Читать книгу Das Monster im 5. Stock - Regina Mars - Страница 10
6. Ruhe und Frieden und Langeweile
ОглавлениеEs juckte ihn in den Fingern, Frederik anzurufen. Sich zu erkundigen, wer dieser Sebastian war, der seit neuestem im Verlag arbeitete. Aber Adrian wäre sich albern vorgekommen. Kaum war die Tür hinter dem Störenfried zugeklappt, hatte er seine übliche Tagesroutine begonnen. Zwei Stunden Training, nach dem ihm jeder einzelne Muskel brannte, Sauna, Dusche, anziehen, Büro, die Aktien checken, Nachrichten schauen, Überweisungen tätigen und sich langweilen.
Spätestens am Nachmittag wünschte er sich, wieder einer geregelten Arbeit nachzugehen. Aber natürlich ging das nicht. Er hatte keine Lust, angestarrt zu werden, und außerdem verdiente er es einfach nicht. Also pflanzte er sich vor die Leinwand, schaltete den Beamer ein und sah acht Folgen einer Dokumentation über Amundsens Fram-Expedition. Wie immer notierte er sich Dinge, die er nie brauchen würde. Sein Ideen-Dokument war inzwischen 283 Seiten lang. Früher war es selten über zehn hinausgekommen. Jeden Tag hatte er Neues ausprobiert, Ideen angewandt und wieder verworfen, in der Datenbank nach passenden Manuskripten gesucht … Aber nun steckte er fest. In den immer gleichen Tagen, die sich bis in die Unendlichkeit wiederholten. Nur manchmal wurde die Routine unterbrochen, wenn etwas repariert werden musste. Wenn es ein Gewitter gab. Oder wenn ein wahnsinniges Landei hier einbrach und ihn küsste. Das Landei war also schwul. Wahrscheinlich. Hatte er das nur getan, weil er hoffte, dass er dann hier wohnen könnte? Beides, vermutlich. Adrian würde es nie herausfinden, also dachte er nicht weiter darüber nach.
Gegen vier rief seine Mutter an.
»Liebling, kannst du uns ein paar tausend überweisen? Zehntausend, am besten. Papa war wieder im Casino.«
»Nein«, sagte Adrian und wartete das übliche Gewitter ab. Es enttäuschte nicht. Er wurde als undankbar, geizig und stur beschimpft.
»Wenn das dein Großvater sehen könnte! Schämen solltest du dich, deine Eltern so kurzzuhalten. Jetzt, wo du das ganze Geld hast, kommt dein wahres Gesicht zum Vorschein!«
»Ihr hattet genug Geld«, sagte er, schon wieder. »Wir haben jeder unseren Anteil bekommen, als Opa gestorben ist. Ihr habt es halt verprasst und ich nicht.«
»Du Lügner! Du hast deinen Großvater überredet, deinen armen Opa, als er auf dem Sterbebett lag und überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig war, dass er …« Ihre Stimme schrillte in seiner Ohrmuschel und prallte durch den Schädel.
»Mama, er war verdammt zurechnungsfähig. Das zeigt sich schon daran, dass er den Verlag mir überschrieben hat und nicht euch.«
»Geizkragen!«
»Mach’s gut, Mama.« Er legte auf und schaltete das Handy aus. Mit der Frau war nicht zu reden, wenn sie wütend war. Ohne es zu wollen, war er in sein Büro hinübergewandert, wo das silbern gerahmte Familienporträt auf dem Schreibtisch stand. Oma, Opa, seine Eltern und er als Kind, na, Jugendlicher. Er musste ungefähr zwölf gewesen sein.
»Du eingebildeter Idiot«, knurrte er, als er sein eigenes, überhebliches Lächeln sah. Er hatte sich für den König der Welt gehalten. Reich, groß und gutaussehend. Und komplett frei von der Ungeschicktheit und Verschämtheit, die seine Klassenkameraden mit der Pubertät überfallen hatten. Nur Max war genauso selbstbewusst gewesen wie er. Kein Wunder, dass sie Freunde geworden waren. Sie hätten sonst Feinde sein müssen und das wäre ein Jammer gewesen.
Max’ Bilder bedeckten die Wände und bedeuteten so viel mehr. Er betrachtete das nächste. Lachend standen sie beide da, locker an den schwarzen Jaguar gelehnt, den er kurz nach der Wohnung gekauft hatte. Max’ blonde Haare leuchteten wie Blattgold. Fast ein bisschen wie die von diesem Sebastian. Wobei der eher nach Weizenfeld aussah. Und nach Stroh und Kuhscheiße. Ein ganz anderer Typ, obwohl sie sich ein wenig ähnlich sahen, wenn man die Augen zukniff. Doch ein adliger Goldjunge wie Max und ein naives Landei wie (Adrian schauderte) »Wastl« hatten nichts gemeinsam.
»Es tut mir leid«, sagte er, aber Max hörte ihn natürlich nicht. Adrians Mund schmeckte nach Eisen, als er die Bürotür hinter sich zuzog. Er hatte noch ein paar Stunden totzuschlagen, bevor er endlich schlafen gehen konnte. Was tun? Die Dokumentation war beendet. Heute Mittag war eine Lieferung Bücher gekommen, also sah es ganz nach Lesen aus. Er durchwühlte das Paket und hoffte auf etwas Deprimierendes, fand aber nichts. Frederik hatte sich komplett auf fluffige Romanzen verlegt. An sich keine schlechte Idee, doch sie waren so sehr nach Muster A gestrickt, dass Adrian jeden Satz erriet, bevor er ihn las.
Was interessiere ich mich überhaupt dafür?, dachte er. Das ist vorbei.
Er ließ die Bücher zurück ins Paket fallen und holte sich einen schön schweren, traurigen Wälzer aus dem Bücherregal. Die Seitenränder waren dunkel, weil er ihn so oft gelesen hatte. Er legte sich auf das Sofa und schlug die erste Seite auf.
»Es waren fünf Brüder«, las er. »Wladislav, Morislav, Mischka, Ludwig und Grigori. Drei von ihnen starben schon im frühesten Kindesalter. Kurz darauf starb ihre Mutter.«
Oh ja, das ist das Richtige, dachte er und sehnte die Stelle herbei, in der Grigoris Verlobte an Schwindsucht starb, während er sich in einem Hinterhof prostituierte, um ihr ein Stück Brot zu schenken.
Es klopfte an der Tür. Laut und hart.
»Polizei!«, donnerte eine dunkle Stimme. »Aufmachen, sofort!«
Adrian wandte den Kopf. »Was ist denn?«, rief er.
»Aufmachen! Sofort!«
Seufzend erhob er sich und hinkte zur Tür. Das Klopfen wurde noch lauter. Er wunderte sich, dass die Tür sich nicht durchbog.
»Das ist Ihre letzte Warnung!«
»Ja, ja, aber kriegen Sie keinen Schreck, wenn Sie mich sehen«, knurrte er und drückte die Türklinke hinunter.
Sebastian schoss so schnell an ihm vorbei, dass Adrian sich beinahe hinlegte. Auf Sebastians Rücken hüpfte sein alter Rucksack und in seinen Armen miaute ein weißes Fellbündel.
»Hör mir zu!«, rief das Landei. Seine Augen waren panisch aufgerissen. »Bitte hör mir zu! Ich habe einen Vorschlag! Bitte!«
»Interessiert mich nicht!«, brüllte Adrian. »Raus hier, sofort!«
Was zur Hölle machte der kleine Scheißer hier?
»Aber ich habe wirklich einen Vorschlag … Hey!« Das weiße Bündel sprang aus Sebastians Armen und entpuppte sich als schäbige Katze. Wie ein bleicher Blitz preschte sie durch die Wohnung und verschwand in der Küche. »Prinzessin Butterfliege!«
»Was ist das denn für ein bescheuerter Name … Was willst du hier, Sebastian?« Adrian packte ihn am Kragen, damit der Trottel ihn ansah. »Warum dringst du schon zum zweiten Mal unbefugt in meine Wohnung ein? Und was soll der Scheiß mit der Polizei?«
»Ich dacht, dann machst du eher auf, als wenn ich sag, dass ich es bin.« Panisch sah Sebastian der Katze nach. Nun, immerhin war er kein völliger Trottel.
»Gut, das hat funktioniert. Und jetzt hol dein Fellbündel und hau ab.«
»Aber …«
»Dein Vorschlag interessiert mich nicht. Pack die Katze und verschwinde.«
»Aber …« Sebastian seufzte. »Prinzessin Butterfliege! Komm her!«
Die Mieze kam nicht. Natürlich nicht. Wäre Adrian eine Katze gewesen, hätte er auch nicht auf diesen Vollpfosten gehört. Der rief nach ihr, bis er heiser war. Schließlich streifte er mit einem dämlichen Gesichtsausdruck die Schuhe ab und tapste in die Küche.
»Ich kann sie nicht finden«, sagte er nach einigen Minuten.
»Was?« Adrian verließ seinen Posten an der Tür, um sich zu dem Landei zu gesellen. »Wieso kannst du sie nicht finden? Wie soll eine Katze denn in dieser Küche verschwinden?«
»Ich weiß nicht.« Sebastian schaute auf. Sämtliche Töpfe und Teller lagen auf dem Boden, die Türen waren aufgeklappt und die Hälfte der Regalbretter leer.
»Und wie hast du es geschafft, die Küche in drei Minuten in so einen Saustall zu verwandeln? Schon wieder. Weißt du, wie lange ich heute gebraucht habe, bis es wieder ordentlich aussah?«
»Ach, stimmt, ich habe das Frühstück gar nicht weggeräumt.«
»Das Frühstück, das beinahe die halbe Wohnung abgeflämmt hätte.« Adrian atmete tief ein. »Gut, verschwinde halt ohne Katze. Ich werde sie schon alleine finden.«
»Und dann?« Eine Furche erschien zwischen Sebastians Augenbrauen. »Was tust du dann?«
»Dann schmeiße ich sie raus. Was hast du denn gedacht?«
»Das darfst du nicht. Bitte.« Flehende Kuhaugen sahen zu ihm auf. »Ich hab sie eben erst vor ihrem letzten Besitzer gerettet, der wollte sie auch aussetzen.«
»Und dann hast du sie zu mir geschleppt? Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum.«
»Na, erst hatte ich sie im Büro. Aber die Vroni hat eine Katzenhaarallergie und meinte, ich soll das Vieh bloß bis morgen woanders untergebracht haben.«
»Hier?!« Adrian betrachtete den kleinen Psycho. »Ich habe wohl den Moment verpasst, in dem wir so unglaublich dicke Freunde geworden sind, dass du deinen Flohsack hier lassen kannst. War das bevor oder nachdem du hier eingebrochen bist?«
»Mann, Adrian.« Sebastian ließ den Kopf hängen. »Es tut mir echt leid. So war das nicht geplant, nur … Ich wollt nur mit dir reden. Ich hatte doch eine Idee.«
»Mir graust vor deinen Ideen.«
»Aber die ist echt gut.« Ein schüchternes Lächeln. »Ich koch für dich und du lässt mich ein paar Tage hier wohnen. Was sagst du? Mein Frühstück hat dir doch geschmeckt.«
»Nein.«
»Aber ich hab schon eingekauft. Die Tüten stehen vor der Tür.«
Adrian wusste, dass es ein Fehler war, doch er fragte trotzdem. »Und was ist in diesen Tüten?«
»Alles für Schweinshaxe mit Dunkelbiersoße und Knödeln«, sagte Sebastian. »Nach dem Rezept von meiner Mutter. Ist echt lecker, ich versprech’s.«
Ohne es zu wissen, hatte er Adrians einzigen Schwachpunkt getroffen. Bilder stiegen in ihm auf, Bilder von früher. Wie er mit Oma und Opa im Brauhaus gesessen hatte, eine saftige Haxe auf dem Teller und ein Lächeln im Gesicht. Der würzige Duft der Soße und die Art, wie die zarten Knödel sich auf der Zunge verformten, krochen seine Gehirnwindungen hoch.
Adrian atmete tief ein. »Du kannst bis morgen früh bleiben. Und nur, wenn die Schweinshaxe ausgezeichnet ist.«
»Ja!« Sebastian reckte die Faust in die Luft. »Das wirst du nicht bereuen!«
Adrian bereute es schon in dem Moment, in dem er ein leises Miauen hinter der Spülmaschine vernahm.