Читать книгу Und mittendrin kam die Kraft - Regina Endraß - Страница 7

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2002

Sie saßen schon eine ganze Weile im Dunkeln, ihren Gedanken nachhängend. Er drehte sich eine Zigarette, zündete sie an, gab sie ihr und sagte: „Ist es nicht ein Wunder, dass wir beide zusammen sind?“

Sie nahm einen tiefen Zug und blies kleine Rauchkringel in die Dunkelheit. Sie stiegen langsam in den vom Mond erhellten Nachthimmel. Eine dieser seltenen glasklaren Nächte.

„Warum, wäre es nicht eher ein Wunder, wenn wir nicht zusammen wären?“

„Wieso, wie meinst du das denn schon wieder? Lass uns bitte nicht wieder diskutieren. Ich glaub, da geh ich lieber ins Bett.“ Er nahm sein Glas und verschwand.

Sie saß noch lang im Dunkeln, rauchte und dachte darüber nach, wie sehr sich Klaus verändert hatte, oder war sie selbst diejenige? Seit einiger Zeit beschränkte sich ihre Beziehung auf gelegentlichen Sex und die Bewältigung des Alltags. Für die meisten Beziehungen wahrscheinlich Standard und völlig normal, aber Lisa fehlte was. Etwas, was schwer mit einem Wort zu benennen war, etwas … ja, was eigentlich? Zum Beispiel hätte sie gerade wirklich gerne gemeinsam mit ihm darüber nachgedacht, ob es nun ein Wunder ist, dass sie zusammen sind, oder ob es eines wäre, wenn sie nicht zusammen wären. Oder war es so oder so das Gleiche? Wenn es ein Wunder wäre, egal ob sie zusammen sind oder nicht, wäre es dann auch egal, ob sie zusammen sind oder nicht?

Der Mond schien prall und hell ins Fenster. Obwohl todmüde, konnte sie kein Auge zu tun. Sie liebte diese Nächte, allein in der Dunkelheit. Sie starrte in den Mond und sah ganz deutlich seine Berge. Er schien so nah zu sein. Einsamkeit umhüllte sie, ein wohlbekanntes Gefühl, und immer diese Sehnsucht nach mehr. Nichts hatte sich geändert, sie war wohl nur älter geworden.

Wie gut sie dieses Gefühl kannte, dass ihr die vorhandenen Wörter nicht genügten. Gäbe es mehr Wörter, so dachte sie, könnte ich mich vielleicht besser verständigen. Immer muss ich alles, was ich sage, sofort wieder mit anderen Worten erklären.

Wenn unsere Beziehung für uns eine tiefere Bedeutung hat, wäre es dann nicht wirklich ein Wunder, wenn wir nicht zusammen wären? Hat ein Wunder nicht etwas mit sich darüber wundern zu tun? Und wäre dann unsere Beziehung nicht bedeutungslos, wenn sie ein Wunder ist? Sie fand keine Antwort darauf, heute nicht mehr.

Der Morgen war kühl und leise. Sie lag schon eine Weile wach zwischen Traum und Wirklichkeit. Als die Haustüre von außen zugezogen wurde, stand sie auf. Tiefe Nebel hingen in den Bäumen und der erste Raureif überzog das Gras. Jetzt kam wieder ihre Zeit!

Wehmütig blätterte sie durch ihr altes Tagebuch, keines im klassischen Sinne, sondern mehr eine Sammlung ihrer Gedanken und Gefühle die sie versucht hatte in Worte zu formulieren. Sie blieb bei einem Eintrag vom 5.11.1986 hängen und las ihre Gedanken, die sie vor rund 16 Jahren aufgeschrieben hatte:

Und wenn ich nicht wüsste,

dass jetzt meine Zeit kommt,

ich müsste mich fragen

was es ist.

Immer dasselbe Lied,

immer die gleiche Sehnsucht

und diese ewige Melancholie,

Tagträume,

ständig, unwirklich, unrealisierbar.

Gut, dass ich weiß,

dass jetzt meine Zeit kommt.

Alles geht einem Ende entgegen,

und ich leide mit den Dingen,

mit jedem Baum,

der seine Blätter lässt,

mit jedem Grashalm,

der keine Kraft mehr zum Wachsen aufbringt.

Ich leide mit der Welt,

die sich vom Nebel einfangen lässt

und ich bewundere sie gleichzeitig,

weil sie trotzdem,

oder vielleicht gerade deswegen,

so wunderschöne Bilder abgibt.

Meine Zeit ist wieder da,

trauernd und zugleich begierig,

lasse ich mich auf sie ein.

Dieses Gefühl kannte sie auch heute noch gut, auch die damit verbundene Angst. Verdammt, dachte Lisa, die Zeit zieht einem zwar Falten ins Gesicht, aber sie nimmt einem nicht die Angst!

Da war dieses Bild, Lisa als kleines Mädchen, das nie ein Mädchen sein wollte, wie sie mit bloßen Händen Gräber aushob, für kleine Vögel, die aus dem Nest gefallen waren. Dutzende von kleinen, geflochtenen Holzkreuzen waren unter den Büschen, wohin sie sich als Kind immer zurückgezogen hatte. Die anderen Kinder grinsten verständnislos. Irgendwie war sie dem Tod schon immer näher gewesen als dem Leben.

Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie aus dem Nest gefallen war. Seit sie denken konnte, war da dieses Gefühl des nicht aufgehoben seins.

Sie ging erst nach draußen, als Leben auf den Straßen war. Das geschäftige Tun der Leute machte ihr irgendwie Mut. Wie wenn sie dazu gehören würde, ging sie zielstrebig durch die Stadt. Sie funktionierte, jeden Tag aufs Neue. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal selbständig sein würde, und sich ein Leben ohne das Gloria nicht mehr vorstellen konnte. Auch wenn sie der Gedanke daran nicht mehr losließ.


Der Mann hinter dem Bankschalter grinste dämlich übers ganze Gesicht und streckte ihr, in dem Glauben, ihr damit einen riesengroßen Gefallen zu bereiten, unaufgefordert ihre Kontoauszüge entgegen. Sie versuchte, diesen verhassten Anblick mit einem ähnlich dämlichen Grinsen zu erwidern und flüchtete nach draußen. Oh Gott, irgendwann klatsche ich dir eine vor allen Leuten!

Er hatte ihr wiederholt aufgelauert, wurde aufdringlich und versuchte sie zu betatschen. Damals war sie kurz davor, ihn mit voller Wucht in seinen „Allerwertesten“ zu treten.

Warum hab ich’s bloß nicht getan? Vielleicht hätte er dann gewimmert wie sein dämlicher Hund (obwohl der Hund ja nichts dafürkonnte). Und vielleicht hätte er dann mal was kapiert?

Sie spürte ihre Aggression ansteigen. Doch sie ärgerte sich vor allem über sich selbst. Über ihre Unsicherheit und ihre Verletzlichkeit. Immer noch konnten sie solche Typen aus dem Gleichgewicht bringen. Ihre Mauer war so brüchig und gleichzeitig so sinnlos geworden. Sie machte sie schwerfällig und hart und sie sehnte sich nur noch nach Leichtigkeit und vollkommener innerer Freiheit. Das Leben erschien ihr plötzlich viel zu kurz für all das, was sie noch lernen wollte. Am liebsten hätte sie sich jetzt selbst geschlagen, für all ihre Mutlosigkeit und Trägheit!

Im Büro angekommen, lächelten ihr alle freundlich entgegen. Claudia, ihre Mitarbeiterin, kam ihr, das Telefon in der Hand, hastig entgegengelaufen:

„Guten Morgen Lisa, Telefon für Dich!“

„Morgen, danke.“ Aus ihren Gedanken gerissen, nahm sie den Hörer in die Hand. „Guten Tag, Lisa Vogel am Apparat…“

„Hallo, Lisa, ich bin’s!“

„Marion, wie geht’s?“

„Ich muss dringend mit dir sprechen, kannst du dir frei nehmen?“

„Was, jetzt gleich?“

Was hat sie bloß wieder angestellt! Marion war ihre beste Freundin, um nicht zu sagen, die einzige. Natürlich kannte sie viele Menschen, aber mit Marion war das etwas anderes. Seit der Schulzeit kannten sie sich, und später hatten sie einige Jahre lang zusammengewohnt.

Während Marion die Fachoberschule absolvierte und später Soziologie studierte, versuchte sich Lisa in verschiedenen Ausbildungen, die sie aber alle nicht beendete. Trotzdem hatte das ihrer Freundschaft nicht geschadet, das nicht. Die gemeinsam erlebte Jugend hatte sie verbunden und lange Zeit dachte Lisa, dass sie auch nichts je trennen konnte.

Marion war mittlerweile auch selbständig, und seit Lisa das Gloria hatte, hatten sie beide wieder eine ähnliche berufliche Situation. Für Lisa war Marion im Grunde genommen die einzige Frau, die sie wirklich ernst nehmen konnte. Mit den meisten Frauen konnte Lisa nicht allzu viel anfangen. Sie waren ihr meistens zu oberflächlich.

Marion dagegen war eine starke und vielseitige Persönlichkeit, mit Hirn und Gefühl, und sie konnte eine beinahe unheimliche Power an den Tag legen. Letzteres liebte Lisa ganz besonders an Marion. Für keine andere Frau konnte sie je auch nur annähernd ähnliche Gefühle entwickeln.

Wenn sie sie jetzt gleich sprechen wollte, dann musste es einfach wichtig sein. Wie konnte sie das abschlagen, schließlich war sie selbständig und konnte arbeiten wann sie wollte.

„Gut, wo soll‘n wir uns treffen?“

„Ich komm zu dir, ja?“

Schweigend saßen sie vor ihren dampfenden Kaffeetassen und sahen sich an. Marion sah irgendwie verändert aus. Da war so ein geheimnisvolles Funkeln in ihren Augen.

„Schieß los, Mädel!“

„Lisa, ich hab einen Mann kennengelernt!“

„Und deswegen holst du mich von der Arbeit, bist du noch zu retten?“

„Gute Frage! Tut mir leid Lisa, aber ich musste es jetzt einfach loswerden. Zu lange schon fress ich‘s in mich rein. Ich muss darüber reden, vielleicht wird es mir dann etwas klarer.“

„Über was willst du dir klar werden?“

„Jetzt frag nicht so blöd, schließlich bin ich glücklich verheiratet und außerdem Mutter. Ich bin vollkommen durcheinander und kann ihn einfach nicht vergessen, und ich habe einfach noch nie zwei Männer gleichzeitig geliebt und …!“

„Du hast dich verliebt. Bist du dir sicher?“

So kannte sie Marion gar nicht. Gleichzeitig wurde ihr irgendwie unbehaglich, kroch da etwa der Neid in ihr hoch? Sie sehnte sich in letzter Zeit auch öfter danach, umschwärmt und umschmeichelt zu werden. Gleichzeitig konnte sie im Moment mit den wenigsten Menschen etwas anfangen, geschweige denn mit anderen Männern.

Marion redete und schwärmte ununterbrochen, und das Funkeln in ihren Augen wurde immer stärker, bis es sich endlich in riesigen Krokodiltränen löste.

„Ich glaube, jetzt brauchst du erst mal einen Schnaps!“

Marion kippte zwei Grappas hintereinander weg, schnaufte sehnsüchtig und lehnte sich zurück.

„Na siehst du, jetzt geht’s dir doch besser. Wie hast du ihn eigentlich kennengelernt?“

„Das ist ja auch so eine verrückte Geschichte! Ich war doch letzten Monat auf dieser Fortbildung, du weißt schon. Ich wollte diesmal mit dem Zug fahren. Und am Tag vorher dachte ich an diese öde Zugfahrt und den anschließenden einsamen Abend und ob ich nicht doch besser mit dem Auto fahren sollte … Und im selben Moment hatte ich so eine Art „Tagtraum“, du kennst das ja.“

Natürlich kannte sie das. Marion war die einzige, der sie je davon erzählt hatte. Die meisten ihrer Tagträume behielt sie jedoch für sich. Schließlich waren diese „Botschaften“ nur für sie bestimmt. Meistens waren es eher nebensächliche Dinge. Die letzte wichtige Intuition dieser Art hatte sie vor zwei Wochen:

Beim Frühstücken ging sie ihren Tagesplan durch. Dabei fiel ihr ein, dass sie nicht wie geplant mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto zur Arbeit musste. Da war nämlich noch der Termin beim Steuerberater. Auf der Autobahn hatte sie keine 10 Minuten dorthin, über die Landstraße waren es allerdings gut 20 Minuten.

Wie immer hatte sie es eilig. Kurz vor der Autobahnauffahrt sah sie plötzlich ein Bild von einem schlimmen Unfall. Die ganze Autobahn war gesperrt, mehrere Polizeiwagen standen dort, Feuerwehrleute und Sanitäter liefen hastig umher und ein Hubschrauber stand in der Luft. Im selben Moment bekam sie am ganzen Körper eine Gänsehaut. Tief von innen heraus wurde ihr eisig kalt. Sie stieg unwillkürlich auf die Bremsen, dass die Reifen quietschten. Der Typ im Wagen hinter ihr fluchte und hupte und raste schimpfend an ihr vorbei. Was, um alles in der Welt, war das? Verunsichert kehrte sie mitten auf der Straße um und nahm nun doch die Landstraße.

Später im Büro fragte Claudia, ob sie von dem schrecklichen Unfall vorhin auf der Autobahn schon gehört hatte. Ihr fiel die Kaffeetasse aus der Hand und die heiße, hellbraune Flüssigkeit sog sich in ihre neue Hose.

„Ja, ich kenne diese Eingebungen!“

Marion erzählte aufgeregt weiter. „Weißt du, ich hatte plötzlich so ein inneres Bild einer spannenden Begegnung, ich weiß auch nicht, aber ich habe mich dann fast automatisch für den Zug entschieden …“

„Hört sich gut an!“

„Ja, so war es auch.“

„Dieses Bild ging also in Erfüllung?“

„Nicht nur das, es war alles noch viel schöner … Zuerst war die Zugfahrt so öde wie ich sie mir vorgestellt hatte. Nichts passierte und ich lachte über mich selbst und über meine „Träumereien“. Aber du kennst mich ja, ich hab’s mir dann trotzdem schön gemacht, hab viel gelesen und nachgedacht, vielleicht auch, um mich abzulenken. Zu guter Letzt hatten wir auch noch Verspätung und ich kam erst nach neun an. Was sollte ich schon tun mit dem angebrochenen Abend. Auf dem Weg zum Hotel sah ich eine nette Kneipe. Ich dachte, da gehst du nachher ganz gemütlich was essen und genießt eben alleine den restlichen Abend. Doch als ich dann später loszog, bin ich, irgendwie instinktiv, in die genau entgegengesetzte Richtung gelaufen. Und habe mich, fast zielstrebig, in die nächstbeste Kneipe gesetzt. Nach einer Weile kam ein Mann, auch alleine, und setzte sich an den Tisch neben mir. Erst dachte ich mir gar nichts dabei, aber dann trafen sich unsere Blicke immer wieder und wir kamen ins Gespräch. Plötzlich war mir ganz klar, das musste die Begegnung sein. Wie selbstverständlich saß er an meinem Tisch und wir redeten und redeten. Anschließend sind wir dann noch woanders auf ein Bier gegangen. Und dann war’s passiert … Wir waren uns plötzlich so vertraut! Ich wünschte, der Abend würde ewig dauern und doch bin ich letztlich alleine auf mein Zimmer gegangen.“

„Warum?“

„Ach, Lisa, du kennst mich doch, ich bin da halt nicht so spontan wie du und ich hatte auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Rainer. Irgendwie ging mir einfach alles zu schnell.“

„So spontan wie ich, was soll das denn heißen! Warst früher nicht du diejenige, die einen nach dem anderen abgeschleppt hatte! Und zwar ohne dir irgendwelche Gedanken darüber zu machen.“

Damals, als sie noch zusammenwohnten, beide jung und neugierig, hatte sie den Eindruck, dass Marion im Gegensatz zu ihr keine Schwierigkeiten mit Männern hatte. Sie ließ sich immer auf alles ein, was so auf sie zukam. Überhaupt, dachte Lisa, war Marion irgendwie lebenslustiger. Lisa beneidete sie darum, sie selbst war viel schüchterner und zurückhaltender gewesen. Im Grunde, dachte sie, habe ich schon damals viel zu viel überlegt, anstatt einfach zu handeln. Aber sie hatten eine wundervolle Zeit zusammen verbracht. Alles war viel leichter und sie lebten nach der Devise, wir haben noch das ganze Leben vor uns! Jetzt, so schien es ihr manchmal, wendete sich das Blatt allmählich und sie gingen doch eher schon dem Ende entgegen. Das Leben war nicht mehr so unendlich weit, die Grenzen wurden spürbarer. Die Mitte war schon bald erreicht …

Offensichtlich ging es Marion genauso wie ihr. Auch sie wägte jetzt sorgfältig ab, bevor sie sich auf etwas einließ. Einerseits wollte sie diesen Mann, andererseits aber nicht die Beziehung mit Rainer aufs Spiel setzten. Das konnte Lisa nur zu gut verstehen. Dennoch hatte sie seit einigen Monaten immer wieder solche „Anwandlungen“, doch endlich einmal die Grenzen zu überschreiten. „Rücksichtslos“ einfach tun, was sie meinte tun zu müssen.

„Und was ist jetzt mit euch beiden?“

„Wir telefonieren ständig und führen stundenlange Gespräche. Ich versuche, ihn zu vergessen, aber es gelingt mir nicht. Ich glaube, ich bin wirklich verknallt. Aber dann denke ich wieder, dass ich mir nur alles einbilde und mich da in etwas hineinsteigere, was mit dem Menschen an sich überhaupt nichts zu tun hat. Ich meine, ich kenne ihn doch kaum. Vielleicht will ich mich einfach nur einmal wieder umschwärmt und begehrt fühlen! Du weißt, Rainer und ich mögen uns sehr, und ich möchte mit ihm zusammen sein und bleiben. Ich habe keinen wirklichen Grund mich in die Arme eines anderen zu werfen.“

„Tja, was ist schon ein wirklicher Grund? Die Dinge passieren eben, weil sie passieren wollen. Sie brauchen keinen Grund dafür. Aber du erlebst sie auch nur dann, wenn du sie zulässt. Und du hast diese Situation ja regelrecht herbeigeahnt!“

„So ist es wohl. Lisa, ich weiß nicht, was ich tun soll.“

„Was möchtest du denn tun?“

„Alles und nichts. Einerseits möchte ich ihn wiedersehen, um herauszufinden, ob ich ihn dann immer noch so toll finde. Andererseits habe ich Angst davor, denn wenn dies so wäre, möchte ich ihn vielleicht nie wieder loslassen!“

„Ich glaube, du solltest den Dingen ihren Lauf lassen. Lass es auf dich zukommen und tu dann das, was du in diesem Moment für richtig hältst. Im Grunde hast du doch gar keine andere Wahl. Es sei denn, du möchtest deine Gefühle mit Gewalt unterdrücken.“

Auch wenn sie jetzt ihrer besten Freundin womöglich dazu geraten hatte, ihren Mann zu betrügen und eventuell sogar ihre Beziehung aufs Spiel zu setzten, es war ihre ehrliche Meinung. Allerdings, bei dem Gedanken daran, dass die Beziehung der beiden dadurch kaputt gehen könnte, wurde ihr ganz unbehaglich. Rainer und Marion ergänzten sich prima, und sie hatten eine Partnerschaft, wie man sie nur selten fand.


Ungute Erinnerungen erfassten Lisa eiskalt. Als damals Marion, frisch verliebt, ihr ihren Rainer vorstellte, wusste sie, das war etwas Ernstes. Es wurde ernst, und Marion und Lisa schlitterten in die einzige wirkliche Krise ihrer Freundschaft. Lisa zog aus und Rainer ein. Sie musste gehen, ihm aus dem Weg gehen! Normalerweise hatten sie bei Männern nicht unbedingt den gleichen Geschmack, aber bei Rainer war eben alles anders.

Einige Jahre lang hatten Lisa und Marion keinen Kontakt mehr. Und dann bekam Lisa eines Tages eine Karte mit einem Foto von einem kleinen runzligen Baby, Marions Tochter …

„Wahrscheinlich hast du recht, was sonst sollte ich tun? Ich muss ihn wiedersehen, vielleicht weiß ich dann, was das alles bedeuten soll! Aber jetzt genug davon. Wie geht’s dir eigentlich?“

„Ich schätze, diese Frage kann ich dir heute nicht mehr beantworten. Nur so viel, alles ist irgendwie im Aufbruch und nichts tut sich.“

„Komm, stoßen wir an, auf den Aufbruch und die Liebe!“

Sie tranken noch einen Grappa, umarmten sich liebevoll und stürzten sich wieder in ihre Arbeit.


Abends kam Lisa todmüde aus dem Büro. Klaus war noch nicht zu Hause. Sie legte sich aufs Sofa und dachte nach. Das Gespräch mit Marion hatte sie ganz schön geschafft. Eigentlich war es nicht das Gespräch, vielmehr die Erinnerungen, die dadurch wieder zum Leben erweckt wurden.

Die Erinnerungen an ihre damalige Zeit und die Erinnerungen an den Beginn ihres inneren Aufbruchs!

Ja, Jo war dieser Mann, mit dem es wohl angefangen hatte, und von dem sie nicht mehr wusste als seinen Vornamen. Sie wusste nicht, wie alt er war, wo er wohnte noch was er arbeitete, einfach gar nichts.

Es war einer dieser Abende, an denen sie sich mal wieder austoben wollte. Wie meistens hatte Klaus keine Lust mitzugehen und sie verließ das Haus spät abends enttäuscht, mit Wut im Bauch und der Gier nach Leben!

Sie fuhr in ihre „Stammkneipe“. Eine Disco auf dem Land mit ausgefallener Musik. Hier, unter all den verkrachten Existenzen, konnte sie sich gehen lassen und fühlte sich oft aufgehobener als sonst wo. Sie liebte die Strecke dorthin, es gab nichts Schöneres als nachts übers Land zu fahren.

Dort angekommen, ließ sie sich von der Musik treiben. Sie tanzte wie eine Verrückte, als könnte sie damit alles abschütteln. Wie in Trance, spürte sie keinen Boden mehr unter ihren Füßen. Sie fühlte sich ganz leicht und wirbelte über die Tanzfläche, ähnlich einem tanzenden Derwisch, der sich solange um sich selbst dreht, bis er sich gefühlt irgendwo zwischen Himmel und Erde befindet.

Lange Zeit registrierte sie nichts und niemanden mehr. Als sie schwer keuchend langsam wieder zu sich kam, sah sie, dass außer ihr nur noch ein Mann auf der Tanzfläche war, der ihr immer näherkam und schon bald mit ihr tanzte. Sie hatte ihn hier noch nie gesehen und sie konnte ihm nicht widerstehen. Sie tanzten bis in die Nacht, mal wild, mal eng, bis sie vollkommen erschöpft und bis auf die Haut nass geschwitzt waren.

Er sagte: „Ich bin Jo und ich glaube, ich brauche jetzt frische Luft!“

„Ich bin Lisa und ich komme mit nach draußen.“

Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine heiße Sommernacht. Sie standen vor der Tür und warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Die Spannung zwischen ihnen war kaum noch zu ertragen. Er war sozusagen ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Sie gingen ein paar Schritte, dann rannten sie beide los bis sie nicht mehr konnten und ließen sich ins noch warme Gras fallen. Als ginge es um ihr Leben, rissen sie sich die Kleider vom Leib und liebten sich kurz, aber heftig.

Wahrscheinlich ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, was er bei ihr hinterlassen hatte, hatte dieser Jo sie tief berührt. Und doch war es nicht Jo und es war auch nicht der leidenschaftliche Sex. Es war vielmehr so, dass sie sich noch nie so leicht und befreit und so gedankenfrei gefühlt hatte. Erst einige Tage später wurde ihr klar, dass dieser Abend ein Anfang war, von was genau, davon hatte sie noch keine Ahnung!

Jo sah sie nie wieder und sie hätte es auch nicht gewollt. Sie vergaß ihn schnell, nie aber dieses unendlich befreiende Gefühl, das sie seitdem nicht wieder hatte, nach dem sie sich aber immer heftiger sehnte.

Sie versuchte damals Klaus zu erklären, welch grundlegende und tiefgehende Bedeutung dieser Abend für sie hatte und wie unwichtig dabei die Rolle dieses Jos war. Aber wie kann man jemandem etwas erklären, was man selbst noch nicht verstanden hat. Natürlich war Klaus verletzt und er hatte gute Gründe dafür. Er packte sich eine Tasche zurecht und zog zu seinem Kumpel.

Eine Woche hatten sie es trotzig und einsam ausgehalten. Dann trafen sie sich zufällig im Café und ließen ihren Gefühlen füreinander freien Lauf. Sie küssten sich heftig vor allen Leuten und freuten sich wie die Kinder über ihr neues Glück. Es fühlte sich an wie damals, als sie sich kennengelernt hatten.

Und mittendrin kam die Kraft

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