Читать книгу Kyla – Kriegerin der grünen Wasser - Regina Raaf - Страница 3

1. Kapitel

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»Los, Golan, wir wollen sehen, was uns in Tritam erwartet!« Kyla trieb ihr Pferd an. Sie ließ es den Berg hinabsteigen, dessen Weg in die gewaltige Talsenke führte, in der die Stadt Tritam erbaut worden war. Die Straßen und niedrigen Gebäude lagen inzwischen im Schatten, doch die höheren Bauwerke schienen im schwindenden Sonnenlicht in purem Gold zu erstrahlen. Schon von hier aus konnte Kyla erkennen, dass unzählige glitzernde Elemente in die hellen Steine eingearbeitet worden waren. Das Funkeln war in der tiefstehenden Sonne stellenweise schon ein Gleißen. So grell, dass sie die Augen ab und zu schließen musste. Kyla war froh, ihr Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht zu haben.

Die vergangene Nacht war äußerst unbequem für Reiterin und Pferd gewesen. Kyla hatte es bedauert, als die dichten Wälder hinter ihnen gelegen hatten, und sie gezwungen gewesen war, mit Golan für die Nacht im Gasthaus eines kleinen Dorfes unterkommen zu müssen. Ihr Bett war so altersschwach gewesen, dass es bei der kleinsten Bewegung laut geknarzt hatte, und ihr Rücken sich auf der dünnen Matratze durchbog wie fauliges Jantholz. Im Nebenzimmer hatten ein paar Männer offenbar zu viel des Wirtshausbieres genossen – sie sangen und stritten miteinander im Wechsel die gesamte Nacht hindurch. Im Morgengrauen hatten sie dann so laut geschnarcht, dass die Wände wackelten.

Als Kyla am Morgen gezahlt hatte und in den Stall gegangen war, um Golan zu holen, musste sie feststellen, dass man ihm nicht einmal den Sattel vom Rücken genommen hatte, obwohl ihr versichert worden war, man würde sich gut um ihr Pferd kümmern. Wutentbrannt hatte sie den Wirt zur Rede gestellt, doch der kratzte sich nur am Hinterkopf und zuckte ein ums andere Mal mit den Schultern, als wisse er nicht, was ihn das alles anginge. Kyla hatte es schließlich aufgegeben, ihn maßregeln zu wollen, auch wenn ein Teil von ihr versucht gewesen war, ihm stattdessen das Messer an die Kehle zu setzen – oder zumindest ihr Geld zurückzufordern. Doch sie hatte begriffen, dass das zu nichts als weiterem Ärger führen würde. Als Kriegerin der Herrscherin stünde es ihr schlecht zu Gesicht, so rasch die Nerven zu verlieren. Dennoch hatte sie den gesamten Vormittag über auf den Wirt und die betrunkenen Männer geschimpft – Golan hatte ihr ab und zu düster schnaubend zugestimmt. Umso erleichterter war sie, keine weitere Nacht in einem Dorf verbringen zu müssen, da die Auswahl an Unterkünften in Tritam um einiges zahlreicher sein dürfte.

»Du wirst sehen, hier finden wir einen Stall, in dem du eine erholsame Nacht verbringen kannst. Absatteln, striegeln und füttern werde ich dich selbst, damit du alles bekommst, was du brauchst, um dich nach dem langen Ritt zu entspannen.« Sie hoffte, dass Golan sie verstand, damit auch er freudig auf Tritam zusteuerte. Kyla selbst hatte sich vorgenommen, für die kommende Nacht nicht nur ein Zimmer zu nehmen, sondern auch die daneben liegenden zu bezahlen, sofern dies möglich war. Sie wollte, dass ihrer Nachtruhe diesmal nichts im Wege stand. Ein wenig schämte sie sich dafür, in der Abgeschiedenheit ihres ruhigen Palastflügels offenbar das einfache Leben verlernt zu haben. Früher hatte es sie nicht gestört, wenn sie Zygal aus dem Nebenzimmer schnarchen oder furzen hörte. Im Gegenteil, es hatte sie sogar beruhigt, nach ihrem einsamen Dasein im Wald nicht mehr alleine sein zu müssen. Ja, damals war all das wirklich tröstlich gewesen, und sie hatte sich, nach den anfänglichen Schwierigkeiten, geborgen gefühlt. Inzwischen sah ihr Leben jedoch vollkommen anders aus. Sie sehnte sich danach, den Schmutz vom Körper zu waschen und in einem Bett zu liegen, das sauber und bequem war. Außerdem wollte sie nicht auch nur eine einzige andere Chyrrta-Stimme vernehmen müssen, sondern in völliger Stille in den Schlaf hinüberdämmern. Doch zuerst wollte sie Tritam auf sich wirken lassen, die Straßen und Gassen erkunden, und ergründen, was die Bewohner dieser Stadt ausmachte. Kyla fragte sich, warum der Palast der Herrscherinnen nicht hier, inmitten dieses kultivierten Stückchens Chyrrta erbaut worden war. Möglicherweise war Tritam erst im Laufe der Zeit entstanden, und zweifelsohne war der Gallan-Familie Tradition sehr wichtig, was sie wohl dazu veranlasst hatte, ihren Herrschersitz nicht nach Tritam zu verlegen. Doch es ließ sich nicht leugnen, dass diese Stadt das Herzstück von Parailas Reich darstellte.

Golan hatte die Senke inzwischen erreicht. Kyla lenkte ihn auf dem Hauptweg in die Stadt hinein. Es gab noch weitere Pfade stadteinwärts, doch diese waren im Gegensatz zu dem breiten Weg, an dessen Rändern Blumen gepflanzt waren, nur schlecht befestigt. Die Pflanzen mussten regelmäßig mit unverseuchtem Wasser versorgt werden – ein Aufwand, der nicht zu unterschätzen war. Die Stadt Tritam gab sich offensichtlich Mühe, auswärtige Besucher freundlich zu empfangen. Kyla entdeckte gleich neben dem Stadttor abgedeckte Pferdetränken und zwei Brunnen, die für jeden leicht zu öffnen waren. So konnten durstige Reiter und ihre Tiere bei der Ankunft trinken. Reisende wurden auf diese Art willkommen geheißen. Und auch bei ihrem Aufbruch, nach dem Besuch in der Stadt, erhielten sie so einen herzlichen Gruß mit auf den Weg. Diese Geste zeigte bereits die Besonderheit der Stadt Tritam und ihre Verbundenheit mit Parailas Palast. Denn außer diesen beiden Plätzen kannte Kyla keinen anderen Ort, an dem trinkbares Wasser derart großzügig verteilt wurde.

Damals, als sie als Kind an Parailas Palast gekommen war, hatte sie kaum glauben können, dass es sauberes Wasser überhaupt in so einer großen Menge gab. Dort hatte sie zum ersten Mal Brunnen gesehen, aus denen es ohne Unterlass hervorströmte. Und es gab ein Becken, das so groß war, dass man sich darin regelrecht verloren fühlte, wenn man zum Baden hineinstieg. Inzwischen gehörten diese Dinge für Kyla zum alltäglichen Bild, aber das änderte nichts daran, dass außerhalb des Palastes jeder Tropfen Trinkwasser kostbar und somit hart umkämpft war. Doch hier, an diesem Ort, spürte man nichts davon, sondern konnte sich an den großzügigen Wasserspenden und der Schönheit üppiger Blumenbeete erfreuen, noch bevor man die Stadt überhaupt betreten hatte.

Kyla zweifelte keinen Moment daran, dass Reisende sehr gerne nach Tritam kamen – und ihr erging es nicht anders. Sie stieg vom Pferd, führte Golan an die Tränke und trat selbst an einen der Brunnen heran, um ein paar Schlucke zu trinken. Als sie sich den Mund mit dem Handrücken abwischte, fiel ihr Blick auf ein Gemälde an der Mauer direkt hinter der Wasserstelle – Paraila war darauf zu sehen. Die Herrscherin lächelte gütig. In goldenen Lettern war unter ihrem Porträt zu lesen:

Die Familie Gallan lässt jeden an ihrem Reichtum teilhaben – nimm so viel Wasser wie du für dich und deine mit dir reisenden Tiere benötigst, und künde auch anderen Chyrrta von den Wohltaten deiner Herrscherinnen.

Kyla fragte sich stumm, wie viele Reisende wohl noch dankbar wären, wenn sie wüssten, dass die Gallan-Frauen seit Generationen das Wasser der Flüsse, Seen und Bäche vergifteten, um das Volk unter Kontrolle zu halten. Paraila hatte ihr selbst davon erzählt und ihr erklärt, wie wichtig es war, diese schreckliche Maßnahme ergreifen zu müssen, um noch viel Grausameres zu verhindern.

Einst hatten sich die Chyrrta gegenseitig bekämpft und niedergemetzelt, weil niemand mit dem zufrieden war, was er hatte, sondern durch Gewalt und Mord immer mehr an sich reißen wollte. Hyntha Gallan – eine Ahnin von Paraila – hatte dem ein Ende bereitet, indem sie in den Wassern Parasiten ausgesetzt hatte und somit dafür sorgte, dass die Chyrrta sich nicht mehr gegenseitig bekämpfen konnten, sondern sich darum kümmern mussten, ihr eigenes Überleben zu sichern. Dazu war für die meisten fortan ein großer Aufwand nötig, denn sie mussten bis zum Palast reisen, um sich Wasser zu holen. Oder sie waren auf die Nähe ihrer Heimat beschränkt, weil sie dort entweder eine sichere Wasserquelle zur Verfügung hatten, oder sie wurden von Bediensteten des Palastes mit dem notwendigen Gut versorgt.

Der Plan ging bis heute auf, und Kyla erkannte durchaus den Vorteil, der den Chyrrta durch die harten Maßnahmen zuteil wurde. Dennoch kostete es sie immer wieder Überwindung, die Notwendigkeit der flächendeckenden Vergiftungen einzusehen. Vor allem, da diese nicht nur die Chyrrta selbst, sondern auch die Pflanzen und Tiere in Mitleidenschaft zogen. Zum Glück hatten sich viele Tiere längst auf die Gegebenheiten eingestellt und tranken nur aus Quellen, die aus dem Erdreich hervorsprudelten oder in Höhlen zu finden waren. Da die Parasiten nur dann überleben konnten, wenn das Sonnenlicht sie stärkte, blieben der Bevölkerung und den Tieren zumindest diese Möglichkeiten, um sich mit Wasser zu versorgen.

Die Pflanzen zogen sich das Wasser ohnehin aus dem Erdreich, doch wie Kyla aus Olhas Büchern wusste, hatte es früher auch üppig blühende Pflanzen gegeben, die direkt aus den Seen wuchsen. Doch in keinem natürlichen See waren sie heute noch zu finden. Und auch die Tiere, die sich im Wasser bewegten, gab es schon lange nicht mehr. Zumindest nicht in der Natur, denn auf dem Palastgelände hatte Kyla zum ersten Mal Fische gesehen, die im Wasser schwammen, das nicht grün und von Parasiten verseucht war. Es war von einer Klarheit gewesen, die Kyla vollkommen gefangen genommen hatte. Und so ging es ihr immer noch, wenn sie ein Wasser vor sich sah, bei dem sie bis auf den Grund blicken konnte.

Sie ging zur Pferdetränke und sah zu, wie Golan sich den Bauch vollschlug – als sie bemerkte, dass er zugleich Wasser ließ, musste sie lachen. Es sah aus, als würde die Flüssigkeit einfach so durch den großen Pferdekörper hindurchfließen. Als Golan den Kopf schließlich aus der Tränke hob, fasste Kyla ihn an den Zügeln und ging mit ihm durch das Stadttor. Wachen waren links und rechts positioniert. Sie blickten Kyla kurz an, nickten ihr zu und bedeuteten ihr, weiterzugehen.

Die junge Kriegerin glaubte schon, es wäre so einfach in die Stadt zu gelangen, doch plötzlich stellte sich ihr ein Mann in den Weg, der der reinste Hüne war. Er trug ein Schwert an der Seite und wurde durch einen Brustpanzer geschützt. Der Bewaffnete bemühte sich sichtlich, trotz seiner Erscheinung freundlich zu wirken. Erst dann erkannte Kyla, dass noch zwei weitere Wachen in der Nähe standen, doch offensichtlich hielten sie es bei ihrem Anblick nicht für nötig, sich zu dem ersten Wächter zu gesellen.

»Willkommen in der Stadt Tritam! Im Namen der Herrscherin Paraila gewähren wir dir Gastfreundschaft und unseren Schutz.«

Kyla musste bei den Worten des Mannes schmunzeln. Er runzelte die Stirn. »Was erheitert dich?«

»Es ist nichts. Ich bin nur amüsiert, weil ich erst vor kurzem Parailas Palast verlassen habe. Und nun gewährt sie mir hier zugleich schon ihre Gastfreundschaft. Natürlich handelt Ihr in ihrem Namen, daher ist meine Erheiterung fehl am Platz.« Kyla lächelte unbeholfen und fragte sich insgeheim, warum sie überhaupt versuchte, ihm ihre Verwirrung zu erklären.

Der Mann brauchte einen Augenblick, dann hellte sich seine Miene deutlich auf, und er machte eine Verbeugung. »Dann müsst Ihr Kyla sein – die Kriegerin der grünen Wasser.« Er versuchte, so unauffällig wie möglich auf ein Gemälde zu blicken, das in einem Holzverschlag hing, der ihm wohl bei schlechtem Wetter als Unterstand diente. Kyla folgte seinem Blick und erkannte auf dem Bild sich selbst. Der Wächter sah rasch wieder zu ihr.

»Verzeiht mir bitte, hochgeschätzte Herrin, dass ich Euch nicht gleich erkannte. Ich hoffe, Ihr könnt mir – Eurem ergebenen Diener – vergeben. Mir wurde angekündigt, dass Ihr irgendwann die Stadt besuchen werdet, jedoch bekam ich keine Mitteilung darüber, dass es nun soweit ist. Natürlich liegt es allein in meiner Verantwortung, Euch gleich beim ersten Anblick die Ehre zuteilwerden zu lassen, die Euch gebührt. Mein Versäumnis ist tadelnswert.«

»Schon gut«, murmelte Kyla, der bei der ehrerbietigen Anrede ganz seltsam zumute war. Sicher, in den Dörfern rund um den Palast hatte man auch um ihren Stand gewusst, doch die Leute waren ungebildet und bedienten sich einer schlichten Sprache, sodass sie zwar Respekt gespürt, doch selten so viel Förmlichkeit gehört hatte. Kyla wurde ein wenig rot und hoffte, der Wachmann würde es auf ihre anstrengende Reise zurückführen. In ihren Gedanken hatte sie bereits eine ähnlich förmliche Antwort formuliert, doch dann besann sie sich darauf, dass sie als höher gestellte Chyrrta beim Du bleiben musste.

»Du wusstest, dass ich irgendwann kommen würde?« Es erstaunte sie wirklich, dass man hier mit ihr gerechnet hatte – wenn auch nicht zu diesem Zeitpunkt.

»Ja, über verschiedene Boten wurde uns mitgeteilt, dass Ihr neugierig auf diese Stadt seid und sie ganz sicher irgendwann besichtigen werdet. Wir sind seit vielen Jahreszeiten darauf vorbereitet.« Kyla sah ihn erstaunt an. Man hatte sich auf ihr Kommen vorbereitet? Sie nickte nur vage, da sie nicht offenbaren wollte, wie sehr sie diese Tatsache erstaunte.

»Ein Zimmer in der besten Unterkunft der Stadt ist für Euch vorbereitet, und ein Platz im Stall des Hauses für Euer Pferd reserviert«, sagte der Wächter.

»Außerdem werden Euch drei Dienerinnen mit Freuden die Schönheiten Tritams zeigen – aber darüber erfahrt Ihr alles in der ‘Kriegerin der grünen Wasser’«.

Als Kyla ihn verständnislos anblickte, erklärte der Mann schnell: »Die Unterkunft – also das Gasthaus – wurde nach Euch benannt. Es liegt linksseitig im Zentrum des Marktes. Von dort aus habt Ihr die kürzesten Wege zu den Ständen der Händler und könnt jederzeit ins Gasthaus zurückkehren, um Euch zu erfrischen. Man wird sich sehr freuen, Euch endlich persönlich bewirten zu dürfen.«

Kyla seufzte schwer. Es war nicht ihre Absicht gewesen, hier hofiert zu werden. Ganz im Gegenteil! Sie hatte sich auf dieses Abenteuer gefreut, da sie glaubte, endlich einmal zu den gewöhnlichen Chyrrta gehören zu dürfen – alles mit deren Augen zu sehen und Dinge zu erleben, die nicht durch die Zugehörigkeit zum Palast geprägt waren. Im Grunde hatte sie bislang in ihrem Leben nur völlige Einsamkeit und ein recht bodenständiges Dasein bei Olha und Zygal, sowie – zumindest am Tage – ständige Gesellschaft und den verschwenderischen Prunk am Hofe kennengelernt.

Sie dürstete danach, die Ebenen dazwischen kennenzulernen, wie sie die absolute Mehrheit der Bevölkerung tagtäglich erlebte. Wie sollte man einem Volk nahe sein, dessen Alltag, einfache Freuden und Nöte man nicht kannte? Dies hier war ihre Möglichkeit, endlich all das hautnah zu erleben. Aber das würde ihr verwehrt bleiben, wenn bereits alles für sie bereitstand.

»Angenommen, ich wäre eine andere Besucherin dieser Stadt – eine Reisende, die hier nur Erholung sucht – welche Empfehlung für eine Unterkunft hättest du mir dann gegeben?«

Der Wachmann schien über die Frage erstaunt, aber er nahm die Herausforderung sofort an. »In der Gasse am nördlichen Ende hinter dem Marktplatz gibt es eine Unterkunft, die klein aber sauber ist und fernab des Trubels liegt. Sie heißt ‘Handuls Schenke’. Es gibt dort nur drei Zimmer im Obergeschoss. Trotz der geringen Anzahl stehen sie meist leer, denn die Händler möchten nahe am Markt wohnen, um schon früh am Morgen ihren Stand zu bestücken. Sie bevorzugen daher die Unterkünfte unmittelbar am Platze. Bei Handul hingegen logieren die wenigen Reisenden, die sich lediglich die Schönheiten der Stadt ansehen wollen, ohne selbst Geschäfte zu betreiben.«

»Genau das bin ich – eine Reisende, die die Schönheiten der Stadt sehen möchte. Und das Treiben auf dem Markt bekomme ich ja auch zu sehen, wenn ich mich von der Schenke aus dorthin begebe. Geschäfte will ich nicht betreiben, außer das eine oder andere für meine weitere Reise zu erwerben.«

Der Wächter wand sich. »Ich weiß nicht ...«, murmelte er unglücklich. »Ich wurde dazu angehalten, Euch jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Dass Ihr aber auf die Gastfreundschaft des Hauses verzichten möchtet, das eigens für Euch seit so langer Zeit alles hergerichtet hat, wird man mir übelnehmen.«

Kyla seufzte. Sie wollte nicht, dass der Wächter sich derart unwohl fühlte, nur weil sie ihre Ruhe haben wollte. Wer wusste schon, wie man ihn dafür bezahlen lassen würde, dass sie ihren eigenen Kopf durchsetzte.

»Na gut, dann werde ich diese Nacht in der ‘Kriegerin der grünen Wasser’ verbringen«, lenkte sie ein.

Der Wachmann stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Eine gute Entscheidung – immerhin wurde das Gasthaus ja auch nach Euch benannt.«

»Das sagtest du bereits«, erwiderte Kyla lächelnd. Der Mann nahm wieder mehr Haltung an, als er bemerkte, dass seine Schultern vor Kummer nach unten gesunken waren. »Erwähnte ich auch, dass man sich dort gut um Euch kümmern wird?«

»Ja, auch das hast du mir bereits gesagt.«

»Dann werde ich Euch nun dorthin geleiten.«

Kyla schüttelte den Kopf. Es fehlte gerade noch, dass er sie wie ein Kind beaufsichtigte. »Bleibe auf deinem Posten, damit ehrliche Neuankömmlinge ebenso freundlich begrüßt werden wie ich. Und damit Übeltäter ferngehalten werden. Ich werde den Weg zu meiner Unterkunft schon selbst finden.«

Ehe er ihre Worte in Zweifel ziehen konnte, trieb die junge Frau Golan dazu an, sich vom Stadttor zu entfernen und der Straße zu folgen, die ins Zentrum führte. »Ich wünsche Euch einen angenehmen Aufenthalt!«, rief der Wächter ihr nach. Kyla hob die Hand, um ihm mit dieser Geste zu danken. Sie war froh, dass sie in Tritam trotz Golan nicht sonderlich auffiel. In die Stadt kamen viele Reisende zu Pferde. Die meisten von ihnen waren zweifellos wohlhabend. Aber auch die Händler besaßen Pferde, da sie ansonsten ihre Waren nicht über weite Strecken transportieren konnten.

Kyla blickte sich um, während Golans Hufe auf dem Kopfsteinpflaster klapperten. Die Häuser hier sahen anders aus, als alle, die sie bislang in ihrem Leben gesehen hatte. Sie waren hoch gebaut und hatten viele Fenster, die zum Teil mit Stoff verhangen waren. Kyla wusste, dass in Städten oftmals mehrere Familien ein einziges Haus bewohnten – sie hatte es nur noch nie gesehen. Selbst in dem Dorf, das sich am Fuße zu Parailas Palast erstreckte, gab es nur einzelne Häuser, die vor der Kulisse des viel größeren Bauwerks beinahe so aussahen, als würden sie sich ducken. In Tritam waren die Gebäude um einiges größer und schienen einen Stolz auszustrahlen, der Kyla tatsächlich ehrfürchtig werden ließ. Über den Dächern flogen Vögel, die Kyla noch nie gesehen hatte. Einige von ihnen ließen sich bis auf die Höhe der Fenster hinabfallen und spähten in die Räume, wohl auf der Suche nach leichter Beute, falls jemand Essensreste schnell erreichbar hatte liegen lassen. Kyla konnte sehen, wie einer der Vögel durch ein geöffnetes Fenster ins Gebäude flog und kurz darauf mit einer abgenagten Hühnerkeule wieder herauskam und davonflog. Sein Gefieder schillerte in allen Farben, als das Tier sich auf dem Dach niederließ, um die Beute zu verspeisen.

»Entschuldigung, wie heißen diese Vögel?« Sie hatte eine junge Frau angesprochen, die mit einem Bündel in den Händen auf der Straße ging. Die Frau sah in die Richtung, in die Kyla deutete.

»Das sind Glinthas. Davon gibt es hier so viele, dass wir sie nach jedem vollen Mond in Käfigen fangen und verbrennen. Sie sind eine Plage, die uns über den Kopf wächst, wenn wir nicht dafür sorgen, dass sie nicht ständig mehr und mehr werden können.« Kyla nickte verstehend. Vermutlich waren diese Vögel nicht essbar, wenn man es vorzog, ihr Fleisch ungenutzt zu verbrennen. Die junge Frau eilte bereits weiter. Vielleicht war sie es gewohnt, von Fremden Fragen gestellt zu bekommen, und fühlte sich als Stadtbewohnerin von Tritam verpflichtet, sie so gut wie möglich zu beantworten. Sie ließ sich davon jedoch offensichtlich nicht von ihren Pflichten abhalten. Kyla hätte ihr zwar gerne noch weitere Fragen gestellt, aber sie akzeptierte, dass sie dazu kein Recht hatte. Es sei denn, sie würde sich als Kriegerin der grünen Wasser zu erkennen geben ... doch das hatte sie nicht vor. Zumindest auf ihrem Weg zur Unterkunft wollte sie noch unerkannt bleiben und das Stadtleben möglichst unauffällig beobachten.

Kyla ließ Golan nur langsam voranschreiten, während sie sich neugierig umsah. Die Wege hier waren so sauber, dass sie hoffte, ihr Pferd würde nicht ausgerechnet jetzt seine Äpfel fallen lassen. In den Dörfern störte so etwas niemanden, denn die Wege dort waren oft genug von den Exkrementen des Viehs völlig verschmutzt, aber in Tritam schien es kein Vieh zu geben, was Kyla nicht verwunderte.

Die Stadt war ein Aushängeschild der Familie Gallan. Tritam wurde aus diesem Grunde mit genügend frischem Wasser, Lebensmitteln, Baumaterialien und anderem versorgt. Viehhaltung war hier nicht notwendig, ebenso wenig wie grobes Handwerk. In dieser Vorzeigestadt widmeten sich die handwerklich tätigen Chyrrta filigranen Arbeiten, wie der Schmuckschmiedekunst, der Porträtmalerei oder der Herstellung von Naschwerk und kostspieligen Nahrungsmitteln, die eher dem Gaumen als dem hungrigen Bauch schmeicheln sollten.

Viele Geschäftsbetreiber verkauften natürlich auch die lebensnotwendigen Waren, die sie den Herstellern abkauften, um sie hier unters Volk zu bringen. Doch auffallend viele Geschäfte boten Waren an, die in keinster Weise zum Überleben wichtig waren – eben den genannten Schmuck, kulinarische Köstlichkeiten und eine ganz besondere Art von Wasser, dem verschiedene Düfte beigemischt waren. Kyla ließ Golan vor einem solchen Laden anhalten, stieg vom Rücken des Pferdes und betrat das Geschäft. Der Raum war nicht sehr groß, die Waren wurden in Holzregalen präsentiert, die beinahe bis unter die niedrige Decke reichten. Durch große Fenster schien das inzwischen rötliche Sonnenlicht herein; der Ladenbesitzer hatte in den Ecken Lampen entzündet, die jeglichen Schatten vertreiben sollten. Kein Staubkorn war zu entdecken. Die Verkaufsflächen und die fragilen Gefäße wurden vermutlich regelmäßig gründlich gereinigt.

Das Licht der Sonne brach sich in einigen der geschickt geschliffenen Glasbehälter und warf vielfarbige Muster an die weiß getünchten Wände. Kyla betastete mit ihren Fingern vorsichtig einige der kunstvoll geblasenen Fläschchen, in denen die teuren Flüssigkeiten untergebracht waren. Reich verzierte Deckel und silberne Stopfen zogen Kylas Blicke auf beinahe schon magische Art an. Jede einzelne Glasflasche war ein Kunstwerk und schien ein verführerisches Geheimnis in sich zu bergen.

»Willst du den Duft riechen? Warte, ich öffne rasch die Phiole. Schließe die Augen und atme tief ein – öffne die Augen erst wieder, wenn der Duft sich verflüchtigt hat. Und dann sage mir, ob du fortan noch ohne ihn zu leben vermagst.«

Kyla wusste, dass die Verkäufer gerne so taten, als bräuchte man ihre Waren unbedingt – und dieser Geschäftsmann schien ein Meister seines Faches zu sein. Sein Haar war ergraut und sein Gesicht zeigte Falten, die davon zeugten, dass er vermutlich bereits etliche Jahreszeiten an Erfahrung in seinem Metier erworben hatte, die er nun geschickt einzusetzen vermochte, wenn er ein Geschäft witterte. Ein spöttisches Lächeln umspielte Kylas Mundwinkel, weil er tatsächlich zu glauben schien, er könne ihr ein so kostspieliges Duftwasser andrehen, als sei es ein warmes Paar Schuhe, ohne das man in der kalten Jahreszeit dem Tode verschrieben war. Der Verkäufer ignorierte Kylas Herablassung jedoch. Er stellte das freundlichste Lächeln zur Schau, das sie je gesehen hatte. Sie seufzte und tat ihm den Gefallen – ihre Lider senkten sich. Kyla atmete durch die Nase ein.

Zunächst geschah gar nichts, und sie hätte die Augen schon fast wieder geöffnet, doch dann stieg ihr der erste Hauch des Duftwassers in die Nase – und er blieb nicht nur dort. Er durchströmte sie bis in den letzten Winkel ihres Körpers, dabei schien er Schmerz, Hoffnungslosigkeit und jeglichen Zorn einfach aufzulösen. Es war unglaublich! Kyla brauchte mehr von diesem Duft, der sie befreite und alles ganz leicht machte. Sie sog ihn erneut ein, und eine weitere Welle hob sie zu einem Wohlempfinden heran, das sie noch nie zuvor erlebt hatte. Einzig der Moment, wenn ihre Hand des nachts ihre Scham zum Beben brachte, schien ihr damit ansatzweise vergleichbar. Aber das hier war doch so gänzlich anders, denn dieses unglaublich gut riechende Wasser konnte sie jederzeit und überall verwenden. Sie könnte damit schlechte Empfindungen für eine lange Dauer fernhalten, einfach indem sie es sich auf die Halsbeuge träufelte – so, wie der Verkäufer es ihr nun erklärte. Kyla hörte ihm zu, doch die Augen hielt sie immer noch geschlossen. Sie hörte ihn zufrieden lachen, und auch sie war zufrieden. Doch dann verschwand der Duft plötzlich. Sofort riss Kyla die Augen auf und wollte protestieren. Der Verkäufer verschloss die Phiole mit einem silbernen Stöpsel, der mit einem zierlichen Kettchen an dem gläsernen Behältnis befestigt war.

Der Mann stellte die Phiole unter den Tresen. »Du brauchst diesen Duft nicht.«

»Doch! Ich brauche ihn!« Kyla war sich bewusst, dass ihre Antwort viel zu schnell und zu laut gekommen war. Aber sie wollte dieses Duftwasser auf jeden Fall haben, auch wenn sie sich darüber im Klaren war, dass sie in die Falle des Verkäufers tappte. Der Mann ließ sich zu ihrer Überraschung seine Selbstzufriedenheit jedoch nicht mehr anmerken. Er holte die Phiole wieder hervor, nahm ein hübsches Stückchen Stoff und wickelte das Fläschchen sorgsam darin ein. Als er den Preis nannte, war Kyla sich sicher, dass er das Doppelte von dem verlangte, was er normalerweise berechnete. Kyla wollte jedoch nicht verhandeln, denn das hätte in ihren Augen den Wert des Duftwassers geschmälert. Sie zahlte, ohne zu murren, und nahm das eingepackte Duftwasser. Sie verließ das Geschäft und verstaute das Gekaufte tief in Golans Satteltaschen.

Als sie sich in den Sattel schwang, schwor sie sich, dass dies der einzige Anfall von Schwäche bleiben sollte, den sie hier erlitt. Ein wenig war sie erschrocken, dass sie ebenso auf Schönheiten und angenehme Gerüche ansprach wie Paraila, Galynda, Lanari und all die anderen Frauen, die sie kannte.

Lanari ... Kyla spürte einen kurzen Stich in ihrem Herzen, als sie an die Freundin dachte. Doch die Gefühle, die sie für sie hatte, waren ohnehin viel zu stark. Eine Trennung war das einzig Richtige, um wieder zur Vernunft zu kommen. Während Golan gemächlich durch die Straßen schritt, wurde Kyla bewusst, dass diese Trennung aber vielleicht viel länger dauern könnte, als ihr lieb war.

Ein Laden mit ledernen Taschen erregte Kylas Aufmerksamkeit. Sie hielt Golan an und betrachtete die Auslagen. Für ihre weitere Reise benötigte sie eine größere und stabile Tasche, also war es ja keine Schwäche, sich ein Exemplar auszusuchen und käuflich zu erwerben. Der Verkäufer in diesem Laden widmete sich ihr erst, als Kyla eine blau eingefärbte Tasche bezahlen wollte. Er kassierte und überließ sie dann wieder sich selbst. Kyla fand es seltsam, dass die Ladenbesitzer hier so unterschiedlich waren, obwohl sie doch das gleiche Ziel hatten – ihre Existenz durch Verkäufe zu sichern. Da dieser Mann sich offensichtlich nicht erfolgreich genug um seine Geschäfte kümmern konnte, kaufte Kyla ihm sogleich noch eine Geldbörse und einen hübschen Schal aus feinem Stoff ab, den er auf einem hölzernen Gestell darbot. Jetzt strahlte der Verkäufer über das ganze Gesicht, und Kyla spürte eine Art von Freude, die ihr bislang gänzlich fremd gewesen war. Es bereitete ihr großes Vergnügen, diese neuen Dinge zu besitzen. Den Schal würde sie Lanari schenken, und sie freute sich darauf, ihn an ihr betrachten zu können. Mit ihren Schätzen kehrte sie zu Golan zurück und versprach ihm, nun keinen Halt mehr zu machen, bevor er nicht gut aufgehoben und fressend im Stall untergebracht war.

Sie hielt Wort und stand schon bald vor dem Gasthaus, das nach ihr benannt war. Es war mehr als sonderbar, den Schriftzug, der mit Glüheisen in Holz gebrannt und an der Fassade des mehrstöckigen Gebäudes angebracht war, zu betrachten. In Kästen vor den Fenstern hatte man Blumen gepflanzt, die keinem anderen Zweck dienten, als in prächtigen Farben vor sich hin zu blühen und die Augen der Betrachter zu erfreuen.

Das Gebäude wirkte, als wäre es gerade neu mit weißer Farbe gestrichen worden. Einige Holzstreben in der Außenfassade stachen mit ihrem dunklen Farbton hervor und zogen die Blicke auf sich. Ebenso die Schrift natürlich, die in nicht gerade kleinen Lettern Kylas kompletten Kriegerinnen-Namen zeigte. Der Eingang war einladend hell, die Tür bereits geöffnet.

Was im Inneren vor sich ging, konnte Kyla nicht erkennen. Sie stieg von Golans Rücken und blickte zum Marktplatz. Er war riesig. Zu dieser Tageszeit lag er jedoch still und verlassen da. Kein Unrat war zu sehen, der vom Markttag übrig geblieben war. Die junge Frau spürte nun doch eine gewisse Vorfreude, ihn beim nächsten Sonnenlicht voll von buntem Treiben zu erleben. Sie wandte sich dem Eingang des Gasthauses zu und betrat es. Kaum war sie im Inneren, brach wahrer Tumult aus. Kyla wusste kaum wie ihr geschah, als plötzlich etwa ein Dutzend Chyrrta um sie herum wuselten, um ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie seufzte innerlich und ließ es geschehen. Einzig um Golan kümmerte sie sich wie versprochen selbst und stellte sicher, dass er in dem zum Gasthaus gehörenden Stall alles bekam, das einem Pferd gut tat. Schließlich kehrte sie ins Hauptgebäude zurück und wurde sofort von drei Frauen unterschiedlicher Altersstufen im Empfang genommen.

»Mein Name ist Yola«, stellte die Älteste sich vor. »Das sind T’hana und Lylha. Wir werden uns um Euer Wohl kümmern, solange Ihr hier in der ‘Kriegerin der grünen Wasser’ logiert, Kyla – Kriegerin der grünen Wasser.« Beinahe hätte Kyla aufgelacht, weil wohl niemand zuvor bedacht hatte, wie seltsam es anmutete, wenn die Unterkunft ebenso hieß, wie der Gast. Sie sah es den dafür verantwortlichen Chyrrta jedoch nach, denn sie war sich sicher, dass sie es nur gut gemeint hatten. In Windeseile wurde ihr ihr Zimmer gezeigt, das gleich aus mehreren Räumen bestand – in Wahrheit war es so, dass man ihr ein komplettes Stockwerk zugedacht hatte.

Kyla war für diesen Umstand dankbar, denn die Aussichten auf eine ungestörte Nacht waren damit fast greifbar. Als man jedoch Musiker holte, die auf dem Gang ein Lied nach dem anderen spielten, um ihre Nerven zu beruhigen, musste Kyla sich enorm beherrschen, diese in freundlichem Ton zu bitten, erst beim nächsten Sonnenlicht wieder zu erscheinen. Sie hoffte, die Männer nahmen es nicht zu wörtlich und ließen sie ausschlafen. Kyla gab jedem von ihnen ein paar Münzen und atmete tief durch, als endlich alles still war. Doch kaum hatte sie einen weiteren Atemzug getan, klopfte es an ihrer Tür. Sie öffnete, und sofort strömten die drei Frauen herein, die sich um sie kümmerten. Yola trug einen großen Korb mit Obst bei sich, den sie auf einen niedrigen Tisch stellte, der mitten im Raum von mehreren Sitzmöbeln umgeben war. T’hana trug in einem ganz ähnlichen Korb mit Brot, Käse, Butter, Fleisch und Marmelade herbei. Lylha schließlich hatte eine Kiste bei sich, in der eine Vielzahl von Büchern untergebracht war. Sie wirkte unsicher, wo sie ihre schwere Last abladen durfte. Kyla wollte ihr gerade helfen, da ließ Lylha die Kiste bereits so ungeschickt auf den Schrank plumpsen, auf dem Kyla ihre Tasche mit den Waffen abgestellt hatte, dass die Tasche umkippte. Ein Kurzschwert und ein Messer fielen heraus und zu Boden. Das Messer blieb mit der Spitze im Holz stecken, das Heft vibrierte. Lylha war ganz blass vor Schreck geworden. Sie bückte sich rasch und griff nach dem Messer.

»Nein, nicht!«, rief Kyla, doch da hatte die junge Frau sich bereits die Hand aufgeschnitten. Sie sah mit weit geöffnetem Mund ungläubig auf das Blut und sank dann zu Boden.

»Oh nein!« Yola schlug sich die Hand vor den Mund, fasste sich dann jedoch wieder und bedeutete T’hana, ihr zu helfen. Gemeinsam fächelten sie Lylha Luft zu und halfen der Erwachenden auf die Beine. Kyla indes zog das Messer aus dem Holz und legte es mit dem Schwert zusammen auf den Schrank.

»Wir werden den Boden gleich säubern, sobald wir Lylha zu einem Heiler gebracht haben«, versicherte Yola eilig.

»Ich werde das Blut selbst entfernen. Und danach werde ich mich zur Nachtruhe begeben.« Kyla hoffte, sie war nicht zu abweisend. Die Frauen nickten rasch und wünschten ihr eine gute Nacht, dann verließen sie das Zimmer. Kyla sah ihnen nach. Es tat ihr leid, als sie sah, dass Lylha gestützt werden musste – und das nur wegen ein wenig Blut. Kyla wurde sich bewusst, wie seltsam sie manch anderer Frau vorkommen musste, weil sie bei Kämpfen oftmals regelrecht in Blut badete – in dem ihrer Feinde, aber oft genug auch in ihrem eigenen, ohne dass ihr die Sinne deswegen schwanden. Was würden diese Chyrrta, die sie so hofierten, eigentlich von ihr denken, wenn sie Zeuginnen davon würden, wie sie einem Feind die Kehle durchschnitt? Oder ihm einen Dolch in den Leib jagte und einen Schnitt ausführte, sodass dessen Eingeweide ihm aus dem Körper hingen. Sicher würde ihnen der Appetit für geraume Zeit vergehen. Und sie würden Kyla fürchten. Doch wollte sie das? Ihre Gedanken wurden düster. Was, wenn Lanari sie in Wahrheit auch fürchtete? Vielleicht hatte sie die Freundschaft zwischen ihnen immer nur vorgespielt, weil sie als Tochter ihrer Dienerin dazu verpflichtet gewesen war. Vermutlich war sie froh, dass Kyla nun endlich weit von ihr entfernt war und sie Freundschaft, Liebe und Verständnis bei Thonda fand. Thonda ... Kyla beneidete ihn zutiefst.

Sie entledigte sich ihrer Kampfkleidung, zündete die bereitstehende Laterne an, ergriff sie und machte sich daran, in dünnen Beinkleidern und einem Hemdchen die anderen Räume zu erkunden. Das Badezimmer wies eine Wanne aus Metall auf, die auf Krallenfüßen stand. Eine große Waschschüssel befand sich auf einem Tisch. Und daneben – Kyla konnte es kaum glauben – standen drei Fläschchen, in der Art wie sie kurz zuvor eines erworben hatte. Barfuß ging sie auf dem steinernen Boden bis zu dem Tisch. Sie stellte die Laterne ab und öffnete die erste Phiole. Der Duft war etwas zu süßlich für ihren Geschmack. Sie probierte die zweite und stellte fest, dass ihr dieses Duftwasser fast ebenso zusagte wie das, welches sie selbst gekauft hatte. Die dritte Duftnote roch nach etwas Würzigem, das Kyla zwar mochte, das sie aber nicht auf ihrem Körper tragen wollte.

Sie entschied sich, den Inhalt des mittleren Fläschchens solange zu benutzen, wie sie in diesen Räumen verweilte. So konnte sie ihre eigene Phiole noch verstaut lassen und brauchte nicht zu befürchten, dass der Duft mit der Zeit verflog, wenn sie den Deckel öffnete. Kyla nahm die Laterne und ging in den nächsten Raum. Er war sehr groß, und sie hätte beinahe das Bett übersehen, das hinter Vorhängen verborgen war. Das war also ihr Schlafgemach. Kyla befühlte die Matratze – sie war angenehm. Vielleicht sollte sie sofort zu Bett gehen. Doch sie entschied sich, auch die weiteren Räume zu erkunden. Einer war jedoch vollkommen leer, während ein anderer klein und komplett mit Dingen zum Reinemachen voll gestellt war. Offenbar hatte man wirklich noch nicht mit ihrem Aufenthalt im Gasthaus gerechnet, ansonsten hätte man diese Dinge wohl an einem anderen Ort untergebracht. Kyla kehrte in das Hauptzimmer zurück und ließ ihren Blick über die Bücher schweifen, die Lylha ihr gebracht hatte. Einige davon kannte sie bereits. Es waren Werke, die über das alte Chyrrta berichteten. Ob sie der Wahrheit entsprachen, wagte Kyla zu bezweifeln, denn in keinem von ihnen war davon die Rede, dass die Wasser einst rein und ungefährlich gewesen waren. Vielmehr schien es so, als hätte Olha damals recht gehabt, als sie Kyla erklärte, dass sie lernen würde, selbst einzuschätzen, was sie glauben durfte, und was nicht.

Damals hatte Kyla nicht mal einen einzigen Buchstaben gekannt, und sie hatte es ihrer Ziehmutter zu verdanken, dass sie das Lesen und Schreiben erlernt hatte. Das schien so unglaublich lange her zu sein, dass es ihr vorkam, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Mit Wehmut dachte sie an die meist freundliche Olha zurück. Sie hatte ihr vieles zu verdanken. Kylas Fingerspitzen strichen über einen Einband aus dunklem Leder. Es befand sich kein Titel darauf. Sie schlug das Buch auf und begann die ersten Zeilen zu lesen.

Diese berichteten von einem großen Untier, das ganze Dörfer niedertrampelte. Die Chyrrta schlossen sich zusammen, um die Gefahr gemeinsam zu bekämpfen. Kyla dachte darüber nach. Was mochte Paraila wohl von diesem Buch halten, wo sie doch so sehr darauf bedacht war, dass ihr Volk jeglichen Zusammenschluss zum Kampfe unterließ – einzige Ausnahme waren Kyla und die Reiter der Herrscherin. Nur sie als Kämpferin und die Männer, die sich in Parailas Dienst gestellt und ihr bedingungslose Treue geschworen hatten, durften gemeinsam in den Kampf ziehen. Doch Kyla wusste, dass es mit der Zeit immer schwieriger werden würde, dem gegnerischen Ansturm von jenseits der Undurchdringlichen Mauern Stand zu halten. Irgendwann würde sich jeder Chyrrta in Parailas Reich darauf einstellen müssen, das Land zu verteidigen, auf dem er lebte. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Die Reiter der Herrscherin würden in der nächsten Zeit auch ohne sie und ihre taktischen Überlegungen auskommen müssen, denn Kyla hatte eine Aufgabe zu erledigen. Sie sollte Quyntyr ausfindig machen, den Paraila vor den Augen aller hinrichten lassen wollte.

Kyla hatte jedoch ihre ganz eigenen Gründe, warum sie ihren ehemaligen Kampflehrer unbedingt finden wollte. In einem Brief hatte er ihr offenbart, mehr über sie zu wissen, als sie selbst es tat. Vielleicht hatte er es nur geschrieben, um sie dafür zu bestrafen, dass sie ihm den Befehl gegeben hatte, sie vor aller Augen zur Frau zu machen. Aber möglicherweise hatte er tatsächlich Wissen über sie, das Kyla verborgen geblieben war. Quyntyr hatte sie bislang niemals belogen, soweit sie das beurteilen konnte. Es war immerhin denkbar, dass er auch in seinem Brief die Wahrheit geschrieben hatte. So oder so würde sie es herausfinden müssen. Doch was sie tun sollte, wenn sie ihn am Berg Ultay fand, wusste Kyla jetzt noch nicht.

Würde sie ihn festnehmen und Parailas grausamer Rache ausliefern, die vielleicht gar nicht gerechtfertigt war? Doch was blieb ihr sonst schon übrig? Sie hatte ihrer Herrscherin einen Schwur geleistet – den, ihr immer treu zu dienen. Wenn sie Quyntyr nicht auslieferte, würde sie ihr Gelübde brechen. Kyla verfluchte sich selbst dafür, weil sie sich all diese Gedanken machte, während sie auf dem Weg ins Bett war. Sie nahm sich vor, augenblicklich damit aufzuhören und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Sie ließ die Vorhänge geöffnet, denn so konnte sie durch das Fenster nach draußen blicken. Es war kaum zu glauben, dass sie immer noch die gleichen Sterne wie von den Palastfenstern aus sah. Chyrrta war eine kleine Welt – doch sie war voller großer Probleme.

»So wird das nichts. Konzentriere dich gefälligst auf deine Aufgabe!«

Das war doch Zygals Stimme! Aber das konnte nicht sein ... Kyla sprang aus dem Bett und blickte aus dem Fenster. Sie war noch vom Schlaf benommen, doch sie erkannte, dass es nicht ihr Ziehvater gewesen war, der die Rüge erteilte, sondern ein vollkommen anderer Mann. Vom Leibesumfang her entsprach er tatsächlich Zygal, doch der Rest wollte so gar nicht stimmen. Es war ein kahlköpfiger, breitnasiger Händler, der einen jungen Burschen harsch anwies, wie er den Stand aufzubauen hatte.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch Kyla konnte im Schein der zahlreichen Fackeln sehen, dass auf dem Marktplatz bereits rege Betriebsamkeit herrschte. Männer und Frauen bereiteten sich darauf vor, ihre Waren feilzubieten. Das Licht war zu schwach, als dass Kyla in einiger Entfernung Einzelheiten hätte erkennen können, aber sie war sich sicher, dass es alles geben würde, was das Herz begehrte. Ihr Körper hingegen begehrte momentan lediglich mehr Schlaf. Also ging Kyla ins Bett zurück, zog sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Sie hörte den Händler wieder schimpfen, der sie geweckt hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Zygals Stimme war eindeutig vorhanden – und es tat ihr weh, das zu hören. Wie sehr sie diesen grobschlächtigen Mann immer noch vermisste, obwohl er und Olha inzwischen bereits seit vielen Jahreszeiten tot waren. Wären sie stolz auf sie, wenn sie sie heute sehen könnten? Immerhin hatten sie alles getan, um sie auf ihre Aufgaben als Kriegerin vorzubereiten. Doch was hatte sie bislang schon wirklich erreicht?

Sie hatte viele Schlachten angeführt und sie erfolgreich geschlagen. Sie verteidigte ihre Herrscherin und das Reich gegen Feinde und Gefahren. Zudem versuchte sie immer, anderen Chyrrta zu helfen, wo es nur ging, aber reichte das? Waren diese Dinge eine Berechtigung, den Stand einer Kriegerin einzunehmen? Noch dazu eine, die am Palast lebte, und der alle dienen mussten, außer der Herrscherin selbst? Kyla drehte sich zur Seite und bettete ihren Kopf bequemer auf dem Kissen. Was nutzten schon diese Gedanken? Die Umstände waren nun einmal so, wie sie waren. Und sie führte zwar ein privilegiertes Leben, doch es konnte auch jederzeit gewaltsam enden. Jeder Kampf, jede auch noch so kleine Auseinandersetzung, zu der sie gerufen wurde, konnte ihren Tod bedeuten. Oftmals gab sie Dorfbewohnern den Rat, Ärger aus dem Weg zu gehen – insbesondere denen, die junge Kinder hatten. Für sie selbst galt dieser Rat jedoch nicht, denn es war ihr Schicksal, sich einzumischen, wann immer Gefahr drohte.

Kyla war gerade wieder eingeschlafen, da schwoll der Lärm draußen erneut an. Es polterte – gefolgt vom Brüllen des Mannes, dessen Stimme Kyla inzwischen zu Genüge kannte. Sie seufzte und gab ihren Plan, noch länger zu schlafen, endgültig auf. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass der Stand des Kahlköpfigen zusammengebrochen war. Schuld daran war wohl sein Gehilfe, der mit eingezogenem Kopf die Schimpftirade über sich ergehen ließ. Der junge Mann tat Kyla leid. Ihr blieb jedoch keine Zeit, sich darüber länger Gedanken zu machen, denn bereits im nächsten Moment klopfte jemand an ihre Tür.

»Wer ist da?«, rief Kyla. »Ich bin es, T’hana. Yola lässt Euch ausrichten, dass Euer Frühstück bereitsteht. Möchtet Ihr es im Speisesaal einnehmen?«

Kyla seufzte leise, dann rief sie: »Ja, ich komme gleich.« Man hielt offenbar nicht viel von Langschläfern in dieser Stadt. Kyla hätte T’hana lieber geantwortet, dass sie in ihren Räumen frühstücken wollte, aber ganz sicher würde man es ihr übelnehmen, wenn sie nicht die Gasträume nutzte, die eigens für sie hergerichtet worden waren. Während sie ihre Kampfkleidung anlegte, fragte sich Kyla insgeheim, warum sie überhaupt so diplomatisch war. Paraila blieb in solchen Fällen bestimmt nichts anderes übrig, als die Dienste ihrer Gastgeber in Anspruch zu nehmen. Aber sie selbst war keine Herrscherin, die den Regeln der Höflichkeit Genüge tun musste, sondern eine Kriegerin, die die meiste Zeit ihres Lebens mit den Gewalttätigkeiten anderer Chyrrta umzugehen hatte. Wenn sie dem einmal nicht ausgesetzt war, hieß das jedoch nicht, dass sie sich in eine Edeldame verwandeln musste. Ganz im Gegenteil sogar, war es doch nur zu verständlich, dass sie die Chyrrta blieb, die sie nun einmal war. Und diese speiste entweder allein in ihren Räumen des Palastes oder inmitten der unfeinen Männer auf dem Schlachtfeld, indem sie rasch irgendetwas Essbares hinunterschlang.

Sie schmunzelte, als sie sich vorstellte, dass sie wie die Reiter der Herrscherin es in Gasthäusern taten, nun die Füße auf den Essenstisch legen und Wein am frühen Morgen ordern könnte. Aber auch wenn die Vorstellung sie erheiterte, so verzichtete sie doch darauf, als sie nur wenig später in einem lichtdurchfluteten Raum saß, der Platz für viele Gäste bot. Einige der Tische waren besetzt. Kyla versuchte, nicht darauf zu achten, dass sie immer wieder neugierig beäugt wurde. Sie griff zu einem großen Tonkrug und goss sich Wasser in einen Becher. Das Brot, das vor ihr stand, duftete herrlich. Vermutlich kam es gerade aus dem Ofen, denn der kleine Laib war noch ganz warm. Kyla brach ein Stück davon ab und schob es sich in den Mund. Es schmeckte köstlich!

Sie blickte zum Fenster hinaus. Die Sonne war inzwischen über die Berge gestiegen, die Tritam umgaben. Es würde ein heißer Tag werden. Lylha kam an ihren Tisch und brachte Kyla gebratene Tilanifrüchte. »Yola bereitet frischen Rula-Sud vor. Er ist gleich fertig«, berichtete sie mit gepresster Stimme. Kyla fiel auf, dass die junge Frau einen dicken Verband um ihre Hand trug. »Hat sich die Wunde entzündet?«, fragte sie. Lylha schüttelte den Kopf. »Nein, aber bei mir dauert es sehr lange, bis eine Wunde zu bluten aufhört. Es ist ... eine Krankheit, glaube ich.«

»Oh«, machte Kyla, die nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Denn jetzt fiel ihr auf, dass der Verband stellenweise immer noch von frischem Blut befleckt war. Ganz sicher wäre sie inzwischen längst tot, wenn sie eine solche Krankheit ebenfalls hätte, denn ihre Wunden waren für gewöhnlich um einiges größer und tiefer. »Dann solltest du dich ausruhen, anstatt zu arbeiten. Und vielleicht solltest du auch einen Heiler aufsuchen, der die Wunde behandeln kann, damit du bald wieder genesen bist«, schlug Kyla vor.

»Das kann ich nicht. Ich habe zwei kleine Töchter, und mein Mann ... er ist fort.«

Kyla begriff. »Hole mir den Besitzer dieses Gasthauses her!«, befahl sie. Lylha sah sie erstaunt an. Sie lächelte leicht. »Die Besitzerin ist Yola.« Kyla kam sich augenblicklich dumm vor. Warum hatte sie nicht eher daran gedacht, dass die Besitzerin es sich natürlich nicht nehmen lassen würde, sie als Erste willkommen zu heißen und ihre Dienste anzubieten? Sie ließ sich ihre Verwirrung jedoch nicht anmerken, als Yola mit dem Rula-Sud an ihren Tisch kam. Während die Gasthaus-Besitzerin das dunkle Gebräu in einen kleinen Becher füllte, sagte Kyla entschieden: »Du wirst Lylha heute und für die kommenden beiden Sonnenlichter von ihren Pflichten entbinden. Sie wird einen Heiler aufsuchen und bald wieder bei Kräften sein, um ihren Dienst zu verrichten. Die Bezahlung für sie und den Heiler erhältst du von mir, sobald ich abreise. Füge die Summe meiner Rechnung hinzu.«

»Und wer soll dann die anstehenden Arbeiten übernehmen? Lylha war tollpatschig und ist selbst schuld, dass sie sich verletzt hat«, erwiderte Yola aufgebracht.

»Was tut das zur Sache?«, herrschte Kyla sie an. Sofort senkte Yola den Kopf und murmelte: »Nichts ... natürlich.«

»Dann lass sie nach Hause gehen. Es wird genügend Chyrrta in dieser Stadt geben, die ihre Arbeit einstweilen übernehmen möchten.«

»Aber niemand von denen ist so gut unterwiesen, dass wir unsere Arbeit schaffen könnten. Es gibt noch so vieles zu tun, um das Festmahl vorzubereiten.«

»Welches Festmahl?«, fragte Kyla.

»Das heutige Mahl Euch zu Ehren. Viele Würdenträger der Stadt werden hierher kommen, um Euch zu sehen und Euch Ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.«

Kyla drehte sich bei diesen Worten fast der Magen um. Sie schob den Rula-Sud von sich, den sie ohnehin nicht hatte trinken wollen.

»Dann wird das Festmahl eben ausfallen. Meine Verpflichtungen lassen es auch gar nicht zu, daran teilzunehmen.« Yola sah nun so enttäuscht aus, dass es Kyla beinahe leid tat, sie so vor den Kopf zu stoßen.

»Meine Zeit hier ist begrenzt«, erklärte sie. »Ich muss so bald wie möglich weiter reiten. Ich bin nur hier, um ...« Ja, wozu eigentlich? Kyla konnte natürlich schlecht sagen, dass sie nur hergekommen war, um wiejede andere junge Frau die Schönheiten der Stadt zu entdecken. Sie war nun einmal nicht wie andere Frauen ihres Alters. Hier, innerhalb der Undurchdringlichen Mauern, wäre sie das jedoch ganz gerne gewesen. Denn im Reiche Parailas waren Frauen ebenso angesehen wie Männer. Es waren sogar ausschließlich Frauen aus der Gallan-Familie, die über die Chyrrta hier herrschten. Und niemals hatten sie jemanden versklavt, soweit Kyla informiert war. Damals, als Kyla noch jenseits der Mauern gelebt hatte, hatte sie jedoch eine ganz andere Welt kennengelernt.

Dort waren die Frauen wie das Eigentum der Männer behandelt worden – und die junge Kriegerin war froh, kein solches Leben führen zu müssen. Sie wies sich also selbst zurecht und nahm es hin, dass sie dafür einen gewissen Preis zahlen musste. Es war um so vieles besser, hofiert zu werden, statt mit Körper und Seele jemandem dienen zu müssen. Vor allem war es ihr unerträglich, dass diese Sklavenhalter ihren Stand durch nichts weiter als ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit verdient hatten. Welcher Verdienst das eigentlich sein sollte, war Kyla ein Rätsel. Sicher, Männer zeugten Kinder – aber waren es denn nicht die Frauen, die die Nachkommen so lange in ihren Leibern trugen, bis diese lebensfähig waren? Und waren sie es nicht, deren Schöße zerfetzt wurden, wenn sie Töchter und Söhne gebaren? Viele von ihnen starben sogar dabei. Doch statt dies wertzuschätzen, wurden sie auf der anderen Seite der Mauern behandelt, als wären sie minderwertige Kreaturen. Kyla wurde zornig bei dem Gedanken. Nein, die Chyrrta von jenseits der Undurchdringlichen Mauern durften niemals Parailas Welt in ihre Gewalt bringen, denn dann wäre alles verloren, was die Gallan-Frauen aufgebaut hatten. Ihr Volk war zufrieden. Es war freundlich zueinander – auch wenn es hier ebenfalls Bedienstete und Arbeiter gab, die ihren Geldgebern gehorchen mussten. Doch es stand ihnen frei, sich nach anderen Stellen umzusehen. Niemand wurde hier wie Eigentum behandelt. Auch wenn der junge Mann, der am Morgen von dem Kaufmann ausgeschimpft worden war, das derzeit sicher anders sehen würde. Und doch war auch er frei – frei wie Kyla, die sich aussuchen durfte, wo sie am Abend speisen würde.

»Es bleibt dabei, dieses Festmahl wird nicht stattfinden. Vielleicht ein anderes Mal, bei einem anderen Besuch.«

Yola grollte offensichtlich, doch sie unterdrückte ihre Wut. »So soll es sein. Ein anderes Mal ...« Sie sah zu Lylha, die alles mit angehört hatte, und machte ihr eine Geste, dass sie verschwinden solle. Kyla bemerkte, dass die junge Frau gleichsam erleichtert wie besorgt aussah. Sie konnte sich denken, was in ihrem Kopf vor sich ging – und in dem von Yola.

»Ich wünsche, dass Lylha ihre Stelle hier behält! Du wirst keine finanzielle Einbuße durch ihren Ausfall erleiden«, stellte Kyla mit Nachdruck klar.

»Sie wird ihre Stelle behalten. Hauptsache, Ihr seid zufrieden, Kyla, Kriegerin der grünen Wasser.«

»Das bin ich, wenn du tust, was ich angeordnet habe. Bei Sonnenuntergang werde ich aufbrechen. Bitte sorge dafür, dass mein Pferd dann gesattelt bereitsteht.« Yola nickte und versprach es. Als Kyla wenig später über den Marktplatz ging, fragte sie sich, ob sie richtig gehandelt hatte. Es war gar nicht so einfach, alles so zu machen, dass jedem Genüge getan wurde. Langsam begriff sie, welch schwierige Aufgabe Paraila zu bewältigen hatte, von der bei jedem Sonnenlicht aufs Neue erwartet wurde, dass sie so überaus vielen Chyrrta gerecht wurde. Kyla hatte sehr wohl gespürt, wie gerne Yola ihr die Meinung gesagt hätte. Und zweifellos gab es auch Chyrrta, die nicht mit den Entscheidungen von Paraila einverstanden waren. Doch sie hatte noch nie so deutlich gemerkt, dass jemand der Herrscherin Widerworte hatte geben wollen, wie Yola es bei ihr tun wollte.

Die junge Kriegerin begriff, dass sie noch viel zu lernen hatte, wenn sie das Reich auch außerhalb der Palastmauern würdig vertreten wollte. Sie ging zwischen den Ständen hindurch, an denen verschiedene Waren feilgeboten wurden. Hier gab es nicht nur alles zu kaufen, was im Hause benötigt wurde, sondern auch Dinge, die die Sinne erfreuten. Duftwasser, kulinarische Köstlichkeiten, Schals mit eingewobenen Goldfäden, Spielzeug für die Kinder – aber auch wundersame Dinge für Erwachsene, deren Einsatzmöglichkeiten Kyla die Röte in die Wangen trieb. Gerade, als sie es endlich wagte, eines dieser absonderlichen Holzinstrumente in die Hand zu nehmen, spürte sie jemanden neben sich stehen. Rasch legte sie das glatt polierte Holzstück wieder zurück, ihre Hand schloss sich stattdessen um den Griff des mitgeführten Messers, als der Mann auch schon seine Worte an sie richtete.

»Kyla, Kriegerin der grünen Wasser? – Wie lange ist unser Treffen jetzt her? Es kommt mir vor wie Ewigkeiten!« Der Mann strahlte übers ganze Gesicht. Kyla konnte eine Reihe gelblicher Zähne zwischen einem dunklen Vollbart auftauchen sehen, bevor der Mann den Mund wieder schloss und sich verlegen am Kopf kratzte.

»Ich Narr stelle mich dir in den Weg, obwohl ich um deine Kampfkunst weiß, und bringe mich damit in Gefahr. Denn natürlich erinnerst du dich gar nicht mehr an mich. Du musst mich für einen Dieb, oder eine andere zwielichtige Gestalt halten.«

»Der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen. Zudem halte ich dich für recht unverschämt, weil du mich so vertraulich ansprichst, als seien wir alte Freunde. Mag sein, dass du mein Gedächtnis diesbezüglich auffrischen musst, aber wie auch immer ... Es stimmt, meine Kampfkunst solltest du besser nicht unterschätzen.« Sie zeigte ihm das Messer, das sie bereits in der Hand hielt, um sich notfalls verteidigen zu können. Der Mann lächelte. »Ich unterschätze dich schon seit damals nicht mehr, als du nach Lam Olhana kamst.«

Endlich begriff Kyla, warum ihr die Gesichtszüge des Mannes bekannt vorkamen.

»Lopal! Du bist es!«

»Du kennst meinen Namen noch?«, wunderte er sich.

»Aber natürlich! Es war eine aufregende Zeit damals. Sie hat sich mir ganz besonders ins Gedächtnis gegraben.«

»Ich wünschte, es wären schönere Dinge gewesen, an die du dich zurückerinnern kannst.« Er sah sie unglücklich an. Kyla steckte das Messer ein. »Es gibt genügend schöne Erinnerungen, sorge dich nicht. Wenn du etwas Zeit hast, dann erzähle mir doch, was dich hierher geführt hat. Und wie es dir und den Bewohnern deines Dorfes inzwischen ergangen ist.«

»Das werde ich sehr gerne tun. Aber vielleicht sollten wir dafür einen ruhigeren Ort wählen.« Einige Marktbesucher drängten sich an ihnen vorbei und stießen sie dabei immer wieder an.

»Ich hörte von einem Wirtshaus in der Nähe, das recht gemütlich sein soll. ‘Handuls Schenke’, wenn ich mich recht entsinne.«

»’Handuls Schenke’? Ja, die ist mir bekannt. Eine gute Wahl!« Lopal deutete in die Richtung, in die sie gehen mussten. Kyla folgte ihm, bis sie vor dem Gebäude ankamen. Es war unscheinbar im Gegensatz zu dem Gasthaus, das nach ihr benannt worden war. Kyla schloss die Schenke sofort ins Herz und sah sich neugierig um, als sie sie betraten. Es war düster darin, aber auf eine angenehme Art.

Der Wirt hieß sie willkommen und erkundigte sich nach ihren Wünschen, als Kyla und Lopal an einem Tisch in der Ecke Platz genommen hatten. Kyla wusste bereits, was sie trinken wollte, denn auf einem Schild hatte sie gesehen, dass hier Blandur ausgeschenkt wurde – ein Bier, das in Tritam gebraut wurde und den Namen seines Braumeisters trug. Sie freute sich darauf, das alkoholische Getränk endlich probieren zu können. Kyla wusste, dass ihr Lehrer Hirlay eine Vorliebe für dieses Gebräu hatte. Einmal, kurz vor ihrer Abreise, hatte sie ihn angetroffen, als er dem Getränk über die Maßen zugesprochen hatte. Normalerweise war es ihr alter Lehrer gewesen, der stets wollte, dass sie ihm zuhörte, doch an diesem Abend hatte er ihr mit Interesse gelauscht, und wohl zum ersten Mal wirklich begriffen, welchen Verlust Kyla an dem Tag erlebt hatte, bevor sie Bahanda in wilder und auch reichlich törichter Wut zu einem Kampf auf Leben und Tod herausgefordert hatte. Hirlay hatte schließlich tief geseufzt und gesagt: »Die Verluste und die Schmerzen, die man durchleidet, bringen manchmal etwas Neues hervor. Oft ist es etwas, das wir nicht wollen. Eigenschaften, die uns innerlich zerfressen. Aber Verluste sind auch notwendig, um zu reifen ... um eine neue Richtung einzuschlagen.« Kyla – durch den engen Kontakt mit ihm mutiger geworden – hatte ihn gefragt, ob auch er einen Verlust erlebt hatte, durch den er eine neue Richtung eingeschlagen hatte.

»Ich wäre niemals Lehrer geworden, wenn es nicht ... einen Vorfall gegeben hätte.« Als er daraufhin schwieg, hatte Kyla sich nach dem besagten Vorfall erkundigt, doch egal wie viel Blandur Hirlay an dem Abend noch trank, er gab ihr darauf keine Antwort mehr, sondern war wieder in die Rolle des Lehrers geschlüpft. Er hatte ihr von den Sternen erzählt, die sie am Himmel sahen, und von den Pflanzen, die um sie herum wuchsen. Kyla hatte es schließlich aufgegeben.

Das Bier hatte ihr nicht alle Wahrheiten gebracht, die sie erhofft hatte, doch es jetzt mit Lopal zu genießen, kam ihr nur gerecht vor. Es machte sie beschwingt und frei – und Kyla fand, dass das durchaus akzeptabel war. Denn als sie sich das letzte Mal in Lam Olhana gesehen hatten, war dies ihre Feuerprobe als Kämpferin gewesen. Eigentlich hatte sie nur den Schmied Braylon aus diesem Dorf abholen sollen, doch dann war sie auf den einsamen Wächter Lopal getroffen, der völlig verzweifelt gewesen war, weil er sein Dorf nicht mehr gegen die Eindringlinge von außerhalb der Undurchdringlichen Mauern hatte schützen können.

Kyla hatte damals spontan entschieden, ihren eigentlichen Auftrag aufzuschieben und Lopal so gut zu unterstützen, wie es ihr möglich war. Wie sich herausstellte, war sie ihm eine große Hilfe. Sie hatte mit ihrem Geschick im Kampf und ihrer Entschlossenheit gezeigt, dass sie ihren Status als Kriegerin der Herrscherin absolut verdient hatte und ihren Aufgaben gewachsen war. Damals war sie jedoch noch ein Kind gewesen, und seitdem hatten Lopal und sie sich nicht mehr gesehen. Dass er sie trotz ihres Standes immer noch mit Du ansprach, fand Kyla nur gerecht. Nun, da sie bei einem Bier zusammensaßen, und der Wächter sie immer wieder lächelnd betrachtete, als könne er diesen Zufall noch nicht ganz fassen, fragte Kyla: »Ähnle ich dem Kind von einst so sehr, dass du mich sofort erkannt hast?«

»Was? Nein, keineswegs! Aus dir ist eine schöne und stolze Frau geworden – ganz so, wie ich es mir schon dachte. Doch dass ich dich erkannte, ist wohl kaum ein Wunder in dieser Stadt, meinst du nicht auch?« Er lächelte nun mit mildem Spott.

»Ich verstehe nicht ... Warum ist es kein Wunder in dieser Stadt? Ich war zuvor noch nie hier.«

Lopal nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Krug und stellte ihn dann ab. Jetzt hatte er beide Hände frei und wies damit auf die Wände zu ihrer rechten und linken Seite. Kyla folgte der Geste mit ihrem Blick, verschluckte sich vor Schreck am Bier und hustete heftig. Lopal wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte und sagte dann grinsend: »Ist dir bisher noch nicht aufgefallen, dass es hier überall Gemälde von dir gibt? Die Chyrrta dieser Stadt verehren dich. Zugegeben, die Bilder weichen ein wenig von der Realität ab, doch ich habe dich sofort erkannt. Und das werden ganz sicher auch noch andere Stadtbewohner tun. Sei also darauf gefasst, dass man dich hier mit Geschenken und Wohlwollen überhäufen wird.«

»Der Händler, bei dem ich ein Duftwasser erstand, hat mir dennoch sehr gerne mein Geld abgenommen – und nicht gerade wenig, wie ich wohl anmerken darf. Wenn er mich erkannt hat, dann wusste er das gut zu überspielen.« Nun lachte Lopal. »Die Händler sind ein ganz eigenes Völkchen. Die müssen immer auf Profit aus sein, sonst werden sie ganz schnell zum Verräter ihrer eigenen Zunft. Und glaube mir, sie sind blind für das Aussehen ihrer Kunden, denn es ist einzig und allein deren Geld, das sie im Blick haben.«

Das schien Kyla einleuchtend. Dennoch bezweifelte sie, dass man sie tatsächlich erkennen würde. Der Wächter am Stadttor hatte sie jedenfalls nicht auf Anhieb erkannt – sie schöpfte Hoffnung, dass Lopal übertrieb. Er sah sie aufmerksam an und hatte wohl das Wechselbad ihrer Gefühle erraten.

»Du möchtest das gar nicht, nicht wahr? Du bist hergekommen, weil du glaubtest, die Stadt in Ruhe und unerkannt entdecken zu können. Oder bist du hier gar mit einem Mann verabredet? Es gibt viele ansehnliche Männer in dieser Stadt, die zudem gebildet sind. Und hier ist mehr los, als rund um den Palast. Ich könnte es verstehen, wenn du hergekommen bist, um eine stürmische Romanze ohne die gesellschaftlichen Zwänge zu erleben.« Er zwinkerte ihr zu, und sein Gesicht errötete ein wenig bei diesem aufregenden Gedanken. Kyla wunderte sich ein wenig über die Fantasie des Mannes.

»Tatsächlich ist ein Mann der Grund, warum ich herkam. Aber es handelt sich nicht um eine Romanze, sondern um einen Flüchtigen.« Lopal schien enttäuscht zu sein. »Dann besteht dein Leben also nur aus Pflichten?« Kyla dachte nach. »Ich weiß nicht ... Es ist eine lebenslange Verpflichtung, die ich eingegangen bin. Ich diene meiner Herrscherin, und meine Pflicht steht immer an erster Stelle. Aber du hast recht, ich wollte gerne unerkannt bleiben und die Stadt mit eigenen Augen sehen, statt ständig von Chyrrta umgeben zu sein, die mir die Sicht auf diese herrlichen Gebäude und das alltägliche Leben hier verwehren.«

»Das verstehe ich. Ich wünsche dir, dass dieser Plan gelingt, aber ich bezweifle es. Tritam ist wirklich eindrucksvoll. Du wolltest wissen, warum ich hier bin und wie es den Bewohnern von Lam Olhana erging?« Kyla nickte. »Unser Dorf hat sich sehr verändert, seit du es zuletzt gesehen hast. Dank der Unterstützung der Reiter, die du mir geschickt hattest, konnten wir uns lange Zeit gegen die Eindringlinge zur Wehr setzen. Doch schließlich war unser Dorf nur eines unter vielen, die ständig aufs Neue den Ansturm der Feinde erdulden mussten. Ich will nicht klagen, dass schließlich immer weniger Unterstützer vom Palast ausgesandt wurden. Auch in den anderen Ortschaften bangten die Chyrrta um ihr Leben.

Als unsere Mauer schließlich fiel, hatte ich bereits die Taschen gepackt und für mich, meine Frau und Zindra – unsere Tochter – Pferde besorgt. Wir ritten davon, während Lam Olhana in Flammen aufging. Alles, was ich viele Jahreszeitläufe hindurch beschützt hatte, verschwand unter der grenzenlosen Gewalt der Eindringlinge. Während wir durch die Wälder ritten – einem unbekannten Ziel entgegen – brach eine ganze Reiterarmee der Herrscherin durch den Wald. Sie kamen zu spät, um unser Dorf zu schützen, aber sie töteten wohl jeden, der von der anderen Seite der Undurchdringlichen Mauern kam. Ich hörte, das zerstörte Bauwerk wurde nicht nur repariert, sondern auch mit einer ganzen Menge tödlicher Fallen versehen.

Der Ort, an dem sich einst mein Heimatdorf befand, ist nun eine unpassierbare Todeszone. Wir konnten nicht mehr dorthin zurück. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und brachte meine Frau und meine Tochter hierher nach Tritam. Es gab eine Anfrage im Palast, ob ich mir ein Leben hier verdient hätte – Herrscherin Paraila stimmte zu, und so wurden meine Familie und ich aufgenommen. Hat sie dir nie von dieser Anfrage erzählt?«

Kyla schüttelte den Kopf. »Nein, sie spricht mit mir meist nur über Dinge, die mich direkt etwas angehen – deine Umsiedlung gehörte ihrer Ansicht nach wohl nicht dazu.«

»Vermutlich war ihr nicht klar, wie wichtig wir damals füreinander waren. Und, um ehrlich zu sein, muss sie das auch nicht wissen. Ihr war bewusst, dass ich ein Wächter war, der sein Dorf lange Zeit geschützt hatte – lange genug, um mir ein Leben in der Sicherheit der Stadt zu erarbeiten. Und ich bin sehr dankbar dafür, denn meine kleine Familie ist hier sehr glücklich. Ich habe die Überwachung der Wasserstellen übernommen. Allerdings bin ich längst nicht der einzige, der ein Auge auf die Brunnen und Tanks hat. Die Gefahr, dass jemand sich daran zu schaffen macht, scheint mir eher gering zu sein. Dennoch nehme ich meine Aufgabe natürlich ernst«, erläuterte er rasch.

Kyla nickte, denn sie war überzeugt, dass er auch hier stets wachsam war. Sie gönnte ihm dieses neue Leben. Es musste schwer sein, alles zu verlieren und neu anzufangen. Zwangsläufig kam ihr Quyntyr in den Sinn. Auch er hatte ein neues Leben begonnen, und sie fragte sich, ob er es freiwillig getan hatte, wie Paraila glaubte. Vielleicht war er wirklich ein Verräter, der alles von langer Hand geplant hatte. Doch Kyla wurde den Verdacht nicht los, dass er nur gegangen war, weil sie ihn gezwungen hatte, sie vor Zeugen zur Frau zu machen.

Dass ihr Befehl ihn wirklich verletzt hatte, hatte sie ihm ansehen können. Und dass er ihre langjährige Freundschaft aufgekündigt hatte, sprach ebenfalls dafür, dass er den Palast wegen dieses Vorfalls verlassen hatte. Es musste eine Katastrophe für ihn gewesen sein, zu begreifen, dass er seine angebetete Paraila niemals für sich würde erwärmen können. Natürlich hatte er vorgegeben, das längst zu wissen, aber der Funke Hoffnung war wohl nie erloschen – bis Kyla ihn dazu gezwungen hatte. Zumindest musste es ihm so vorkommen, als habe sie endgültig einen Schlussstrich unter die Möglichkeit gezogen, dass Paraila ihn irgendwann erwählen könnte. Denn natürlich hätte die Herrscherin niemals einen Mann gewählt, mit dem Kyla sich bereits vereinigt hatte. Dass sie Quyntyr aber ohnehin niemals erwählt hätte, war Kyla klar geworden, als sie Parailas Hass auf ihn gespürt hatte.

Paraila hatte Quyntyr schon immer argwöhnisch betrachtet und seine Anwesenheit im Palast nur geduldet, weil ihre Mutter es einst so entschieden hatte. Dass er sich jetzt in ihren Augen als Feind entpuppte, war wohl ihrer schwelenden Unzufriedenheit über die Situation geschuldet. Und nun wollte sie ihn sogar in aller Öffentlichkeit hinrichten lassen.

Kyla war der Gedanke ein Gräuel, denn Quyntyr hatte bereits ein Leben voller Qualen hinter sich, und ihn so enden zu sehen, war ihr unerträglich. Aber was, wenn die Herrscherin recht hatte und durch sein Zutun viele Chyrrta ihr Leben verloren hatten? Sie würde es herausfinden müssen. Das schlechte Gewissen begann sich zu regen, als sie sich eingestehen musste, dass sie besser sofort zum Berg Ultay geritten wäre. Doch wenn sie es getan hätte, ohne sich zuvor – wie von Paraila befohlen – in Tritam blicken zu lassen, wäre der Herrscherin sofort klar gewesen, dass Kyla mehr wusste, als sie ihr gesagt hatte. Ihr Gewissen beruhigte sich wieder. Was machten schon ein oder zwei Tage Verzögerung aus? Quyntyr würde ja auf sie warten. Sie musste einfach sichergehen, dass Paraila glaubte, sie habe die Spur zu ihm erst hier gefunden, nicht bereits im Palast, in seinen Räumen, als sie seine Nachricht gelesen hatte. Immerhin hatte Quyntyr darin angekündigt, ihr weit mehr über ihre Vergangenheit mitteilen zu können, als sie bislang erfahren hatte. Es war also eine ganz persönliche Angelegenheit, dass sie seinen Aufenthaltsort nicht preisgeben wollte, bevor er die Möglichkeit fand, ihr zu sagen, was er angekündigt hatte.

»Ich habe dich nun lange genug aufgehalten. Es war schön, dich wiederzusehen. Ich wünsche dir, dass du noch mehr schöne Erinnerungen sammeln kannst, damit du einen Ausgleich zu den Schlachten findest, die du schlagen musst.« Lopal erhob sich und legte ein paar Münzen auf den Tisch. »Nein, lass! Ich möchte bezahlen.« Er zögerte kurz, dann steckte er sein Geld wieder ein. »Mutig, schön und auch noch großzügig – du solltest den besten Mann in ganz Chyrrta bekommen, denn jeder andere wäre zu wenig für dich.«

Kyla wusste nicht recht, wie sie mit seinem Wunsch umgehen sollte; sie murmelte einen unsicheren Dank. Als er sich zum Gehen wandte, legte sie eine bei weitem ausreichende Menge Münzen auf den Tisch und brach ebenfalls auf. Das Tageslicht blendete sie, als sie auf die Straße trat, denn im Schankraum war es wirklich recht düster gewesen. Kyla fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr. Das Gespräch mit Lopal hatte ihr gut getan, und der ganze Tag lag noch vor ihr. Da sie den Mut aufgebracht hatte, unhöflich zu sein, drohte auch nicht ein erzwungenes Abendessen in großer Gesellschaft ihr die Laune zu verderben. Kyla ging zur ‘Kriegerin der grünen Wasser’ zurück, jedoch nur, um sich zu vergewissern, dass es Golan gut ging und er bestens versorgt wurde. Sie streichelte dem Tier den Hals und sagte: »Ruh dich noch ein wenig aus. Wir haben einen beschwerlichen Weg vor uns. Ich werde die Stadt zu Fuß erkunden. Vor Anbruch der Nacht reiten wir los, dann erreichen wir das gefährliche Ödland, wenn das Tageslicht anbricht und uns einen besseren Überblick bietet. Wir werden uns dann am Abend nach einem sicheren Lager umsehen. Ja, ich denke, so wird es besser sein, als wenn wir bei einsetzender Dunkelheit in die tückischen Gebiete kommen.«

Golan schien dazu keine besondere Meinung zu haben. Kyla streichelte ihm noch einmal den Hals und verließ dann den Stall. Nur wenige Augenblicke später stand sie im Getümmel des Marktplatzes. Sie tastete mit einer Hand nach ihrem Münzbeutel und mit der anderen nach ihrem Messer. In dieser Menschenmenge musste sie sich einfach versichern, dass sie auf alles vorbereitet war. Sie ging langsam an den Ständen vorbei und betrachtete die angebotenen Waren.

Ab und zu blieb sie stehen und erwarb etwas, das sie für ihre Reise benötigen würde: Nahrungsmittel, neue Stiefel, Flickzeug, zusätzliche Behälter für Wasser, ein Tongefäß und ein Armband für Lanari. Das Schmuckstück war aus kunstvoll geschliffenen grünen Steinen gefertigt. Es leuchtete im Sonnenschein so hübsch, dass Kyla davon völlig hingerissen war. Für sich selbst wollte sie aber keines kaufen, denn sie hatte ohnehin keine Gelegenheit, es zu tragen. Für Lanari schien es ihr jedoch wie gemacht. Ebenso wie der hübsche Schal, den sie für die Freundin gekauft hatte. Kyla musste die Traurigkeit verdrängen, als ihr einfiel, dass sie nicht einmal absehen konnte, wann sie Lanari ihre Geschenke überreichen würde. Nur zu gerne hätte sie die Tochter ihrer Dienerin, die ihr so viel bedeutete, an diesem Abenteuer in Tritam teilhaben lassen. Aber natürlich war das nicht möglich gewesen, denn unmittelbar im Anschluss an den Besuch in der Stadt musste Kyla sich auf den gefährlichen Weg zum Berg Ultay machen. Dazu galt es, die große Einöde zu passieren, in der Überfälle durch die dort zahlreichen Banden nur allzu häufig waren.

Man sprach davon, dass niemand, der sich auf diesen Weg begab, je zurückkehrte. Wenn das stimmte, konnte es gut sein, dass auch Kyla dort ihr Ende finden würde. Warum hatte Quyntyr den Berg Ultay also ausgerechnet zu ihrem Treffpunkt erklärt? Wollte er vielleicht, dass sie starb? Aus Rache, weil sie ihn in seinen Augen benutzt hatte? Aber wenn er sie tot hätte sehen wollen, warum dann dieser Umstand? Er hätte ihr auch einfach während des Trainings einen tödlichen Hieb zukommen lassen können. Und vermutlich hätte es durch seine Kampfkunst überzeugend wie einen Unfall ausgesehen. Doch das hatte er nicht getan, und ihr Bauchgefühl sagte der jungen Frau, dass er sie keineswegs tot sehen wollte. Vielleicht wollte er Rache für das, was geschehen war, aber Quyntyr würde sie auf seinem eigenen Wege erlangen wollen, und Kyla würde es hinnehmen, denn die Schuld lastete schwer auf ihrer Seele. Mit ihrer Entscheidung, ihn zu erwählen, hatte sie das komplette Leben ihres Kampflehrers zerstört. Damals, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte er bereits geahnt, dass sie eines Tages die Macht haben würde, über seinen Verbleib im Palast zu entscheiden. Und doch war es anders gekommen, denn er hatte selbst entschieden, den Ort zu verlassen, an dem er damals so gerne hatte bleiben wollen.

Kyla dachte über all das nach, während sie über den Markt ging und die Chyrrta dieser Stadt beobachtete. Die meisten von ihnen waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und achteten gar nicht auf sie. Das konnte Kyla nur recht sein. Ab und an wehten Düfte von den Ständen zu ihr herüber, die sie neugierig machten. Geräuchertes Fleisch, süße Teigfladen, würziges Danath, das unter Speisen gemischt werden konnte, um ihnen einen kräftigen Geschmack zu verleihen, Duftwässer und Seifen. Immer wieder atmete Kyla tief ein, um die Eindrücke in ihrem Gedächtnis zu bewahren.

Dann entdeckte sie ein kleines Geschäft, das sich im Schatten des großen Marktplatzes unter einem ausladenden Dach befand, das mit dunklen Schindeln gedeckt war. Erst dachte sie, es wäre geschlossen, doch dann erkannte sie, dass sie durch die Türöffnung auf eine Wand voller Bücher blickte. Die meisten der Einbände waren in Brauntönen gehalten, sodass Kyla geglaubt hatte, es wäre eine hölzerne Tür. Nun steuerte sie auf den Eingang zu, denn ihr kamen Parailas Worte wieder in den Sinn. Die Herrscherin hatte die Vermutung geäußert, Quyntyr habe womöglich einen Teil seiner kostbaren Bücher in Tritam zum Kauf angeboten, um Geld für seine Flucht und für die Unterstützung der Feinde des Reiches zu erhalten. Eigentlich glaubte Kyla nicht daran, doch sie wollte sichergehen und ihrer Herrscherin ehrliches Zeugnis darüber ablegen, was sie diesbezüglich in Erfahrung bringen konnte.

Die Luft im Geschäft war staubig und abgestanden. Nach dem grellen Sonnenlicht mussten sich Kylas Augen an die Düsternis darin erst einmal gewöhnen. Sie blickte sich um und staunte über wahre Bücherberge, die an zahlreichen Stellen aufgestapelt waren. Es schien ihr unmöglich, hier auf die Schnelle einen Überblick über die vorhandenen Titel zu erlangen. Als sie ein Räuspern vernahm, erkannte sie einen alten Mann, der in einer winzigen Ecke hockte und mit einem Vergrößerungsglas eine Landkarte betrachtete.

Er hatte aufgeblickt. Ohne förmlichen Willkommensgruß fragte er: »Was begehrt dein Geist? Wünschst du eine unterhaltsame Geschichte mit einem schmucken Kerl, der das Herz einer jungen Dame erfreut? Nun, die Liebesgeschichten findest du in der Ecke dort hinten. Sieh sie dir an, aber bring mir nichts durcheinander!« Kyla sah in die Richtung, in die der alte Mann mit seinem knorrigen Finger deutete. Er hustete und spuckte etwas Auswurf in ein Tuch, das er wohl eigens zu diesem Zweck in der Tasche seiner Weste getragen hatte.

»Ich suche keine Liebesgeschichten«, erwiderte Kyla und überlegte, wie sie den Mann am besten über ihr Anliegen in Kenntnis setzte, als er ihr erneut zuvorkam.

»Nun denn, willst du wissen, welche Krankheit dich ereilt hat? Ein Brennen im Schritt? Pelzige Zunge? Oder gar ein übler Geruch aus deinen Eingeweiden? Rat findest du in diesen beiden Bänden dort.« Er zeigte auf ein Regal, das ihm schräg gegenüber stand. Kyla spürte, dass sie wegen seiner vorlauten Art ärgerlich wurde.

»Du scheinst selbst ein oder zwei Bücher zu viel über die Kunst der Wahrsagerei gelesen zu haben. Doch glaube mir, sie taugen nichts, denn deine Vermutungen, was ich begehre, sind allesamt falsch.«

Der Mann zog die Augenbrauen zusammen, als überlege er, ob er zu erkennen geben sollte, dass er wusste, dass sie einen Scherz mit ihm getrieben hatte. Er entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen bekam er einen neuerlichen Hustenanfall, von dem Kyla das Gefühl hatte, er wäre nur vorgetäuscht, um Zeit zu schinden. Endlich entschloss er sich, seine mögliche Kundin wegen ihres Anliegens selbst zu Wort kommen zu lassen, und machte eine auffordernde Geste.

»Ich wollte mich erkundigen, ob ein Mann hier war, um Bücher zum Verkauf anzubieten.«

Der Verkäufer lachte auf. »So etwa ein Dutzend, wenn ich allein den letzten Mondzyklus rechne.«

»Ich meine jemanden, der dich erst während der letzten paar Sonnenlichter aufgesucht hat. Er wäre dir aufgefallen. Seine Haut ist sehr blass. Sein Haar und seine Augen sind ungewöhnlich hell.«

»Ein Albino also?«, fragte der Mann und nickte wissend.

»Ja, ein Albino! War er hier?« Kyla war aufgeregt, weil Quyntyr offenbar tatsächlich Kontakt mit dem Verkäufer aufgenommen hatte. Zugleich spürte sie, dass sie darüber entsetzt war, denn es bedeutete vermutlich, dass Paraila mit ihrer Einschätzung von ihm nicht gänzlich verkehrt lag.

»Selbst wenn so jemand hier gewesen wäre, hätte ich ihn nicht erkannt. Meine Augen sind so schlecht, dass ich praktisch blind bin. Ich erkenne Chyrrta vor allem an ihrer Stimme.«

»Aber du hast in mir offenbar eine junge Frau erkannt, ohne dass ich auch nur ein Wort gesagt hatte«, gab Kyla zu bedenken.

»Das liegt an deiner Körperhaltung und an den Formen, die ich an deinem Körper ausmachen kann.«

Kyla ignorierte das lüsterne Lächeln, das kurz die Mundwinkel des alten Mannes umspielte. Sie versuchte, ihre Stimme so gelassen wie möglich klingen zu lassen.

»Immerhin betrachtest du eine Landkarte. Mit einem Vergrößerungsglas zwar, aber so blind kannst du dann doch gar nicht sein. Bitte erinnere dich, ob du mit dem Mann gesprochen hast, den ich beschrieb.«

Nun seufzte der Verkäufer tief und legte das Vergrößerungsglas auf den Tisch.

»Auch wenn ich die Karte betrachte, so sehe ich selbst mit dem Glas nicht mehr, als ein paar Linien. Ich weiß nur aus der Erinnerung, wie sie aussieht.«

Kyla konnte es einfach nicht glauben. Sie trat näher an den Tisch heran und betrachtete den Mann, der ihr Starren jedoch gar nicht zu bemerken schien. Seine Augen waren trüb. Kyla verspürte Mitleid. Es musste schwer sein, ein Leben zwischen Büchern zu führen, wenn man nicht mehr in der Lage war, sie selbst lesen zu können. Offenbar kannte er seinen Laden so gut, dass er sich in der Lage fühlte, weiterhin Kunden zu beraten. Jedoch nicht, ohne sie zu ermahnen, nichts durcheinander zu bringen, denn nur so fand er sich offenbar selbst noch zurecht.

Ihr Blick fiel auf die Karte. Sie zeigte zu ihrem Erstaunen das komplette Reich und auch noch Gebiete darüber hinaus, die jenseits der Undurchdringlichen Mauern lagen. Doch das Merkwürdige war, dass eben jene Mauern auf der Karte überhaupt nicht verzeichnet waren.

»Von wann ist diese Karte?«, fragte sie und wollte danach greifen. Der Mann zog sie ihr jedoch unter den Händen weg, bevor Kylas Finger sie berühren konnten.

»Sie ist alt.«

»Wie alt?«

»Sehr alt.«

»Und woher hast du sie?«, fragte Kyla nur mühsam beherrscht.

Der Mann presste die Lippen aufeinander, als wolle er ihr keine Antwort mehr geben, und tatsächlich schwieg er nun. Einen Moment lang überlegte Kyla, ihn durch die Offenbarung ihrer Identität dazu zu zwingen. Der fast blinde Mann hatte natürlich keine Ahnung, wen er da vor sich hatte. Aber Kyla entschied, ihn nicht durch ihren Status unter Druck zu setzen, sondern sich lieber in Diplomatie zu üben.

»Wenn du mir sagen kannst, von wann sie ist und woher sie stammt, würde ich sie dir für einen guten Preis abkaufen.«

»Sie ist unverkäuflich«, stellte der Mann klar. Kyla war ratlos. In Diplomatie hatte sie offensichtlich noch Defizite. Sie entschied, auf ihr eigentliches Anliegen zurückzukommen.

»Wurden dir in letzter Zeit besonders kostbare Bücher angeboten? Daran würdest du dich doch bestimmt erinnern.«

»Alle Bücher, die ich annehme, sind kostbar.«

Kyla spürte, dass ihre Geduld sie verließ. »Dann zählst du die Liebesgeschichten dazu, die du dort hinten in dem wackeligen und staubigen Regal untergebracht hast?«

Der Mann verzog das Gesicht. Kyla verspürte ein wenig Triumph, weil sie ihn in Verlegenheit gebracht hatte.

»Für Chyrrta mit einfachem Gemüt sind sie kostbar. Bei manchen meiner Kundinnen habe ich sogar das Gefühl, ihr gesamtes Wohlergehen hängt vom Erwerb dieser romantischen Bücher ab.«

»Mag sein, dass diese Damen es so empfinden. Dennoch – hast du kürzlich Bücher mit anderen Themen erworben? Wissenschaftliche Ausgaben? Werke über Kampfkunst? Waffenverzeichnisse oder Ähnliches?«

Der Mann überlegte. »Ich erwarb vor drei oder vier Sonnenlichtern eine Kiste Bücher, die sich mit dem Thema Holzbearbeitung und Hüttenbau beschäftigen. Meinst du so etwas?«

Kyla seufzte. »Nein, eher nicht. Hast du sonst noch etwas in dieser Art in letzter Zeit erworben?«

Der Verkäufer kratzte sich an der Stirn und grübelte. »Viehzucht. Ein kleines Bändchen, das vom Verkäufer selbst verfasst wurde.«

»Auch das stammt mit Sicherheit nicht von dem Mann, den ich suche. Gibt es noch andere Läden oder vielleicht Markthändler hier, die bereit wären, für Bücher, wie ich sie genannt habe, viel Geld auszugeben?«

»Meines Wissens nach nicht. Ich bin der einzige, der mit literarischen Werken handelt. Zu meinem Leidwesen muss ich sagen, dass in dieser Stadt das meiste Geld für Tand wie Schmuck oder auch Gemälde ausgegeben wird. Naschwerk und berauschende Getränke sind ebenfalls hoch begehrt. Bücher werden nicht ganz so oft verlangt – aber diejenigen, die daran Gefallen finden, zählen wohl ausnahmslos zu meinen Kunden.«

»Danke, dass du Zeit für mich hattest. Nun denn ...« Kyla wollte schon wieder aufbrechen, als ihr noch etwas anderes einfiel.

»Hast du schon mal von einem Buch gehört, das die Zukunft von Chyrrta in seinem Text birgt. Ein Buch, das gut bewacht wird, und das – «, sie zögerte kurz und hoffte, ihre nächsten Worte würden sie nicht verraten, »von einer Kriegerin berichtet?«

»Von der Existenz eines solchen Buches habe ich in der Tat gehört. Doch ich habe es nie zu Gesicht bekommen.«

»Weißt du, wo man es versteckt hält?«

Der Mann zuckte mit den Schultern und gab sich einem ausgiebigen Hustenanfall hin. Als er das Taschentuch wieder sinken ließ, sagte er: »Man möchte annehmen, es wird in Parailas Palast aufbewahrt. Aber ich hörte auch Gerüchte, dass es an einem Ort aufbewahrt wird, der innerhalb dieser Stadtmauern liegt. Ich mag den Gedanken, dass etwas so Wichtiges in meiner Nähe weilt. Aber ob dem wirklich so ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen.«

Kyla begriff, dass der alte Mann tatsächlich viel dafür gegeben hätte, in diesem Punkt selbst Klarheit zu haben. Dass er ihr jedoch nicht weiterhelfen konnte, enttäuschte sie. Andererseits war sie erleichtert, dass Paraila mit ihrer Vermutung, Quyntyr habe seine wertvollen Bücher verkauft, offenbar falsch lag.

»Und du möchtest nicht doch einen Roman mit romantischer Handlung erwerben?«, fragte der Verkäufer.

»Nein. Vielleicht ein Buch über Kriegsführung.«

»Kriegsführung?«, fragte der Mann pikiert. »So ein Buch gibt es nicht. Wenn es so etwas einst gab, so ist es jetzt verboten. Die Herrscherinnen wünschen seit langer Zeit schon keine Literatur dieser Art mehr. Es erstaunt mich, dass du nach so etwas verlangst. Bereits deine Frage nach einem Buch über Kampfkunst und Waffen hat mich erstaunt. Wenn mir so etwas angeboten worden wäre, hätte ich es natürlich unverzüglich dem Palast gemeldet.«

Kyla begriff, dass der Mann wohl die Wahrheit sagte, denn er schien tatsächlich entsetzt darüber zu sein, dass es Literatur geben sollte, die diese Dinge zum Thema hatte. Paraila und ihre Vorgängerinnen hatten ganze Arbeit geleistet, die Chyrrta ihres Reiches von Kämpfen und gewalttätigen Auseinandersetzungen untereinander abzuhalten. Kyla war froh, dass sie sich dem Mann gegenüber nicht als Kriegerin zu erkennen gegeben hatte, denn sie war sich sicher, dass er sie geringschätzen würde, selbst wenn sie das Töten der Feinde im Namen der Herrscherin durchführte.

»Dann kommen wir wohl nicht ins Geschäft. Es sei denn, du möchtest die Landkarte doch noch verkaufen, für die du im Grunde keine Verwendung mehr hast.«

Kaum hatte sie die Worte gesagt, legte der Mann seine Hand flach auf die Karte vor ihm, als wolle er sie schützen. Kyla bemerkte, dass eine Veränderung in ihm vorging. Er senkte die Stimme, als er nun zu ihr sprach.

»Ich mag blind sein, aber ich bin nicht dumm. Die Frage nach dem geheimen Buch, in dem über die Kriegerin der Herrscherin berichtet wird, hat mich aufhorchen lassen. Kein Chyrrta war so dreist, sich jemals danach zu erkundigen, denn jeder weiß, dass es nur diejenige etwas angeht, von der es vornehmlich handelt. Zudem hat noch keine junge Frau jemals nach Büchern über Waffen, Kriegsführung oder Kampftechniken gefragt. Sag mir, bist du Kyla – Kriegerin der grünen Wasser?«

Leugnen schien ihr nun zwecklos. Und der Mann hatte es ohnehin nicht verdient, von ihr belogen zu werden. Also erwiderte Kyla: »Ja, die bin ich.«

Der Mann wurde bleich. Er wollte etwas sagen, aber stattdessen meldete sich der Husten schlimmer als zuvor zurück. Kyla wartete geduldig, bis er sich wieder beruhigt hatte.

»Nun ist es wohl zu spät, Euch mit dem gebührenden Respekt zu behandeln.« Er schien wirklich unglücklich über diesen Umstand zu sein.

»Ich kam nicht her, um Respekt einzufordern. Ich kam nur her, um dir Fragen zu stellen, wie ich es tat. Gibt es vielleicht eine, auf die du nun anders antworten möchtest, nachdem du weißt, wer ich bin?«

Der Verkäufer schüttelte den Kopf. »Ich sagte Euch die Wahrheit, was den von Euch gesuchten Mann angeht. Niemand hat mir solche Bücher angeboten. Und ich sagte nichts als die Wahrheit, als Ihr nach dem Buch fragtet, das man gut verborgen hält.«

»Ich glaube dir«, beschwichtigte Kyla, doch dann ließ sie ihre Stimme schneidend klingen, als sie fragte: »Und was hat es mit der Karte auf sich? Bist du nun bereit, mir über ihr Alter und ihre Herkunft mehr zu erzählen?«

»Um ehrlich zu sein, ich weiß weder das eine, noch das andere.«

Kyla zog verärgert die Augenbrauen zusammen. »Du willst mir weismachen, du wüsstest nicht, woher du sie hast?«

»Doch, doch! Aber ich kann keine Auskunft über den Vorbesitzer oder ihre Geschichte geben. Ich fand sie hier in diesen Räumen, als ich vor etlichen Jahreszeiten hier meinen Laden einrichtete. Ich war damals noch ein junger Mann und voller Tatendrang. Als ich eine Wand einriss, um den Verkaufsraum so groß wie möglich zu gestalten, entdeckte ich hinter einer Holzvertäfelung diese Karte. Zunächst glaubte ich, der Vorbesitzer habe sie versteckt, doch er schwor, nichts von ihrer Existenz gewusst zu haben.

Möglicherweise ist sie also noch viel älter, als man es, ihrem Zustand nach, glauben könnte. Vielleicht stammt sie sogar noch aus der Zeit, bevor die Undurchdringlichen Mauern entstanden. Einiges lässt darauf schließen, denn abgesehen vom offensichtlichen Fehlen der Mauern sind darauf Ortschaften verzeichnet, an die sich längst niemand mehr erinnern kann. Tritam selbst ist darauf etwa nur ein Viertel so groß, wie wir es heute kennen.

Du siehst also, sie ist wertlos, weil man sich heute nicht mehr nach ihr orientieren kann. Aber mein Herz hängt an ihr, denn damals malte ich mir aus, wie es wäre, in einem solchen Chyrrta zu leben. Einem ohne Mauern und mit viel Weideland für Vieh. Mit Seen und Flüssen, die womöglich nicht verunreinigt waren. Den Namen der Ortschaften nach konnte man in diesen Gewässern sogar Tiere fangen, die sich Fische nannten. Sogenannte Fischerdörfer gab es zuhauf. Man stelle sich ein solches Chyrrta einmal vor!

Es gab sogar ein Gewässer, das so riesig war, dass es vier Tritams der heutigen Zeit hätte verschlucken können. Aber all das gibt es schon seit sehr langer Zeit nicht mehr – möglicherweise hat es das alles auch nie gegeben. Vielleicht ist die Karte reine Erfindung. Dann wäre sie jedoch nicht ungefährlicher. Sicher ist es verboten, eine solche Karte zu verkaufen. Aber ich verkaufe sie ja auch nicht. Ich träume nur ... Bitte verwehrt mir das nicht.«

»Das tue ich nicht. Ich werde nicht über dich richten, denn ich sehe kein Vergehen darin, von einer Welt zu träumen, wie sie sein könnte. Jedoch rate ich dir, sie gut zu verstecken. Du magst fast blind sein, doch jeder, der hier herein kommt und dich damit sieht, könnte dich im Palast melden.«

Der Mann schien bislang noch nicht über diese Möglichkeit nachgedacht zu haben und blickte nun verängstigt. Dann hellte sein Gesicht sich jedoch auf.

»Vielleicht war es Schicksal, dass Ihr mich ausgerechnet heute aufgesucht habt. Ich habe die Karte nämlich schon lange nicht mehr hervorgeholt. Bei Tagesanbruch hatte ich jedoch das Gefühl, ich solle es unbedingt tun. Nur deshalb war ich so töricht, sie für Eure Augen offenzulegen. Und möglicherweise sollte es genau so sein. Wenn ich es recht bedenke, möchte ich sie Euch doch überlassen. Mir selbst ist sie ja im Gedächtnis, und ich brauche sie eigentlich nicht mehr.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Kyla, die von der Entwicklung des Gesprächs überrascht war. Sie hatte dem Mann nicht drohen wollen, um ihn zur Herausgabe der Karte zu drängen. Aber er schien ihr tatsächlich von der Idee selbst ganz angetan zu sein, sie ihr zu überlassen. Vielleicht hatte er recht damit, dass das Schicksal es so gewollt hatte. Er faltete sie zusammen und griff nach einem Buch, das neben ihm lag. An irgendeiner Stelle schlug er es auf und legte die Karte hinein.

»Sie ist von nun an Euer Eigentum. Und auch dieser Schmöker, in dem ein feuriger Jüngling das Herz seiner Auserwählten mit Liedern und Gedichten erobert. Vielleicht findet Ihr ja doch irgendwann Gefallen daran.«

Kyla bezweifelte es, doch sie dankte ihm und holte ihre Münzen hervor.

»Nein, gebt mir kein Geld für die Karte. Das Schicksal möchte keine Entlohnung.«

»Das Schicksal vielleicht nicht, aber du ganz sicher. Doch wenn dir das wichtig ist, dann zahle ich nicht für die Karte, sondern für das Buch.« Sie legte ihm eine stattliche Summe in die Handfläche und hoffte, seine Krankheit war nicht ansteckend.

»Das ist zu viel«, wandte der Mann beschämt ein.

»Ich denke nicht. Sollten die Chyrrta dieser Stadt sich gänzlich aufs Naschen und das bequeme Leben verlegen, so kannst du mit etwas Wohlstand weiterhin träumen – vor allem, wenn deine Bücher und Karten nur noch in deiner Erinnerung leben.«

»Habt Dank, dass Ihr einem alten Kauz wie mir seine anfängliche Knurrigkeit nachseht. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«

Die junge Kriegerin überlegte, dann sagte sie: »Ja, wenn du etwas zu schreiben für mich hättest, damit ich eine Botschaft schicken kann, wäre das vortrefflich.«

Er öffnete eine Schublade und zog daraus einen Bogen Papier und eine Schreibfeder samt Tintenfass hervor. Kyla dankte ihm und verfasste eine Nachricht an Paraila, in der sie ihr von ihrem Besuch in dem Bücherladen berichtete. Sie informierte sie darüber, dass Quyntyr offenbar nicht versucht hatte, seine Bücher hier zu Geld zu machen. Und sie teilte ihr mit, sie würde sich in den umliegenden Dörfern nach ihm erkundigen, weil sie vermutete, dass er in einem preiswerten Gasthof oder auch bei einfachen Leuten, die sich ein paar Münzen verdienen wollten, Unterschlupf gesucht hatte. Kyla verabschiedete sich von dem alten Mann, nahm ihr Buch samt Karte und verließ das Geschäft. Schon an der nächsten Ecke fand sie einen Boten, der in ihrem Namen die Nachricht zum Palast bringen würde. Der Mann ritt auf einem alten Pferd, das die Strecke schon mehrfach bewältigt hatte, laut dem Boten jedoch etwas länger als üblich benötigte. Kyla lobte ihn für seine Ehrlichkeit und beruhigte ihn, indem sie ihm versicherte, die Botschaft sei nicht ganz so eilig. Natürlich würde Paraila das anders sehen, aber Kyla beruhigte der Gedanke, dass sie auf diese Art Zeit gewann.

Zufrieden schlenderte sie durch die Straßen der Stadt und beobachtete erneut ein paar Glinthas, die geradezu räuberisch über einen Brotstand herfielen. Der Verkäufer versuchte sie abzuwehren, indem er mit den Armen fuchtelte und die Vögel anschrie. Das Ergebnis war, dass die Tiere hektisch einige Brotlaibe mit ihren Schnäbeln zerhackten und auf anderen vor Schreck ihre Exkremente fallen ließen.

Kyla verging der Appetit auf Brot vorerst. So schön das Gefieder der Glinthas auch anmuten mochte, Kyla verstand, warum die Bewohner von Tritam sie als Plage ansahen und gleich in Massen verbrannten. Dennoch war sie froh, dieses Schauspiel nicht mit ansehen zu müssen. Sie wollte sich gerade auf den Rückweg zum Gasthaus machen, als sie den Blick eines jungen Mannes bemerkte. Ein schlaksiger Kerl mit einem Bart, der an manchen Stellen bereits prächtig spross, an anderen jedoch nur Flaum zustande brachte. Der Mann sah Kyla an und wagte es sogar zu lächeln, als sie zurückblickte. Kylas Hand ging zum Griff ihres Messers. Zwar wirkte ihr Beobachter harmlos, doch der Schein trog oft, wie sie inzwischen wusste. In Kämpfen wurden die zarten Männer oft eingesetzt, um die größten Schäden anzurichten. Der Feind nutzte es, dass man denen, die schwächlich aussahen, nicht zutraute, vernichtend zuzuschlagen – und viele Kämpfer hatten ihre Fehleinschätzung schon mit dem Leben bezahlt. Kyla hingegen war immer auf der Hut und bereit, auch diejenigen zu töten, die ihr lächelnd die Kehle durchschneiden wollten. Der Jüngling kam näher. Er senkte den Blick und deutete eine Verbeugung an.

»Was möchtest du? Sprich!«, wies sie ihn an. Nun, da er die Erlaubnis hatte, blickte er ihr wieder in die Augen und seine Wangen erröteten.

»Ihr seid Kyla, Kriegerin der grünen Wasser, habe ich recht?«

Kyla nickte. Sie hoffte, dass die Chyrrta in ihrer Nähe ihn nicht gehört hatten.

»Es ist so eine Ehre, auf Euch zu treffen! Und Euch Dank zu sagen.«

»Dank ist nicht notwendig. Ich schütze Parailas Volk, weil es meine Bestimmung ist.« Der junge Mann sah kurz verwirrt aus, dann lächelte er etwas unbeholfen.

»Verzeiht, dass ich mich so schwer ausdrücke. Es ist ... ich bin es nicht gewohnt, mit Chyrrta von so hohem Rang umzugehen. Ganz im Gegensatz zu meiner zukünftigen Braut, die Euch schon so lange am Palast dienen darf. Dafür, dass Ihr sie immer gut behandelt habt, wollte ich Euch ganz besonders danken.«

Kyla hatte keine Ahnung, von wem er sprechen könnte. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, er könne Lanari meinen – doch wie sollte das möglich sein, da diese ja Tondha erwählt hatte? Der junge Mann bemerkte Kylas Ratlosigkeit, mit einem abermals scheuen Lächeln erklärte er: »Eure Dienerin Tari ist meine Verlobte. Sie hat ihre Ausbildung zur Dienerin erfolgreich beendet und wird hierher nach Tritam kommen. Ich bin sehr glücklich, dass sie hier Arbeit gefunden hat.«

Kyla war von diesen Neuigkeiten völlig überrannt. Warum hatte man ihr gar nichts davon gesagt? Andererseits war ihr Aufbruch sehr überstürzt gewesen. Dennoch, dass Tari sie verlassen würde, war sicher schon länger geplant. Und vermutlich stand bereits eine andere junge Frau bereit, um ihre Stelle zu übernehmen. Hatte Paraila nie darüber nachgedacht, dass sie in dieser Hinsicht gerne ein Wörtchen mitreden würde? Immerhin erhielt eine Dienerin einen sehr intimen Einblick in ihr Leben, und Kyla wünschte sich daher, bei solchen Entscheidungen zumindest einbezogen zu werden. Der junge Mann betrachtete sie eingehend. »Ihr habt gar nicht gewusst, dass Tari Euch verlässt«, schlussfolgerte er schließlich.

»Das stimmt. Ich wusste es nicht.« Kyla ärgerte sich maßlos, dass sie so eine wichtige Nachricht nie erhalten hatte, doch der Jüngling nickte nur wissend.

»Es ist Galynda. Sie organisiert alles, aber sie behält Dinge auch gerne für sich.«

»Galynda? Aber warum sollte sie mir so etwas verschweigen? Es gibt doch keinen Grund dafür, denn ich erfahre es ja ohnehin.«

»Das weiß ich nicht. Von Tari weiß ich nur, dass Galynda oftmals sehr geheimnisvoll tut, und sie froh ist, die Zeit im Palast nun hinter sich zu haben.«

Er wurde tiefrot, als ihm klar wurde, dass er damit auch Kyla indirekt beleidigt hatte.

»Verzeiht mir bitte! Ich spreche oft, ohne vorher zu denken. Tari wirft mir das immer wieder vor. Und sie ist so viel gewandter als ich, was Sprache angeht.«

So sehr Kyla auch nachdachte, ihr fiel keine Gelegenheit ein, bei der Tari von dieser Fähigkeit in ihrer Gegenwart Gebrauch gemacht hatte. Aber das war auch nur zu verständlich, denn ihrer Herrin gegenüber hätte sie ganz gewiss niemals großartig das Wort ergriffen. Außerdem hatte Galynda stets über alles entschieden, und Tari – als lernende Dienerin – hatte auch deren Befehle stets befolgt, ohne nur einmal zu murren.

Es war sicher nicht immer leicht für sie gewesen. Kyla erinnerte sich, wie oft die junge Tari hatte ausharren müssen, nur weil Galynda alles perfekt haben wollte. Selbst Kyla war ab und an deswegen in Ungeduld geraten. Doch Tari hatte sowohl ihr als auch ihrer Ausbilderin gehorchen müssen. Kein Wunder, dass sie sich freute, dass die Zeit im Palast bald hinter ihr lag. Kyla tat es nur leid, dass sie sich nicht persönlich von ihr würde verabschieden können. Sie blickte sich um und sah einen Stand mit den farbenprächtigsten Tüchern, die sie je zu Gesicht bekommen hatte.

»Warte einen Moment«, wies sie den jungen Mann an, ging zu dem Stand und kaufte ein Tuch, das zu Taris blauen Augen passen würde. Sie ging zum Verlobten ihrer Dienerin zurück und reichte ihm das Tuch. »Bitte gib dies Tari als Geschenk von mir. Und richte ihr meinen Dank für ihre treuen Dienste aus. Sie hat ihre Sache hervorragend gemacht, und ich wünsche euch eine glückliche Ehe mit zahlreichen Kindern.«

Der junge Mann strahlte. »Habt Dank! Tari wird außer sich vor Freude sein, wenn ich ihr von unserem Treffen berichte.« Kyla lächelte und verabschiedete sich dann.

Während sie zum Gasthaus zurückging, dachte sie darüber nach, ob sie selbst sich über einen solchen Wunsch freuen würde: eine glückliche Ehe mit zahlreichen Kindern. Nein, das war es ganz gewiss nicht, was sie sich ersehnte, und sie flehte stumm, dass ihre körperliche Zusammenkunft mit Quyntyr nicht dafür gesorgt hatte, dass in ihrem Körper ein Kind heranwuchs. Sie horchte in sich, aber ihr war klar, dass sie so keine Gewissheit erlangen würde. Diese käme erst mit ihrer nächsten Blutung. Kyla hatte sich noch nie im Leben so sehr gewünscht, das verhasste Blut zwischen ihren Schenkeln zu sehen, wie in diesem Augenblick. Doch auch bis dahin würde es noch dauern – und solange galt es, Ruhe zu bewahren, denn es gab nichts Schlimmeres, als eine kopflose Kriegerin, die sorgenvoll in die Zukunft blickte, während um sie herum vielleicht schon Dinge geschahen, die sie verhindern musste.

Kyla – Kriegerin der grünen Wasser

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