Читать книгу Vorsicht Schule - Regine Wagner-Preusse - Страница 8
Bernd aus Bebra
Оглавление„Du hast jetzt Deutsch in meiner neunten Klasse. Am besten reden wir gleich. Die sind schwierig. Schwierig aber leistungsstark. Nicht einfach im Umgang, sehr unruhig. Ständige Unruhe. Die Jungen sind harmlos, noch sehr kindlich. Einige Mädchen sind tonangebend, wortgewandt, provozierend, die können einem ganz schön zusetzen. Du wirst schnell merken, wen ich meine. Ich habe sie rechts und links vorne plaziert, damit ich sie stets im Auge habe. Die Klasse hatte es in den letzten Jahren nicht leicht, ständiger Lehrerwechsel. Ihre jetzige Deutschlehrerin ist im Mutterschaftsurlaub. Während der Schwangerschaft war sie dauernd krank.“
Elisabeth wird von Bernd geduzt. Sie fühlt sich nicht mehr so fremd durch das Du. Eine nette Geste.
Bernd ist schätzungsweise vierzig Jahre alt, mittelgroß, durchtrainiert, hat kurze, dunkelblonde Stoppelhaare, trägt Jeans und Norwegerpullover wie vor einigen Jahren die Olympiamannschaft. Beim Lehrergrillfest hatte er mit pPower -pPoint einen Sanktionskatalog für illegales Rauchen in der Schule präsentiert.
Bernd steht unter Druck, das ist spürbar. Er hat etwas Ggraues, Ssoldatisch-Ssteifes, Fförmliches.
Bernd unterrichtet Physik, ein angesehenes Fach, dessen Inhalte sich leichter vermitteln lassen als zum Beispiel Musik, denn die Schüler wissen, dass ihr Schulerfolg auch von einer guten Note in Physik abhängt. Sein zweites Fach ist Sport, sicher heilsam für ihn und seine zappelige Klasse.
„Ich bin aktiver Handballer in Bebra, da komme ich her.“
„Das ist weit weg von hier, im ehemaligen Zonenrandgebiet, oder soll ich ehemalige Staatsgrenze zur DDR sagen?“
„In Bebra habe ich ein Haus. Da sind wir jedes Wochenende, meine Frau und ich. Hier im Dorf haben wir nur eine kleine Wohnung, da sind wir vom Montag bis zum Freitag. Am Freitag nach dem Ende des Unterrichts fahren wir dann nach Bebra. Da treffen wir unsere Freunde und ich fahre mit meiner Mannschaft zu Handballturnieren.“
Bernd scheint sich hier im Dorf nicht gerade wohlzufühlen. Seit 10 zehn Jahren unterrichtet er in der Dorfschule und ist immer noch ein Fremder. Das Leben ist also anderswo. Nicht im Dorf. Hier wird nur gearbeitet. 5/7 der Lebenszeit. Einhundertzwanzig Wochenstunden. Nur am Samstag und Sonntag, achtundvierzig Stunden in der Woche, wird gelebt. In Bebra.
Der Unterricht, die Vorbereitungen, immer genug Unterrichtsstoff, den richtigen Stoff parat haben, das ist nicht das Problem, auch nicht in Elisabeths ersten Wochen an der Dorfschule.
Schon bald, sehr bald, kann sie auf ein solides Polster an Materialien zurückgreifen. Es dauert lange, bis der Unterrichtsstoff vermittelt ist. Länger, als Elisabeth angenommen hatte. Auch bei den Realschülern. Und bei den Hauptschulklassen ist der Weg zu den Lernzielen besonders weit und steinig. Die meisten Schüler sind freundlich. Elisabeth schätzt ihre Lebendigkeit, den jugendlichen Humor.
Elisabeth trifft Frau Bäker-Schulz auf dem Flur:
„Nach diesem Schulvormittag geht erst einmal gar nichts mehr. Die ganze Zeit zwei Störer in der Klasse.“
„Oh je“, Elisabeth nickt mitfühlend.
„Jetzt nach Hause, nur schlafen, zu mehr bin ich nicht fähig heute Nachmittag.“
„Ich gehe mit dem Hund hinaus in den Wald. Wenn ich in guter Luft über Waldwege laufe, kann ich Abstand gewinnen und die Ereignisse vom Morgen im Kopf sortieren. –
Bernd erzählte, ein Vater habe sich beschwert?“
„Ich hätte die Schüler nicht im Griff. Gestern in der sechsten Stunde sei es in Deutsch zu laut gewesen. Eine Plastikflasche mit Inhalt flog durch die Klasse und ging knapp an meinem Kopf vorbei. Ich habe mich sehr erschrocken. Ungeheuerlich, wenn mich die Flasche getroffen hätte.“
„Wissen Sie, wer es war?“
„Ich bekomme das nicht raus. Es passierte wohl, als ich mir die Namen von einigen Störern notierte und damit die Klasse nicht im Blick hatte. Keine direkte Konfrontation, hintenrum, wie ärgerlich. Das macht mich aber auch so ohnmächtig, weil ich nichts dagegen tun kann. Ich bin ja sieben Stunden die Woche in dieser Klasse. Aber die sechste Stunde ist der Horror. Da ist keine Konzentration mehr möglich.“
„Ich weiß, neunundzwanzig Schüler. Das ist einfach zu viel. Wenn man sie wenigstens in Gruppen auf dem Flur arbeiten lassen könnte. Aber das geht ja nicht wegen der Aufsichtspflicht.“
„Ich kann ja nicht einmal die Störenfriede vor die Tür schicken.“
„Ich schicke die schon raus“, schaltet sich Bernd ein, der bei Elisabeth und Monica stehen geblieben ist. „Die müssen dann hinter der Tür stehen bleiben und die Türklinke gedrückt halten. So habe ich sie unter Kontrolle.“
„Aha.“
„Und die Beschwerde des Vaters?“
„Die Beschwerde kam vom Vater eines stillen und schüchternen Jungen. Der Vater befürchtet, dass sein Sohn nicht mitkommt, wenn es so laut ist, und dass er dann eine schlechte Deutschnote kriegt.“
Frau Bäker-Schulz spricht leiser:
„Die Chefin ist natürlich alarmiert. Die will, dass ihre Schule nach außen gut dasteht. – Was soll ich deiner Meinung nach machen?“
Bernd, der Klassenlehrer, antwortet nicht.
Eigentlich ist Bernds Klasse nicht die schlechteste. Eine neunte Realschulklasse. Die Schüler arbeiten mit in Elisabeths Deutschunterricht, stellen Fragen und liefern Redebeiträge, die manchmal sogar originell und witzig sind. Bei Gruppenarbeit wird nicht nur geschwatzt, sondern Elisabeth kann in akzeptabler Zeit mit guten Ergebnissen rechnen. Die meisten machen sogar Hausaufgaben. Elisabeth kontrolliert regelmäßig. Darauf können sie sich verlassen.
Bernd stöhnt: „Die Klasse platzt aus allen Nähten. 29, neunundzwanzig! Das ist zu viel. Das bringt alle an ihre Grenzen, Schüler und Lehrer. Es ist nicht besonders laut in der Klasse. Doch in den Unterrichtsstunden herrscht eine permanente, zappelige Unruhe: Füße scharren, Stühle rücken, Papiergeknister, Tuscheln, Kichern. Annette und Jens halten Händchen. Annettes Hand wandert auf Jens Oberschenkel. Demonstrativ. Aber das stört nicht weiter. Sollen sie doch, Hauptsache Ruhe.
Kurz vor Unterrichtsende entgleitet die Situation. Auch die Bravsten sind dann nicht mehr zu bremsen. Taschen werden gepackt. ‚Ich bin noch nicht fertig. Die Stunde beende immer noch ich. Setzt euch gefälligst wieder hin!‘ Keine Reaktion. Stattdessen drängen alle zur Tür.“ Bernd schaut auf den Flur, in den sich durch geöffnete Klassentüren ungeduldige Schülertrauben zwdrängen.
„Überall das Gleiche. Trotzdem ein untragbarer Zustand.“
„Warum bekommt man so ein Problem nicht in den Griff. Wird so etwas nicht thematisiert in den Konferenzen an der Dorfschule?“
Bernd antwortet nicht.
„Gehen wir zum Parkplatz?“, Elisabeth sieht zu Frau Bäker-Schulz.
„Ich fahre mit dem Zug, ich habe kein Auto.“
„Sie wohnen doch auch in der Stadt, ich könnte Sie mitnehmen.“
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht...“
„Ich unterrichte Deutsch in der Parallelklasse. Da könnten wir doch zusammenarbeiten.“
„Gern. Ich bin aber nicht immer in der Stadt. Eigentlich wohne ich in Walddorf.“
„Das ist doch in der Nähe von Bebra. Da haben Sie ja einen weiten Weg hierher.“
„Deshalb habe ich in der Stadt noch ein Zimmer gemietet.“
„Aber von Altstadt bis zur Dorfschule sind es noch 30 dreißig Kilometer.“
„Ich möchte nicht auch noch in diesem Dorf wohnen. Und in Altstadt, da habe ich studiert, da bin ich immer gern gewesen. Am Montag komme ich mit dem Zug. Am Mittwoch fahre ich zurück nach Walddorf zu meiner kranken Mutter. Donnerstags fahre ich wieder nach Altstadt und bleibe bis Freitagnachmittag.“
„Da sind Sie ja viel unterwegs.“
„Meine Mutter ist dement, da geht es nicht anders.“
„Warum lassen Sie sich nicht versetzen in die Nähe ihres Heimatortes.“
„Da gibt es kein Gymnasium. Vor zehn Jahren bekam ich die Planstelle hier im Dorf. Hier gibt es zwar eine gymnasiale Oberstufe, aber in all den Jahren war ich nur im Haupt- und Realschulbereich eingesetzt.“
‚Wie hält die das bloß aus‘, denkt Elisabeth und blickt Frau Bäker-Schulz von der Seite an. ‚Die ist doch auch schon über fünfzig und sicher schon seit Ewigkeiten in der Schule.‘
„Sie müssen weiterfahren, die Ampel hat schon vor einer Weile auf Grün geschaltet“, bemerkt Frau Bäker-Schulz angespannt und mit leiser Stimme vom Beifahrersitz.
Elisabeth sieht wieder auf die Straße, doch die Gedanken sind bei ihrer Mitfahrerin. Lange, schüttere hellbraune Haare umrahmen das schmale Gesicht von Frau Bäker- Schulz. Die Haut ist blass, sehr blass, eher grau. Die Brille mit dem silberfarbenen Metallrand und den großen Gläsern stammt sicher noch aus den Achtzigern. Alles ist grau an dieser Frau. Der Pullover hellgrau, der Schal blaugrau mit blassrosa Muster. Die viel zu weiten Jeans sind nicht jeansblau, sondern mausgrau. Darin können nur viel zu dünne und leichenblasse Beine stecken… Frau Bäker-Schulz wirkt kränklich, hat lange, bleiche, knochige Hände und eine schlecht durchblutete Haut. Und erst die Stimme: Ohne Klang, monoton, nicht von hier, sondern als käme sie aus einem dunklen, fensterlosen Verlies. So eine Stimme hat nur jemand, der flach atmet, dessen Atem es nicht wagt, den Brustkorb zu weiten und den Resonanzkörper zum Klingen zu bringen. Eine Stimme der Angst.
„Wo kann ich Sie absetzen?“
„In der Stadtstraße, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
„Das ist bei mir um die Ecke“, bemerkt Elisabeth. „Dann können wir ja zusammen fahren, wenn es vom Stundenplan passt.“
„Dann bis morgen. Ansonsten können S i e mich ja anrufen. Ich möchte niemandem zur Last fallen.“ Mit müden Schritten und hängenden Schultern verschwindet Frau Bäker-Schulz in dem schmutziggrauen Mietshaus, wo sie ein Zimmer bewohnt.