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VORWORT

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Als ich im Sommer 1970 als 20-jährige ETH-Studentin volljährig wurde, durfte ich weder an kantonalen noch an eidgenössischen Abstimmungen teilnehmen. Das Stimm- und Wahlrecht war den Frauen noch verwehrt. Nur auf Gemeindeebene und in der evangelisch-reformierten Kirche war ich stimm- und wahlberechtigt. Eine Abstimmung der Männer zur Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Zürich stand kurz bevor, und im darauffolgenden Frühling 1971 sollte die eidgenössische Abstimmung folgen. Ich spürte in jenem Jahr die verhaltene Hoffnung, dass die Zustimmung endlich gelingen möge und fieberte mit. Auf der anderen Seite entnahm ich aus Leserbriefen und Berichten zu öffentlichen Veranstaltungen, dass es noch immer zahlreiche Männer gab, die der Meinung waren, Frauen sollten sich besser um Haushalt und Kinder kümmern statt um politische Probleme. Bei uns im Zürcher Oberland waren solche Stimmen besonders präsent.

Meine sensible Wahrnehmung von konservativen gesellschaftlichen Wertvorstellungen hängt gewiss mit einem markanten Erlebnis in meiner Kindheit zusammen. Ich wurde 1950 in der Stadt Zürich geboren und verlebte die ersten knapp zehn Jahre am Rand der Stadt in Zürich Höngg als Zweitälteste zusammen mit zwei Schwestern und einem jüngeren Bruder. 1960 bezogen wir als Familie ein neugebautes Einfamilienhaus in Grüningen, im Zürcher Oberland. Alles war hier anders: die sehr ländliche Umgebung, die Kinder, die Erwachsenen, die Sprache. Und vor allem die Schule. Der Anfang in der neuen Klasse war sehr schwierig für mich. Ich trauerte dem modernen neuen Schulhaus in Höngg nach. In Grüningen gingen wir in einem Schulhaus mit Baujahr 1920 zur Schule.1 Wir sassen auf Holzbänken, die durch einen Fussrost mit den Tischen verbunden waren. Die Tische waren mit eingelassenen Tintenfässchen bestückt. Die Kinder sprachen langsamer als in der Stadt, und die Buben verwendeten viel öfter grobe Ausdrücke. Ich fühlte mich nicht wohl. Zum Glück hatten wir eine junge Lehrerin, die meine Nöte verstand und versuchte, mich nach Kräften zu unterstützen und zu fördern. Die Klasse war mit dem Schulstoff sehr viel weniger weit als meine damalige Klasse in Höngg. So war ich in den Fächern Sprache und Rechnen oft Schritte voraus. Ich wollte keine Aussenseiterin sein und blieb es dennoch. Dazu trug auch die Situation meiner Familie bei. Wir waren die Städter, die Fremden, meine Eltern die Studierten. Zudem trat meine ältere Schwester schon ein Jahr später ins Gymnasium in Wetzikon ein. Zwei Jahre später folgte ich ihr, später dann auch die beiden anderen Geschwister.

Wenn wir am grossen Tisch im Esszimmer versammelt waren, sprachen die Eltern oft über die bevorstehenden Abstimmungen. Gleichstellung in beruflichen Tätigkeiten war zwar noch kein Thema. Meine Mutter, ausgebildete Primarlehrerin, war seit der Heirat ausschliesslich im Haushalt tätig, abgesehen von ein paar kurzen Einsätzen als Stellvertreterin in der Schule, wenn «Not am Mann» war. Mein Vater, ursprünglich ebenfalls Primarlehrer, studierte weiter, um Sekundarlehrer zu werden, dann in Zoologie zu promovieren, als rechte Hand des Zoodirektors zu wirken und schliesslich Biologielehrer und Lehrerbildner zu werden. Mutter und Vater setzten sich beide vehement für die Einführung des Frauenstimmrechts ein. Sie waren zwar nicht politisch tätig, aber dieses Thema führte bei ihnen zu energischen Diskussionen. Bei uns zu Hause las man die Tat, die Tageszeitung des Landesrings der Unabhängigen. Für uns Kinder wurde die Forderung zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Stimm- und Wahlrechtsfragen eine Selbstverständlichkeit.

Von 1963 bis 1969 besuchte ich das Gymnasium an der Kantonsschule Zürcher Oberland. Die Schule war jung, genau an meinem Geburtstag, am 14. Juli 1950, hatte die Gemeindeversammlung Wetzikon dem Bau der Schule zugestimmt. Das erfuhr ich zwar erst, als ich die Schule schon längst abgeschlossen hatte. Aber irgendwie fühlte sich die Schule über all die Jahre als «meine» Schule an. Ich lernte gerne und schätzte die vielen Besonderheiten des damals ersten Landgymnasiums im Kanton. Und hier nun war das Oberland fortschrittlicher als die grosse Stadt. Die Stadtzürcher Gymnasien waren damals noch alle nach Geschlechtern getrennt. Wie stolz waren wir auf unsere fortschrittliche Schule.

Jeweils im 11. Schuljahr wurden staatsbürgerliche Arbeitstage durchgeführt. 1967 organisierte die damals einzige Mathematiklehrerin an der Kantonsschule Zürcher Oberland zusammen mit Kollegen die staatsbürgerlichen Arbeitstage. Das Thema lautete «Die Stellung der Frau in der Schweiz». Nicht alle unseres Jahrgangs beurteilten dieses Thema als dringend. Einige lachten versteckt oder offen über die Mathematiklehrerin, wenn sie sich in den Diskussionen ereiferte. Für mich aber waren es eindrückliche, prägende Tage. Namhafte Rednerinnen und Redner aus den Bereichen Recht, Wirtschaft und Politik boten uns eine breite Palette von Wissen, und in den Diskussionen konnten wir die Themen mit eigenen Erfahrungen und Meinungen vertiefen. Ich erinnere mich an eine Mitschülerin, die selbstbewusst verkündete, dass sie kein grosses Interesse an einem Studium oder an einer anderen Ausbildung nach der Matura habe, weil sie sicher Mutter werden und dann als Hausfrau zu Hause bleiben würde. Sie war nicht die Einzige, die eine solche Position vertrat. Ich war entsetzt. Mit der Matura in der Tasche würden uns alle Möglichkeiten der beruflichen Ausbildung offenstehen. Und da gab es Mitschülerinnen, die diese nicht nutzen wollten? Dafür hatte ich keinerlei Verständnis. Die Mathematiklehrerin hielt dann zwei Jahre später die Maturarede für unseren Jahrgang, natürlich zum Thema Gleichberechtigung. Sie sprach über die Geschlechterdiskriminierung in der Gesellschaft und zeigte dies an Gesetzmässigkeiten in der Berufswelt auf: Frauen würden je nach Konjunktur in den Arbeitsmarkt geholt beziehungsweise wieder ausgeschlossen; das Prestige eines Berufes sinke, je höher der Frauenanteil sei (typisch zum Beispiel bei den Lehrberufen); und die Anzahl Frauen in leitender Position sei kleiner, je höher die Hierarchiestufe sei. Gegen Ende ihrer Rede sprach sie uns nochmals eindringlich an: «Liebe Maturandinnen und Maturanden, es wird eine Zeit kommen – und vielleicht viel früher, als wir alle denken –, in der die Geschlechtsdiskriminierung nur noch im Geschichtsunterricht einen Platz haben wird, wie die Kinderarbeit und das Sklaventum.»2

Das war vor fünfzig Jahren. Die grossen Frauenrechtlerinnen und Politikerinnen der ersten Stunde gehörten unserer Müttergeneration an. Mit meinem Geburtsjahrgang gehöre ich zu den Frauen, die mit der Volljährigkeit 1970 noch kurze Zeit erlebten, was es bedeutete, kein politisches Stimmrecht zu haben. Das Brodeln in der Gesellschaft vor der denkwürdigen kantonalen und der eidgenössischen Abstimmung im November 1970 und im Februar 1971, die unbeschreibliche Freude, als ein deutliches Ja zustande kam, und schliesslich die neu erlangten Rechte nahm ich deshalb besonders bewusst wahr. Diese Jahre haben mich geprägt. Von jener Zeit an betrachtete ich politische und soziale Entwicklungen durch die Brille der Gleichberechtigung. Mein Blick wurde geschärft für Schwierigkeiten, die sich mir in meiner beruflichen Ausbildung und Tätigkeit ergaben, weil ich eine Frau bin.

Bewusst wählte ich eine Studienrichtung und eine Hochschule, die nicht als angemessene Vorbereitung für eine gängige Frauenkarriere galten: Naturwissenschaften an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Ich hatte zwar noch keine Ahnung, wo mich der berufliche Weg hinführen sollte. Aber ich wollte meinem Umfeld beweisen, dass Frauen genauso gut wie Männer ein naturwissenschaftliches Studium bewältigen konnten. Die Wahl fiel auf die ETH und nicht auf die Universität Zürich, an der damals schon bedeutend mehr Frauen als an der ETH Biologie studierten, weil ich rasch zu einem Diplom kommen wollte. An der ETH war dies nach einem vierjährigen Studium möglich. Man konnte ja nie wissen, wie es weitergehen würde.

Mit 27 Jahren begann ich, Tagebuch zu schreiben, um meine Erfahrungen und Beobachtungen zu verarbeiten. Damals war das Schreiben ein Bedürfnis, um immer wieder Orientierung zu finden. Was geschah? Was bedeutete mir das Erlebnis? Wo stand ich jetzt? Wo wollte ich hin? Diese Fragen begleiteten mich durch all die Jahre. Erst nach der Pensionierung reifte der Gedanke, dass ich meine Erfahrungen als Studentin, Forscherin, Mutter und Professorin festhalten und erzählen könnte. Ich beschloss zu berichten, wie das war, sich in einem neuen wissenschaftlichen Fach – der Umweltbildung – zu etablieren, zu heiraten und drei Kinder zu haben mit einem Partner, der die Familienaufgaben arbeitsteilig mittrug. Ich war im Wissenschaftsbetrieb nicht eine der Pionierinnen der allerersten Stunde, aber ich war eine der noch immer wenigen Frauen, die es auf einen Lehrstuhl schafften und eine der noch selteneren Frauen, die das mit einem Familienleben mit Kindern vereinbaren konnten. Nicht, dass das immer einfach gewesen wäre. Wenn wir heute unsere Enkelin hüten, sind die sehr anstrengenden Phasen in der Vergangenheit zwar nicht vergessen, aber die Dankbarkeit, dass das alles so möglich gewesen war, überwiegt.

Und so hoffe ich, dass diese autobiografische Erzählung, in der mein beruflicher Werdegang den roten Faden bildet, jungen Frauen – und jungen Männern – Mut macht, Familie und Karriere nicht als Gegensatz zu konstruieren, sondern als gemeinsam gestaltbare Lebensaufgabe anzupacken.


Regula Kyburz-Graber leitet 1986 den Weiterbildungskurs «Integrierte Naturlehre für Sekundarlehrer» im Kanton Freiburg. Die Lehrergruppe untersucht Bodenproben.

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