. In seiner Freizeit ist er mit dem Velo unterwegs oder einem Motorrad, das er hin und wieder mietet. Er mag es, im Winter Skitouren zu unternehmen und im Sommer in den Bergen zu wandern.

Kunz erinnert sich an eine glückliche, behütete Kindheit. Bis zum Tag, als er die Geschichte Albert Schweitzers hörte, wollte er Brückenbauer werden. Als Kind zeichnete er viel, vor allem Flugzeuge und Brücken, und er träumte davon, komplizierte Bauwerke zu entwerfen. Kunz erzählt, angesprochen auf seine Kindheit, aber auch von Eishockeypartien mit Kollegen auf dem winterlichen, zugefrorenen Waldweiher und von Schulkameraden, deren Eltern bei der Firma Maggi im nahen Kemptthal arbeiteten. Maggi ist die legendäre Lebensmittelfabrik, die für ihre Instantsuppen, Flüssigwürze und Suppenwürfel bekannt wurde. Sie war einst einer der bedeutendsten Arbeitgeber der Region; vom Geschäftsgang der Firma hing das Wohlergehen vieler Familien in der Umgebung ab.

Vater Heinrich Kunz führte ein Architekturbüro in Zürich und später auch in Winterthur. Er unterrichtete als Professor am Technikum in Winterthur, bis er an die ETH Zürich berufen wurde. «Vater arbeitete viel, er war wenig zu Hause», sagt Kunz, «und wenn er da war, bereitete er häufig Vorlesungen vor. Trotzdem gab er uns immer das Gefühl, dass wir ihm wichtig sind und er für uns da ist.» Er hatte nach dem Studium eine Zeit lang in Schweden gelebt und war fasziniert vom Falunrot oder Schwedenrot, der Farbe, die dort häufig an Hausfassaden zu finden ist. Sein eigenes Haus, das er für die Familie in Tagelswangen baute, liess er in diesem charakteristischen Rot streichen.

Roland Kunz beginnt nach dem Gymnasium das Medizinstudium, während sein Bruder Werner Architekt wird und später das Büro des Vaters übernimmt. Heute leitet Roland Kunz’ Sohn Oliver, der ebenfalls Architektur studierte, das Architekturbüro, das einst der Grossvater gegründet und aufgebaut hatte. Oliver Kunz ist mit Jahrgang 1985 das jüngste Kind von Roland Kunz und seiner Frau Angie. Vor ihm kamen 1983 Tochter Cornelia und im Jahr 1980 die älteste Tochter, Nicole, zur Welt. Alle drei haben mittlerweile selbst Kinder; Angie und Roland Kunz sind Grosseltern von sieben Enkeln.

Angie Kunz ist gelernte Pflegefachfrau, sie hat die Handelsschule absolviert und war in der Leitung einer Spitex tätig. Man könnte nun annehmen, hinter der Ehe verberge sich eine klassische Liebesgeschichte zwischen einem Arzt und einer Krankenschwester. Doch Angie und Roland Kunz lernen sich nicht im Spital kennen, sondern während eines Sprachaufenthalts in Cambridge, England, wo sich die Ostschweizerin und der Zürcher zufällig treffen. Sie begegnen sich zum ersten Mal in einem Pub, und aus dem Zusammentreffen entwickelt sich zunächst nicht mehr als eine nette Bekanntschaft. Ein Paar werden die beiden erst, als sie wieder zurück in der Schweiz sind.

Roland Kunz ist noch mitten im Studium, als seine Freundin 1980 mit der ersten Tochter schwanger wird, und sie beschliessen, zu heiraten. Seine Mutter nimmt die beiden wegen der unverhofften Schwangerschaft hoch und sagt, «als Arzt müsste man es doch eigentlich besser wissen.» Tochter Nicole kommt in Italien zur Welt, in Ligurien, wo Angie und Roland Kunz ein halbes Jahr wohnen, während er dort in einem Spital arbeitet. Dass sie jung Eltern geworden sind, betrachten sie heute als Vorteil. «Wir waren sehr unkompliziert und machten uns nicht so viele Gedanken. Die Kinder nahmen wir überallhin mit.»

Nach ihrer Rückkehr aus Italien lebt die Familie zuerst in Winterthur und dann drei Jahre lang in Rehetobel. In der kleinen Gemeinde in Appenzell Ausserrhoden hat Vater Heinrich Kunz einst ein einfaches, altes Häuschen gekauft, das nur mit einem Kachelofen beheizt wird. Roland Kunz nimmt im Spital Rorschach eine Stelle als Assistenzarzt in der Chirurgie und später in der Gynäkologie und Geburtshilfe an – mit Arbeitszeiten von bis zu achtzig Stunden pro Woche. Danach wechselt er ans Spital von Heiden, in die Innere Medizin. Sein Ziel ist, Hausarzt zu werden und später eine eigene Praxis zu eröffnen.

«Ich eignete mir bewusst ein breites medizinisches Wissen an», erzählt er. «An der Arbeit in den kleinen Spitälern gefiel mir besonders, dass man als diensthabender Arzt mitunter für die ganze Klink zuständig war: Ich musste Patienten mit Herzinfarkten behandeln, Schrammen nähen und helfen, Kinder zur Welt zu bringen.» Er habe damals den «ganzen Bogen des Lebens» gesehen. «Ich nahm wahr, wie sehr sowohl die Geburt als auch der Tod zum Leben gehören.»

Nach einer Zwischenstation am Spital in Uster arbeitet Kunz einige Zeit am Kantonsspital in Winterthur, wo die Familie damals auch wohnt. Nun wird das Projekt Selbstständigkeit immer konkreter. Er nimmt Gespräche auf über die Miete von Praxisräumlichkeiten in einem Neubau in Effretikon.

Zu seiner damaligen Tätigkeit auf der Abteilung für Innere Medizin im Spital Winterthur gehört, dass er als Assistenzarzt in ein Rotationsprinzip eingebunden ist: Die Assistenzärzte werden auch in der Altersmedizin eingesetzt und behandeln Bewohnerinnen und Bewohner der städtischen Pflegezentren. Kunz erinnert sich, dass ihm diese Begegnungen mit älteren Leuten die Augen geöffnet haben: «In den Pflegezentren entstanden enge Kontakte zu den Patientinnen und Patienten. Sie erzählten mir ihre Lebensgeschichten, ich lernte ihre Angehörigen kennen, und es entwickelten sich Beziehungen. Die Arbeit im Spital empfand ich zunehmend als Kontrast, der mich zum Nachdenken zwang. Es kam mir vor, als würden die alten Menschen im Akutspital mit den vielen Spezialisten in ihre Organe zerlegt. Niemand fühlte sich für das ‹Gesamtkonzept Mensch› verantwortlich. Bei der Arbeit im Pflegezentrum aber standen die Persönlichkeit und die Individualität der Bewohner im Zentrum.»

Diese Erfahrung bewegt ihn schliesslich dazu, sich ganz der Geriatrie zuzuwenden. Kunz nimmt eine Stelle als Heimarzt im Pflegezentrum Oberi in Winterthur an. Dabei bleibt es aber nicht: In den Jahren von 1988 bis 1999 führt er in den Räumlichkeiten des Heims zusätzlich seine eigene Hausarztpraxis. «Zu mir kamen viele Familien, um die Kinder impfen oder Kinderkrankheiten behandeln zu lassen. Das war ein schöner Ausgleich zur geriatrischen Tätigkeit, bei der man häufig weiss, dass die Leute nie mehr ganz gesund werden.»

Was in der Theorie eine ideale Kombination ist, erweist sich in der Praxis als immer grösserer Spagat. Der Plan, halbtageweise jeweils fürs Krankenheim beziehungsweise für die Praxis tätig zu sein, ist allzu ehrgeizig. Die Arbeit droht ihm über den Kopf zu wachsen. Die Fälle im Pflegezentrum sind komplex, und die Patientinnen und Patienten beanspruchen den Arzt zeitlich sehr stark. Es kommen Notfalldienste und Notfallbehandlungen in der Praxis dazu, die er ebenfalls abdecken muss und die auch sein Familienleben tangieren. «Ich merkte, dass ich mich entscheiden muss, was ich langfristig machen will», erinnert er sich. Die Altersmedizin, die Geriatrie, interessiert ihn, und es ist absehbar, dass diese in der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen wird. Die Leute werden älter, sie leiden an unterschiedlichen Krankheiten, viele werden dement. Die Forschung hierzu schreitet voran. Was früher noch als «Vergesslichkeit» im Alter abgetan wurde, gewinnt als Krankheitsbild an Bedeutung. In Fachkreisen werden erste Erkenntnisse über Demenz rege diskutiert. In der breiten Öffentlichkeit hingegen fehlt das Bewusstsein noch, dass Demenzerkrankungen zur grossen Herausforderung der Zukunft werden würden.

Für Kunz geben in erster Linie die erwähnten persönlichen Gründe den Ausschlag, die Praxis und die Anstellung als Heimarzt in Winterthur aufzugeben. Er wechselt ans Spital Limmattal, wo er die ärztliche Leitung des Pflegezentrums übernimmt. Dort baut Roland Kunz schliesslich eine Palliativstation auf – eine der ersten in der Schweiz. Davon wird später noch die Rede sein. Bei seiner Beschäftigung mit Palliative Care profitiert er von seinen Erfahrungen als Arzt in der Geriatrie. Doch auch persönlich hat er in der Zeit davor Einschneidendes erlebt, das ihn dem Thema Sterben näherbringt. In den 1980er-Jahren wird Roland Kunz zum ersten Mal im eigenen, engsten Umfeld mit dem Tod konfrontiert. Er begleitet seinen Vater, der schwer erkrankt ist, bis zum Tod.

Vater Heinrich Kunz wird 1982 mit der Diagnose Darmkrebs konfrontiert. Er ist damals sechzig Jahre alt. Der zu diesem Zeitpunkt 27-jährige Sohn befindet sich im letzten Studienjahr und – als ihn die schlechte Nachricht erreicht – mitten im Staatsexamen. «Ich hatte schon befürchtet, dass es Darmkrebs ist», sagt Roland Kunz rückblickend. Aufgrund der Symptome, die ihm der Vater geschildert habe, sei er von der Diagnose nicht überrascht worden.

Heinrich Kunz ist bei einem Hausarzt in Behandlung. Dieser empfiehlt ihm für die bevorstehende Operation einen Chirurgen, den er persönlich kennt. Nach dem langen, komplizierten Eingriff besucht Roland Kunz seinen Vater im Spital, als gerade der behandelnde Arzt im Zimmer des frisch operierten Patienten vorbeikommt. Roland Kunz fragt den Chirurgen, ob er kurz Zeit habe, um mit ihm zu sprechen. Dieser wimmelt ihn jedoch ab und rät ihm, über das Sekretariat einen Termin zu vereinbaren.

Am gleichen Abend ist auch Roland Kunz’ Mutter Verena zu Besuch im Spital. Kunz erinnert sich: «Der Arzt bat sie hinaus auf den Gang und warf ihr an den Kopf, es sehe nicht gut aus für meinen Vater.» Mit dem Patienten selbst spricht der Chirurg nicht. Es ist die Mutter, die dem Vater und später auch dem Sohn erzählt, was der Arzt zu ihr gesagt hat. Kunz nimmt dieses Verhalten des Chefarztes als ausgesprochen schlechtes Beispiel einer Arzt-Patienten-Kommunikation wahr, was ihn sehr verärgert. Er schreibt dem Chirurgen einen Brief an dessen Privatadresse und teilt ihm mit, er fühle sich nicht ernst genommen. Er teilt ihm mit, es wäre in seinen Augen besser gewesen, die Sache gemeinsam mit allen Betroffenen zu besprechen. Nach einiger Zeit bekommt er eine Antwort: Die Frau des Chirurgen schreibt ihm zurück und nimmt ihren Mann in Schutz.

«Mein Vater war der Typ ‹stiller Dulder›. Er nahm den Schicksalsschlag der Krankheit hin und versuchte, das Beste daraus zu machen und trotzdem irgendwie ins Leben zurückzufinden», erzählt Kunz. «Er kehrte nach dem Eingriff an seinen Arbeitsplatz an der ETH zurück, sobald es ihm möglich war. Doch seine Kräfte schwanden, und er verlor immer mehr an Gewicht. Man sah ihm an, dass es mit der Operation nicht getan war und die Krankheit fortschritt.»

Der Krebs dehnt sich aus, es bilden sich Metastasen. Heinrich Kunz hat einen harten, aufgetriebenen Bauch und leidet zunehmend unter Schmerzen. Die ganze Familie realisiert, dass es abwärts geht und die gemeinsame Zeit beschränkt ist. «Wir sprachen alle zusammen offen darüber», erklärt Kunz. «Das baldige Ableben meines Vaters integrierten wir ganz natürlich in unsere Gespräche.»

Auf der anderen Seite nimmt bei Roland Kunz die Enttäuschung und Empörung zu. Sein Unverständnis über das Verhalten des Hausarztes, bei dem der Vater in Behandlung ist, wird grösser. Der Arzt will offenbar nicht wahrnehmen, wie krank sein Patient ist; er fragt nie nach, was diesen beschäftige. «Er behandelte meinen Vater, als ob dieser noch eine Lebenserwartung von dreissig Jahren gehabt hätte», erzählt Roland Kunz. «Entsprechend nahm er auch die Schmerzen, die meinen Vater immer mehr quälten, nicht ernst.» Als der Hausarzt Heinrich Kunz bei einer Konsultation ein leichtes, nicht rezeptpflichtiges Schmerzmittel und einen Verdauungstee verschreibt, ist das Mass voll. Für Roland Kunz ist das der Beweis, dass der Arzt mit der Situation überfordert ist. Er wendet sich mit der Unterstützung eines befreundeten Ärzte-Ehepaars an einen Magen-Darm-Spezialisten. Es ist der richtige Entscheid. Der Spezialist geht professionell mit der Situation um, anerkennt den Ernst und bespricht ehrlich mit der ganzen Familie, was auf sie zukommen wird. Roland Kunz steht seinen Eltern während dieser Zeit bei medizinischen Fragen stets zur Verfügung. Als Arzt fühlt er sich zu unerfahren, um die Behandlung seines Vaters allein zu übernehmen.

Knapp zwei Jahre nach der Diagnose stirbt der Vater daheim in Tagelswangen, umgeben von seiner Familie. Nur in den letzten Tagen schafft er es nicht mehr, die Treppe vom Schlaf- hinunter ins Wohnzimmer zu bewältigen. Er zieht sich immer mehr zurück. Der Tod des Vaters ist für Roland Kunz ein Schlüsselerlebnis: Er erlebt hautnah, was es bedeutet, wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt ist und sich langsam verabschiedet. Die eigene Betroffenheit ist eine grosse Motivation für ihn, sich in den folgenden Jahren in der Palliative Care zu engagieren.

Die Mutter, Verena Kunz, verlässt einige Jahre nach dem Tod des Vaters das Haus in Tagelswangen, und Roland Kunz zieht mit seiner eigenen Familie dort ein. Die Mutter bezieht eine Wohnung in Wallisellen, bis sie selbst schwer erkrankt. 2002 erhält sie die Diagnose Gebärmutterkrebs. Als es ihr zunehmend schlechter geht, kehrt sie nach Tagelswangen zurück. Drei Generationen leben nun unter einem Dach. Diesmal übernimmt der Sohn eine andere Rolle als während der Krankheit des Vaters: Er trägt die Verantwortung für die Behandlung und gerät in eine nicht einfache Doppelrolle als Sohn und als Arzt.

Die folgende Zeit ist herausfordernd, denn Kunz reflektiert bewusst bei jedem anstehenden medizinischen Entscheid, aus welcher Perspektive er diesen fällt. Er möchte den Bedürfnissen der Mutter möglichst gerecht werden. «Sich dieser Doppelrolle und der Komplexität bewusst zu werden, brauchte viel Disziplin», sagt er heute. Ging es etwa darum, die Dosis der Opiate zu erhöhen, um die Schmerzen zu stillen, fragte er sich, welchen Blickwinkel er bei der Anpassung der Dosierung einnehmen sollte: den des Sohnes, der das Leiden der Mutter nicht mehr mitansehen kann, oder den des Mediziners, der den Tod nicht beschleunigen möchte?

Verena Kunz, die zur Zeit der Diagnosestellung 79 Jahre alt ist, geht mit ihrer Erkrankung ganz anders um als ihr Mann. Sehr bald zieht sie sich vom gesellschaftlichen Leben weitgehend zurück. Eine gewisse Reserviertheit, die ihr schon vorher eigen war, scheint sich zu verstärken. Sie möchte Menschen, die nicht zur Familie gehören, nicht mit ihrer Krankengeschichte belasten und scheut sich, ihre körperliche Schwäche und Hinfälligkeit gegen aussen zu zeigen. Mit der eigenen Familie aber pflegt sie auch in dieser schwierigen Zeit einen offenen Austausch. Sie stellt ihrem Sohn viele medizinische Fragen und verlangt von ihm ehrliche Antworten. Der Sohn und die Schwiegertochter pflegen sie Tag und Nacht. Einen grossen Teil der Arbeit übernimmt Angie Kunz. «Wir konnten sie nicht lange im Haus allein lassen», erinnern sich die beiden. «Gleichzeitig mussten wir aufpassen, dass unser eigenes Familienleben nicht zu kurz kam. Wir waren uns bewusst, dass die Gefahr der Erschöpfung gross ist.» Verena Kunz stirbt schliesslich 2004, im Alter von 81 Jahren.

Die Erlebnisse mit den eigenen Eltern bestärken Roland Kunz auf seinem weiteren Weg. Für ihn bestätigt sich, dass es eine grosse Lücke gibt in der Versorgung schwer kranker Menschen, die viel mehr als nur ärztliche Tätigkeiten umfasst. Heute sagt er, dass es selbst 2004, als seine Mutter im Sterben lag, noch praktisch keine Hausärzte mit Palliative-Care-Kompetenzen gab. Er selbst hat sich zu dieser Zeit bereits ein grosses Wissen in der Pflege und Betreuung schwer kranker und sterbender Menschen angeeignet und engagiert sich in entsprechenden Fachkommissionen.

«Die eigene Erfahrung half mir, zu verstehen, wie gross die Belastung durch eine schwere Krankheit für eine betroffene Familie sein kann», hält er rückblickend fest. «Auch darum rate ich pflegenden Angehörigen immer, rechtzeitig Unterstützung zu holen, um nicht auszubrennen.» Die eigene Betroffenheit hat ihm noch etwas anderes vor Augen geführt: «Seit diesen Tagen weiss ich, wie wichtig es ist, dass Angehörige auch im Spital genug Zeit bekommen, um von einem verstorbenen Familienmitglied Abschied zu nehmen. Mein Vater blieb 24 Stunden aufgebahrt bei uns zu Hause, nachdem er gestorben war. Mir half das, seinen Tod zu realisieren und einzuordnen. Auch im Spital sollen sich Angehörige ohne Zeitdruck von ihren verstorbenen Liebsten verabschieden können.»

Die persönlichen Erfahrungen haben ihn noch etwas anderes gelehrt, das seinen Alltag prägt: Pläne nicht aufzuschieben. «Ich nahm meinen Vater, bevor er starb, als älteren Mann wahr, der vor der Pensionierung steht. Als er starb, dachte ich, es sei doch viel zu früh dafür», sagt Roland Kunz. «Mein Vater hatte Träume und Projekte stets vor sich hergeschoben und auf die Zeit nach dem Ruhestand vertagt. Nach seinem Tod sagte ich mir: Das soll mir selbst nicht passieren.»

Kunz versucht seither, seinem inneren Antrieb zu folgen und Pläne, die ihm wichtig sind, rechtzeitig in die Tat umzusetzen. Ohne die Endlichkeit aus den Augen zu verlieren.

C'est la vie

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