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Annis Ehemann

Anni war immer sehr einsam und zu oft allein gewesen. Seit ihr Ehemann vor einem Jahr verstorben war, hatte sie keine Aufgaben mehr. Er lebte in den letzten Jahren im Altenheim, musste jahrelang gepflegt werden. Anni war in dieser Zeit oft verzweifelt; täglich besuchte sie ihren Mann im Pflegeheim.

An manchen Tagen erkannte er seine Frau nicht mehr. Sie sah nach ihm. Anni empfand das als seine Ehefrau als ihre Pflicht. Schon auf dem Weg zum Pflegeheim dachte sie: Wie hat er sich heute wieder angezogen? Was wird er heute wieder angestellt haben? Sie achtete stets darauf, was er aus der Gewohnheit heraus angezogen hatte. Hatte er die ältesten Klamotten aus der hintersten Ecke des Schrankes geholt? Anstrengend war es für Anni, die tägliche Unsicherheit, wie ihr Mann sie begrüßen würde, zu ertragen. Die Veränderung seines Verhaltens, die Stumpfsinnigkeit – und oft wurde er ihr gegenüber auch noch böse.

Eine Cordhose, die er über alles liebte, versteckte er in seinem Kleiderschrank. Verschlissen war sie, doch er passte auf, dass Anni ihm die Hose nicht wegnahm. Sie hatte es schon einmal versucht; er wurde böse und riss ihr sein Lieblingsstück aus der Hand, als sie heimlich die Cordhose in ihrer Tasche verschwinden lassen wollte. Ein Stück Andenken aus seinen Tagen, als er noch zu Hause war. Er sprach oft davon, er wolle mitgehen, er wollte nach Hause. Zwischendurch erinnerte er sich an frühere Zeiten, sprach von seinen Kollegen. Er war dann hellwach; doch schon nach einer kurzen Unterhaltung mit ihr war er zu schwach.

Anni konnte nicht viel mit ihm anfangen, er schlurfte apathisch durch die Gänge des Altenheims und nahm von ihr und seiner Umgebung kaum noch Notiz. „Was suchst du nur?“, fragte sie nach, wenn er wieder in Unruhe geriet. Er riss jede Schublade auf und lief in seinem Zimmer auf und ab. Er schaute sie fragend an, als wollte er sagen: Als ob du nicht weißt, was ich suche! Das sollte die Antwort sein. Anni wusste, ihr Mann suchte einen Schraubenzieher. Die Besatzung des Heims fürchtete sich vor seiner „Bastelstunde“. Vor einigen Wochen hatte er mit einem kleinen Schraubenzieher den Abstelltisch in der hintersten Ecke auseinandergeschraubt. Als er entdeckt wurde, stand er kopfschüttelnd vor seinem Werk. Die Schwester nahm ihn an die Hand und ging mit ihm, mit einem Lächeln im Gesicht, ins Wohnzimmer. Anni hatte es aufgeben, ihm hinterherzulaufen.

Während ihr Ehemann „auf Achse“ war, kümmerte sie sich um die Mitbewohner. Sie sprach mit ihnen, die sich gerne mit Anni über alten Zeiten unterhielten. Für die älteren Menschen eine gute Abwechslung in dem eher tristen Alltagsleben.

Am Abend kam sie nach Hause und verschwand in einer Lethargie von Erschöpfung in ihrem Schlafzimmer.

Rat von der „Fernbeziehung“

So kam es, dass Anni schon vor Jahren den Hellseher kontaktierte. Er machte ihr Mut, sagte ihr eine bessere Zukunft voraus, die er in den Sternen sah. Anni war nach diesen Gesprächen erleichtert. So war zwischen dem Hellseher und Anni eine Vertrauensgemeinschaft entstanden. Hermann verstand es, sie so zu nehmen, wie sie war. Eine Fernbeziehung. Anni glaubte ihm, hatte Vertrauen zu dem, was er ihr vorhersagte. Die Bindung zu Hermann tat ihr gut. Nach einem Gespräch mit ihm hatte sie einen gewissen Elan, saß nicht einfach nur in ihrer Wohnung herum. Sie bewegte sich, unternahm etwas, besuchte Freunde, konnte von „ihrem Hermann“ erzählen. So wollte sie es beibehalten, auch nachdem ihr Ehemann von ihr gegangen war.

Hermann hatte ihr Voraussagungen gemacht, als ihr Mann ins Krankenhaus gebracht wurde. „Dein Mann wird das Krankenhaus nicht mehr verlassen“, prophezeite er ihr. An diesen Tagen, als sie nach ihrem täglichen spartanischen Frühstück aufbrach, ihren Ehemann im Krankenhaus aufzusuchen, war Hermann für sie da. Er war ihr täglicher Berater. Er sagte ihr: „Er wird Weihnachten nicht mehr erleben.“

Anni klammerte sich an Hermanns Vorhersagen, das ließ sie den Schmerz über den Verlust ihres Ehemannes vergessen. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihr gemeint. In ihrem trübseligen Leben war sie froh und glücklich über jedes freundliche Wort von Hermann. Anni hatte sich schon oft genug aufgegeben. Es blieb ihr mit Hermann ein kleiner Hauch von Glück.

Berlin-Reise

Der Tag der Abreise in die Hauptstadt rückte näher. Anni hatte bei ihrer Vorfreude die Leichtigkeit eines jungen Mädchens – jedenfalls im Augenblick. „Ich will ja nicht mit ihm ins Bett gehen“, sagte sie zu Gina. Gina hörte ihr zu. Doch konnte sie sich das Grinsen nicht ganz verkneifen, als sie bei ihrem letzten Besuch die ganze Tragweite erfuhr und einen Espresso bei ihr trank. „Wir werden ein Zimmer zusammen nehmen, das hat er mir schon am Telefon gesagt“, erzählte Anni weiter. Eine Woche müsste sie noch warten. Der Koffer war schon gepackt und die Fahrkarte mit dem Plan lag obendrauf. Das Zimmer wollte er besorgen.

„Du musst doch wissen, welches Hotel er für dich gebucht hat. Die Stadt ist groß, wie willst du dich da zurechtfinden?“

„Er holt mich vom Bahnhof ab. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. So hat er gesagt.“ Das Vertrauen, was sich durch seine Wahrsagerei bestätigt hatte, war fest bei ihr verankert. „Dieser Mann meint es ehrlich mit mir. Wir sind halt gute Freunde“, sagte sie noch, während Gina sich zur Wohnungstür begab und ihr einen letzten Gruß mit der Hand zuwarf.

Enttäuscht

Die Reise nach Berlin fand nicht statt. Gina traf Anni in der Einkaufsstraße; ihr Gesichtsausdruck ließ es schon von Weitem erahnen. Anni erzählte verzweifelt von überhöhten Telefonkosten, die durch viele Gespräche mit Hermann entstanden waren. Die Gebühren, die durch Versuche, ihren Lebensweg in den Sternen zu suchen, aufgelaufen waren, waren ins Unermessliche gesprungen. Und doch sprach sie schon wieder hoffnungsvoll von einem Treffen mit ihrer jungen Liebe. „Berlin ist nicht abgeschrieben“, sagte sie in der Einkaufspassage. „Wir werden uns bald treffen. Zuerst soll ich nach Leipzig kommen und von dort werden wir zusammen nach Berlin fahren. Das kann er aber erst in einigen Monaten realisieren. Es ist nicht Schluss mit uns; das mit uns ist etwas ganz Besonderes“, erzählte Anni.

Während sie darüber sprach, kam wieder Hoffnung auf und eine gewisse Röte trat in ihr Gesicht. Anni hielt fest an „ihrem Hermann“! Gina schüttelte ihren Kopf und fragte sich: Weiß sie eigentlich von der Hoffnungslosigkeit ihrer Träume?, als sie weiter durch die Einkaufspassage lief.

Anni aber hatte sich schon wieder auf den Heimweg gemacht. „Tschüs!“, rief sie durch die Halle der Passage. „Ich will noch mal versuchen, ob ich ihn ans Telefon bekomme“, sprach sie und war schneller als sonst des Weges.

BRISANTES ... Worüber man(n) nicht spricht

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