Читать книгу Milan - Regina Mars - Страница 6
3. Brüder?
ОглавлениеDie Deckenlampe flammte auf und warf harte Schatten auf die Bandplakate im Flur. Milan schmetterte die Wohnungstür hinter sich zu und stöhnte leise. Er hatte viel zu viel getrunken. Aber nicht zu viel, um noch ein paar Zeilen zu schreiben. Fluchend streifte er die Stiefel ab und schleuderte sie auf die dunklen Holzdielen. Er polterte in die Küche, ließ sich ein großes Glas voll Leitungswasser ein und wartete, dass der Schwindel sich legte. Dann zog er ins Arbeitszimmer um.
Er hatte Jules die Wahrheit gesagt: Er wohnte in einer Zweizimmerwohnung. Beide Zimmer waren gigantisch. Sein Schreibtisch wirkte fast verloren in der Mitte des riesigen, von Bücherregalen gesäumten Raums mit den hohen Stuckdecken. Milan ließ sich im Ledersessel davor nieder und klappte den Laptop auf. Das Licht ließ er aus. Er schrieb gern im Dunkeln. Seine Texte wurden besser, wenn er nicht ahnte, was in den Ecken des Raums lauerte. Zumindest bildete er sich das ein.
Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was er zuletzt geschrieben hatte. Der todkranke Detektiv hatte seinen Nachbarn gefunden, erstickt an einer Einhornspardose, die eine besondere Bedeutung hatte. Welche, das wusste Milan noch nicht. Rob plante seine Romane im Voraus, er nicht. Er liebte es, sich ins Unbekannte zu stürzen und erst beim Schreiben zu erfahren, wohin die Reise ging. Schritt für Schritt das Geheimnis zu entdecken, genau wie damals, als er auf Jules' Bett gesessen und Seite an Seite mit ihm gelesen hatte …
Milan war so ein Trottel gewesen. Einmal hatte er darauf bestanden, dass er unbedingt das Buch lesen musste, das Jules gerade las, nur, damit sie gemeinsam die Köpfe hineinstecken mussten. Nur, damit er Jules' Geruch nach warmer, scharf gewürzter Milch riechen konnte. Nur, damit er sich vorstellen konnte, die letzten paar Zentimeter zu überbrücken und seine Wange zu küssen. Seine Wange! Schwer zu glauben, dass er einmal so unschuldig gewesen war. Damals hatte er sich ein Kissen in den Schoß drücken müssen, damit Jules nicht merkte, wie er auf ihn reagierte.
Vielleicht hat er es gemerkt, dachte Milan. Ich war nie so schlau, wie ich geglaubt habe. Damals nicht und heute erst recht. Wahrscheinlich hat er es gemerkt und nichts gesagt. Jules war immer höflich, sogar als Teenager.
Der hatte stets gewartet, bis Milan ebenfalls am Ende der Buchseite angekommen war, bevor er umgeblättert hatte. Egal, wie lange es gedauert hatte, dank Milans Doppelbelastung aus schlechtem Lesevermögen und verzweifelter Erregung.
Der Nachbar, dachte Milan. Die Einhornspardose. Konzentration. Was ist sie? Ein Erinnerungsstück? Eine Botschaft? Was für eine Botschaft? Ob Jules immer noch mit dieser Frau zusammen ist? Sie haben glücklich ausgesehen, aber das ist lange her. Vielleicht … Ja klar. Vielleicht haben sie sich getrennt und dass ihr euch heute zufällig getroffen habt, ist Schicksal und ihr seid füreinander bestimmt. Schreib doch ein Buch darüber. Du könntest Rob Konkurrenz machen mit dem Kitsch.
Wütend starrte er auf den Bildschirm. Er hätte mit in die Manobar gehen sollen. Was aufreißen. Sich den Gedanken an Jules aus dem Schädel ficken. Jules, der zum Anknabbern ausgesehen hatte. Zum Anbeißen, zum Anbeten. Ein tiefes Knurren entkam Milans Kehle.
»Was ist mit der Scheiß-Spardose?«, fragte er und tippte es auch gleich ein.
»Es ist ein altes Modell«, sagte der Schwächling vorsichtig. Wie war so einer Polizist geworden? Als Berger noch selbst aktiv gewesen war, hatten sie einen Namen für solche Luschen gehabt. Kanonenfutter. Aber heute nahmen sie anscheinend jeden in die Truppe auf.
»Und weiter?« Berger machte einen Schritt auf den Mickerling zu. Der sah aus triefenden Welpenaugen zu ihm auf.
»Mehr wissen wir noch nicht.«
Er erinnerte Berger an jemanden … Richtig, an seine eigene Mutter. Die hatte auch so geschaut, als wäre die Welt gemein zu ihr und als hätte sie keine Ahnung, was alle von ihr wollten. Egal, wie viel Scheiße sie gebaut hatte. Damals, als sie mit diesem Kerl zusammengekommen war, auch so einem Waschlappen, dem Filialleiter in dem Supermarkt, in dem sie damals gearbeitet hatte …
Milan runzelte die Stirn, aber seine Finger tippten weiter. Worauf wollte dieser dämliche Detektiv hinaus?
Berger hätte den Kerl fast vergessen, wenn sein Sohn nicht gewesen wäre: blond, schmächtig, ein Streber. Ein Feigling und nett, viel zu nett. So nett, dass er einen Trottel wie ihn willkommen geheißen hatte. So verdammt nett, dass er sein halbes Zimmer für ihn geräumt hatte und …
»Scheiße, Jules. Raus aus meiner Story!« Milan stützte den Kopf in die Hände.
Er brauchte eine Kippe. Aber selbst die kalte Luft auf dem Balkon half nicht. Er sah auf die leeren Pflanzenkübel, die er als Aschenbecher benutzte und stöhnte leise. Wahrscheinlich musste es einfach raus. All dieser neu aufgewühlte Scheiß, Jules, dessen Vater, Milans verdammte Mutter und seine eigene Blödheit, damals wie heute …
Tonnenschwer schleppte er sich an seinen Schreibtisch.
»Na gut«, murmelte er. »Aber nur einmal.«
Milan war ein Vollidiot, tippte Milan.
Milan war ein Vollidiot. Er hatte gedacht, die Liebe würde einen erwischen wie ein Fausthieb. Man dreht sich um, und zack, liegt man am Boden. So hatte es seine Mutter immer beschrieben. Er hätte sich nicht wundern sollen, dass sie unrecht hatte. Hatte sie meistens. Die Liebe hatte sich angeschlichen wie ein tödlicher Virus. Erst merkte man nichts, dann kribbelten die Gelenke, einen Tag später tropfte die Nase, dann hustete man und dann war es zu spät: Man war tot. Oder verliebt. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass dieser blasse Streber ihn ins Unglück reißen würde? Als er den das erste Mal gesehen hatte, hätte er ihn am liebsten ausgelacht. Diesen Schwächling, der fröhlich lächelnd sein halbes Zimmer aufgegeben hatte, als Milan und seine Mutter eines Nachts vor der Tür gestanden hatten. Tropfnass vom Regen und heimatlos. Wie immer war Milans Mutter schuld gewesen.
Sie war ein Junkie. Dabei trank sie nicht, nahm keine Drogen und rauchte fast nie. Stattdessen war sie süchtig nach Liebe. Nein, nicht Liebe. Nach Verliebtheit. Nach dem Kribbeln ganz am Anfang, nach der Hoffnung, nach dem Traum, dass dieser Kerl, dieser, endlich der Richtige sein würde. Der, der ihr Leben zum Besseren wenden würde. Und auf dem Weg von einem Kerl zum nächsten verhielt sie sich nicht gerade wie eine Prinzessin. Als sie vor Jules' Tür aufgetaucht waren, hatte sie ihren letzten Freund seit Wochen betrogen. Mit ihrem Filialleiter. Jules' Vater Albert. Der war leicht überfordert gewesen, hatte aber trotzdem den Fehler gemacht, sie hereinzulassen. Er hatte ja nicht ahnen können, was er sich da ins Haus holte.
Nein, dachte Milan. Es klingt nicht richtig. Falsche Zeitform?
Ich bin fünfzehn und habe einen neuen Bruder. Nicht, dass ich darum gebeten habe. Er selbst meint, er wäre jetzt mein Bruder. Der Streber schaut mich mit seinen bebrillten Kuhaugen an, lächelt schief und sagt es:
»Dann sind wir jetzt Brüder, oder?«
Ich penne seit einer Woche auf einer verdammten Luftmatratze in seinem Zimmer, während meine Mutter seinen Vater vögelt, so laut, dass wir kaum schlafen können. Manchmal schauen wir uns peinlich berührt an, wenn die Geräusche aus dem Nebenzimmer Schlachthofstärke erreichen. Er liegt auf seinem Bett, wo er irgendwelche langweiligen Wälzer liest … Der Trottel liest? Welcher Mann liest freiwillig? Und dann auch noch so öffentlich. Außerdem versucht er dauernd, sich mit mir anzufreunden. Als ob ich mit so einem Bücherwurm … Was labert der Idiot?
»Brüder?« Ich sehe ihn ungläubig an. »Wir?«
»Na ja, deine Mutter und mein Vater …« Er zuckt mit den Achseln.
»Das hält nicht«, sage ich.
»Woher willst du das wissen?«, fragt der Trottel.
»Es hält nie.«
»Oh.« Er sieht auf den komischen Wälzer in seinem Schoß. »Aber was, wenn es diesmal anders ist?«
»Anders.« Ich verdrehe die Augen. »Wie anders?«
»Keine Ahnung. Papa mag Denise wirklich, glaube ich«, sagt er. »Und sie mag ihn. Es könnte klappen.«
»Wird's nicht.« Ich lehne mich zurück und starre an die Decke. »Wieso willst du das überhaupt? Willst du weiter dein Zimmer teilen? Das nervt doch.«
»Mich nicht.« Er lächelt. Verdammt irritierend. Ich sehe seine ungleichen Schneidezähne und fühle mich seltsam. Als würden mir ausnahmsweise ein paar Puzzlestücke fehlen. Mir. Ich blicke alles. Bin ja schon lange genug mit Mom unterwegs.
»Du bist halt ein Opfer«, sage ich. »Wenn das mein Zimmer wäre, würde ich dich rausschmeißen.«
Der Blödmann lacht, als wäre das der beste Witz, den er je gehört hat. Ich schließe die Augen und drehe die Musik lauter. Solange ich meine Kopfhörer habe, kann ich die Welt und meinen »Bruder« ausblenden. Ein komischer Typ. Ruhig, lieb, ordentlich. Sein Zimmer sieht aus wie so eine verdammte Bücherei, nur sauberer. Er putzt selbst. Er räumt auch den Tisch auf, wenn wir gegessen haben. Freiwillig. Ob er das tut, seit seine Mutter abgehauen ist? Sie hat ihn und seinen Vater vor ein paar Jahren verlassen und immer, wenn Jules darüber redet, wird er ganz blass und leise.
Gestern war ein Freund von ihm da. Genau so ein seltsamer Streber wie er. Wog ungefähr hundert Kilo und hat mich angeschaut, als wäre ich ein Pitbull. Recht hat er.
Die Luftmatratze wankt und ich fahre hoch. Der Streber hat sich neben mich gesetzt und schaut mich mit seinen Kuhaugen an. Meine Kehle wird eng.
»Was willst du? Das ist mein Bett.«
»Milan?« Er beißt sich auf den Daumen wie ein blödes Kleinkind. »Kann ich dich was fragen?«
Ich weiß genau, was er fragen will. Ich hasse die Frage und bin echt beeindruckt, dass er sie eine Woche lang zurückgehalten hat. Die meisten schaffen es keine zwei Sekunden, bevor sie mich damit nerven. Und ich will nicht darüber reden. Aber ich bin zu cool, um das zuzugeben. Also zucke ich mit den Achseln und sage: »Klar.«
»Was ist passiert?« Schüchtern zeigt er auf meinen Mund. »Mit … deinem Gesicht. Und deinen Händen.«
Ich lache höhnisch. »Macht dir Angst, was?«
Er schüttelt den Kopf, todernst. Idiot. »Nein, das sieht cool aus. Ich hab mich nur gefragt … Bist du gestürzt?«
»Ne.« Für wie blöd hält der mich? »Das war ein Ex von Mom. Vor vier Jahren.«
Die Kuhaugen werden noch größer. Das blasse Strebergesicht noch bleicher.
»Was?!«, krächzt er. »Warum?«
Wieder zucke ich mit den Achseln. Ich will nicht darüber reden. Ich will vergessen. Am liebsten für immer. Aber ich bin ein Mann, also tue ich so, als wäre es egal.
»War halt ein Arschloch. Mit dem hat die ganze Zeit was nicht gestimmt. Und als sie ihm gesagt hat, dass es aus ist …« Meine Kehle schnürt sich zu. Panisch versuche ich, meine Stimme am Kippen zu hindern. »Na, hab ja gesagt, dass er ein Arschloch war.«
»Aber warum …« Der Streber scheint es echt nicht zu kapieren. Dann werden seine Augen auch noch feucht. Wie hat der es geschafft, bis zur neunten Klasse zu überleben? Wie hat der den Kindergarten überstanden? »Warum hat er dich … Und wie?«
»Kaputte Glasflasche. Wie im Film.« Ich mache mit einer Hand vor, wie er das Ding an der Tischkante zerschlagen hat. Ich hab sowas später noch oft gesehen. Meistens ist die Flasche komplett zersplittert und das dumme Arschloch, das sie in der Hand hatte, hat geblutet. Diesmal leider nicht. »Damit ist er auf sie los.«
»Aber er hat dich erwischt.«
»Ich bin dazwischengegangen.«
»Du?«
»Wer denn sonst? War doch kein anderer da.«
»Aber …« Sein Gesichtsausdruck ändert sich. Wird noch weicher, als wäre der nicht schon weich wie ein Käse. Warum fühle ich mich wieder so komisch, als die blöden Kuhaugen mich anstarren? Als würde etwas in mir zusammenklappen. Als müsste ich aufpassen, damit ich nicht losheule. Ich.
»Nicht heulen, Jules.« Ich boxe ihm gegen den Arm und lache männlich. In meiner Brust tobt ein Sturm. »Was guckst du denn so blöd?«
Er starrt mich an, als könnte ich Gold scheißen. »Du bist ein Held.«
»Ich.« Zum hundertsten Mal frage ich mich, was mit dem nicht stimmt. Und warum ich mich plötzlich echt wie ein Held fühle. »Laber nicht.«
»Du hast dich wirklich zwischen sie gestellt?« Seine Augen glänzen.
»Halt die Fresse, Jules.« Ich schaue wieder an die Decke, weil ich sein dummes Gesicht nicht ertrage. Leider haut er nicht ab. Er kommt näher.
»Wie fühlt sich das an? Taub?« Die zarte Berührung seiner Fingerkuppe lässt mich erstarren. Kribblige Hitze dringt von ihr in meine Handfläche. Da, wo die Narbe sitzt.
»Lass den Scheiß!« Ich schlage seine Finger weg. »Fass mich nicht an, klar?«
»Entschuldigung.« Er hält seine Hand. Hab ich ihn so hart erwischt? Wieder schaut er, als wollte er etwas sagen, sich aber nicht trauen. Die Luftmatratze wackelt. Er geht zurück zu seinem blöden Bett und seinem blöden Buch. Niedergeschlagen setzt er sich. Er starrt auf die Seiten, aber ich weiß, dass er nicht liest. Ich weiß, dass er mich ansehen will. Ich sehe es an seinen geröteten Wangen und den verkrampften Fingern. Und spreche, ohne es zu wollen.
»Ja, okay.«
»Okay?« Er sieht auf und blinzelt. Zu lange Wimpern hat er auch.
»Okay, du kannst mein Bruder sein. Mein kleiner Bruder«, ergänze ich, bevor er sich noch freut. Leider freut er sich trotzdem. Seine Zähne blitzen, als er mich anlächelt. So strahlend, dass ich mich abwenden muss. Ich streife die Kopfhörer wieder über und drehe die Musik lauter. Aber sein Lächeln verfolgt mich bis in den Schlaf.
Ich hasse ihn.
Je länger wir zusammen wohnen, desto mehr hasse ich ihn. Irgendwann will ich ihn nur noch packen, ihm die Kehle zudrücken und ihn auf sein blödes Bett schleudern. Ich will mich auf ihn werfen und … Und dann kapiere ich, dass ich ihn gar nicht erwürgen will und der Gedanke macht mir so eine Angst, dass ich vollkommen paranoid werde. In der Schule forsche ich in jedem Gesicht danach, ob man es mir ansieht. Die meisten schauen panisch weg. Ich habe einen schlechten Ruf, selbst für unsere Schule. Der Streber würde hier keine fünf Minuten überleben. Gut, dass er nicht da ist. Gut, dass er mich nur zuhause nerven kann. Mit seinen Fragen und seiner Bewunderung und seiner … Nettigkeit. Seit ich ihm von dem Arschloch mit der Flasche erzählt habe, schaut er mich an, als hätte ich Superkräfte.
Volltrottel. Volltrottel, Volltrottel, denke ich. Aber der echte Volltrottel bin ich. Ich, der ihn packen, auf das Bett werfen und … küssen will. Nicht mal brutal küssen, wenigstens so hart, wie ein echter Mann das sollte. Nein, ich will zärtlich sein. Ich will seine Lippen so vorsichtig berühren, wie sein Finger meine Narbe gestreichelt hat. Ich will sanft sein und ich will, dass er … dass er mir entgegenkommt und seine blöden, wunderschönen Kuhaugen glänzen und … Ich hasse ihn. So sehr.
So sehr, dass ich sein Leben ruiniere.