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ОглавлениеBildung als soziale Institution: Prozesse und Formen der Institutionalisierung 1
Moritz Rosenmund
Wenn sich die Soziologie mit Schule und Bildung befasst, so tut sie es namentlich aus zwei Blickwinkeln. Entweder richtet sie den Blick auf das, was man gemeinhin das Bildungs-, Erziehungs- oder Schulwesen nennt, also auf die Gesamtheit der Einrichtungen, die in der einen und anderen Weise Beiträge zur Bildung von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen und älteren Menschen leisten. Anders als jene Disziplinen, die sich mit dem Unterrichten und Lernen befassen, interessiert sie sich in diesem Zusammenhang für die gesellschaftlich verankerte Ordnung, in deren Rahmen Lehr- und Lernprozesse stattfinden.
Aus einer zweiten Perspektive interessiert sich die Soziologie für Bildung als ein gesellschaftlicher Wert: Bildung wird in unserer Welt als etwas Erstrebenswertes angesehen; dies sowohl aus Sicht der einzelnen Menschen wie auch aus Sicht der ganzen Gesellschaft. Entsprechend bemühen sich nationale und im Falle der Schweiz kantonale Bildungsverwaltungen sowie Lehrpersonen darum, das Gut ‹Bildung› hervorzubringen. Und ein wachsender Teil der Bevölkerung ist damit beschäftigt, sich Bildungsgüter anzueignen, also Kompetenzen und Qualifikationen zu erwerben und Abschlusszertifikate zu erlangen. Neben Fragen, wie dies am besten zu bewerkstelligen sei, stellen sich in diesem Zusammenhang auch Fragen der Verteilung. Wer soll wie viel von dem kostbaren Gut erwerben können? Welche Ursachen sind für eine ungleiche Verteilung verantwortlich und welche Folgen ergeben sich aus dieser?
Während dieser zweite Aspekt später ausführlich behandelt wird (vgl. Kapitel 3), wird in diesem Kapitel dargelegt, wie sich Bildung in der ersten Perspektive als soziale Institution beschreiben lässt. Dazu ist es zunächst erforderlich, den Begriff mit Inhalt zu füllen und ihn sodann zu Schule und Bildung in Beziehung zu setzen (Abschnitt 1). Dabei erweist es sich als nützlich, den Institutionsbegriff aus zwei Blickwinkeln zu bestimmen, nämlich einerseits aus einer Perspektive ‹von unten›, die sich für den alltäglichen Handlungszusammenhang menschlicher Subjekte interessiert (Abschnitt 1.1), anderseits ‹von oben›, das heisst ausgehend von einem Blick auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang (Abschnitt 1.2).
Dabei wird rasch deutlich werden, dass sich die Bildungsinstitution kaum angemessen beschreiben und verstehen lässt, wenn man nicht auch ihre Entstehung und historische Entwicklung in Betracht zieht. Der zweite Teil des Kapitels vermittelt deshalb einen kurzen Abriss der Institutionalisierung, das heisst der Entwicklung und Verfestigung des Bildungswesens als eines eigenen Bereichs der Gesellschaft, über die vergangenen fünf Jahrhunderte. Dabei geht es nicht um die möglichst lückenlose Darstellung einer Chronologie, sondern darum herauszuarbeiten, wie sich einige Grundmerkmale des uns heute vertrauten Bildungswesens über die Zeit hinweg herauskristallisiert und verfestigt haben. Die Darstellung erfolgt in vier Schritten: Auf die Beschreibung der Herausbildung eines dreigeteilten Schulwesens in der ständischen Gesellschaft (Abschnitt 2.1) folgt eine Diskussion des Wandels, dem es im Übergang zu einer offeneren Gesellschaftsordnung und im Rahmen der Nationenbildung unterworfen war (Abschnitt 2.2). Die beiden folgenden Abschnitte thematisieren die ‹Erfolgsgeschichte› der Bildung im 20. Jahrhundert, nämlich einerseits deren Erweiterung um Formen sekundärer und tertiärer Bildungseinrichtungen (Abschnitt 2.3) und andererseits die Institutionalisierung von Bildung im globalen Massstab (Abschnitt 2.4).
Der letzte Teil (Abschnitt 3) führt wieder zum Ausgangspunkt zurück. Dabei wird versucht, den Begriff der sozialen Institution als soziologisches Konzept etwas systematischer zu fassen. Wenn dabei von einer «sozialen Institution» die Rede ist, so bezeichnet dieser Begriff über das ganze Kapitel hinweg nicht etwa solche Organisationen, die sich in irgendeiner Weise besonders um benachteiligte Menschen kümmern: Das Beiwort «sozial» ist vielmehr gleichbedeutend mit «gesellschaftlich». Wie man noch sehen wird, kann es sich auf Einrichtungen unterschiedlichster Art beziehen.
1Zwei Ansichten sozialer Institutionen
Wer sich mit dem Begriff der sozialen Institution befasst, sieht sich mit einem Paradox konfrontiert. Auf der einen Seite handelt es sich dabei um eine sehr gebräuchliche, häufig verwendete Wortverbindung, anderseits aber sind deren Konturen äusserst unscharf, weil sie in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen auftauchen. Dies gilt gewiss für die Alltagssprache, in der zuweilen so unterschiedliche Dinge wie die AHV, die Familie oder das Stimm- und Wahlrecht, aber auch ein Jugendheim oder eine Pädagogische Hochschule als ‹Institutionen› charakterisiert werden. Es gilt jedoch auch für die Soziologie, für die der Institutionsbegriff zwar eines der zentralen Konzepte darstellt, der es jedoch nicht gelungen ist, sich auf eine einzige, überzeugende Definition zu verständigen.
Ein Hauptgrund dafür dürfte darin zu suchen sein, dass das, was der Begriff aus Sicht des Fachs bezeichnet, vom Blickwinkel abhängig ist, den man beim Versuch einnehmen kann, die ‹Architektur› von Gesellschaft zu beschreiben. Das vorliegende erste Kapitel versucht dies exemplarisch an zwei Zugängen aufzuzeigen, die im Verlauf der soziologischen Theorieentwicklung ausgearbeitet wurden. Es handelt sich zum Ersten um die Theorie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, die den Institutionsbegriff ausgehend vom elementaren Handlungszusammenhang von zunächst zwei, später dann mehreren Menschen entwickeln, zum Zweiten um den Vorschlag von Émile Durkheim, der soziale Institutionen als gegeben annimmt und ganze Gesellschaften als Zusammenhang und Zusammenwirken solcher Institutionen untersucht.
Es kann sich bei der Gegenüberstellung der beiden Ansätze nicht darum handeln, ‹die› angemessene soziologische Definition des Begriffs der sozialen Institution herauszudestillieren. Vielmehr soll deutlich gemacht werden, dass sich Phänomene, die sich im Zusammenhang mit Schule und Bildung beobachten lassen, aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben lassen und dass daraus auch unterschiedliche Darstellungen und Erklärungen von ein und demselben Phänomen resultieren können. Wer nach einer einzigen, in Fachkreisen allgemein anerkannten Definition des Institutionenbegriffs sucht, sieht sich enttäuscht. Dafür ist der begrifflich zu bestimmende Gegenstand zu vielgestaltig und komplex. Wie im Schlussabschnitt des Kapitels noch zu zeigen ist, lassen sich aber immerhin ein paar grundlegende Merkmale benennen, die für Institutionen charakteristisch sind.
1.1 Institutionalisierung im sozialen Mikrokosmos
Beginnen wir mit der Erzählung einer Begebenheit, die sich tatsächlich so zugetragen hat: Die ehemaligen Schülerinnen und Schüler einer Primarschulklasse begegnen sich anlässlich eines Klassentreffens nach 20 Jahren wieder. Etwa 25 Frauen und Männer versammeln sich zunächst zu einem Aperitif im einstigen Klassenzimmer. Anschliessend geht es mit dem Bus zu einem Restaurant auf dem Land. Wie nicht anders zu erwarten, drehen sich die Gespräche darum, wer welchen Beruf erlernt, wer bereits eine Familie gegründet hat und wer nicht. Und natürlich werden Erinnerungen an die Schulzeit ausgegraben. Gleichsam parallel dazu ereignet sich jedoch Merkwürdiges; etwas, womit man nicht unbedingt rechnen würde, wenn sich erwachsene, fest in ihrem je eigenen Leben stehende Menschen begegnen: Die ehemaligen Klassenkameraden und -kameradinnen ‹spielen›, ohne sich dessen gewahr zu werden, nochmals 6. Klasse Primarschule. Es finden sich die Cliquen von damals wieder zusammen, die sich wie einst von den anderen abgrenzen. Die mehr oder weniger gutartigen Scherze, die dabei ausgetauscht werden, klingen wie das Echo der verbalen Auseinandersetzungen, die zwanzig Jahre zuvor stattgefunden hatten. Zu guter Letzt rechnet einer der Anwesenden in hoch emotionaler Weise mit dem ebenfalls eingeladenen, inzwischen im Ruhestand lebenden, Klassenlehrer ab, zählt ihm die Situationen auf, in denen er ihn damals falsch beurteilt und ungerecht behandelt habe.
Dies alles ist ein höchst erstaunliches Verhalten vernünftiger junger Erwachsener, für welche die gemeinsame Zeit im Alter von zehn bis zwölf Jahren bezogen auf ihr heutiges Leben in aller Regel nicht mehr von höchster Relevanz, sondern als Erinnerung an einen Teil der persönlichen Biografie im Gedächtnis verankert ist. Es stellt sich deshalb die Frage, wieso das ‹Rollenspiel› nach so langer Zeit doch noch einmal aufgeführt wird und was es damit überhaupt auf sich hat. Insofern es sich dabei nicht um ein Spiel mit festen, überall geltenden Regeln wie etwa Schach oder bestimmte Kartenspiele handelt, sondern um ein in der betreffenden Primarschulklasse entwickeltes und nur ihr bekanntes Spiel, mag es sich lohnen, der Frage nach seiner Entstehung nachzugehen.
Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben sich in ihrem Buch Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit zwar nicht mit der eben beschriebenen Klasse, aber im Grunde mit einer analogen Frage beschäftigt (Berger und Luckmann 1980). Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich die Menschen in ihrer natürlichen, besonders aber auch in ihrer sozialen Umwelt nicht nach genetisch festgelegten Instinkten und Programmen bewegen, sondern angemessene Handlungsweisen im Verlauf der Sozialisation erwerben beziehungsweise im Zusammenhang mit bestimmten Situationen überhaupt erst selber entwickeln müssen.
Für den einzelnen Menschen geht es dabei zunächst darum, nicht jede alltägliche Handlung jedes Mal wieder neu erfinden, nicht mehr jedes Mal aus einer grossen Bandbreite möglicher Handlungen eine ganz bestimmte Abfolge neu auswählen zu müssen. Das wäre ohne Frage viel zu zeit- und kräfteraubend. Wer sich Tag für Tag noch halb verschlafen das Frühstück zubereiten muss, ist dankbar dafür, über einen problemlos abrufbaren, gewohnten, mehr oder weniger automatisierten Handlungsplan zu verfügen, nach dem die Handlungskette ‹Frühstück zubereiten› ablaufen kann. Berger und Luckmann bezeichnen den Prozess, in dem die Handlungskette zur gewohnten Routine wird, als Habitualisierung. In Bezug auf die Handlungskette ‹Frühstück zubereiten› sprechen sie von einer Typisierung in dem Sinne, dass es sich dabei nicht um ein zufälliges Zusammentreffen von Einzelhandlungen wie ‹Kühlschrank öffnen›, ‹Pfanne hervorholen›, ‹Milch hineingiessen› und so weiter handelt, sondern um eine Verknüpfung all dieser Einzelhandlungen zu einer für den Handelnden Sinn tragenden Einheit – ‹Frühstück zubereiten› eben. Und sie vertreten den Standpunkt, dass Typisierung beziehungsweise Habitualisierung gleichsam die Vorstufe, jedenfalls aber notwendige Voraussetzung jeder Institutionalisierung seien.
Die Zubereitung des Frühstücks im beschriebenen Sinn ist allerdings selber noch keine Institution. Damit im Sinne der Autoren von einer Institution gesprochen werden kann, müssen einige weitere Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen mehr Subjekte als nur die einzelne ein Frühstück zubereitende Person an dem Vorgang beteiligt sein. Um zu verdeutlichen, wie dies gemeint ist, bringen Berger und Luckmann eine zweite, in einem völlig anderen kulturellen Zusammenhang sozialisierte Person ins Spiel, die – ähnlich wie der Eingeborene Freitag in Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) – zunächst keine Ahnung hat, was da vor sich geht, wenn jemand Frühstück zubereitet; die aber interessiert zusieht und nach mehrmaliger Wiederholung des (habitualisierten) Vorgangs ihrerseits in der Lage ist, die entsprechende Handlungskette als einen Handlungstyp zu identifizieren. Nach einer gewissen Zeit mag sich diese Person gar ein Herz fassen und in den Ablauf eingreifen und beispielsweise zum richtigen Zeitpunkt die Milchpfanne hervorholen, was wiederum der ersten Person nicht entgeht. Damit wird das, was sich ein einzelner Mensch quasi ‹privat› als sinnhafte Handlungskette unter dem Begriff ‹Frühstückzubereiten› zurechtgelegt hat, zu einem Handlungstyp, der auch für eine oder mehrere andere Personen denselben Sinn hat. Berger und Luckmann verwenden dafür den Begriff der reziproken, also wechselseitigen Typisierung. Wechselseitig typisiert werden dabei nicht nur die Handlungsabfolge ‹gemeinsam Frühstück zubereiten›, sondern auch die Rollen, welche die Beteiligten darin einnehmen, beispielsweise als ‹Milchausdemkühlschranknehmer› oder ‹Pfannebereitsteller›. Der Handlungsablauf entwickelt sich nicht anders, als wenn kleine, einander zunächst fremde Kinder auf dem Spielplatz ein Spiel erfinden und dabei zugleich auch unterschiedliche Rollen festgelegt werden.
Dieses interpersonale und in diesem Sinne nun soziale Arrangement stellt eine weitere Annäherung an das dar, was als soziale Institution gelten kann, entspricht aber noch nicht dem, was Berger und Luckmann darunter verstehen. Denn noch steht das ‹Arrangement› den handelnden Personen frei zur Disposition; sie können es abwandeln, völlig neu konzipieren oder auch ganz aufgeben – ganz wie auch spielende Kinder es zuweilen tun. Dies ist aber dann nicht mehr der Fall, wenn es im Rahmen der Sozialisation an Kinder und Kindeskinder weitergegeben wird. Denn diesen tritt das, was die ursprünglichen ‹Konstrukteure› des interpersonalen Arrangements noch als eigene, im Prinzip umkehrbare Schöpfung verstehen konnten, als objektive, selbstverständliche, unveränderliche Wirklichkeit gegenüber. Aus dem ‹so machen wir das› ist ein ‹so macht man das› geworden. Dazu bedarf es zweierlei: Zunächst muss begründet werden, weshalb man die Dinge so und nicht anders tun soll. Institutionen wollen mit anderen Worten legitimiert sein. Dies wiederum funktioniert erst unter der Voraussetzung, dass das ursprünglich erfahrungsgebundene Wissen in irgendeiner Weise sprachlich repräsentiert wird, sodass man Handlungen nicht mehr konkret vorzeigen muss, sondern sie in sprachlich objektivierter Form stellvertretend für die Handlung selber betrachten und diskutieren kann. Unter diesen beiden Voraussetzungen kann Wissen institutionalisiert und auch im Laufe der Sozialisation erlernt beziehungsweise als subjektive Wirklichkeit internalisiert werden. Institutionelle Wirklichkeit verdoppelt sich so im institutionalisierten ‹Wissen› über diese Wirklichkeit, das in der Generationenfolge durch einen gesellschaftlichen Apparat, beispielsweise das Schulwesen, tradiert und auf Dauer gestellt wird.
Als Rezeptwissen leitet solches Wissen gemäss Berger und Luckmann das Handeln derer an, die an Institutionen teilhaben, als Erklärungs- und Rechtfertigungswissen macht es deren Sinnhaftigkeit plausibel. In dem Masse, wie es von den Mitgliedern einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft geteilt wird, wirkt es auch als Kontrollmechanismus. Abweichungen von den dadurch nahegelegten Handlungsweisen sind auch Abweichungen gegenüber den entsprechenden Wissensbeständen und werden entsprechend – sanfter oder härter – sanktioniert. Durch Vergegenständlichung beziehungsweise Objektivierung und durch Internalisierung – unterstützt durch Mechanismen der Legitimation und Kontrolle – erhalten durch reziproke Typisierung entstandene Handlungsmuster gleichsam ein Eigenleben. Sie werden zu einem Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit, das unabhängig von zufälligerweise anwesenden Akteuren existiert.
Es wäre allerdings ein Missverständnis, würde man annehmen, die Menschen wären in ihrem täglichen Leben völlig frei, solche Prozesse anzustossen und neue Institutionen zu schaffen. Sie tun dies vielmehr stets im Rahmen und unter den Einschränkungen bereits bestehender, mächtiger institutioneller Ordnungen. Bereits die eingangs vorgestellte Primarschulklasse konnte ihre innere soziale Ordnung, ihr institutionelles Arrangement nicht ganz nach eigenem Gutdünken entwickeln. Sie tat es vielmehr in einem Feld, das durch vorgegebene Regelungen relativ eng begrenzt war, etwa durch ein fest etabliertes Autoritätsverhältnis zwischen Lehrer und Schülern oder durch die räumliche und zeitliche Organisation des Unterrichts. Immerhin aber entwickelte sie in diesem Rahmen ein Geflecht reziproker Typisierungen und ein ihm entsprechendes ‹Wissen›, das es ihr nach zwanzigjährigem Unterbruch erlaubt, das damals gespielte ‹Spiel› mühelos wieder aufzunehmen.
1.2 Das Bildungswesen im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang
Wie einleitend bereits kurz erwähnt, setzte Émile Durkheim, Professor für Pädagogik und Soziologie zunächst an der Universität Bordeaux und später an der Sorbonne in Paris, das Bestehen sozialer Institutionen als gegeben voraus und verstand Gesellschaften als Gefüge solcher aufeinander bezogener Institutionen. Wohl als einer der Ersten bezog er diese Idee in seiner 1922 veröffentlichten Schrift Education et sociologie (Durkheim 1985) auch auf das Feld von Erziehung, Schule und Bildung. Dabei unternahm er im ersten Teil – überschrieben mit «L’ éducation, sa nature et son rôle» – den Versuch, das Erziehungssystem als eigenen, historisch gewachsenen, integralen Bestandteil von Gesellschaft zu bestimmen:
«Wenn man die Frage nach der idealen, von zeitlichen und räumlichen Umständen völlig unabhängigen Bildung an den Anfang stellt, so nimmt man damit implizit an, dass es ein Bildungssystem als eigene gesellschaftliche Wirklichkeit in keiner Weise gibt. Es wird dann nicht als eine Gesamtheit von Praktiken und Einrichtungen erkennbar, die sich im Laufe der Zeit allmählich organisiert haben; die auf alle anderen sozialen Institutionen abgestimmt sind und diese ausdrücken; die sich demzufolge nicht nach Belieben verändern lassen, sondern nur bei gleichzeitiger Veränderung der Gesellschaftsstruktur selbst. […] Es ist müssig zu glauben, wir könnten unsere Kinder nach unserem freien Ermessen aufziehen. Es gibt Gebräuche, an die uns anzupassen wir gehalten sind.» (Durkheim 1985, S. 44 f.; Übers. M. R.)
Diese Formulierungen wirken zögernd, fast als wäre sich der Verfasser seiner Sache nicht ganz sicher. Er konstruiert den Begriff der Bildung als gesellschaftliche Institution in Abgrenzung von den seiner Einschätzung nach zu seiner Zeit vorherrschenden, idealistischen oder aber auf individuellen Nutzen bezogenen Auffassungen von Bildung, in deren Rahmen ein Begriff von Bildung als einer gesellschaftlichen Einrichtung oder eben einer sozialen Institution noch nicht einmal gedacht werden konnte.2
Wesentlich für Durkheims (neuen) Begriff ist zunächst die Vorstellung, dass der in einer bestimmten Epoche vorherrschende Typ der Bildung und Erziehung, das heisst die ihm entsprechenden Auffassungen und Praktiken, als Produkte historischer Entwicklung zu verstehen sind, die sich aus den Erfordernissen des gesellschaftlichen Lebens insgesamt herleiten:
«Nicht wir als Individuen haben die Gebräuche und Ideen hervorgebracht, welche diesen Typ bestimmen. Sie sind Produkt des gesellschaftlichen Lebens und Ausdruck seiner Anforderungen. Sie sind gar zum grösseren Teil das Werk früherer Generationen. […] Allein schon um ein vorläufiges Verständnis des Bildungsbegriffs zu bekommen, um die Sache zu bestimmen, die man mit diesem Begriff bezeichnet, erscheint deshalb eine historische Betrachtung als unumgänglich.» (Durkheim 1985, S. 46 f.; Übers. M. R.)
Wie wird nun dieses Bündel von «Gebräuchen und Ideen» in sich näher beschrieben und zum gesellschaftlichen Ganzen in Beziehung gesetzt? Hier formuliert Durkheim eine fundamentale Spannung, die für die Bildungsinstitution kennzeichnend ist – auch unabhängig vom Typ der sich in einer bestimmten Epoche vorfinden lässt:
«Es gibt, um es so auszudrücken, keine Gesellschaft, in der das Bildungssystem nicht einen Doppelcharakter hat. Es ist zugleich einheitlich und mannigfaltig. […] In der Tat kann man in einem gewissen Sinn sagen, dass es so viele unterschiedliche Arten der Bildung gibt wie unterschiedliche Milieus innerhalb einer Gesellschaft vorkommen.» (Durkheim 1985, S. 47; Übers. M. R.)
Betrachtet man die Antike, die feudale mittelalterliche Welt oder auch die indische Kastengesellschaft, lassen sich, so Durkheim, stets Unterschiede der Formen und Einrichtungen der Erziehung finden, so etwa zwischen Patriziern und Plebejern, Rittern und Menschen gemeiner Herkunft, Angehörigen verschiedener Kasten. Aber auch in jüngeren Epochen, so argumentiert er weiter, gibt es solche Unterschiede, etwa zwischen Bürgertum und Arbeitern, Berufsständen, Stadt und Landgebieten. Allerdings steht dieser Mannigfaltigkeit gemäss Durkheim stets auch das gegenüber, was er als «einheitlich» bezeichnet, womit er vor allem das für alle Gemeinsame meint:
«Aber welches auch immer die Bedeutsamkeit dieser besonderen Spielarten der Bildung sein mag, machen diese doch nicht die ganze Bildung aus. [W]o auch immer man sie betrachtet, unterscheiden sie sich erst ab einem bestimmten Punkt voneinander, bis zu dem sie sich ähnlich sind. Sie beruhen alle auf einer gemeinsamen Grundlage. Es existiert kein Volk, in dem es nicht eine bestimmte Anzahl von Ideen, Wahrnehmungen und Praktiken gibt, welche in der Erziehung ohne Unterschied allen Kindern beigebracht werden müssen, welcher gesellschaftlichen Kategorie sie auch immer angehören. Eine Gesellschaft ist nur lebensfähig, wenn unter ihren Mitgliedern ein hinreichendes Mass an Homogenität besteht. Anderseits jedoch wäre ohne eine gewisse Diversität Kooperation unmöglich: Das Bildungswesen stellt diese Diversität dadurch sicher, dass es sich selber diversifiziert und spezialisiert.» (Durkheim 1985, S. 88 f.; Übers. und Hervorh. M. R.)
Zieht man ein Zwischenfazit aus dieser Darstellung des Bildungswesens als sozialer Institution, so verdienen zwei Dinge besonders hervorgehoben zu werden: Erstens lässt sich diese Institution anscheinend nur dann angemessen erfassen, wenn man sie als ein Produkt historischer Entwicklung begreift und sie zugleich in ihrer Abstimmung mit einer gegebenen historischen Gesellschaft versteht. Institution und Institutionalisierung, der Zustand, der zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben ist, und der Prozess, der dahin geführt hat, gehören somit unweigerlich zusammen. Zweitens scheint es ein Strukturmerkmal zu geben, das die Institution unabhängig von ihrem jeweiligen Entwicklungsstand zu charakterisieren scheint, nämlich die erwähnte eigentümliche Spannung zwischen Gemeinsamkeit und Mannigfaltigkeit, zwischen Homogenisierung im Sinne der Vermittlung eines allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsamen Grundstocks an Werten und Weltanschauungen, einer gemeinsamen Kultur also, und Differenzierung im Sinne eines Herstellens von Ungleichheit zwischen ihnen mittels unterschiedlichen Lehrprogrammen und Zertifikaten, die in der Gesellschaft als unterschiedlich wertvoll angesehen werden (vgl. Kapitel 4).
2Institutionalisierung als historischer Prozess 3
2.1 Die Entwicklung organisierter Bildung in der Neuzeit
Frühformen organisierter Bildungsprozesse hat es, was Europa betrifft, bereits in der Antike und im frühen Mittelalter gegeben. Sie zielten damals jedoch entweder auf die Kultivierung einer kleinen Elite oder dann auf die ‹Einweihung› ausgewählter Personen, beispielsweise Priester, in nicht allgemein zugängliche Wissensbestände meist religiösen Inhalts. Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz kam es zwar schon ab dem späten 12. Jahrhundert zur Gründung von Stadt- und Ratsschulen (Gymnasien) und einzelne städtische Behörden erlaubten auch die Eröffnung von muttersprachlichen Schulen für Lesen, Schreiben und Rechnen, die zu Vorläufern der späteren Volksschulen wurden (Historisches Lexikon der Schweiz4). Für die grosse Mehrheit der Bevölkerung jedoch fand die Weitergabe von Wissen nicht in schulähnlichen Einrichtungen statt, sondern gleichsam nebenbei, im Rahmen des ganz normalen Alltagslebens der Familien und lokalen Gemeinschaften. Dies änderte sich ab dem 16. Jahrhundert; zu dieser Zeit kam ein Prozess in Gang, an dessen Ende die Bildungsinstitution als ein komplexes Gefüge von spezialisierten Organisationen, Rollen und Verwaltungsstrukturen wie auch von eigenen Normen und Regelungen stand.
Der Beginn dieser Entwicklung fällt nicht zufällig in die Zeit der Reformation. Sie hat offensichtlich mit der Spaltung Europas in zwei konfessionelle Lager zu tun. Hüben wie drüben war man darauf bedacht, innerhalb der eigenen Territorien eine bestimmte Sicht der Welt – eben entweder die katholische oder reformierte – zu verankern. Was die höhere Bildung anbelangt, begründete Johannes Calvin in der protestantischen Republik Genf 1559 das Collège. 1599 erschien die Schrift Ratio atque Institutio Studiorum Societatis Iesu, kurz Ratio Studiorum, in welcher Ignatius von Loyola die grundlegende Ausrichtung der jesuitischen Kollegien in den katholischen Gebieten formulierte.5 Für die protestantischen Städte Bern und Zürich vermeldet der Historiker Pietro Scandola:
«Die beiden Stadtstaaten Zürich und Bern führten beide 1523/1525 resp. 1528 die Reformation in ihrem Staatsgebiet ein. In der Folge bauten sie ein eigenständiges höheres Bildungssystem auf, das der Ausbildung eines reformierten Pfarrernachwuchses dienen sollte: 1525 die ‹Propezey› (später Collegium Carolinum) in Zürich und 1528 die ‹Hohe Schule› in Bern. Als Grundlage der beiden neu gegründeten Akademien wurden die bestehenden städtischen Lateinschulen ausgebaut. Der Pfarrerberuf wurde bald ein Privileg der städtischen Bürgerschaften der Haupt- und Munizipalstädte, die ebenfalls über eigene, kleinere Lateinschulen verfügten. […] Die Lateinschulen waren Schulen der ganzen Bürgerschaft, waren also mehr als nur Vorbereitungsanstalten auf das Pfarrerstudium und vermittelten im 16. Jh. ein breites humanistisches Wissen» (Scandola 1991, S. 589).
Es ging somit nicht allein um die Vermittlung eines konfessionell geprägten Weltbildes. Wie Hutmacher (2002) betont, wurde namentlich in den Städten eine nicht bloss religiöse, sondern in einem weiteren Sinne kulturelle Gemeinsamkeit der Bürgerschaft, das heisst der städtischen Eliten, innerhalb der ständischen Gesellschaftsordnung angestrebt. Wir finden hier eine historische Illustration dessen, was wir bereits bei der Darstellung der Position von Durkheim angetroffen haben, nämlich die Spannung zwischen (kultureller) Homogenisierung und (sozialer) Differenzierung. Denn einerseits waren die Bemühungen offensichtlich darauf gerichtet, der (nicht adligen, sondern bürgerlichen) städtischen Elite durch eine gemeinsame, humanistische Bildung, und das heisst durch einen Prozess der ‹Kultivierung›, zur Konstitution und Integration als einem einzigen, sich vom Adel und vom einfachen Volk abhebenden gesellschaftlichen Stand zu verhelfen. Auf der anderen Seite jedoch wirkte sich dieselbe Operation dahingehend aus, dass sie diese Gruppe im Gefüge der Standesgesellschaft gegenüber anderen, etwa gegenüber dem Adel, positionierte.
Auch die Entwicklung der Landschulen stand im Zeichen der (konfessions-)kulturellen Homogenisierung. Das sogenannt niedere Schulwesen erfuhr nach der Reformation eine beschleunigte Ausbreitung.6
«Mit Hilfe der unteren Schulen strebte man zur Reinerhaltung der konfessionell definierten Glaubenslehre die Lesefähigkeit des Volks (Alphabetisierung) an, damit die Bibel beziehungsweise im katholischen Gebiet der Katechismus gelesen und auswendig gelernt werden konnte. […] Genf führte unter dem Einfluss von Johannes Calvin bereits 1536 das Schulobligatorium ein. Kurz nach 1536 begann Bern, die Waadtländer Gem. bei der obligatorischen Gründung von Schulen zu unterstützen. 1615 beziehungsweise 1637 beauftragten Bern beziehungsweise Zürich alle Gemeinden, Schulen einzuführen.» (Historisches Lexikon der Schweiz, o. S.7)
Allerdings beschränkte sich auch das niedere Schulwesen nicht darauf, den ‹richtigen› Glauben zu verbreiten, sondern es bezog sich in einem umfassenderen Sinn auf eine mit diesem kompatible, ‹sittliche› Lebensführung. Schulung der Landbevölkerung bedeutete deren Hinführung zu einem gottgefälligen, dem Seelenheil zuträglichen Lebenswandel. Das Landschulwesen war damit so etwas wie ‹präventive› seelsorgerische Tätigkeit. Scandola stellt für den Kanton Bern fest:
«Die orthodoxe reformierte Glaubenslehre liess sich nur dann einheitlich durchsetzen, wenn die Gemeinden nicht unter dem Vorwand, einen Lehrer anzustellen, einem religiösen Häretiker Unterschlupf gewährten. Zum anderen kontrastierten die Sitten und Gebräuche des Landvolkes immer mehr zu den Ansprüchen einer Geistlichkeit, welche dank entsprechend neuer Erziehung Selbstdisziplin und methodisch-rationale Lebensführung als Voraussetzung zum ewigen Heil betrachtete. Die Schule sollte daher den immer wieder kritisierten Lastern des Volkes, wie dem Fluchen und Schwören, entgegenwirken.» (Scandola 1991, S. 594)
Wie das Zitat nahelegt, bemühte sich die städtische und insbesondere die kirchliche Obrigkeit um die Kontrolle der Schulung des ‹einfachen Volkes›, namentlich der unter ihrer Herrschaft lebenden Landbevölkerung.8 Es ging in den Unterrichtsinhalten im Wesentlichen um das Einüben in den Katechismus. Der Unterricht im Lesen sollte aus Sicht der kirchlichen Obrigkeit – zumindest jener der protestantischen Gebiete – vor allem den Zugang zu Bibeltexten ermöglichen. Allerdings wäre es problematisch, die ländlichen Gemeinden einfach als passive, einem obrigkeitlichen Diktat unterworfene Gemeinschaften zu sehen. Einige von ihnen hatten sich schon früher aus eigener Initiative um die Schaffung schulischer Einrichtungen bemüht. Nicht zuletzt aufgrund eigener Interessen und Initiativen hatten die Landgemeinden denn auch bezüglich ihrer Schulen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Anstellung von Lehrern, durchaus ein Wort mitzureden (Tröhler 2007). Ebenso dürften sich die Auffassungen bezüglich der Unterrichtsziele und -inhalte nicht vollständig mit denen der Obrigkeit gedeckt haben, wurde doch Lesefähigkeit im Zuge der sich ausbreitenden Schriftlichkeit der Staatsverwaltung auch ausserhalb der religiösen Sphäre zu einem Desiderat nicht nur der tonangebenden städtischen Kreise, sondern zunehmend auch der städtischen Untertanen und der Landbevölkerung. Dennoch: Wie die ersten Landschulordnungen für den Kanton Bern (1628) und den Kanton Zürich (1637) zeigen, blieben die Landschulen einstweilen eine Domäne der Kirche. Allerdings geriet das Landschulwesen im Zuge der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung spätestens in der Zeit der Aufklärung in die Kritik, was beispielsweise die zürcherische Obrigkeit dazu bewog, sich 1771/1772 im Rahmen einer flächendeckenden Umfrage unter den Dorfpfarrern ein Bild der Verhältnisse zu machen, um eine Reform des Landschulwesens vorbereiten zu können.9
Vor den bis hierher beschriebenen zwei Schulungstypen, dem sogenannten niederen Schulwesen (Elementarbildung) und dem höheren Schulwesen für die gehobenen städtischen Stände, hatte sich in den Städten seit dem späten Mittelalter ein dritter etabliert: Es waren die Zünfte, welche die Ausbildung in zahlreichen handwerklichen Berufen in einem eigenen Bildungssystem organisierten, das noch keine Schulen im heutigen Verständnis des Wortes kannte, sondern auf dem Prinzip der Meisterlehre beruhte: Eine – eher geringe – Zahl von städtischen männlichen Jugendlichen erhielt die Chance, das betreffende Handwerk gegen Entrichtung eines Lehrgeldes zu erlernen. Sie lebten für die Zeit der Ausbildung auch in der Familie des Meisters. Nach dem Ablegen einer Abschlussprüfung und dem Absolvieren einiger Wanderjahre hatten sie die Möglichkeit, in der Heimatstadt die Meisterprüfung abzulegen und einen eigenen Handwerksbetrieb zu eröffnen (Jenzer 1998, S. 106 f.).
In einer ersten Zusammenfassung lässt sich festhalten, dass sich in der Zeit bis zur Französischen Revolution drei hauptsächliche Bildungsinstitutionen etabliert haben. Die Institutionalisierung der Bildung vollzog sich in dieser Periode als Etablierung von drei hauptsächlichen, voneinander separierten Teilen, die auch Basis und Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung des Bildungswesens im 19. und 20. Jahrhundert darstellten. Carlo Jenzer (1998) bezeichnet sie als
•eine gelehrte Bildung, wie sie an Lateinschulen und Gymnasien vermittelt wurde und die nur der städtischen Elite vorbehalten war;
•eine Volksschulbildung, die für die breite Schicht des einfachen Volks gedacht war;
•eine Berufsausbildung in den Städten, wo das Handwerk zunftmässig organisiert war.
Gesellschaftlicher Rahmen dieses aus drei eigenständigen Säulen bestehenden Systems war die ständische Ordnung des Ancien Régime, also einer Gesellschaftsordnung, in welcher die Zugehörigkeit der Menschen zu einem der Stände wie auch ihre Möglichkeit, an Bildungsprozessen teilzuhaben, von Geburt auf weitgehend vorbestimmt war. Wer auf dem Land zur Welt kam, wurde unweigerlich Adressat des Landschulwesens; wer in die städtische Oberschicht hineingeboren wurde, gelangte in den Genuss der gelehrten Bildung; einigen wenigen städtischen Jugendlichen wurde das Glück zuteil, eine Meisterlehre durchlaufen zu können. Diese Möglichkeit hatten jedoch nur männliche Jugendliche, deren Familien in der Lage waren, das erforderliche Lehrgeld aufzubringen. Und über die Jahrhunderte hinweg genügte auch dies immer weniger, versuchten doch die Zünfte mehr und mehr, die Lehrlinge ausschliesslich aus den eigenen Kreisen zu rekrutieren (Jenzer 1998).
Gleichsam die Kehrseite der eben skizzierten Entwicklung findet sich in einem parallel verlaufenen Prozess, der am Übergang zur Neuzeit begonnen hatte und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen war, nämlich die Trennung von Familie und Schule, das heisst die Schulung von Kindern und Jugendlichen in gesonderten Einrichtungen. Was zuvor die Familien in eigener Verantwortung übernommen hatten, wurde nun zunehmend in einer Arbeitsteilung zwischen Schule und Familie organisiert. Dass diese Arbeitsteilung von allem Anfang an nicht immer harmonisch gewesen ist, mag das folgende Zitat illustrieren:
«Den Eltern soll nit gestattet werden, den Schul- und Lehrmeistern fürzuschryben, noch ihnen die Rutten und straffen zu wehren […]» (zit. n. Scandola, Rogger und Gerber 1992, S. 5)
Wie schon angedeutet, vollzog sich im Nachgang zur Aufklärung und zur Französischen Revolution und dem dadurch beschleunigten Untergang der alten, ständischen Ordnung eine Weiterentwicklung der Bildung unter radikal veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Bevor hier auf diesen Umbruch und seine Folgen eingegangen wird, soll zunächst ein Blick auf jene Dinge geworfen werden, die sich zwischen Neuzeit und Moderne kaum verändert haben. Es sind dies insbesondere Merkmale, welche die Struktur und Funktionsweise der Bildungseinrichtungen, also der Schulen, betreffen.
Erstens blieben schulische Einrichtungen und das Lehrpersonal10 einer den Familien und lokalen Gemeinschaften übergeordneten Autorität unterstellt, die im Namen einer höheren Instanz Entscheidungsgewalt beanspruchte über Dinge wie Bildungsinhalte und -formen, Qualifikation und Anstellung der Lehrpersonen und anderes mehr. Für lange Zeit war es namentlich die Kirche, welche diese Aufsicht im Namen christlicher Werte ausübte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ging diese Rolle allerdings zunehmend an den Nationalstaat über.
Zweitens entwickelten sich bestimmte, über Zeit hinweg zunehmend standardisierte Formen der Arbeitsorganisation innerhalb der Schulen, die ihrerseits die Grenze zwischen der sich festigenden Institution und der übrigen Gesellschaft sicht- und erfahrbar machten.
«Wenn Pause aus ist, ist wieder richtig Schule.»11
Diese lapidare Aussage einer Primarschülerin12 bringt es eigentlich auf den Punkt, verweist sie doch klar und deutlich auf die eben erwähnte Grenze. Denn was heisst «richtig Schule» im Erfahrungshorizont einer Primarschülerin?
•Es verweist zunächst auf eine räumliche Abgrenzung. Nach dem Pausensignal heisst es, sich wieder in einem besonderen Gebäude in einen ganz bestimmten Raum zu begeben, der für eine nächste Stunde den räumlichen Rahmen «richtig[er]» Schule abgibt. Und damit ist auch schon die zweite Komponente angesprochen: eine zeitliche Ordnung, die sich von derjenigen des kindlichen Alltags recht drastisch abhebt.
•Diese zeitliche Komponente ist zunächst in den sich täglich mehrfach wiederholenden, wenig kontinuierlichen Übergängen zwischen «Pause» und «richtig Schule» erfahrbar, im Weiteren auch in einer administrativen Rhythmisierung durch 45- oder 50-minütige Lektionen und entsprechende fünf-, zehn- oder fünfzehnminütige Pausen. Schliesslich kann oder konnte sie sich doch auch im Verlauf einer einzelnen Lektion fortsetzen, wenngleich wohl eher selten in so drastischer Weise, wie es im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt:
«Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schlägt man für die Schule mit wechselseitigem Unterricht folgenden Stundenplan vor: 8.45 Eintritt des Monitors, 8.52 Ruf des Monitors, 8.56 Eintritt der Schüler und Gebet, 9 Uhr Einrücken in die Bänke, 9.04 erste Schiefertafel, 9.08 Ende des Diktats, 9.12 zweite Schiefertafel usw.» (zit. n. Foucault [1977, S. 193])
•Jenseits der durch das Pausenzeichen markierten Grenze, das heisst im Schulhaus und im Klassenzimmer, gibt es auch eine hierarchisch-disziplinarische Ordnung. An deren Spitze kann beispielsweise eine Schulleitung stehen, der die Lehrpersonen und das pädagogische und das übrige Hilfspersonal untergeordnet sind. Die Hierarchie kann von Fall zu Fall unterschiedlich ausgestaltet sein. Gewiss ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf der untersten Sprosse befinden, wenngleich das Autoritätsverhältnis zwischen Lehrperson und Schülerschaft auch in diesem Fall nicht so drastisch in Erscheinung treten muss, wie es das Journal pour l’instruction élémentaire im Jahre 1816 postulierte:
«Geht in eure Bänke! Beim Wort Geht legen die Schüler vernehmlich ihre rechte Hand auf die Bank und setzen ein Bein in die Bank; bei in eure Bänke ziehen sie das andere Bein nach und setzen sich vor ihre Schiefertafel […] Nehmt die Tafeln! Beim Wort Nehmt legen die Kinder die rechte Hand an die Schnur, mit der die Tafel am Nagel aufgehängt ist, und mit der linken fassen sie die Tafel; bei die Tafeln nehmen sie sie ab und legen sie auf den Tisch.» (Journal pour l’instruction élémentaire [1816]; zit. n. Foucault 1977, S. 215 f., [Hervorh. i. Original])
2.2 Institutioneller Wandel im Zeitalter der Nationenbildung
Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert kommt es in Europa zum bereits erwähnten fundamentalen gesellschaftlichen Umbruch, dem auch die Bildungsinstitution unterworfen ist. Gemeint ist der Zerfall der ständischen Ordnung des Ancien Régime. Dieser schritt in den europäischen Ländern mit verschiedener Geschwindigkeit voran. Wo er stattfand und eine zunehmend nicht mehr ständisch gebundene Gesellschaft entstehen konnte, hatte er Folgen sowohl für die gesellschaftliche Positionierung der Individuen als auch für die zuvor territorialstaatlichen Gebilde13:
•Die soziale Stellung des Einzelnen sollte nicht mehr von Geburt an vorbestimmt sein. Vielmehr hatten die Menschen nun in zunehmendem Masse die Möglichkeit, sich mit Tüchtigkeit und Glück eine gesellschaftliche Position selber zu erarbeiten.
•Der Zusammenhalt der grossen gesellschaftlichen Kollektive bedurfte einer neuen Grundlage. Waren die alten Verhältnisse – gestützt durch die Autorität weltlicher Obrigkeit und der Kirche – weithin als gottgewollt hingenommen worden, bedurfte es zur Sicherstellung von Zusammenhalt und Gemeinsamkeit nun einer neuen Klammer, eines neuen ‹Bindemittels›.
Man kann sich vorstellen, dass der erwähnte Umbruch sowohl für den einzelnen Menschen als auch für kleinere Gemeinschaften und grössere Kollektive schwierig zu bewältigen war. Die alten Werte und Normen waren infrage gestellt und zum Teil beseitigt worden, das Neue war erst in Ansätzen erkennbar. Die Soziologie bezeichnet eine Situation dieser Art als kollektive Anomie und meint damit das Fehlen verlässlicher Normen, allgemeine Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Hilfreich unter solchen Voraussetzungen waren zwei neue ideologische Konstrukte: die Nation und, damit zusammenhängend, das Volk. Überall in Europa entstanden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nationalistische Bewegungen, die den Rahmen der Gesellschaft nicht mehr allein über ein Territorium definieren wollten, das von einer politischen Obrigkeit als Hoheitsgebiet verwaltet wurde, sondern diesem Territorium den Nimbus einer ursprünglichen Gemeinschaft verliehen, die als auf ‹ethnischer› Zugehörigkeit beruhendes Volk imaginiert wurde – als eine «vorgestellte Gemeinschaft von Gleichen» (Anderson 1988).
Die Idee des Volkes stützte (und stützt sich zum Teil noch heute) in der Regel auf ein Gemenge von Komponenten, die überwiegend als ideologische Konstruktionen zu sehen sind. Obschon sie von Nation zu Nation mit unterschiedlichen Akzentsetzungen14 auftreten, lassen sich insgesamt doch die folgenden hervorheben:
•eine gemeinsame Sprache, die eine ‹natürliche› Zusammengehörigkeit derjenigen suggeriert, die diese Sprache sprechen;
•eine Reihe von – wie angenommen wird, allen gemeinsamen – Glaubensüberzeugungen;
•ein Gründungsmythos, der gleichsam den Punkt markieren soll, ‹an dem alles angefangen hat›;
•daran anschliessend eine gemeinsame, heroisierte Geschichte;
•die Vorstellung von einem Territorium, das ein Volk berechtigterweise beanspruchen kann;
•die Idee einer Art Blutsverwandtschaft all derer, die sich dem Volk zurechnen können.
Historische und sozialwissenschaftliche Erklärungen der Dynamik solcher nationalistischer Strömungen verweisen unter anderem auf die Bedeutung, die das Schulwesen für die Verbreitung entsprechender Ideen haben kann, und stellen beispielsweise Fächer wie Heimatkunde oder staatbürgerlichen Unterricht in diesen Zusammenhang.
«Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde deshalb in weiten Teilen Europas vermehrt über Nationalerziehung gesprochen. Diese Diskussionen wurden dadurch begünstigt, dass sich die Tendenz abzuzeichnen begann, anstehende gesellschaftliche und/oder politische Probleme durch Erziehung zu lösen.» (Horlacher 2011, S. 44)
Auch in den republikanischen Gebieten der damaligen Schweiz waren solche Gedanken alles andere als fremd, wie Tröhler (2011, S. 47) in seiner Darstellung der Gründung der Zürcher Kunstschule 1773 schreibt:
«Der Initiator der Zürcher Kunstschule von 1773 etwa, der Bürgermeister Hans Conrad Heidegger (1710–1778), hatte 1765 die Ansicht vertreten, dass die Schule als ‹eine Nationalanstalt› zu verstehen sei, ‹in welcher von der ersten Kindheit an und für alle Stände der Mensch sich zum nützlichen Mitglied des Staates› mit dem Zweck zu entwickeln habe, ‹an der Beförderung der Wohlfahrt des Vaterlandes arbeiten zu helfen›.» (Heidegger, zit. in: Nabholz 1938, S. 86)
Die zu dieser Zeit entstehende Auffassung von Erziehung als Beitrag zur nationalen Wohlfahrt und Entwicklung impliziert auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Stellung des einzelnen Menschen gegenüber dem Staat, also mithin seines staatsbürgerlichen Status. Der englische Soziologe Thomas H. Marshall hat diese Entwicklung vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Das 18. Jahrhundert ist für ihn die Zeit, in der sich vor allem das «bürgerliche Element», das heisst die bürgerlichen Individualrechte ausbreiten: «Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums, die Freiheit, gültige Verträge abzuschliessen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren» (Marshall 1992, S. 50). Darauf bauen ab dem 19. Jahrhundert die politischen Rechte auf: «Recht auf Teilnahme am Gebrauch politischer Macht, entweder als Mitglied einer mit politischer Autorität ausgestatteten Körperschaft, oder als Wähler der Mitglieder einer derartigen Körperschaft» (a. a. O.). Im späten 19. Jahrhundert schliesslich kam die Entwicklung und Ausweitung des «sozialen Elements» in Gang: « […] vom Recht auf ein Mindestmass an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards» (a. a. O.).
In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist nun die Stellung, oder besser die ‹Karriere› der Bildung über die drei Phasen hinweg. Aus heutiger Sicht handelt es sich dabei klar um ein soziales Recht, nämlich das Anrecht auf Teilhabe an den kulturellen Errungenschaften der Gesellschaft, oder individuell gewendet das Recht auf Kultivierung der eigenen Person. Dies war indessen nicht die vorherrschende Sicht im 18. und 19. Jahrhundert.15 Damals erschien der Erwerb von Bildung noch als Voraussetzung für die Wahrnehmung zunächst der bürgerlichen Rechte wie etwa der Eigentums- und Vertragsrechte; und dann vor allem für die verantwortungsvolle und informierte Teilhabe an politischen Entscheidungen. Bildung wurde somit als Pflicht verstanden, der man sich zu unterziehen hatte, um – dies das darauf aufbauende Bürgerrecht – an der Gestaltung des Gemeinwesens teilzuhaben:
«Wenn der Staat allen Kindern eine Erziehung sicherstellen will, dann hat er dabei ausdrücklich die Voraussetzungen und das Wesen des Staatsbürgerstatus im Blick. Er versucht, die Entwicklung der werdenden Staatsbürger zu fördern. […] Grundsätzlich sollte es [das Recht auf Bildung, M. R.] nicht als das Recht des Kindes auf den Besuch der Schule gesehen werden, sondern als das Recht des erwachsenen Staatsbürgers, eine Erziehung genossen zu haben.» (Marshall 1992, S. 51)
Diese im Recht auf Bildung enthaltene Ambiguität zwischen Bildung als Voraussetzung und Bildung als sozialer Wert an sich lebt in den Institutionen der öffentlichen Bildung bis auf den heutigen Tag weiter. Der Auffassung von Bildung als einem selbstverständlichen, universellen Menschenrecht steht in Gestalt der obligatorischen Schule noch immer die Institutionalisierung von Bildung als einer Verpflichtung gegenüber.
Im Zusammenhang des vorliegenden Kapitels ist indessen auf zwei Aspekte hinzuweisen, die in dieser Diskussion eher im Hintergrund geblieben sind: Wenn es eine Form gibt, der «vorgestellten Gemeinschaft von Gleichen» bereits im frühen Kindesalter symbolisch Ausdruck zu verleihen, so eignen sich dazu wenige Dinge so gut wie die für alle geltende Teilnahme an einer Institution, die sich spezifisch mit Kindern und Jugendlichen befasst (zur Legitimationsfunktion von Bildung vgl. Kapitel 3). So gesehen darf man die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die im 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas vollzogen wurde, durchaus als eine Erscheinung verstehen, die in engstem Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Nationen und mit dem damit verbundenen Nationalismus steht.
Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht stellte auch die erste und wohl radikalste Herausforderung der hergebrachten Schulstrukturen dar. Erstmals sollten alle Kinder, ungeachtet ihrer Herkunft, die elementare schulische Erziehung nicht von Anfang an in durch Standesgrenzen getrennten Bahnen – und das heisst in separierten Teilen der Bildungsinstitution – erfahren, sondern in einer Einrichtung, welche keine Standesgrenzen kennt. Diese Feststellung bringt uns zu einem weiteren Punkt: Mit der Einführung der Pflicht aller zur Teilnahme an der gemeinsamen elementaren Bildung wurde auch der Grundstein für etwas gelegt, das vor allem mit dem Ausbau der weiterführenden Bildung zunehmende Bedeutung erlangen sollte. Das Schulwesen wurde nämlich dadurch als ein System eingerichtet, in dem man mehr oder weniger Erfolg haben und vorankommen, also weiterführende Schulen besuchen kann, was wiederum dem Erreichen höherer beruflicher und gesellschaftlicher Positionen förderlich ist. Für alle Kinder wurde eine Art gemeinsame Grund- oder Startlinie im Alter von etwa sieben Jahren geschaffen. Mehr über die weitreichenden Folgen dieses fundamentalen Wandels wird in einem der nächsten Kapitel (Kapitel 3) zu erfahren sein.
Die eben skizzierte Entwicklung fand in den Ländern Europas je nach deren politischen Verhältnissen in unterschiedlicher Geschwindigkeit und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen statt. Vollzogen einige die Einführung der allgemeinen Schulpflicht verhältnismässig früh in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dauerte es in anderen bis zum späten 19. oder gar frühen 20. Jahrhundert. Und lag der Akzent in noch stark der alten Ordnung verpflichteten Ländern auf der Einführung einer einseitig von oben verordneten Staatsschule, wurde die Entwicklung in anderen auch von breiten Kreisen eines aufgeklärten republikanischen Bürgertums mitgetragen.
Letzteres trifft namentlich auch für den Fall der damaligen Eidgenossenschaft zu. Hier wurde kurz nach dem Einmarsch der napoleonischen Truppen zunächst die Helvetische Republik ausgerufen und ein Versuch unternommen, die allgemeine Schulpflicht landesweit zu verankern. Reformen im Schulwesen sollten gemäss den Wortführern der Helvetik nicht nur der Aufklärung zum Durchbruch verhelfen und zur Perfektionierung des Menschen beitragen; vielmehr wurden sie auch als Mittel gesehen, dem neuen Staat ein Fundament zu geben und ein Zugehörigkeitsgefühl gegenüber der helvetischen Nation zu erzeugen (Bütikofer 2006, S. 131 ff.).
Bekanntlich scheiterte das Experiment der Helvetik bereits nach knapp fünf Jahren, und die weitere Entwicklung vollzog sich – ebenfalls in unterschiedlicher Geschwindigkeit – in den Kantonen. Entsprechend liess sich die Einführung der modernen Schule nicht in derselben, direkten Weise, sondern nur gleichsam auf einer unteren, kantonalen Ebene mit dem Aufbau der Nation verknüpfen. Dass der landesweite Nationalismus auf gesamtschweizerischer Ebene mehr im Rahmen eidgenössischer Schützen-, Turn- und Trachtenfeste zelebriert wurde (Jansen und Borggräfe 2007, S. 155 f.), bedeutet jedoch nicht, dass er nicht auch im Schulwesen der Kantone durchaus präsent war. Denn die kantonalen Lehrpläne und Lehrmittel, namentlich jene für die Fächer Geschichte, Geografie und Gesang, orientierten sich sehr wohl am nationalen Ganzen. Und wichtiger noch: Auch auf der kantonalen Ebene wurde die neue Schule als Volksschule, als eine Schule für Gleiche, eindeutig im Kontext der neuen Ordnung und der Herausbildung einer Nation verstanden. In einem gewissen Sinne geschah dies gar noch radikaler als anderswo. Denn die Volksschule wurde nicht nur als eine Errungenschaft des ganzen Volkes und der entstehenden Nation gefeiert, sondern namentlich auch als Beitrag zu deren demokratischen Verhältnissen. Die Schule sollte einen grundlegenden Beitrag dazu leisten, dass die Bürger des Landes16 an den Staatsgeschäften Anteil nehmen konnten.
Wie erwähnt, lässt sich die Etablierung der modernen Volksschule im Falle der Schweiz wegen der Verschiebung dieses Prozesses auf die kantonale Ebene nicht unmittelbar zu nationalistischen Bestrebungen in Beziehung setzen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mit der Entwicklung der Schweiz als Nationalstaat aufs Engste verknüpft gewesen ist. Denn wenn sich die Schweiz im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein föderalistisches und eben nicht zentralistisches Staatsgebilde definierte, so war es nicht zuletzt die Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse in Bezug auf Schule und Bildung nach unten, welche diesen Staatsaufbau stützte – und bis auf den heutigen Tag stützt.17
Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle nochmals Durkheims These: «Es [das Bildungssystem, M. R.] wird dann nicht als eine Gesamtheit von Praktiken und Einrichtungen erkennbar, die sich im Laufe der Zeit allmählich organisiert haben; die auf alle anderen sozialen Institutionen abgestimmt sind und diese ausdrücken; die sich demzufolge nicht nach Belieben verändern lassen, sondern nur bei gleichzeitiger Veränderung der Gesellschaftsstruktur selbst.» (Durkheim 1985, S. 44; Übers. und Hervorh. M. R.) Gerade die Entwicklungen an der Schwelle zur Moderne verdeutlichen sehr klar, dass die Praktiken und Institutionen der Erziehung vor allem dann geändert werden können, ja müssen, wenn sich die Struktur der Gesellschaft ändert, auf die sie bezogen sind. Dies scheint für den Zusammenhang zwischen Schulpflicht und Nationenbildung europaweit zu gelten, im Falle der Schweiz auch für den Zusammenhang zwischen der Etablierung der Volksschule auf der einen Seite und dem föderalistischen, demokratischen System auf der anderen.
2.3 Die Ausbreitung der weiterführenden Bildung
Halten wir nochmals fest: Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert leitet die Transformation eines ständisch gebundenen in ein auf Leistung beruhendes, meritokratisches Bildungswesen ein, an welchem alle Menschen ohne Standesunterschiede teilhaben können beziehungsweise sollen. Er markiert auch den Beginn einer Entwicklung, an deren Ende die für alle verpflichtende Elementarbildung steht. Und er setzt schliesslich, davon soll der vorliegende Abschnitt handeln, eine Entwicklung in Gang, in der das Schulwesen über die Elementarbildung hinaus ausgebaut wird. Damit erhält eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, an weiterführender Bildung teilzuhaben.
Gewiss hatte es schon in der Zeit zuvor Einrichtungen der mittleren und höheren Bildung gegeben. Sie standen jedoch ausschliesslich den städtischen Eliten offen; dies zunächst als Lateinschulen, die namentlich auf die Übernahme kirchlicher Ämter vorbereiten sollten, im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend auch auf Tätigkeiten in Verwaltung und Handel.18 Weiterführende Schulen brauchten somit nicht völlig neu erfunden, wohl aber an eine neue Denkweise angepasst zu werden. Diese bestand darin, die Bildungseinrichtungen in ihrer Gesamtheit nicht mehr als ein horizontal gegliedertes Nebeneinander von Standesschulen zu konzipieren, sondern als ein vertikal gegliedertes Ganzes.
Einer der ersten Vorschläge in dieser Richtung stammte vom Geistlichen Gregor Girard, der ihn 1798 dem Helvetischen Directorium unterbreitete (vgl. dazu Jenzer 1998, S. 30 ff.). Er regte eine Konstruktion aus drei aufeinander aufbauenden Stufen an, nämlich
•einer première école für ouvriers, artisans und laboureurs. Gemeint waren damit nicht die Kinder aus Handwerker-, Bauern- und Arbeiterkreisen, sondern Menschen, die im späteren Erwachsenenleben in Landwirtschaft, Handwerk oder Industrie tätig sein würden. Was diese erste Stufe vermitteln sollte, waren les éléments des connaissances les plus nécessaires à la vie et à l’état de citoyen d’Helvétie. Nicht berufliche Qualifikationen, sondern staatsbürgerliche Kompetenzen standen somit im Vordergrund.
•einer seconde école für gens de plume und commerçants; dies als Vorbereitung auf Tätigkeiten in Verwaltung und Handel wie auch auf die nächste Stufe.
•die troisième école für instituteurs19, médecins und juges.
Man erkennt unschwer den dreistufigen Aufbau, der auch aus heutiger Sicht durchaus vertraut erscheint. Davon abgesehen verweist der Vorschlag jedoch, mehr implizit als explizit, auf eine Reihe weiterer Merkmale, die auch noch für das heutige Bildungswesen kennzeichnend sind:
•Da ist zunächst die Idee eines Zusammenhangs zwischen schulischen Niveaus und späteren beruflichen Tätigkeiten, also die Vorstellung von Schule als Ort einer Qualifikationsvermittlung, die differenziert nach unterschiedlichen beruflichen Anforderungen erfolgen soll.
•Deutlich wird zweitens, dass die Stände und die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede nicht einfach auf einen Schlag spurlos verschwunden sind. Den drei Stufen entsprechen in Girards Vorschlag gesellschaftliche Gruppen, die auch bezüglich ihrer gesellschaftlichen Stellung vertikal angeordnet sind. Neu ist, dass die Zuordnung der Schülerinnen und Schüler zu diesen Gruppen gemäss diesem Modell nicht mehr gestützt auf Herkunft, sondern aufgrund schulischer Leistungsfähigkeit erfolgen soll.
•Daraus ergibt sich ein weiteres Merkmal, das den Vorschlag von der alten Ordnung unterscheidet: Das dreistufige System beruht auf Selektion nach Massgabe dieser schulischen Leistungsfähigkeit.
•Verknüpft man die beiden letzten Überlegungen, so ergibt sich eine weitere, die für das gewandelte Bildungswesen von fundamentaler Bedeutung ist: die Möglichkeit nämlich, gestützt auf schulische Leistungen von einer Generation zur nächsten in der sozialen Hierarchie auf- oder abzusteigen.
•Ein letzter Punkt schliesslich betrifft die Legitimation gesellschaftlicher Positionen, insbesondere privilegierter sozialer Stellung. Im Masse, in dem solche Positionen aufgrund schulischer Leistungsfähigkeit erlangt werden können, beruht die Legitimation von gesellschaftlichem Einfluss und Ansehen auf individuellem Schulerfolg – dies im Einklang mit liberalem Gedankengut, das sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zu formieren und zu artikulieren begann.
Was Gregor Girard formulierte, war das Modell des möglichen Aufbaus eines weiter entwickelten Schulwesens, nicht ein präziser Plan zu dessen künftiger Gestalt und schon gar nicht eine Beschreibung der damaligen Wirklichkeit. In der Schweiz sollte noch manches Jahrzehnt vergehen, bis die Kantone ein Gefüge aufgebaut hatten, das in etwa dem Girard’schen Modell entsprach. Und es sollte noch mehr als 200 Jahre dauern, bis das Prinzip eines Bildungsraums Schweiz in der Bundesverfassung verankert wurde.20 Es kann nicht Sache des vorliegenden Beitrags sein, die Entwicklung während dieser Jahrzehnte im Einzelnen darzustellen.21 Was hier interessiert, ist die Dynamik, die sich auf dem Hintergrund der eben diskutierten Implikationen des Modells in Bezug auf die Entwicklung der weiterführenden Bildung hat entfalten können.
Es ist allerdings schwierig, für länger zurückliegende Perioden verlässliche Daten über das Bildungswesen zu finden. Reinhart Schneider, ein deutscher Soziologe, hat es sich dennoch vor einiger Zeit zur Aufgabe gemacht, solche Daten für die Zeit zwischen 1870 und 1975 aus 13 europäischen Ländern, unter ihnen die Schweiz, zusammenzutragen (Schneider 1982). Zwei Schweizer Kollegen haben die Werte für alle 13 Länder mit jenen für die Schweiz verglichen und dabei zwar einige Abweichungen, aber insgesamt eine Bestätigung des allgemeinen Trends gefunden (Bornschier und Aebi 1992).
Abbildung 1: Durchschnittliche Einschulungsraten für 13 westeuropäische Länder 1870–1975 in Prozent
Quelle: Schneider (1982)
Infolge der Vielfalt der Schulstrukturen in den 13 Ländern sind die Kategorien in der linken Spalte vor allem zwischen Primar- und Sekundarschülern und -schülerinnen nicht trennscharf, überschneiden sie sich doch für die Altersgruppen der Zehn- bis Vierzehnjährigen. Und auch die in der Waagrechten unterschiedenen Perioden weisen unterschiedliche Ausdehnungen auf. Bezieht sich die erste Periode auf einen Zeitraum von 40 Jahren, sind es in den drei jüngsten noch je 5 Jahre. Dennoch lassen sich aus der Tabelle ein paar Tendenzen herauslesen:
•Für alle 13 Länder steigt der Anteil Primarschüler und Primarschülerinnen an der entsprechenden Altersgruppe nach der Periode 1870–1910 noch einmal kräftig an, bleibt dann bis 1960–65 auf dem Niveau von rund 70 Prozent, um dann zur letzten Periode leicht abzusinken. Der Anstieg in der ersten Periode hat damit zu tun, dass einige der Länder die allgemeine Schulpflicht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einführten, das Absinken im letzten Zeitintervall damit, dass ein steigender Anteil der Zehn- bis Vierzehnjährigen bereits die Sekundarschule besucht. Für die Schweiz liegen die Werte recht konstant bei knapp 80 Prozent; dies ist eine Folge der vergleichsweise frühen Institutionalisierung der Volksschule.
•Bei der Sekundarschule zeigt sich über alle Perioden hinweg für die Gesamtheit der berücksichtigten Länder ein dramatischer Anstieg von 2.2 Prozent (1870–1910) auf ein volles Drittel der Altersgruppe 10–19. Auch für die Schweiz steigen die Werte an, allerdings in einem viel schwächeren Ausmass, nämlich von etwa 3 auf 9 Prozent. Hier wirkt sich einerseits der Umstand aus, dass die sich in einer Berufslehre befindenden Jugendlichen nicht mitgezählt wurden, weil sie keine Vollzeitschule besuchten. Zum anderen spiegelt sich darin auch eine grössere Zurückhaltung der Schweizer Kantone in Bezug auf den Ausbau der Sekundarschulbildung.
•Ein ähnliches Bild ergibt sich für die tertiäre Bildung. Auch hier ist europaweit ein stetiger, wenngleich viel moderaterer Anstieg zu verzeichnen, der sich auch in der Schweiz nachweisen lässt, wobei hier wiederum eine grössere Zurückhaltung zu verzeichnen ist.
Im nachfolgenden Abschnitt wird sich zeigen, dass sich der Trend in Bezug auf die tertiäre Bildung ab 1975 nicht nur fortsetzt, sondern gar ein exponentielles Wachstum zu verzeichnen ist. Bevor wir uns dieser jüngsten Periode zuwenden, soll jedoch erst die Frage diskutiert werden, wie man sich die Zunahme der Beteiligung an mittlerer und höherer Bildung überhaupt erklären kann: Was bewegt die Staaten dazu, das Angebot an weiterführender Bildung stetig zu erweitern? Und was bringt die Menschen in den verschiedenen Ländern dazu, davon Gebrauch zu machen?
In der bildungssoziologischen Diskussion sind verschiedene Vorschläge erwogen worden, wie das Phänomen der Bildungsexpansion – und genau darum handelt es sich beim Ausbau der nachobligatorischen Bildung – erklärt werden könnte. Der scheinbar nächstliegende Ansatz argumentiert mit einer Veränderung und Zunahme der gesellschaftlichen Anforderungen, die es mit einem Ausbau der sekundären und tertiären Bildung zu bewältigen gibt. Man kann ihn als funktionalistischen Erklärungsansatz oder die funktionalistische Hypothese bezeichnen. Sie besagt, dass in der Gesellschaft des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts der Bedarf an Qualifikationen und Kompetenzen stetig und mit zunehmender Geschwindigkeit gestiegen ist, weshalb das Bildungswesen für die Bereitstellung dieser Qualifikationen und Kompetenzen sorgen musste, was insgesamt zu einer zunehmenden Verweildauer junger Menschen in schulischen Einrichtungen geführt hat.
Die Erklärung ist auf den ersten Blick bestechend. Denn es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass das moderne Leben immer mehr neue Anforderungen an die Menschen stellt, mit denen sie in früherer Zeit noch nicht konfrontiert gewesen waren. Man denke hier etwa an die technologische Entwicklung, die sie in ihrer beruflichen Tätigkeit, aber auch im Alltagsleben mit zunehmend komplexen Anforderungen konfrontiert. Oder an die Einrichtungen der Sozialversicherungen, deren Regelwerke seit ihrer Einführung gewiss nicht an Durchsichtigkeit gewonnen haben. Oder schliesslich an Vorlagen eidgenössischer und kantonaler Abstimmungen, die zu verstehen Kopfzerbrechen bereiten kann.
Die funktionalistische Hypothese ist somit sicherlich recht einleuchtend, wenn man sich die zunehmende Differenzierung, Komplexität, Technisierung und Verwissenschaftlichung vieler Lebensbereiche vor Augen führt. Die These, dass es einen wachsenden Qualifikationsbedarf gibt, ist daher kaum von der Hand zu weisen. Es gibt jedoch auch gewichtige Einwände, besonders gegen die implizite Annahme, dass das Bildungswesen auch tatsächlich auf den sich ändernden Bedarf an Kompetenzen reagiert. Denn das würde ja bedeuten, dass es sich nicht nur quantitativ ausweitet, sondern auch laufend danach fragt, welche neuen Kompetenzen zu vermitteln sind, und entsprechend Lehrpläne, Lehrmittel und Lehrerbildung rasch an die neuen Qualifikationsprofile anpasst.
Dass dies tatsächlich geschieht, darf zumindest angezweifelt werden. Zwar wird man der berufsfachlichen Bildung eine schnelle Anpassung an den sich ändernden Qualifikationsbedarf attestieren können. In allgemeinbildenden Schulen jedoch ist dies weit weniger der Fall. Denkt man etwa an die Gymnasien, so wird man für das 20. Jahrhundert kaum von einer raschen, laufenden Anpassung der Lehrpläne und Lehrmittel an die neuen Erfordernisse sprechen können. Es ist ja nicht so, dass die Verantwortlichen das Fach Latein über Bord geworfen hätten, um Raum für die Vermittlung von Qualifikation für die Staatsbürgerrolle oder im Bereich der Sozialversicherungen zu gewinnen. Und auch die Sekundarstufe I hat sich nicht so entwickelt, dass sie sich laufend an solche neuen Herausforderungen anpasste. Was in den Reformen dieser Stufe (zumindest in der Schweiz) vor allem thematisiert wurde, war zumeist etwas anderes: nämlich ihre innere Differenzierung in obere und untere Niveaus, in Schulen mit ‹Grundansprüchen›, die im Allgemeinen in eine Berufslehre münden, und Schulen mit ‹erweiterten Ansprüchen›, die zum akademischen Bildungsweg führen.
Mit dem Verweis auf die innere Differenzierung der sekundären Bildung gelangt ein zweiter Ansatz zur Erklärung der Bildungsexpansion ins Blickfeld. Man kann die ihm entsprechende Hypothese als Statuswettbewerb-Hypothese bezeichnen. Sie besagt, dass es die Konkurrenz zwischen den Individuen und Familien um die Erlangung privilegierter sozialer Positionen (beziehungsweise um die Vermeidung eines Verlusts solcher Positionen in der Generationenfolge) ist, welche die Bildungsexpansion antreibt.22 Zum Verständnis dieser Hypothese muss noch einmal auf die Ausführungen zu den Implikationen zurückgegriffen werden, die der Übergang zu einem dreistufigen Schulwesen nach den Vorstellungen von Gregor Girard hat. Wie dort gezeigt, ermöglicht es sozialen Aufstieg und Abstieg nach Massgabe schulischer Leistungen und erleichtert die Legitimation von Einfluss und Ansehen. Die meisten Menschen haben ein Interesse daran, einen sozialen Aufstieg zu erreichen oder doch einen Abstieg zu vermeiden. Wenn beides an das Erreichen bestimmter schulischer Zertifikate gebunden ist, haben sie auch ein Interesse daran, dass ihre Kinder über den elementaren Schulabschluss hinausgelangen, das heisst an mittlerer und höherer Bildung teilhaben können.23 Dieses gemeinsame Interesse erzeugt Druck auf den Staat, die weiterführende Bildung zumindest moderat auszubauen. Die verantwortlichen Behörden können diesen Druck nicht einfach ignorieren, wenn sie sich weiterhin der Unterstützung derjenigen gewiss sein wollen, die sie gewählt haben.
Ein dritter Ansatz zur Erklärung der Bildungsexpansion, die Institutionalisierungshypothese, soll im nachfolgenden Abschnitt im Zusammenhang mit der Institutionalisierung der Bildung im globalen Massstab diskutiert werden, das heisst im Zusammenhang mit einer Bildungsinstitution, die weltweit einen Grad an Selbstverständlichkeit erlangt hat, der einen Widerstand der verantwortlichen Behörden gegen einen weiteren Ausbau wenn nicht verunmöglicht, so doch erheblich erschwert.
2.4 Das Bildungswesen als globale Institution
Bis zur Zäsur des Zweiten Weltkriegs konnte man die Entwicklung der Bildung als ein Geschehen verstehen, das sich im Rahmen einzelner Nationalstaaten ereignete und auch durch die in den einzelnen Staaten gegebenen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu erklären war. In der Nachkriegszeit jedoch erhielt sie zunehmend eine globale Dimension. Dies lässt sich gut veranschaulichen, wenn man den Blickwinkel erweitert und sich die Entwicklung im Weltmassstab näher ansieht.
Da wäre zunächst einmal die Expansion der tertiären Bildung ins Auge zu fassen. Wie die Abbildung 2 auf Seite 34 zeigt, erfuhr diese weltweit ein exponentielles Wachstum. In wenig mehr als einem guten halben Jahrhundert nahm die Zahl der Studierenden auf dieser Stufe von etwa 4 auf rund 100 Millionen zu.
Abbildung 2: Entwicklung der Studierendenzahlen weltweit zwischen 1815 und 2000
Quelle: Schofer und Meyer 2005
Dass dies nicht einfach eine Folge der Bevölkerungsexplosion gewesen ist, belegt Abbildung 3. Sie zeigt, dass sich der Anteil der in tertiären Bildungseinrichtungen Eingeschriebenen an der Gesamtheit der jeweiligen Bevölkerung im selben Zeitraum von weniger als 0.5 Prozent auf 2–3.5 Prozent erhöht hat. Und das nicht einfach nur im hoch entwickelten Westen sondern, mit Ausnahme von Schwarzafrika, in allen Weltregionen.
Abbildung 3: Anteil Studierender an Gesamtbevölkerung (1900–2000), aufgeschlüsselt nach Weltregionen
Quelle: Schofer und Meyer 2005
Auch was den Stellenwert der Bildung in den Strukturen des Nationalstaats anbelangt, zeigt sich ein vergleichbares Bild (vgl. Abbildung 4 auf Seite 36). Verfügte 1945 etwa die Hälfte der damals als Nationalstaaten anerkannten Länder über ein eigenes Bildungsministerium und etwa ein Viertel über ein Bildungsgesetz, so gibt es im Jahr 2000 in über 90 Prozent der Staaten ein eigens für Bildung zuständiges Ministerium und in mehr als 80 Prozent eine Bildungsgesetzgebung. Die Förderung der Bildung als eine wichtige Staatsaufgabe hat sich somit weltweit praktisch flächendeckend durchgesetzt. Solche Quantensprünge lassen sich schwerlich aus den Bedingungen in den einzelnen Ländern heraus erklären. Vieles deutet darauf hin, dass da etwas geschehen ist, das nur verstanden werden kann, wenn man den Blick auf die Weltgesellschaft als Ganzes richtet.
Abbildung 4: Anteil Länder mit Bildungsministerium beziehungsweise Bildungsgesetzgebung (1800–2000)
Quelle: Kim 2006
Die Staatengemeinschaft hat am Ende des Zweiten Weltkrieges damit begonnen, diesen Blickwinkel systematisch einzunehmen. Dies erstmals mit grosser Deutlichkeit am 10. Dezember 1948 im Rahmen der Resolution 217 A (III), besser bekannt als Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Artikel 26 dieses Dokuments hält fest:
«1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zumindest der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermassen und entsprechend ihren Fähigkeiten offen stehen.
2. Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein. […]» (Vereinte Nationen 1948, S. 5 f.)
Man findet hier in hoher Verdichtung formuliert, was die europäische Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert in Bezug auf Bildung hinterlassen hat – im zweiten Absatz die grossen Hoffnungen, ja Erwartungen der Aufklärung bezüglich der positiven Auswirkungen von Bildungsprozessen; im ersten eine Umschreibung dessen, was sich in Europa während der vorangegangenen eineinhalb Jahrhunderte bezüglich des Zugangs zu Bildung schon mehr oder weniger eingebürgert hatte.
Selbstredend war der Artikel 26 der AEMR, wie andere Artikel auch, eine noch recht unverbindliche Absichtserklärung, an der sich die Staaten und namentlich die Vereinten Nationen orientieren konnten, deren Nichtbefolgung jedoch keine grösseren Folgen hatte. Es gab und gibt bis heute keine Weltregierung, welche diese Leitlinie mit Staatsgewalt durchsetzen könnte. Immerhin aber, und darin bestand das Neue, formulierte die AEMR so etwas wie eine Erwartung, welche die Weltgemeinschaft und nicht mehr bloss einzelne Länder oder Ländergruppen an die Staaten richteten, also gleichsam ein Signal, das von höherer Warte ausgesendet wurde. Das Signal beinhaltete in seiner Gesamtheit eine Vorstellung davon, was eine Nation zu tun hat, um von der Weltgemeinschaft als ‹anständiger›, legitimer Nationalstaat anerkannt zu werden. Darüber hinaus bot Artikel 26 der AEMR der Weltorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) Rahmenbedingungen, auf der sie ihre Tätigkeit entfalten konnte. Sie tat dies zunächst dadurch, dass sie die Bildungsentwicklung in den Mitgliedstaaten unterstützte sowie zwischenstaatliche Kontakte und Austausch förderte.
Es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis die Umsetzung des noch unverbindlichen Artikels 26 auf globaler Ebene ernsthaft in Angriff genommen wurde. 1990 verständigten sich die Regierungen eines Grossteils der UNESCO-Mitgliedländer anlässlich der World Conference on «Education for All» in Jomtien (Thailand) im Grundsatz darauf, ein Projekt «Bildung für Alle» in Angriff zu nehmen. Im Jahr 2000, also zehn Jahre später, machte man sich an die konkrete Umsetzung. Vertreter der nationalen Ministerien auf der einen Seite und Repräsentanten der grossen Kreditinstitute (Weltbank, Internationaler Währungsfonds) sowie mehrere Organisationen der UNO und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen auf der anderen trafen sich in Dakar (Senegal) zum World Forum on Education for All und arbeiteten eine Declaration on Education for All (EFA) aus. Dabei verständigte man sich auf eine Reihe recht präzis gefasster Ziele:
«Wir verpflichten uns hiermit gemeinsam, die folgenden Ziele zu erreichen:
•Vorschulbetreuung und -erziehung auszubauen und zu verbessern, besonders für die schwächsten und am meisten benachteiligten Kinder;
•dafür zu sorgen, dass bis 2015 alle Kinder – besonders Mädchen, Kinder in schwierigen Lebensumständen und ethnische Minoritäten – Zugang zu kostenloser, obligatorischer Primarschulbildung von guter Qualität haben und diese abschliessen können;
•sicherzustellen, dass den Lernbedürfnissen aller jungen und erwachsenen Personen durch den Zugang zu geeigneten Lernmöglichkeiten und ‹life skill›Programmen Rechnung getragen wird;
•bis 2015 die Alphabetisierungsrate der erwachsenen Bevölkerung, besonders der Frauen, um 50 Prozent zu verbessern und allen Erwachsenen Zugang zu Grund- und Weiterbildung zu bieten;
•Ungleichheiten zwischen Mädchen und Jungen bezüglich Primar- und Sekundarschulbildung bis 2005 auszumerzen und bis 2015 völlige Gleichstellung zu erreichen; dies mit speziellem Augenmerk auf den vollen und gleichberechtigten Zugang von Mädchen zu einer Grundbildung von guter Qualität;
•Bildungsqualität in allen Aspekten zu verbessern und dabei einen hohen Standard (excellence) zu erreichen, sodass anerkannte und messbare Resultate, besonders bezüglich literacy, numeracy und life skills, von allen erreicht werden.» (UNESCO, 2000; Übers. M.R)
Die Erklärung enthält also nicht nur Aussagen darüber, welche inhaltlichen Ziele erreicht werden sollen; sie macht auch recht präzise Angaben darüber, in welchem Zeitraum dies ganz oder bis zu einem bestimmten Grad der Fall sein soll.
Es sind sehr ambitiöse Ziele, die da anvisiert werden, und ihre fristgerechte Umsetzung erscheint zumindest als fraglich. Dennoch ist das Abkommen auch in Bezug auf die Umsetzung solcher Projekte wegweisend:
Bemerkenswert ist zunächst, dass es sich nicht einfach um eine Vereinbarung zwischen nationalen Regierungen und Ministerien handelt, sondern auch die möglichen Geldgeber eingebunden werden. Man verpflichtet sich auf beiden Seiten: die Regierungen zur Durchführung einer Bildungspolitik, die in Richtung der gesteckten Ziele weist, die Kreditinstitute zur finanziellen Unterstützung einer solchen Politik.
Interessant ist weiterhin der Versuch, die Nachhaltigkeit des Abkommens mithilfe moderner Managementinstrumente zu unterstützen. Mit der Benennung von Fristen («bis 2015») werden gleichsam Benchmarks gesetzt. Und der Grad der Zielerreichung wird nicht erst am Ende der vereinbarten Periode evaluiert, sondern im Sinne eines permanenten Monitorings zu erfassen versucht. Eine eigene Abteilung bei der UNESCO in Paris trägt quantitative und qualitative Informationen aus den einzelnen Ländern zusammen und verarbeitet sie zu umfangreichen Berichten, die sich nicht nur an eine kleine Zahl von Spezialisten richten, sondern relativ breit gestreut werden. Ein erster dieser Berichte wurde bereits 2002, also gerade einmal zwei Jahre nach dem Abschluss des Abkommens, unter dem Titel Education for All. Is the World on Track? (Unesco 2002) veröffentlicht. Die breite Streuung dieser Berichte hat auch zur Folge, dass eine breitere Öffentlichkeit davon Kenntnis erhält, welche Länder sich in Richtung der im Abkommen definierten Ziele bewegen und welche nicht; oder direkter formuliert, welche Regierungen tatsächlich eine damit zu vereinbarende Politik verfolgen oder die Verpflichtung, die sie eingegangen sind, vernachlässigen. Die Vertragspartner des EFA-Abkommens stehen somit unter Beobachtung und sehen sich einem Erwartungsdruck ausgesetzt, ihren Verpflichtungen auch tatsächlich nachzukommen. Dass dies in Wirklichkeit nicht überall geschehen ist und die gesteckten Ziele nur zum Teil erreicht sein werden, geht aus einer Skizze für den Monitoring-Bericht für 2015 hervor, der zahlreiche Fortschritte, aber auch erhebliche Defizite in Bezug auf alle sechs Ziele ausweisen wird (UNESCO 2014). In Reaktion darauf hat UNESCO denn auch der 37. Generalversammlung eine Agenda für die Zeit ab 2015 präsentiert (UNESCO 2015).
Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die eben geschilderten Vorgänge zwar zu einer globalen Institutionalisierung schulischer Bildung als solcher führen, dass aber die konkrete Ausgestaltung des Schulwesens der Länder völlig unterschiedlich aussieht, auch weil die Schule je nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Situation der Länder ganz anderen Zwecken und Bedürfnissen dienen muss. In der Tat lassen sich zwischen den Ländern zahlreiche Unterschiede beobachten. Diese beruhen jedoch oft weniger auf der gegenwärtigen Situation, sondern wurzeln eher in einer je besonderen Entwicklungsgeschichte, die den weiteren Entwicklungsverlauf geprägt und kanalisiert hat. Zu beobachten ist aber auch eine erstaunliche Ähnlichkeit der Art und Weise, wie das Bildungswesen organisiert ist, also etwa in der Art der Unterteilung in Schulstufen und der Anzahl Jahre, die für das Absolvieren einer dieser Stufen vorgesehen sind.
Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist gerade auch ein Vergleich der Bildungsziele und -inhalte. Denn gerade in ihnen, so sollte man erwarten, müssten sich die je spezifischen nationalen Bedürfnisse in besonders ausgeprägtem Masse äussern. Entgegen dieser Erwartung weisen jedoch die formalen Curricula, also die Aufteilung dieser Inhalte in Schulfächer, eine erstaunliche und über das 20. Jahrhundert hinweg zunehmende Ähnlichkeit auf, wie eine 1992 erschienene Studie (Meyer et al. 1992) und eine Reihe von Nachfolgeuntersuchungen haben zeigen können.24
In der Studie wurden zwei Gruppen von Ländern untersucht und je über zwei Perioden in Bezug auf den Fächerkanon der Primarschule verglichen (Abbildung 5). Die erste, «Panel A», umfasste insgesamt 48 Länder, für die Angaben zur Periode 1920–1944 und 1945–1969 einigermassen vollständig ermittelt werden konnten. Für eine zweite, grössere Gruppe, «Panel B», konnten Daten von mindestens 75, im besten Fall gar 82 Ländern ebenfalls zur Periode 1945– 1969 und ausserdem auch für 1970–1986 ermittelt werden. Die Tabelle auf Seite 40 zeigt jeweils für beide Zeitabschnitte, in welchem Masse (ausgedrückt in Prozent der in den Vergleich einbezogenen Länder) die links erwähnten Fächer beziehungsweise Fächergruppen im Lehrplan aufgeführt waren. Die Ergebnisse für Panel A zeigen einerseits eine Zunahme des Anteils bei Naturwissenschaften, ästhetischer Bildung und Sport, anderseits eine Abnahme für Religion/Moralerziehung, Gesundheitserziehung und praktisch/berufsbildende Fächer. Anders bei Panel B: Mit Ausnahme der praktisch/berufsbildenden Inhalte nimmt die Übereinstimmung zu oder bleibt der Anteil einigermassen konstant. Insgesamt ist die Situation ab den 1970er-Jahren dadurch gekennzeichnet, dass alle Länder Sprache und Mathematik (dies schon im früheren 20. Jahrhundert) sowie Naturwissenschaften und Social Studies (Gesellschaftskunde und Geschichte) als eigene Fächer in ihren Lehrplänen aufführen. Auf einen fast ebenso hohen Wert bringen es ästhetische Bildung und Sport.
Abbildung 5: Anteil Länder, in deren Lehrpläne bestimmte Fächer(-gruppen) explizit genannt sind
Quelle: Meyer et al. 1992
Bis zum späteren 20. Jahrhundert hat sich somit weltweit ein recht einheitlicher Fächerkanon herausgebildet. Mehr noch: Wie hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann, ist es über die Länder hinweg auch zu einer Angleichung in Bezug auf die Stundendotation der einzelnen Fächer gekommen. Und wie eine spätere Untersuchung (Benavot 2002b) belegt, hat diese Angleichungstendenz bis zur Jahrtausendwende weiter angehalten. Selbstverständlich würde man grosse Unterschiede finden, würde man die einzelnen Inhalte und Themen vergleichen, die in den jeweiligen Fächern behandelt werden. Der Sprachunterricht in Mozambique wird sich zweifellos ganz erheblich von dem in Kanada unterscheiden. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass die Bildungseinrichtungen wenigstens in den äusserlichen Formen weltweit eine nicht geringe Ähnlichkeit aufweisen, dass sie sich auf dieser Ebene also recht gleichförmig präsentieren.
Man mag sich fragen, wie es dazu gekommen ist, dass sich eine bestimmte, ursprünglich in den Ländern des Westens entwickelte Form der Institutionalisierung von Bildung in verhältnismässig kurzer Zeit weltweit zu etablieren vermochte. Auf den ersten Blick widerspricht dies dem, was man intuitiv annehmen würde und was Durkheim auch klar formuliert hatte: dass nämlich die Art und Weise, wie Bildung in einer Gesellschaft organisiert ist, eng mit der jeweiligen Gesellschaftsstruktur zusammenhängt. Und unter dieser Voraussetzung müsste man bezüglich des Bildungswesens grosse Unterschiede beispielsweise zwischen noch stark agrarisch geprägten Gesellschaften und modernen «Wissensgesellschaften» erwarten.
Ein Schlüssel zum Verständnis dürfte in den Erwartungen zu suchen sein, die an die Wirkungen von Bildung geknüpft werden. Da sind zunächst die Erwartungen bezüglich dessen, was schulische Bildungsprozesse bei Schülerinnen und Schülern bewirken. Wir gehen in der Regel ganz selbstverständlich davon aus, dass diese sich Dinge aneignen, die sie sich ohne den Schulbesuch nicht erwerben würden – Kompetenzen kognitiver Art natürlich, aber auch Wertorientierungen, soziale Normen und Verhaltensmuster, ja eine generelle Bereitschaft zum lebenslangen Weiterlernen.
Die so erworbenen Grundlagen, so lässt sich der Faden weiterspinnen, befähigen sie dazu, sich im späteren Erwachsenenleben – als Arbeitskräfte, Bürger und Bürgerinnen, Eltern oder Konsumenten und Konsumentinnen – adäquat zu verhalten, kompetent und verantwortungsbewusst zu handeln, konstruktive Beiträge in Gesellschaft und Staat zu leisten. Wir nehmen also in aller Selbstverständlichkeit an, dass all das, was in Bildungseinrichtungen erworben wird, nachhaltig ist und auch nach längerer Zeit positive Wirkungen zeigt.
In dieser Betrachtungsweise erscheint es einleuchtend, dass das Handeln schulisch gebildeter Erwachsener in seiner Summe dazu führt, dass es der Gesellschaft gut geht; dass sie in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht gedeiht und sich weiter entwickelt; dass die Demokratie funktioniert; dass Gesellschaften in der Lage sind, Probleme wie Hunger, Säuglingssterblichkeit, Gewalt, Aids und Umweltprobleme besser in den Griff zu bekommen. Was die westliche Welt betrifft, sorgen mächtige Organisationen wie die OECD und die EU dafür, dass die Wahrnehmung der Bildung als eines über Wettbewerbsfähigkeit entscheidenden Faktors aufrechterhalten bleibt. Und in dem Masse, wie Bildung zu all dem in der Lage ist beziehungsweise zu sein scheint – und hier schliesst sich der Kreis –, erarbeitet sich die Gesellschaft auch die materiellen und kulturellen Mittel, das Bildungswesen noch weiter zu entwickeln, es auszuweiten und qualitativ zu verbessern.
Aaron Benavot hat diesen Kreislauf schematisch festgehalten (Abbildung 6), dabei aber auch auf die Brüchigkeit der Überlegungskette hingewiesen, insbesondere auf den Umstand, dass sie zwar sehr plausibel und überzeugend klingt, die angenommenen positiven Zusammenhänge jedoch kaum wirklich nachgewiesen sind (Benavot 2002a). Wenn seine Einwände im Folgenden kurz dargestellt werden, kann es nicht darum gehen, die positiven Effekte schulischer Bildung geradewegs infrage zu stellen: Dass sich Kinder in der Schule viel Wissen aneignen, wird kaum jemand bezweifeln wollen; ebenso wenig dass sie von ihren Lehrerinnen und Lehrern mit Werten, Normen und Haltungen vertraut gemacht werden. Dass wir Dinge, die wir uns in der Schule angeeignet haben, im späteren gesellschaftlichen Leben nutzbringend anwenden können, entspricht einer alltäglichen Erfahrung. (Ob die Kenntnis der Zahl der Saturnmonde dazu gehört, ist eine andere Frage.) Zudem lässt sich nicht bestreiten, dass eine moderne, komplexe Gesellschaft auf gut ausgebildete Fachkräfte und urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist.
Abbildung 6: Institutionalisierte Modellvorstellung bezüglich des Zusammenhangs von Bildung, Individuum und Gesellschaft
Quelle: Benavot 2002a
Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass ein präziser Nachweis der im Schema vermerkten (nur) positiven Zusammenhänge kaum geleistet ist und auch schwer zu erbringen wäre. Die Probleme beginnen bereits bei den vermuteten positiven Wirkungen eines ausgebauten Schulwesens. Mit Leistungsmessungen im Zusammenhang von TIMSS, PISA und anderen Studien lässt sich bestenfalls ein Teil der erworbenen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler erfassen. Wirkungen im Sinne des Aufbaus von Werthaltungen und die Übernahme von Normen sind schon viel schwieriger nachzuweisen. Und auch in Bezug auf die kognitiven Kompetenzen ist noch kaum geklärt, welches genau, neben schulexternen Faktoren, der Anteil der Schule an deren Erwerb ist und welche Aspekte schulischer Kompetenzvermittlung ihre Aneignung tatsächlich begünstigen.
Der Nachweis eines positiven Zusammenhangs zwischen den erworbenen Kompetenzen und deren Auswirkungen auf das Handeln von Erwachsenen stellt sodann die Wissenschaft vor enorme methodische Probleme. Gross angelegte, sich über lange Jahre hinweg erstreckende Langzeitstudien wären erforderlich, die ausserdem eine grosse Zahl von nicht-schulischen Faktoren kontrollieren müssten, um den spezifisch schulischen Beitrag nachzuweisen.
Und dass sich das – nach Annahme durch die Schule ermöglichte – vernünftige Handeln erwachsener Menschen so ohne Weiteres in gesellschaftlichen Fortschritt ummünzen lässt, ist zumindest fraglich. Denn was individuell vernünftig sein mag, kann bekanntlich aus gesellschaftlicher Sicht durchaus auch schädlich sein. So mag es für gut ausgebildete Menschen in Entwicklungsländern ein rationaler Entscheid sein, nach Europa oder in die USA auszuwandern, wo ihre Kompetenzen nicht nur nachgefragt, sondern auch gut bezahlt sind. Für die betreffenden Entwicklungsländer aber resultiert aus der Abwanderung, dem sogenannten brain drain, klar ein gesellschaftlicher Schaden.
Aber trotz ihrer zahlreichen Lücken ist die oben skizzierte Überlegungskette heute weit verbreitet; nicht als eine wissenschaftliche Erkenntnis allerdings, sondern als Bündel von Überzeugungen. Man findet sie in linken politischen Kreisen ebenso wie in rechten, unter Arbeitgebern wie auch in den Gewerkschaften – und eben bei Menschen in reichen, hoch entwickelten Gesellschaften nicht anders als in armen Entwicklungsländern. Bildung als Einrichtung, die sowohl individuellen als auch kollektiven Nutzen bringt, geniesst in allen Teilen der Welt grosses Vertrauen.
Und nicht nur das: Diese gemeinsame Überzeugung leitet auch das Handeln der Menschen rund um die Erde an, nicht zuletzt das Handeln derer – Regierungen und Ministerialbeamten, Internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, Weltbank und Währungsfonds –, die über den Auf- und Ausbau der Bildung entscheiden. Für sie hat das Bündel von Überzeugungen auch einen Aufforderungscharakter. Man erwartet von ihnen, dass sie das so positiv konnotierte Gut ‹Bildung› in ausreichendem Mass und von guter Qualität bereitstellen. Und in der Tat halten sie sich zumindest rhetorisch weltweit an dieses Handlungsskript.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen soll noch einmal auf die im vorangehenden Abschnitt erörterte Frage nach den Erklärungen für die Bildungsexpansion Bezug genommen werden: Dort wurde die funktionalistische und die Statuswettbewerb-Hypothese erörtert und in Aussicht gestellt, eine weitere, die Institutionalisierungshypothese, in Betracht ziehen zu wollen.
Gemäss dieser dritten Institutionalisierungshypothese lässt sich die Bildungsexpansion darauf zurückführen, dass der Wert von Bildung für die individuelle Entwicklung wie auch für den gesellschaftlichen Fortschritt ganz einfach zu einer immer breiter anerkannten Selbstverständlichkeit geworden ist. Wie sich gezeigt hat, gilt dies längst nicht mehr nur für die elementare, sondern auch für weiterführende Bildung. Die Menschen sind überzeugt, ein generelles Anrecht auf (weiterführende) Bildung zu haben, und die in den Regierungen und Ministerien Verantwortlichen gehen recht übereinstimmend davon aus, dass der Ausbau der Bildung dem gesellschaftlichen Ganzen dient. Eigentlich Grund genug für die Schweizer Bildungsverantwortlichen, für 95 Prozent der kommenden Schüler- und Schülerinnengenerationen zumindest einen sekundären Schulabschluss anzustreben und das tertiäre Bildungswesen auszubauen.
3Institution als soziologischer Begriff
Die in diesem Kapitel verfolgte Absicht war und ist es, die Vorstellung von Bildung als einer sozialen Institution zu erläutern. Insofern es sich beim Institutionsbegriff zwar um eines der zentralen Konzepte der Gesellschaftswissenschaften handelt, dieses jedoch vielschichtig und kaum präzise definiert ist, wurde in den vorangehenden Abschnitten der Versuch unternommen, das Konzept der sozialen Institution im Allgemeinen und der Institution Bildung im Besonderen gleichsam aus verschiedenen Perspektiven einzukreisen. Im vorliegenden Schlussabschnitt soll es nun noch darum noch gehen, die dabei zu Tage geförderten Facetten zu bündeln, um so zu einer etwas abstrakteren Begriffsbestimmung zu gelangen.
Die theoretisch angelegten einleitenden Abschnitte sollten verdeutlichen, dass sich Institutionen nicht nur aus zwei entgegengesetzten Blickwinkeln – einmal im Mikrokosmos einzelner handelnder Menschen, sodann aber auch in einer Makroperspektive mit Blick auf ganze Gesellschaften – betrachten lassen, sondern dass sie auch nicht auf eine bestimmte Grössenordnung festgelegt sind. Während Berger und Luckmann das Konzept aus dyadischen und triadischen Interaktionsbeziehungen herleiten, die sich über die Generationen hinweg verfestigen können, stellt Durkheim den Zusammenhang zu ganzen Gesellschaften her. Er thematisiert Bildung als bereits bestehenden, wenngleich sich weiter entwickelnden gesellschaftlichen Teilbereich.
Übereinstimmend ist jedoch der implizite (Berger und Luckmann) oder explizite (Durkheim) Hinweis darauf, dass sich Institutionen letztlich nur dann angemessen erfassen lassen, wenn man sie auch im zeitlichen Verlauf untersucht. Dabei setzen Berger und Luckmann beim ersten Beginn der Entstehung von Institutionen in konkreten Handlungszusammenhängen an. Damit gelangen sie zu einem Begriff von Institutionalisierung als sozialem Prozess. Durkheim seinerseits setzt gleichsam bei einem (immer vorläufigen) Endzustand an, fordert jedoch eine historische Rekonstruktion.
Ebenso gemeinsam, wenn auch von Durkheim weniger herausgestellt, ist der Hinweis, dass es sich bei Institutionen nicht um tote Strukturen handelt, sondern dass sie notwendigerweise als Sinnstrukturen zu betrachten sind, ihre Grundlage somit stets in der kulturellen, symbolischen Sphäre zu suchen ist. Handeln in sozialen Kontexten setzt voraus, dass die Handelnden ihren Aktionen wechselseitig einen gemeinsamen Sinn zurechnen.
Ronald L. Jepperson hat in einem Aufsatz die Elemente zusammengetragen, die sich bei der Verwendung des Institutionsbegriffs in soziologischen Studien immer wieder finden lassen (Jepperson 1991). Er schlägt vor, Institutionen als «patterns», als «Muster von aufeinander bezogenen Handlungssequenzen», also von Interaktionen zu verstehen. Damit nimmt er einen Gedanken auf, den wir bei Berger und Luckmann in etwas anderer Formulierung angetroffen haben. Ein solches Muster hat den Charakter eines «Drehbuches» oder eines «Skripts», also einer Art Spielvorlage, die den beteiligten Mitspielern bestimmte Rollen in dem gemeinsamen Spiel zuweist. Das gesellschaftliche Leben ist durchdrungen von solchen Skripts und wir sind es gewohnt, uns laufend nach «Drehbuch» zu verhalten: Ob wir zu Weihnachten Geschenke kaufen, in der Strassenbahn aufstehen, um einer behinderten Person Platz zu machen, oder ob wir im Unterricht die Hand erheben, wenn wir uns zu Wort melden möchten – stets verhalten wir uns gemäss den Erwartungen, die mit solchen Skripts verbunden sind.
Die «Muster von aufeinander bezogenen Handlungssequenzen» lassen sich durch eine Reihe von Merkmalen näher charakterisieren.
Soziale Konstruiertheit: Solche Muster entstehen ursprünglich im alltäglichen sozialen Austausch dadurch, dass Individuen ihren aufeinander bezogenen Handlungen einen gemeinsamen Sinn zuschreiben.
Verdinglichung: Einmal konstruierte Muster haben die Tendenz, sich als Folge ihrer Wiederholung zu verfestigen, zunächst zu Routinen und schliesslich zu Konventionen zu werden, die den Menschen gleichsam als unumstössliche gesellschaftliche Tatsachen entgegentreten. Aus «so machen wir das» wird, wie bereits erwähnt, «so macht man das». Je mehr dies der Fall ist, desto eher werden sie auch von Menschen übernommen, die damit ursprünglich gar nichts zu tun hatten. Man denke an die Junglehrerin, die neu zum Kollegium stösst. Sie wird recht bald begreifen, welcher ‹Tarif› im Schulhaus und Lehrerzimmer gilt. Und sie wird die betreffenden, ungeschriebenen Regeln und Gesetze – vielleicht nach anfänglichem Widerstand – recht bald in ihrem eigenen Handeln berücksichtigen.
Stabilität: Die erwähnte Verfestigung verleiht institutionalisierten Handlungssequenzen mit der Zeit ein erhebliches Mass an Stabilität und aus der Sicht der handelnden Menschen auch Erwartbarkeit. Wer mit dem Skript vertraut ist, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sich die «Mitspieler» ihrerseits in einer ganz bestimmten Art und Weise verhalten.
Regelhaftigkeit: Metaphern wie ‹Drehbuch› oder ‹Skript› lassen einen zunächst an Spielvorlagen denken, denen man folgen kann. In dem Masse, wie sie sich verfestigen und verdinglichen, nehmen sie jedoch zunehmend einen normativen Charakter an. Sie transformieren sich in Regeln, die man befolgen muss. Sie mutieren zu Verpflichtungen. Die ‹Mitspieler› sind gehalten, diese zu respektieren. Sie tun dies in der Regel auch, und je länger sie sich regelkonform verhalten, desto weniger fragen sie noch nach deren Sinn.
Selbstverständlichkeit: Institutionalisierte Interaktionsmuster werden für die Beteiligten also zunehmend zu Selbstverständlichkeiten, über die man nicht nachzudenken braucht und derer man sich oft gar nicht mehr bewusst ist. Man braucht beispielsweise nicht mehr darüber nachzudenken, ob man seine Kinder ab dem sechsten beziehungsweise siebten Lebensjahr zur Schule schicken soll. Man tut es einfach.
Universalität: Im alltagssprachlichen Gebrauch verbindet man den Begriff der Institution gerne mit relativ grossen und komplexen gesellschaftlichen Einrichtungen. Man denkt an Dinge wie die AHV, die Armee, die Landeskirche oder das Gesundheitswesen. Wie gezeigt, lässt er sich jedoch auch im Zusammenhang kleiner Gruppen, etwa einer Familie oder Wohngemeinschaft, verwenden. Und wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt, lassen sich auch auf Weltebene, in der Interaktion von Nationalstaaten, Prozesse beobachten, die als Institutionalisierungen aufzufassen sind.
Bis in Bezug auf Schule und Bildung von Institutionen gesprochen wurde, bedurfte es allerdings einer Entwicklung, die sich über Jahrhunderte hinzog. Sie wurde im zweiten Hauptabschnitt in groben Zügen zu skizziert. Dabei sollte zum einen deutlich geworden sein, dass sich die historisch-konkrete Bildungsinstitution in ihren Strukturen und Prozessen nur dann angemessen beschreiben und verstehen lässt, wenn man sie in ihrer Beziehung zum weiteren gesellschaftlichen Umfeld sieht und die Wechselwirkungen zwischen dem Schulwesen und allen anderen sozialen Institutionen, «toutes les autres institutions sociales» in Durkheims Worten, mitberücksichtigt.25 Bei aller Kontinuität bestimmter Formen gesellschaftlich organisierter Bildung, wie zum Beispiel der räumlichen und zeitlichen Anordnung der Wissensvermittlung, kann institutionalisierte Bildung in einer liberalen Gesellschaftsordnung nicht gleich angeordnet sein wie in der ständischen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. Die oft zitierte «Selektionsfunktion» der Schule etwa ergibt nur in einer Gesellschaft einen Sinn, in der die gesellschaftliche Stellung der Menschen nicht bereits mehr oder weniger unverrückbar festgelegt ist.
Ein zweiter zentraler Befund, der sich aus dem historischen Rückblick ergibt, betrifft die Frage, welche Elemente es denn eigentlich sind, die komplexen gesellschaftlichen Gebilden wie eben etwa dem Schulwesen über längere Zeiträume hinweg eine gewisse Stabilität verleihen. In der Darstellung von Berger und Luckmann beruht sie darauf, dass ein ursprünglich auf unmittelbarer Erfahrung beruhendes Wissen darüber, wie ‹man› bestimmte Dinge tut, sich auf einer zweiten, sprachlichen Ebene gleichsam verdoppelt und damit an Menschen vermittelt werden kann, die über den unmittelbaren Erfahrungsbezug nicht oder noch nicht verfügen. In dieser Form kann es auch an eine nächste Generation weitergegeben werden, sofern die Gesellschaft über eine entsprechende Einrichtung, beispielsweise ein Schulwesen, verfügt. In dieser Form hat Wissen für die Nachgeborenen die Autorität von etwas nicht Hinterfragbarem und kann dadurch gewährleisten, dass einmal typisierte Handlungsverläufe sich über die Zeit hinweg nur langsam verändern. Demgegenüber beruht die Stabilität der Bildungsinstitution in der Makroperspektive, aus der Durkheim argumentiert, auf ihrer engen Verschränkung mit «allen anderen Institutionen der Gesellschaft». Erst wenn das dichte Geflecht von Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten ins Wanken kommt, so kann man interpretieren, kommt es zu einem Wandel auch des Bildungswesens.
Eine dritte Erklärung hat der amerikanische Soziologe Richard Scott vorgeschlagen. Auf der Grundlage einer breit angelegten Sichtung der Forschungsliteratur hat er drei Komponenten herausgearbeitet, die in theoretischen und empirischen Studien in unterschiedlicher Gewichtung immer wieder thematisiert werden, wenn es um Institution, Institutionalisierung und institutionellen Wandel geht. Er bezeichnet sie als «Pfeiler» (pillars), welche Institutionen tragen beziehungsweise stützen (Abbildung 7, Seite 46).
Abbildung 7: Stützen sozialer Institutionen
Quelle: nach Scott 2001
•Der regulative pillar verweist auf formelle, politisch abgesicherte und juristisch kodifizierte Regelungen wie Gesetze und Verordnungen, im Falle von Organisationen auch etwa Statuten oder Betriebsordnungen. Sie formulieren explizite Verhaltensvorschriften, deren Verletzung mit entsprechenden, beispielsweise strafrechtlich festgelegten, Sanktionen geahndet werden kann.
•Der normative pillar hat ebenfalls mit den Erwartungen zu tun, die sich auf das Verhalten der Menschen im gesellschaftlichen Feld beziehen. Allerdings ist es hier nun nicht ein formalisierter Codex expliziter Regeln, sondern eine Art Übereinkunft der Gesellschaftsmitglieder bezüglich eines «angemessenen» Handelns, die den Individuen im Sinne von Verhaltensregeln gegenübertritt. Bei Nichtbeachtung drohen keine formellen Verfahren, die zu Strafen führen können, wohl aber Reaktionen, die von milden Formen wie Zeichen der Missbilligung über Zurechtweisungen bis hin zu gesellschaftlicher Ächtung und Ausschluss führen können.
•Der cultural-cognitive pillar schliesslich wirkt nicht nur nicht durch formalisierte Prozesse, sondern oft nicht einmal auf einer bewussten Ebene. Hier geht es um kulturell angelegte und von den Einzelnen internalisierte Überzeugungen und Orientierungen, die manches, was sich im sozialen Raum abspielt, schlicht als selbstverständlich, nicht anders denkbar oder, wie es im angelsächsischen Raum formuliert wird, als taken for granted erscheinen lässt.
Selbstverständlich stehen diese drei Pfeiler nicht völlig selbstständig und unverbunden nebeneinander. In der sozialen Wirklichkeit gehen die drei Aspekte ineinander über, verbinden sie sich gar. Es ist erst die analytische Perspektive von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die eine der Komponenten besonders ins Zentrum rückt. Das Modell ist indessen durchaus hilfreich, wenn man die Institutionalisierung gesellschaftlicher Verhaltensweisen im historischen Verlauf beschreiben will. Der Verhaltenstyp ‹Schulbesuch› zum Beispiel wird, wie wir gesehen haben, im 17. Jahrhundert zunächst über Gesetze und Erlasse durchzusetzen gesucht, die in weiten Kreisen der Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert hinein normativ oder gar kulturell-kognitiv nur begrenzt abgestützt waren. Erst im 20. Jahrhundert wird der Schulbesuch zur nicht mehr weiter zu hinterfragenden Selbstverständlichkeit.
Man kann sich auch im zeitlichen Querschnitt überlegen, inwieweit die drei Pfeiler eine Institution stützen. In Bezug auf die globale Bildungsinstitution beispielsweise lässt sich im Sinne der Institutionalisierungshypothese argumentieren, dass sie insbesondere auf einem weltweiten kulturell-kognitiven Konsens bezüglich der positiven Wirkungen von Bildung beruhen. Wie sich gezeigt hat, wird dieser normativ etwa dadurch abgestützt, dass sich internationale Organisationen darum bemühen, entsprechende Verhaltenserwartungen an die Nationalstaaten salonfähig zu machen. Und mit dem Dakar-Abkommen ist neu auch etwas hinzugekommen, das bereits ein Stück weit regulativen Charakter hat. Es gibt zwar keine Weltregierung, die das Wohlverhalten der Länder erzwingen könnte, wohl aber ein Vertragswerk, das auch juristisch interpretiert werden kann. Es gibt zwar keinen kodifizierten Katalog von Sanktionen, aber doch immerhin Mechanismen wie zum Beispiel den EFA-Monitoringprozess, der die Möglichkeit von Sanktionen zumindest symbolisch anzudeuten vermag.
Vergleichbare Überlegungen könnte man beispielsweise auch in Bezug auf Entwicklungen im schweizerischen Schulwesen anstellen. Aus historischen Gründen erfolgte hier die Institutionalisierung bekanntlich im kantonalen Rahmen, während sie im nationalen Rahmen über viele Jahrzehnte hinweg schwach geblieben ist. Das HarmoS-Konkordat scheint hier eine gewisse Wende eingeleitet zu haben. Zwar handelt es sich dabei, ähnlich wie beim Dakar-Abkommen, um eine Art Staatsvertrag zwischen den Kantonen, die ja in Bezug auf Schule und Bildung souverän sind, mit dem Beitritt sind jedoch Verpflichtungen verbunden, die eine verstärkte Institutionalisierung auf nationaler Ebene stützen können. Und wenngleich die Schweiz derzeit noch nicht über ein eigentliches Bildungsministerium in der Bundeshauptstadt verfügt,26 bietet der 2006 gutgeheissene Bildungsrahmenartikel27 eine erste Plattform zur weiteren Stabilisierung einer nationalen Bildungsinstitution.
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