Читать книгу Carina - Reiner Kotulla - Страница 5
ОглавлениеEins
Ich habe Abstand gebraucht. Es ging nicht mehr, wirklich nicht. Immer wieder, nach jedem Streit nahm ich mir vor, zu gehen. Dann kamen die Gewissensbisse, und ich blieb. Regina kann nichts dafür, sagte ich mir immer wieder, sie ist so erzogen worden.
Jetzt bin ich hier auf dieser Insel im Norden, weit weg von Zuhause. Ich stocke bei dem Gedanken - Zuhause - das ist es doch gar nicht mehr, mein Zuhause, ein Ort, an dem ich mich wohlfühlen könnte. Dort, wo man mit einem Lächeln begrüßt wird, kommt man von der Arbeit heim.
Und sie war nicht leicht gewesen, meine Arbeit. Ich war, nein, ich bin es immer noch, Zahntechniker von Beruf. Doch seitdem Zahnärzte mithilfe einer Art CNC-Maschine Kronen und Brücken selber herstellen können, werden Zahntechniker arbeitslos. Wenn sie dann, wie ich, auf die fünfzig zugehen, haben sie auch anderweitig oft kaum noch eine Chance, einen neuen Job zu finden.
Regina sah das anders: „Besonders fleißig musst du ja wohl nicht gewesen sein“, sagte sie, als ich ihr von meiner Entlassung berichtete. Wortlos stellte sie dann den Teller mit der Graupensuppe vor mich auf den Küchentisch. Wie oft habe ich ihr zu verstehen gegeben, dass mir schon der Geruch dieser Suppe zuwider ist. Vielleicht war der mit dieser Pampe gefüllte Teller der Anlass für meine Flucht. Die Ursache dafür war er nicht.
Pflichtbewusst teilte ich der Arbeitsagentur mit, dass ich beabsichtige, Urlaub zu machen, hinterließ meine Handynummer, um im Falle eines Stellenangebots jederzeit erreichbar zu sein. Hier auf der Insel war die Urlaubssaison vorbei. So fand ich eine günstige Unterkunft in der Jugendherberge. Drei Wochen, dachte ich würde mein Geld ausreichen.
Um diese Jahreszeit, wenn es auf den Winter zugeht, sind in der kleinen Stadt fast alle Geschäfte geschlossen. Für die Inselbevölkerung und die wenigen Herbst- und Winterurlauber gibt es einen Lebensmittelhändler, eine Bäckerei, eine Metzgerei, eine Apotheke mit Drogerieabteilung und eine kleine Buchhandlung, dessen Besitzer man über eine Klingel erreichen kann. Von den Gaststätten, die man hier im Sommer zuhauf findet, haben nur noch zwei geöffnet, wovon die Eine eher ein Restaurant ist. Die Andere ist eine gemütliche Kneipe, einem englischen Pub nicht unähnlich. Und das nicht nur wegen seiner Einrichtung. Hier trifft sich Alt und Jung der Inselbevölkerung, und schon im November kann man sich für ein Weihnachtsessen eintragen. In dieses Pub zieht es mich immer, wenn mir in meiner Herberge die Decke auf den Kopf zu fallen droht.
So auch heute, einem Sonnabendabend, wie man hier den Samstagabend nennt. Ich stehe an der Theke und wechsele ein paar Worte mit Alfred, dem Wirt: über das Wetter, die Fußballergebnisse und die neuesten internationalen Ereignisse. Um am Inseltratsch teilnehmen zu können, gehöre ich wohl noch nicht lange genug dazu. Allerdings werde ich nicht ausgeschlossen, wenn Alfred mit Einheimischen über gemeinsame Bekannte spricht. Sicher, weil man davon ausgeht, dass ich die Leute eh nicht kenne.
„Weißt du“, sagt Alfred, der sich mir gegenüber bemüht, ein allgemein verständliches Deutsch zu sprechen, „für die nächsten Tage ist Sturm angesagt. Da könnte es zu Evakuierungen kommen.“
Ich höre ihm nur mit halbem Ohr zu, denn gerade schob sich der dicke Vorhang an der Eingangstür, eine Art Windfang zur Seite, und eine Frau betritt den Schankraum.
„Moin, Moin“, sagt sie in Alfreds Richtung.
„Moin, Moin, Frau Elbers“, erwidert Alfred ihren Gruß.
Sie wickelt den dicken Schal vom Hals, streift die Kapuze vom Kopf, zieht den Parka aus und hängt ihn samt Schal auf den Garderobenständer neben der Tür. Sie blickt sich unschlüssig um, entschließt sich, einen Platz an der Theke zu wählen. Alfred blickt sie in Erwartung einer Bestellung an.
„Ich hätte gern ein Pilz, Alfred.“
Also muss sie schon öfter hier gewesen sein, denke ich, doch noch nie in meiner Gegenwart. Sie wäre mir aufgefallen. Ich schätze sie auf Mitte zwanzig. Das schwarze Haar am Hinterkopf verknotet, könnte sie Spanierin sein, zumindest spanische Vorfahren haben. Sie trägt einen dunkelgrünen Pullover zu olivfarbenen engen Jeans und der Witterung entsprechende derbe Schuhe.
Alfred legt einen Bierdeckel vor ihr auf die Theke und stellt das gezapfte Bier darauf ab.
„Na denn mal Prost“, sagt er, um sich sogleich ans Spülen einiger Gläser zu machen.
Die Frau hebt das Glas an den Mund, trinkt einen Schluck, wischt sich mit dem Handrücken der linken Hand den Schaum vom Mund und stellt das Glas zurück auf den Bierdeckel. „Sag mal Alfred, stimmt das mit der Sturmflut?“
„Ob es eine Sturmflut wird, Carina, weiß man noch nicht.“ Er spricht sie jetzt mit ihrem Vornamen an, die Begrüßung mit dem Nachnamen, war sicher nur formal gemeint, überlege ich.
„Hmmh“, macht sie, und damit scheint das Thema zwischen den beiden abgehakt zu sein. Für mich ein Grund zum Nachfragen. Ich wende mich an die Frau: „Haben Sie hier schon einmal eine solche erlebt?“
Die sendet einen kurzen unbeteiligten Blick in meine Richtung und antwortet, auf die Regalwand hinter der Theke blickend: „Nein, während der Zeit, die ich jetzt hier bin, noch keine.“
„Sind Sie schon lange hier“, hake ich nach.
„Drei Wochen“, und den Blick auf Alfred gerichtet, „tatsächlich, Alfred, heute sind es genau drei Wochen.“
Ich nehme an, dass sie sich lediglich aus Höflichkeit kurz mir zuwendet: „Und Sie?“
„Drei Tage“, antworte ich in der Hoffnung auf einen weiteren Gesprächsanlass. Doch der ergibt sich nicht. Man kennt die Situation im Fahrstuhl, wenn man dort zu dritt steht, und nicht weiß, wo man hinschauen soll, darauf hoffend, schnell auf der gewählten Etage anzukommen.
Schließlich ist es Alfred, der helfend eingreift, indem er vom letzten großen Sturm berichtet, der allenthalben für Schäden an so manchem Gebäude gesorgt hat. Wir hören ihm beide zu. Danach wieder Stille.
Endlich richtet sie eine Frage an mich: „Was hat Sie denn um diese Jahreszeit hierher verschlagen?“
Was soll ich sagen? Etwa: Die frische Meeresluft, im Sommer keinen Urlaub bekommen oder eine andere Ausrede erfinden? Ich entschließe mich für eine Halbwahrheit: „Meine Frau kümmert sich um ihre kranke Mutter.“ Regina hatte tatsächlich die Absicht geäußert, ihre alte Mutter zu besuchen.
Kaum gesagt, wendet sich die mit Carina angesprochene an mich, plötzlich anscheinend interessiert: „Man muss einfach mal getrennt Urlaub machen, meinen Sie nicht?“
„Sie auch“, rutscht es mir raus.
„Ich bin nicht verheiratet“, sagt sie und denkt: Zum Glück nicht, so hat es keine Konsequenzen. Und hier vermutet er mich bestimmt nicht. Eher dort, wo es mich seiner Ansicht nach hinzieht, wo ich die Männer finde, mit denen ich gut kann. Doch wie man sieht, auch hier kann ich auf interessante Männer treffen. Nicht übel, Mitte vierzig, im besten Alter.
Ich bin überrascht, dass sie sich auf einmal mir zugewandt hat, suche krampfhaft nach einem Gesprächsstoff, will vor allen Dingen mehr über sie wissen.
„Sie wohnen in der Nähe?“, frage ich und komme mir etwas aufdringlich vor dabei.
„Ja, direkt um die Ecke, im Inselgraf.“
Gestern bin ich an diesem Hotel vorbeigelaufen und habe ein wenig neidisch durch die großen Fenster in die Lobby geschaut. Bestimmt hundertfünfzig Euro die Nacht, wenn nicht mehr.
„Eine schöne Herberge“, sage ich und denke an die Meine, „und bestimmt nicht ganz billig?“
„Ich kann es mir leisten“; sie lacht und fährt fort: „Mein Verstorbener bezahlt“, wieder lacht sie, als hätte sie sich einen Scherz erlaubt.
„Hab ich noch nie von innen gesehen, ein solches Haus.“ Als ich es ausspreche, erkenne ich die Absicht und hoffe erneut, nicht allzu plump zu wirken, zumal ich dabei für einen kurzen Moment auf ihren Mund blickte: kirschrote, herzförmige Lippen. Als hätte sie es erwartet, kommt die Antwort: „Schauen Sie doch mal vorbei, wenn Sie Lust haben.“ Sie wendet sich an den Wirt: „Ich will denn mal weiter, Alfred, schreib´s an.“
Und wieder zu mir hin: „Fragen Sie an der Rezeption nach Carina Elbers.“
Sie wendet sich zum Garderobenhaken, zieht sich an. Dann den Vorhang schon zur Seite schiebend: „Bis dann, Valentin.“
Sprach mich der Wirt mit meinem Vornamen an? Muss wohl so sein, denn woher sonst sollte sie meinen Namen kennen? Seltsam kam mir das alles vor. Anfangs hat sie mich doch gar nicht beachtet. Was war passiert? Worauf beruhte ihr plötzliches Interesse an mir? Gedankenverloren blicke ich zu Alfred hin, der ihr Glas spült. Er lächelt vielsagend.