Читать книгу Fürstenkinder 8 – Adelsroman - Regine König - Страница 3

Оглавление

»Ein Unfall? Autozusammenstoß? Wie bitte?«

Angela fuhr sich über die Augen; sie war noch ganz verschlafen.

Weshalb läutete das Telefon auch nur immerzu in der Nacht! Es war, als würden gerade nach Mitternacht die Telefone ringsum ausgerechnet Dr. Kilian bemühen, ihn, der nun auch schon nicht mehr der Jüngste war, aus dem Schlaf herausläuten.

Dr. Wilhelm Kilian hatte eine Landpraxis, war aber gleichzeitig Unfallarzt auf der Strecke der großen Bundesstraße, die zur Landeshauptstadt führte.

Man sollte Papa auch mal schlafen lassen! durchfuhr es Angela, die nur mit einem kurzen Morgenrock bekleidet vor dem Apparat stand.

»Sicher wieder Betrunkene«, murmelte sie, »und da soll mein Vater…«

Weiter kam sie nicht mit ihrer moralischen Standpauke, die einem unsichtbaren Zuhörer galt.

Da schon stand der Vater hinter ihr.

»Unfall!« erklärte Angela nur, während sie den Hörer dem Vater weiterreichte. »Denen solltest du mal sagen…«

Dr. Wilhelm Kilian aber sprach kaum etwas in den Apparat, sagte nur ein paarmal »jaja«, und »hmhm«, und endlich: »Ich komme sofort.«

»An dich denkt auch keiner, Paps!« Angela sah in das übermüdete Gesicht des Vaters.

»Wir sollten in die Stadt ziehen!« hatte Angela einmal gesagt, kurz nach Mutters Tod vor fünf Jahren. »Da hast du es einfacher, Paps!«

Sie war damals schon die große, verständige Tochter. Dr. Kilian aber hatte den Kopf geschüttelt, nur ganz einfach gesagt: »Wo kämen wir hin, wenn wir uns alle die leichteste Arbeit suchten. Und auf den Dörfern braucht man Ärzte, gerade uns ältere. Jüngere wollen eben tatsächlich nicht mehr aufs Land ziehen. Und ist es nicht eigentlich auch sehr hübsch hier bei uns in unserer kleinen Kreisstadt?«

Wie heimelig diese kleine Kreisstadt selbst mitten in der Nacht war, spürte Angela, als sie die Freitreppe des alten Arzthauses auf dem Markt hinabging, um den Wagen aus der Garage zu holen.

Das volle Mondlicht traf das Doktorhaus, in dem schon seit Generationen Ärzte wohnten, und warf auch einen Schein auf die gegenüberliegende Apotheke, über deren Tür ein goldener Elefant würdig thronte.

Und mitten auf dem Platz strahlte das vergoldete kleine Holzweiblein, das Wahrzeichen der kleinen norddeutschen Stadt. Das Wasser des Brunnens darunter plätscherte leise und glucksend.

Ein schrecklicher Brunnen übrigens!

Angela lachte, während sie jetzt langsam und sicher den Wagen bereits aus der Garage neben dem Doktorhaus herausfuhr.

Wie viele Generationen von Schulkindern hatten schon Aufsätze über ihn schreiben müssen!

»He, du…!«

In diesem Augenblick öffnete sich im weißen, breit im Mondlicht dahingelagerten Doktorhaus ein Fenster im obersten Stockwerk. Ein Jungengesicht schaute heraus.

»Du, he, Schöpfle, darfst du jetzt noch Auto fahren?«

Angela hatte den Wagen gerade verlassen, um des Vaters Tasche zu holen. Seit kurzem war sie seine Helferin.

Das war ein gelernter Beruf, vor dem sehr viele im Ort richtig Respekt hatten.

»Nun schrei doch nur nicht diesen blöden Namen mitten in der Nacht durch die ganze Stadt!«

Angela hob empört die Augen zu dem Bruder, der sich jetzt noch weiter aus dem Fenster beugte. Im Mondlicht leuchtete des zwölfjährigen Till borstenartig geschnittenes Haar ein wenig rötlich.

Unwillkürlich fuhr sich das Mädchen an den Kopf.

Anders frisieren sollte ich mich, dachte sie, ja, völlig anders. Ein Knoten sähe überhaupt besser aus für eine Arzthelferin. Aber es war nun einmal praktisch, die kurzen goldroten Locken mit einer runden Spange einfach ein wenig am Hinterkopf hochzuschieben, ein Tüchlein darumwickeln oder manchmal auch ein Schleifchen zu binden. Die naturgewellten weichen Locken wirkten dann aber eben wie ein Schopf.

Schopf war praktisch!

Und »Schöpfle« war der Kosename gewesen, den die leider früh verstorbene süddeutsche Mama ihr gegeben hatte.

Aber auch eine Mama tut nicht immer das Richtige!

Angela schüttelte den Kopf ein wenig.

Wenn ich einmal Mutter sein werde…

»Mach, daß du ins Bett kommst!« rief sie dem Bruder zu, der grinsend von oben herabschaute.

»Denkste!« Till machte es sich allem Anschein nach behaglich auf der Fensterbank. »Es passiert was mitten in der Nacht, und ich soll nicht dabeisein? Wo ich doch Reporter werden will!«

»Aber das dauert noch eine Zeit!« Jetzt war Angela die Überlegene. »Wenn du nächsten Ostern noch mal sitzenbleibst, dann…«

In diesem Augenblick unterbrach Dr. Kilian die geschwisterliche Auseinandersetzung.

»So, komm, Angela, wir wollen fahren!«

*

»Tot!« sagte der Wachtmeister, als Dr. Kilian den Wagenschlag aufriß. »Hier kommt wohl jede ärztliche Hilfe zu spät, Herr Doktor!«

Angelas Augen starrten durch die Windschutzscheibe auf das vor ihr liegende Straßenstück.

Es war ihr bekannt wie ihr Vaterhaus. Rechts bog die breite Kastanienallee nach Schloß Hallermünde ab, geradeaus ging es weiter nach Waldhagen, wo der größte Teil von Paps’ Patienten wohnte.

Angela zitterte. Sie fühlte selber nicht, wie ihre Lippen flatterten, als sie jetzt ausstieg. Vielleicht brauchte Paps seine Tasche.

Doch Dr. Kilian hatte sich schon über zwei leblose Körper gebeugt, die auf der Straße lagen. Als erfahrener Unfallarzt konnte er nur das Urteil des Wachtmeisters bestätigen.

Aber…

Angela traute ihren Augen nicht. Da hockten doch – ein wenig verstört und mit weit aufgerissenen Augen – zwei Kinder am Straßenrand!

Angela trat auf die Kinder zu. »Was tut ihr denn hier?«

»Wir leben!« erklärte da der Junge, der wenig jünger als Till sein mochte, jetzt aber einen sehr kindlichen Eindruck machte. Sein Gesicht war nicht nur vom Mondlicht so entetzlich bleich.

»Wir leben!« piepste die Stimme des neben ihm sitzenden kleinen Mädchens, das mit schwarzen Augen Angela ins Gesicht starrte.

»Und wie kommt ihr hierher?«

»Na, von dorther!« Der Junge wies auf den zertrümmerten Wagen.

»Aus dem Wagen mit…« Angela fuhr sich über die Augen.

»Daddy und Mummie sind tot!« erklärte der Junge fast ungerührt, obgleich sein Gesicht noch immer verstört wirkte.

»Ja, aber…«

Angela kniete sich jetzt zwischen die beiden Kinder, legte um jedes von ihnen einen Arm und zog sie so dicht zu sich, daß die Kinder nicht sehen konnten, wie man die Toten jetzt auf Tragen bettete und sie in den Unfallwagen schob.

»Na ja!« Angela spürte plötzlich, wie sich der helle Bubenkopf hob, den sie gegen die Schulter gepreßt hielt. »Das ist natürlich schrecklich, wenn sie nicht mehr leben. Aber…« Der Junge zuckte die Achseln – »eigentlich kennen Micky und ich sie gar nicht richtig. Das waren doch nur auf dem Papier unsere Eltern!«

»Ja, auf dem Papier!« echote das kleine Mädchen mit den schwarzen Augen.

Was Eltern, die nur auf dem Papier standen, bedeuteten, konnte Angela nicht ganz ermessen. Als Mama starb, war es schrecklich für sie alle gewesen. Und der schönste Kosename, den Paps ihr geben konnte, war ›Kleine Mama‹ oder auch ›meine kleine Doktorin‹! Ja, das war schon etwas, wenn Paps das sagte!

Und nun gab es hier Kinder, deren Eltern ›nur auf dem Papier standen‹ und deren Tod man deshalb nicht so tragisch zu nehmen brauchte, wie andere Kinder dies wohl getan hätten.

Daß die Kinder aber einen Schock mitbekommen hatten, spürte Angela an den eiskalten, bebenden Kinderfäusten, die sich in ihre kleinen, nicht minder kalten Hände bohrten.

»Wenn du bei uns bleiben könntest…«, sagte der Junge plötzlich mit zaghafter Stimme.

Da aber stand schon der Wachtmeister Küster aus dem Dorf vor der kleinen, bisher kaum beachteten Gruppe.

»Ihr seid doch… wie kommt es überhaupt, daß ihr unverletzt seid?«

»Die Tür ging auf, und wir sind herausgeflogen!« sagte der Junge.

»Aber da hinten«, er wies auf seine etwas magere Sitzfläche – »da spür ich’s.«

»Und ich…« Nun begann das kleine Mädchen zu weinen.

»Die Kinder werde ich mitnehmen!« erklang in diesem Augenblick eine kräftige, wenn auch ein wenig harte Männerstimme. Und das Antlitz, zu dem sich Angelas blaue Augen unwillkürlich hoben, war scharf geschnitten, ja, beinahe kühn, wie es oft Abenteurer und Seefahrer haben.

»Herr Graf!« sagte Wachtmeister Küster und nahm beinahe eine militärisch stramme Haltung an. »Das ist ja auch das nächstliegende. Nur eine Notiz für meinen Bericht…«

»Wohin schon sonst sollten wir die Kinder Ihrer verunglückten gräflichen Schwester und ihres… Gatten bringen?« vollendete Wachtmeister Küster. Er wußte vor Aufregung überhaupt nicht mehr, wie man die Gutsherrschaft und ihre Verwandten ansprechen sollte. Hätte er doch nur heute dienstfrei gehabt!

Aber so ging es ihm immer! Stets wenn er Nachtdienst hatte, geschah etwas. Und wenn er auch nur die alte, immer betrunkene Lina aus dem brüchigen und längst abbaureifen Armenhaus von der Straße auflesen mußte. Dabei hatte man im Dorf nicht einmal eine Ausnüchterungszelle. Alles blieb am diensthabenden Wachtmeister hängen.

Nur gut, daß Graf Justus von Hallermünde, Gutsherr auf Schloß Hallermünde, das am Ende der blühenden Kastanienallee lag, sofort zur Stelle gewesen war. Noch vor der Polizei!

Viele Jahre war Graf Justus im Ausland herumgereist, war erst zurückgekommen, als der älteste verheiratete Bruder tödlich mit dem Pferd stürzte und er das Gut übernehmen mußte, das über und über verschuldet war.

Aber gleichviel: die Kleinen konnte er gewiß für diese Nacht aufnehmen.

»Die Kinder nehme ich mit!« erklärte in diesem Augenblick die junge Angela sehr energisch. Sie warf den Kopf dabei ein wenig zurück. Das nachtblaue Chiffontüchlein um den Schopf flog bei jedem Wort hin und her, und zwar sehr energisch.

»Die Kinder brauchen jetzt Liebe!« erklärte sie.

»Und Sie glauben, das hätten sie bei mir nicht?«

Der große, breitschultrige, sportlich gestählte Mann mit dem sehr dunkel gebräunten Gesicht lachte ein wenig spöttisch.

»Liebe!« betonte Angela und fühlte sich etwas verwirrt.

Wie stattlich sah dieser Mann aus, von dem sie wußte, daß er der kürzlich zurückgekehrte Graf Justus war. »Liebe, die…« Sie begann zu stammeln.

»Glauben Sie nicht, daß ich jemanden liebhaben könnte?« erkundigte sich der Mann. »Sprechen Sie mir etwa die Voraussetzung für die Liebe ab?«

Angela versuchte, sich zusammenzureißen, wollte eine kecke, schnippische Antwort finden.

Wie kam dieser Mann dazu, sie solche Dinge zu fragen?

Aber irgendwie ging etwas Zwingendes von ihm aus, dem sie einfach nicht entfliehen konnte.

Röte stieg ihr ins Gesicht.

Liebe!

Sie fühlte auf eine nie gekannte Weise das Blut durch ihre Adern jagen.

Ich habe sicher auch einen Schock bekommen. Weshalb kann ich nichts sagen?

Graf Justus schaute trotz der schrecklichen Situation beinahe belustigt auf Angela, die beinahe noch wie ein Kind wirkte.

Er hatte alle Weltteile bereist, und er hatte viele Frauen nicht nur gekannt, sondern auch besessen. Er war sich seiner Macht über Frauen durchaus bewußt.

Na, dies kleine Doktorsmädchen machte wohl keine Ausnahme. Nur seltsam –, daß auch er irgendwie angerührt wurde.

Aber das kommt wohl daher, weil es für mich auch ein Schock war, sinnierte der Graf, daß sie beide gerade vor der Kastanienallee verunglückten, meine schöne Schwester Isabella und ihr Mann.

Natürlich standen wir nicht zueinander wie gute Verwandte. Man sah sich ja kaum. Aber der Schwager Alexander war Forschungsreisender gewesen. Und die beherzte Isabella hatte ihn immer begleitet. Man hatte Forschungsergebnisse ausgetauscht. Das verband ein wenig. In den nächsten Tagen hatte man Reiseerinnerungen austauschen wollen. Graf Justus arbeitete genau wie sein verunglückter Schwager Alexander an einem Werk über Nordafrika. Man hätte sich ergänzen können.

Nun waren sie tot, Isabella und Alexander.

Sterben müssen wir wohl alle einmal! dachte der Mann grimmig. Und da kam diese kleine Person, deren Haarschopf im leichten Nachtwind wehte, und schlang die Arme um die Kinder seiner Schwester, als wolle sie sie vor ihm beschützen.

Und sprach ihm die Fähigkeit ab, lieben zu können.

Mir, ausgerechnet mir!

Sie weiß ja noch gar nicht, was Liebe bedeutet! revoltierte der Mann mit dem kühlen Gesicht, den das Schicksal dazu verurteilt hatte, Landwirt zu werden. Und das auf einem völlig verwirtschafteten Besitz.

Nichts, gar nichts weiß sie von Liebe, diese närrische kleine Person.

Im gleichen Augenblick aber versicherten der Junge und die kleine Micky, daß sie sehr wohl an Angelas Liebe glaubten.

»Die hat uns wirklich lieb!« erklärte Chris. Er stampfte dabei herrisch mit dem Fuß auf. »Und Micky und ich gehen auch mit ihr und nicht mit dir. Wer bist du überhaupt?«

»Zufällig euer Onkel!« antwortete Justus von Hallermünde trocken. »Eine Ehre und Freude ist’s aber nicht.«

Dabei wandte er sich ab und besprach mit den Polizeibeamten noch Einzelheiten.

Dann erklärte er sich auch bereit mitzukommen. Denn da gab es noch vieles zu ordnen.

Angela sah nicht, wie der Mann noch einmal zu ihr herüberschaute. Sie hatte mit Chris und Micky zu tun, die jetzt mit den Zähnen zu klappern begannen.

»Setzt euch auf den Rücksitz meines Autos. Und dann dauert es gar nicht mehr lange, bis ich euch ins Bett gepackt habe.«

»Wieso?« fragte der grauhaarige Dr. Kilian, als er die beiden schmalen Gestalten im Fond des Wagens zusammengekauert sah.

»Die nehmen wir mit, Papa!« Angela sagte es, als sei es ganz selbstverständlich, daß sie mitten in der Nacht zwei wildfremde Kinder auf der Landstraße auflas. »Oder – Paps, hast du schon einmal einen einfach so sitzenlassen, der nicht weiß, wohin er soll?«

Da senkte der Mann den Kopf.

Nein, niemals hatte er das gekonnt. Die Menschen waren für einen Arzt stets die Hauptsache.

Während er noch nachdachte, fühlte er eine Hand an seinem Jackenärmel zupfen.

»Du, Paps, wenn… wenn… ich meine…«

Dr. Wilhelm Kilian schaute in das junge und jetzt sehr blasse Gesichtchen der Tochter.

»Setz dich auf den Rücksitz zu den Kindern. Die brauchen jetzt so etwas wie eine Mutter, kleine Doktorin. Und das Fahren werde ich übernehmen.«

Angela seufzte erleichtert auf.

Komisch, daß ihr jetzt die Hände zitterten, jetzt, wo gar nichts mehr passierte. Eigentlich war doch nun alles in Ordnung.

Sie hockte sich zwischen die beiden Kinder, legte wieder die Arme um sie, daß die Kinderköpfe gegen ihre schmalen Schultern sanken.

*

»Na!«

Chris räusperte sich.

»Na!« wiederholte er noch einmal. »Ihr wäret doch besser bei uns geblieben.«

»Wären wir auch!« erklärte der lichtblonde Chris nüchtern. »Aber was willst du machen? Er ist nun mal unser Onkel. Und Vormund heißt er jetzt!«

Er: Onkel Justus, Herr auf Hallermünde!

Gut, daß er nicht hörte, was die Kinder im Anblick des Raumes sprachen, der für Chris und Micky bereitstand.

Das heißt zwei Räume: einer für Chris, einer für Micky. Aber die Räume unterschieden sich wenig voneinander. Jeder Raum enthielt ein Bett, überzogen war es aber noch nicht.

»Ich will zu Schöpfle zurück!«

In diesem Augenblick begann die kleine Micky laut aufzuweinen.

»Na, vielleicht« – Chris räusperte sich – »vielleicht kriegen wir noch eine Vormundin. Weshalb eigentlich nur einen Vormund?«

»Weil Männer besser sind!« belehrte ihn Till und warf den Kopf mit dem roten Bürstenhaar stolz in den Nacken.

»Besser?« Micky weinte jetzt nicht mehr, sie brüllte laut.

In diesem Augenblick erklangen Schritte auf dem langen Flur.

»Ihr seid schon da?« Justus Graf von Hallermünde war erstaunt. »Ihr solltet doch erst…«

»Ja, in zwei Stunden sollten wir erst kommen!« Chris betrachtete diesen Mann ziemlich kritisch, der plötzlich über ihn zu bestimmen haben sollte.

Eigentlich gefiel er ihm mit dem kühn geschnittenen Gesicht, dem dunklen Haar und den Augen, die eine unbestimmbare Farbe zeigten. Aber irgendwie sind sie kühn – so wie bei Seeräubern.

Chris liebte Seeräuber. Deshalb verzieh er dem Onkel auch wenige Augenblicke später den recht frostigen Empfang.

»Ich habe bisher im früheren kleinen Jagdschloß gewohnt!« erklärte Justus von Hallermünde. »Aber dort ist nicht genug Platz für euch. Natürlich« – er machte eine umfassende Handbewegung – »werden die Räume in Ordnung gebracht. Aber das Personal… ich muß eben erst noch Personal suchen. Aber mein Diener kommt gleich herüber.«

Mickys Stimme war ein wenig furchtsam: »Du läßt uns doch nicht ganz allein in dem großen Haus wohnen?«

Der Mann zuckte zurück.

Er hatte vielerlei hinter sich gebracht in den Wochen, in denen die weißen Kastanienblüten auf der Allee zu Schloß Hallermünde langsam abgefallen waren. Es gab viele Wege zu den Behörden und Ämtern. Zudem war er selber noch nicht recht warm geworden auf diesem riesigen Besitz, der stark verschuldet war. Es gab wohl einen Verwalter. Aber den hatte er gleich zum Teufel gejagt. Hat meinen Bruder betrogen wie… na, es gibt gar keinen Vergleich dafür. Aber mein Bruder…

Man ließ sich doch nicht so betrügen! Man machte die Augen auf bei diesem Besitz. Man hinterließ kein Gutshaus, das so verwahrlost war wie dieses Hallermünde, in dem sich die Kinder allem Anschein nach nicht wohl fühlten.

»Wir hätten Schöpfle mitbringen sollen!« behauptete Micky jetzt, während sie mit den kleinen, schmutzigen Händen über die Augen fuhr. »Schöpfle, Onkel Justus, die hat mir ein weißes Bett gedeckt und mich jeden Abend gebadet.«

Herrgott!

Der Mann wandte sich unwillig ab.

Ein anderer hätte Vormund über diese Kinder werden sollen. Er war noch nicht einmal dazu gekommen, seine Sammlung von der letzten Reise einzuordnen. Und jetzt verlangte man von ihm, daß er kleine Mädchen badete und Betten bezog.

Angela – Schöpfle!

Das war doch dieses kleine Mädchen, das den Kopf so energisch zurückwerfen konnte!

Ich habe sie nicht vergessen seit jenem Abend, als meine Schwester verunglückte.

Verrückt, sich an ein solch kleines Mädchen zu erinnern! Sollte Helferin beim Papa sein. Simple kleine Person, die es vielleicht verstand, eine Spritze aufzuziehen, einen Verband zu anzulegen, aber sonst…

»Ja, bei Angela war es nicht schlecht!« behauptete jetzt auch Chris ein wenig herausfordernd.

Noch ehe Justus von Hallermünde aber eine passende Antwort geben konnte, tönte drunten vor dem Schloß eine schrille Autohupe.

Schon waren Chris und Micky ans Fenster gestürzt, rissen es auf.

»He, hallo, Jussuff, bonjour, bonjour!«

Und dann jagten sie aus dem Haus, rissen Till und Michael mit sich, die sie aufs Schloß begleitet hatten.

»Eh, Jussuff!«

Justus von Hallermünde hörte nur diesen einen Namen, der wie ein Magnet zu wirken schien.

Dann trat er selbst ans Fenster.

Er ließ sich nicht leicht überraschen. Immerhin staunte er beim Anblick der Szene drunten auf dem Platz vor dem Schloßportal doch ein wenig.

Der vorgefahrene Wagen erinnerte mehr an eine Art Möbelwagen, als an ein in hiesiger Gegend gewohntes Gefährt.

Auf Safari nahmen Tierfänger solche Wagen mit! durchfuhr es den Mann am Fenster.

Noch seltsamer aber war der kleine, magere Mann in einem weißen Tropenanzug, der einen roten Fez auf den darunter hervorquellenden schwarzen Locken trug.

Chris und Micky schienen sehr erfreut, ihn wiederzusehen. Unaufhörlich sprachen sie auf ihn ein. In welcher Sprache, konnte der Mann am Fenster nicht herausfinden. Die Gebärdensprache schien zu überwiegen.

Ich werde nachsehen!

Seufzend dachte der Mann an seine Sammlung.

Wann würde er dazu kommen, sie zu ordnen?

Zunächst gab es ein völlig verwirtschaftetes Gut, zwei Kinder. Und plötzlich auch diesen seltsamen Mann.

»Jussuff – das ist Jussuff!« schrie Chris schon aus der Eingangshalle ins Treppenhaus hinauf, als er den Onkel auftauchen sah.

»Und was Jussuff alles mitgebracht hat! Papas und Mamas Tiere. Und nicht einmal Asinus hat er vergessen!«

Dunkel erinnerte sich Justus von Hallermünde daran, daß ein Lateinlehrer ihm einmal eine schallende Ohrfeige gegeben hatte, weil er die lateinische Vokabel ›asinus‹ nicht übersetzen konnte. Niemals würde er ihre Bedeutung vergessen.

»Asinus – Esel.

Aber es war doch unmöglich, daß nun auch noch ein Esel seinen Einzug auf Hallermünde halten sollte!

Doch nun schritt dieser Jussuff – ja, er schritt mit der Würde des Orientalen – auf den von Linden umgebenen Platz vor dem Schloß hinaus. Die Kinder umjagten ihn wie Hunde. Die Doktorskinder unterschieden sich dabei nicht im geringsten von Chris und Micky, wie Graf Justus feststellte. Dagegen schien er, der sich sonst jeder Situation im Leben gewachsen fühlte, irgendwie gelähmt. Das kam wohl daher, daß dieser ihm fremde Jussuff, der sich nicht einmal Zeit nahm, sich ordnungsgemäß vorzustellen, tatsächlich den seltsamen Wagen öffnete und einen schrägen Laufsteg anlegte. Ja, da erschien tatsächlich, bockig um sich schlagend und ein mörderisches Iaaa anstimmend, ein Esel, ruppig, wie diese oft mit schweren Lasten im Orient beladenen Tiere nun einmal waren. Gewiß kein Prachtexemplar.

»Asinus!« Micky drückte ihr kleines dunkles Gesichtchen gegen des Esels weiches Maul, so daß das Geschrei für Augenblicke aufhörte.

Dann aber…

Jussuff war ins Innere des Wagens geklettert. Auch hierhin folgten ihm die Kinder.

»Toll!« hörte Justus von Hallermünde die Jungen schreien, nein, brüllen, lauter und betäubender noch als dieser unselige Asinus, den Mikky jetzt vom Ende der Laufplanke

am Schwanz wegzog. Dafür schwankte Chris mit einem ganz riesigen Käfig heraus, in dem ein Papagei saß. Und…

Justus von Hallermünde rieb sich die Augen, schaute noch einmal hin, weil er, der sonst so nüchterne Tatsachenmensch, den eigenen Sinnen nicht mehr traute. Dieser Doktorbub, dieser Junge, der mit seinem langen, lockigen Seidenhaar beinahe an einen Engel erinnerte, schwankte den Steg hinab und hatte zwei Affen auf den Schultern.

»Die Arche Noah!« flüsterte der Herr auf Hallermünde beinahe tonlos vor sich hin.

Auf eine Erklärung brauchte er aber nicht mehr lange zu warten.

»Gehen Sie mal aus dem Weg!« verlangte Till. »Der Korb ist verdammt schwer!«

Und ›Vorsicht, Vorsicht‹ erklang es jetzt in gebrochenem Deutsch aus dem Wageninnern. »Laß nicht fallen der Korb. Ist Schlange drin!«

»Nein, ich passe auf!«

Zum Teufel noch mal!

Der Mann begann jetzt laut zu fluchen.

Kinder ohne Vater und Mutter.

Arme Waisen! hatte der Bürgermeister in der kleinen Kreisstadt gesagt.

Wieso arme Waisen? Höchst vergnügt waren diese ›Armen‹, während er selber machtlos einer Invasion gegenüberstand, die fraglos jede andere Tätigkeit von ihm blockierte.

Meistbietend versteigern werde ich sie! dachte der Mann grimmig. Kinder müssen Vater und Mutter haben. Auf keinen Fall genügt ein Onkel.

Ein Onkel! Was bedeutet der schon!

Das aber schwöre ich im Angesicht dieser Arche Noah: Ich werde euch wieder zu Eltern verhelfen, so wahr ich Justus Graf von Hallermünde bin!

In dem sonst so kühnen Gesicht des Mannes breitete sich immer stärker eine Art von Hilflosigkeit aus, die er bisher noch niemals in seinem Leben gespürt hatte.

Nicht, daß er sich vor Affen, Papageien, Eseln, Schlangen oder was sonst noch alles dem Tierwagen entstieg, gefürchtet hätte – nein –, draußen in anderen Erdteilen, auf Jagd, auf Forschungsreisen, da hätte ihn all dies nicht irritiert. Aber in Verbindung mit einem alten Schloß, das er in den Stand eines behaglichen Heimes für Kinder setzen sollte, überwältigte ihn dieser Einzug in die Empfangshalle auf Hallermünde doch stark.

Und jetzt, ein entsetzlicher Schrei!

Graf Justus sah diesen Mann mit dem Fez, den Chris und Micky wie einen ihrer besten Bekannten begrüßten, wie von der Tarantel gebissen umhertanzen, von einem Fuß auf den anderen hüpfend.

»Oh, dieses Tier, diese Coco-Papagei! Oh, haben sich weiten Weg gemacht, um les animeaux zu bringen. Graf Alexander haben gesagt…«

Das Geschrei ging in immer schrecklicheres Gebrüll über.

Dieser Papagei Coco zerhackt ihm wahrhaftig noch das ganze Gesicht!

Graf Justus stand jetzt mit einem Satz neben Jussuff, auf dessen Schulter der Papagei saß, der sich aus seinem Gefängnis befreit hatte.

Dem Vieh, das den von den Kindern so jubelnd begrüßten Jussuff entsetzlich zurichtete, würde er das Handwerk legen! Mit einem festen Griff erfaßte Graf Justus Coco und warf ihn einfach durch die noch offenstehende Eingangstür, die er dann schnell verschloß.

»Dort draußen soll er zusehen, wen er zerhacken kann!« erklärte der Mann auf das vielstimmige Kindergeschrei. »Und jetzt werden wir einen Arzt bestellen. Silence, monsieur!« Er drückte den nur noch leise wimmernden Jussuff auf eine der wunderschön geschnitzten kostbaren Truhen, die in der Empfangshalle standen.

Ja, einen Arzt!

»Solange ich hier bin, habe ich noch keinen Arzt benötigt!«

Sein Gesicht war grimmig.

»Ruf doch Paps an. Der kommt sicher sofort!« Michaels Gesicht mit den braunen Locken schob sich in des Mannes Blickfeld.

»Und vielleicht kommt Schöpfle mit!« fügte Chris hoffnungsvoll hinzu.

Ja, Kilian, dieser Dr. Kilian mußte her! Darin war sich Graf Justus mit den Kindern einig. Er ging zum Telefon und drehte die Nummernscheibe so heftig, daß der Apparat vom Tisch fiel.

»Das mußt du ganz langsam machen, Onkel Justus!« belehrte ihn Chris. Hoch, schmal und blond stand er vor dem Onkel, dessen Zornesadern an den Schläfen dick angeschwollen waren.

Der Mann schaute zu den Kindern.

Hol’s der Teufel, die schienen alle wie Engel auszusehen, sogar dieser sommersprossige älteste Doktorjunge.

Das verwahrloste und verschuldete Hallermünde dünkte Graf Justus in diesem Augenblick noch wie ein Paradies. Solange er allein dort gehaust hatte.

»576!« sagte in diesem Augenblick Till ganz nüchtern.

Vielleicht wählte der Onkel gar eine falsche Nummer, um Paps zu erreichen.

*

»Ich werde Ihnen eine Salbe verschreiben!« sagte Dr. Kilian eine halbe Stunde später. »An eine Vergiftung ist nicht zu denken. Es handelt sich, obgleich die Schrammen heftig bluten, um geringfügige Verletzungen. Wenn Sie jemanden hätten, der zur Apotheke gehen könnte…«

»Ich will es versuchen«, murmelte Graf Justus.

In diesem Augenblick erklärte die Stimme des Mädchens, das sich bisher im Hintergrund gehalten hatte: »Paps, du wolltest doch im Leutehaus noch nach der alten Anna sehen. Inzwischen fahre ich selber in die Apotheke, um die Salbe zu holen!«

»Oh, Schöpfle!« Die kleine Micky schmiegte sich zärtlich an Angela, die bisher kaum einer beachtet hatte. »Ja, tu das, Schöpfle. Sonst stirbt Jussuff, unser Jussuff!«

In die schwarzen Augen Mickys traten Tränen.

Angela begriff, daß dieser Jussuff von Chris und Micky mehr geliebt wurde als die tödlich verunglückten Eltern.

Dr. Kilian nickte. Er selber würde den Weg zu den Leutehäusern ganz gern zu Fuß gehen. Die Luft tat ihm gut, ihm, dem vielbeschäftigten Landarzt, der in den letzten Nächten immer wieder aus dem Schlaf gerissen worden war.

»Paps!« Angela streichelte dem Vater ganz scheu über die Hand, die schon am Griff der Eingangstür lag. »Paps, laß dir nur Zeit, wir schaffen unser Programm heute schon!«

Angelas junges Herz pochte plötzlich schnell und ängstlich.

Paps mußte einmal ausspannen. Er sah so müde aus und wirkte sehr alt.

Weshalb nur gingen keine jungen Ärzte mehr aufs Land? durchfuhr es Angela. Aber denen war alles nicht gut genug auf dem Land.

Hier war alles wenig großartig. Und wenn man die Verletzten der Verkehrsunfälle noch hinzurechnete, die schnell versorgt und in eines der Krankenhäuser der Landeshauptstadt überwiesen werden mußten… ja, dies alles war wenig erfreulich. Aber es mußte getan werden.

Rainer würde dies alles nicht tun! dachte Schöpfle, während sie schon wieder am Steuer saß und zur Kreisstadt zurückfuhr, um in der Elefantenapotheke eine Heilsalbe zu besorgen.

Ja, Rainer!

Na, der ist ja auch toll!

Angela lachte ein bißchen.

Ein halbes Jahr hatte sie in der Landeshauptstadt bei Dr. Rainer Bernardi gearbeitet. Jung war dieser Dr. Bernardi, ehrgeizig.

Die Laufbahn eines Universitätsdozenten schwebte ihm vor.

Er träumte davon, einmal eine Herztransplantation machen zu können.

»Und eine Frau brauche ich auch!« hatte er einmal gesagt. »Eine junge, schöne Frau Professor. Eine Frau mit Charme, Selbstsicherheit. Eine kluge Frau.«

Dabei hatte er Angelas Hände ergriffen, sie an sich gezogen.

»Kannst du dir denken, kleine

Arzthelferin, wie diese Frau aussieht?«

Wie sie aussieht?

Angela schaute jetzt in den Rückspiegel, aber nicht, um die Straße zu beobachten, sondern um ihr eigenes hartes, aber sehr ausdrucksvolles Gesicht zu betrachten.

Das Gesicht war sehr schmal und sah noch jünger aus, als Angela war. Jetzt im Frühsommer konnte man das Weiß erkennen, das auch Arme und Hände auszeichnete und dem Mädchen einen besonderen Reiz verlieh. Denn bei diesem zarten Teint konnte man das Blut pulsen sehen. Manchmal stieg es bis in die Schläfen.

Und dann sehe ich dumm aus! dachte das Mädchen, während es jetzt ein wenig Gas wegnahm. Sie hatte die Einfahrt der Kreisstadt erreicht. Rotwerden ist albern. Rainer hat es auch einmal geäußert.

Aber er nannte sie trotzdem Angela und hatte ihr beim Karneval einen Kuß auf die Stirn gegeben, in die die rotblonden verwehten Locken tanzten, die sich nicht in den Ring für den Schopf zwängen ließen.

Manchmal war er sehr steif, dieser Dr. Rainer Bernardi, der beruflich einen steilen Aufstieg vor sich hatte.

Und ich?

»Ich habe ihn nicht geküßt! Auch nicht beim Karneval!«

Das Mädchen am Steuer sprach es in einem ihr selbst unbewußten Trotz plötzlich laut aus.

Und es ist gar nicht ausgemacht, ob ich ihn heirate, diesen Rainer, der natürlich mehr war als ein einfacher Landarzt wie Paps.

Weshalb nur dachte sie in diesem Augenblick an ein anderes Gesicht, ein Piratengesicht, das bronzebraun war, das sich überheblich gab und doch vor ein paar Kindern die Waffen zu strecken schien?

*

Schon zwanzig Minuten später hörte Graf Justus zum erstenmal in seinem Leben eine Standpauke, über die er zuerst überlegen lächelte, die ihn dann aber doch ein wenig betreten machte.

»Ein Egoist sind Sie. Es ist Ihnen einfach zu lästig, sich um die Kinder zu kümmern!« Angela behandelte während ihrer Vorwürfe das zerkratzte Gesicht Jussuffs. Sie hatte ihm kurzentschlossen Watte in die Ohren gesteckt. Es ging nicht an, daß er das mit anhörte, was sie zu sagen hatte. Er radebrechte zwar seine Sätze in vielerlei Sprachfetzen, aber Angela schien es, als sei er durchaus kein demütiger Untergebener. Sie wurde eine gewisse Beunruhigung nicht los, wenn sie sein Gesicht beobachtete.

Graf Justus stand der kleinen Gruppe – die Kinder waren bei den Tieren – schweigend gegenüber.

Er wehrte sich nicht einmal, als Angela ihn einen krassen Egoisten nannte.

Nur als sie fortfahren wollte, sagte er sehr nüchtern: »Fräulein Angela oder Fräulein Schöpfle –, ich bin ja schließlich nicht als Kindermädchen auf die Welt gekommen. Und – ich habe ausreichend mit dem Gut zu tun.«

Ein gewisser Schmerz klang jetzt durch des Mannes Stimme.

Angela war mit dem Verband fertig.

»Allons, allons!« Sie scheuchte Jussuff aus der Halle.

»Paps hat auch tausend Dinge zu tun. Er kommt kaum noch zum Schlafen!« erwiderte Angela. »Und Sie – na, schließlich sind Sie doch noch ein einigermaßen junger Mann!«

Da lachte der Graf plötzlich laut heraus und fuhr sich durch das dunkle Haar, das sich dicht um sein von Wind und Wetter gegerbtes Antlitz schmiegte.

»Wann beginnt bei Ihnen denn das Alter, Fräulein Angela?«

»Bitte, Fräulein Kilian!« verwies ihn Schöpfle. »Sie können mich doch nicht einfach bei meinem Vornamen oder gar bei meinem Kosenamen nennen!«

»Weshalb eigentlich nicht, Schöpfle?«

Graf Justus’ Selbstsicherheit war zurückgekehrt, nachdem die Tiere ebenso verschwunden waren wie sämtliche Kinder und der fremdartige Jussuff, dessen Stimme man jetzt nur noch von der Auffahrt zum Schloß hörte.

Weiß der Kuckuck, was er kauderwelschte. Auf jeden Fall wurde jedes seiner Worte mit einem beinahe ekstatischen Jubel sämtlicher Kinder begrüßt.

»Also, Schöpfle, weshalb sollte ich nicht…«

Weiter kam der Mann allerdings nicht. Denn plötzlich richtete sich die zierliche, schmale Gestalt hoch vor ihm auf.

Zornesröte stieg bis in die Schläfen, hinter denen man die feinen blauen Adern sah.

»Weil wir nicht so… so…« Angela suchte nach Worten. »Ja, weil wir nicht so intim sind, daß Sie ganz einfach Kosenamen verwenden.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden!«

Das Mädchen bebte jetzt am ganzen Körper.

Nein, niemals mehr würde sie an dieses Gesicht denken. Verhaßt war ihr dieser Mann, der so maßlos von sich überzeugt schien.

Weshalb überhaupt hatte sie an ihn gedacht seit jenem ersten Augenblick der Begegnung? Er ließ sie einfach nicht frei. Ja, und schon deshalb

hasse ich ihn. Und ich sage es ihm auch.

»Demnächst können Sie Ihre afrikanischen Diener selbst behandeln, Herr Graf. Dann fahre ich nicht mehr, um Salbe zu holen. Schließlich hätten Sie ja auch fahren können!«

»Reiten!« spottete Justus von Hallermünde. »Ich reite lieber.«

Er hätte etwas darum gegeben, wenn er sie jetzt hätte an sich ziehen können, wie er es bei jeder anderen Frau getan hätte. Zu keiner anderen Frau aber würde er ganz leise und sehr innig flüstern können: »Lieb hab’ ich dich, kleines Mädchen! Ganz einfach lieb. Und wenn ich an dich denke, nenne ich dich Schöpfle. Denn Angela, Engel, paßt eigentlich gar nicht zu dir. Höchstens bist du ein sehr energischer Engel mit einem Flammenschwert.

Doch der Mann fühlte, daß er zum ersten Male in seinem Leben die Hand nicht besitzergreifend nach einem Mädchen ausstrecken konnte.

Er mußte auf einen günstigen Augenblick warten.

Ja, vielleicht mußte er sich zunächst überhaupt in ein besseres Licht vor diesem lichtblonden Engel setzen.

Nur wie?

Bisher hatte jede Frau ihn genommen, wie er war. Er hatte sich niemals zu verändern brauchen. Er konnte Egoist sein, beherrscht von einer beinahe eisigen Leidenschaft, die ebenso schnell verging, wie sie ihn in Besitz genommen hatte.

Jetzt aber war alles anders geworden.

»Wenn Sie noch Zeit hätten, Fräulein Kilian«, sagte der Mann, »könnten Sie vielleicht einmal die Kinderzimmer ansehen. Die Betten sind aber noch nicht überzogen.«

»Sie hätten Chris und Micky bei uns lassen sollen, bis alles hier eingerichtet war. Aber Sie… Sie…«

»Ich weiß, ich bin ein Egoist!« wiederholte Graf Justus das ihm vorgeworfene Wort. Aber seine Stimme klang ein wenig spöttisch. »Sehr kluges und tüchtiges Fräulein Kilian, wenn ich Egoist wäre, würde ich mir nicht zwei mehr als unerzogene Kinder samt einem nicht überschaubaren Zoo auf den Hals geladen haben. Es ist meine Pflicht…«

»Sie lieben Chris und Micky gar nicht?«

Wie weich, ja, beinahe zärtlich klang jetzt ihre Stimme.

Angelas große blaue Augen schienen sich vor Mitleid mit Tränen zu füllen.

»Mit Pflicht, Herr Graf, kann man keine Kinder großziehen. Man muß sie liebhaben.«

Da stand der Mann plötzlich ganz dicht vor dem Mädchen.

Er legte seine beiden Hände auf ihre Schultern, und er gebrauchte das Wort, das er von seinen Dienstleuten kannte.

»Kleine Doktorin, hast du denn die Kinder lieb?«

Angela überhörte das Du. Sie nickte nur.

»Sehr!« sagte sie ganz einfach. »Sie sind wirklich sehr lieb, wenn man sie richtig zu nehmen versteht.«

»Also los, sehen wir zu, wo mein Diener steckt!« Graf Justus wandte sich schnell um, weil er sonst doch nicht der Versuchung hätte widerstehen können, das Schöpfle, die süße kleine mütterliche Doktorin, in die Arme zu ziehen, ihr die Tränen aus den Augen zu küssen.

*

»Hallo… he…!«

Angela strengte ihre Stimme an.

Einen Lautsprecher müßte man haben! dachte sie an diesem Nachmittag, an dem sie die beiden Brüder suchte. Irgendwo mußten sie sich wieder auf Hallermünde aufhalten. Natürlich nicht im Schloß, obgleich es auch dort einige Attraktionen für unternehmungslustige Jungen gab. Man konnte alte Spieldosen auseinandernehmen und ihren Mechanismus untersuchen. Irgendwo im Dachgeschoß gab es noch eine Ritterrüstung, die eigentlich in ein Museum gehörte. Ja, und dann natürlich die Waffen, uralte Kaliber. Man schwitzte, wenn man sie nur in die Höhe hob.

Donnerwetter – damals mußten die Leute stark gewesen sein!

Das Schloß barg gewiß mancherlei, dem man nachspüren konnte.

Interessanter wäre es fraglich, Onkel Justus – auch die Doktorjungen nannten Graf Justus so – aufzusuchen. Aber er hatte ein für allemal erklärt, sein kleines Jagdschloß, das auf der Grenze vom Schloßpark und den riesigen Waldungen lag, sei tabu.

Das Jagdschloß wurde tatsächlich von allen vier Kindern gemieden.

Das hinderte sie aber nicht, andere Abenteuer zu suchen. Wie eben jetzt an diesem Nachmittag, an dem Angela verzweifelt den Park durchstreifte, um die Brüder zu suchen, die beinahe mehr auf Hallermünde waren als im Doktorhaus.

Der Park war verwildert, die Wege waren von Unkraut übersät. Dichtes Buschwerk, tief herabhängende Baumäste, hin und wieder einmal auch ein vom letzten Sturm entwurzelter Baum mit riesenhafter Wurzel, versperrten den Ausblick auf den See, der auch zu einem Tummelplatz der Kinder geworden war.

»Hallo!«

Angela strengte noch einmal ihre Stimme an.

Und dann kam sie auf den einzig richtigen Einfall. Kurz entschlossen zog sie die Trillerpfeife aus ihrer Tasche. Deren Ton konnte man meilenweit hören.

Grell, schrill tönte sie durch die Gegend.

»Herrgott, Fräuleinchen!« Aus dem Küchentrakt des Schlosses kam die Wirtschafterin, die auch gleichzeitig Köchin war, und legte Angela die Hand auf die Schulter.

»Das ist ja noch schrecklicher, als wenn die Jungen brüllen! Daß Sie so etwas tun würden…«

»Muß ich!« Angela nickte energisch.

Und die Tatsachen gaben ihr recht.

Denn wenige Augenblicke später ertönte das Echo auf die Trillerpfeife: viermal: Viermal. In kurzen Abständen.

»Das sind sie!«

Nicht umsonst hatte Angela jedem der Kinder ebenfalls eine Trillerpfeife geschenkt.

»Damit wir uns immer finden können!« hatte sie gesagt. Sie wußte genau, welchen Spaß dies verabredete Zeichen den Kindern machte. Sie war noch niemals enttäuscht worden.

»Am See müssen sie dem Klang der Pfeifen nach sein!« erklärte Angela.

»Am See?« Die Frau schaute ein wenig fassungslos. »Woher Sie das nur wissen!«

Angela legte der rundlichen Frau die Hand auf die Schulter.

»Wissen Sie, Frau Klara. Jungen muß man halt kennen. Und nun geben Sie mir den Korb mit den Broten, den die Kinder doch wohl haben sollen, denn Sie haben die Kinder wohl auch gesucht.«

»Ja, wenn Sie mir den Gefallen tun wollen!«

Die Frau reichte Angela den Korb mit dem Vesper.

»Sie sollten Jussuff mehr beschäftigen!« rief Schöpfel.

»Ach, Fräulein Doktor!«

Frau Klara hatte Angela überall im Dorf ›unsere kleine Doktorin‹ nennen gehört. Nun, und wie sollte sie so seine Doktorin eben anders anreden, als ›Fräulein Doktor‹. Schließlich wußte sie, was sich gehörte.

»Mit dem Jussuff, Fräulein Doktor, ich weiß nicht. So im Haus ist nicht viel mit ihm los. Bei den Viechern mag er ganz gut sein. Wer sollte auch sonst schon Schlangen füttern. Und diese Affen… nein… die mag ich nur im Zoo sehen, aber nicht, wenn sie so frei herumlaufen. Aber sonst ist nichts los mit diesem Jussuff. Das hab’ ich gleich gesehen. In der Sonne liegen und faulenzen, das kann er. Oder auch im Wald spazierengehen. Na, und in der Stadt muß er wohl auch noch ein Mädchen haben.«

»Wieso?« Angela schaute die Frau erstaunt an.

»Jedes Wochenende fährt er doch mit dem Zug dorthin. Dann hat er aber dieses rote Dings – wie heißt es doch – diesen Fez nicht auf. Dann benutzt er Haarkrem, den man von weitem riechen kann. Na, und für wen macht ein junger Mann sich so schön und duftet so? Ganz gewiß nur für ein Mädchen!«

Frau Klara nickte bekräftigend bei diesen Worten.

»So sind die Männer nun mal!«

»Ja, so sind sie!« Angela nickte auch.

Sie wußte selber nicht, weshalb ihr gleich vom ersten Augenblick an dieser Jussuff irgendwie nicht gefallen hatte.

*

Die Trillerpfeifen antworteten nun nicht mehr. Dafür sah Angela die drei Jungen und Micky jetzt auf dem ein wenig morschen Bootsanlegesteg, der in den See hineinragte, aus dessen Schilf Teichhühner und Wildenten aufstoben.

Fürstenkinder 8 – Adelsroman

Подняться наверх