Читать книгу Der Aufpasser - Reiner W. Netthöfel - Страница 3
Der Auftrag
Оглавление„Scheiße!“ Warum musste das Telefon ausgerechnet jetzt gehen? Er hatte sich gerade fertig gemacht, die Regenfront war schon in der Ferne zu sehen. Wenn er jetzt loslief, würde er es noch schaffen, aber das dämliche Telefon würde ihn aufhalten. Sollte er einfach nicht rangehen? Er schaute sich das Gerät an. Natürlich keine Nummer. Unterdrückt. Er drückte einen Knopf auf einem schwarzen Plastikkasten neben dem Telefon und nahm ab.
„Ja?“, fragte er barsch. Ein Brummen war zu hören, sonst nichts.
„Wer ist da?“, schrie er ungeduldig in das Mikrofon.
„MW? Sind Sie MW?“, hörte er eine amerikanisch sprechende Männerstimme ziemlich undeutlich. Er war geneigt, sich einen schwarzen Mann vorzustellen, denn die Stimme war eine typisch schwarze: tief und kehlig. Das Alter des Mannes war jedoch für ihn nicht bestimmbar.
„Wer will das wissen?“ Immer noch barsch. Er meinte, ein Lachen zu hören.
„Nun ja, nehmen wir einmal an, ich hieße Jackson Browne.“ Scherzkeks.
„Wie witzig. Woher haben Sie diese Nummer?“ Er würde sie ändern lassen müssen.
„Oh, Sie haben Referenzen.“ Referenzen, die diese Nummer weitergeben? Die hatte er sicher nicht. Schon gar nicht veröffentlicht. Wenn er schnell lief, würde er es vor dem Regen nach Hause schaffen. Hoffte er.
„Wovon sprechen Sie?“
„MI 5, CIA, Mossad, BND, BKA und andere.“ Was ging hier vor? Es brummte.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Eindeutig ein Lachen.
„Doch, wissen Sie. Ich muss Sie dringend treffen.“
„Ich treffe mich nicht mit Leuten, deren Namen ich nicht kenne.“
„Ich sagte doch, ich heiße Jackson Browne.“
„Womöglich sind Sie die Jackson Five.“ Ein kehliges Lachen ertönte.
„Sie haben Humor.“
„Kommt drauf an.“
„Es ist sehr dringend.“ Kein Lachen, kein Humor, das war purer Ernst.
„Woher haben Sie die Nummer?“, insistierte MW.
„Ich sagte es bereits.“
„Sind Sie diesen Kreisen zuzuordnen?“
„Ja.“ Immerhin war das eine klare Antwort.
„Worum geht es?“
„Um einen Auftrag.“
„Ach.“, tat er desinteressiert.
„Und um zehntausend Dollar.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich.“, brummte er ärgerlich.
„Pro Tag.“ Er zog die Brauen hoch.
„Oh.“
„Eben.“
„Bei welchem Dienst sind Sie?“
„Kein Dienst. US-Regierung.“
„Wie kann ich da sicher sein?“
„Wie ich hörte, haben Sie die Möglichkeit, das zu überprüfen. Wenn Sie in den nächsten fünf Minuten folgende site ansteuern,“ sein Gesprächspartner gab einen link durch, „und Jackson Browne eingeben, haben Sie meine Legitimation.“
„Hm.“
„Werden Sie es tun?“
„Was tun?“
„Es überprüfen.“
„Weiß nicht.“
„Es ist wichtig. Und denken Sie an die zehntausend.“
„Die sind nicht wichtig.“
„Zehntausend am Tag sind nicht wichtig?“ Der Mann klang schrill.
„Genau.“
„Mannomann. Überlegen Sie es sich.“
„Mal sehen.“ Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass er nass werden würde.
„Wann kann ich Sie zurückrufen?“, fragte der Fremde.
„Ich rufe Sie an.“ Ein kehliges Lachen. Er musste gestehen, es war nicht unsympathisch.
„Das geht nicht, sie können mich nicht zurückrufen.“
„Warten Sie es ab.“, schmunzelte MW und beendete das Gespräch. Er wählte die geheime Nummer.
„Alles mitbekommen?“, fragte er.
„Si.“, erklang eine helle Stimme.
„Ich gehe jetzt auf die Piste. In einer Stunde bin ich wieder da, dann will ich den Typen zurückrufen können und etwas über ihn wissen.“ Aus den Lautsprechern im Wohnzimmer erklang Joe Cockers ‚I can stand a little rain‘.
„Wird knapp.“
„Du schaffst das.“
„Das meine ich nicht.“
„Was denn?“
„Die Regenfront.“ Abermals lupfte er die Brauen. Woher konnte sie das wissen?
MW wurde pitschenass, aber immerhin war der Regen warm gewesen.
Frisch geduscht und gut gelaunt studierte er die Informationen, die er von seiner Partnerin erhalten hatte und wählte.
„Sie heißen ja tatsächlich Jackson Browne.“ Er hörte immer noch ein Brummen.
„Verdammt, wo haben Sie die Nummer her?“ Der Kerl klang aufgeregt. MW lachte.
„Was Sie können, kann ich auch.“
„Ich habe keine Referenzen.“
„Das ist aber schade. Wenn Sie meine Referenzen kennen, müssten Sie wissen, dass ich gut bin.“
„Ich wusste nicht, dass Sie so gut sind.“
„Nun wissen Sie es.“
„Haben Sie es sich überlegt?“
„Was?“
„Ob Sie den Auftrag annehmen.“
„Ich weiß ja nicht einmal, um was es geht.“
„Deshalb will ich mich ja mit Ihnen treffen.“
„Na ja, unterhalten können wir uns ja mal. Geht das nicht telefonisch?“
„Ich bin in vier Stunden bei Ihnen.“ MW ließ fast das Telefon fallen.
„Oh, so schnell?“
„Wir landen in einer Stunde.“
„Sie scheinen ja ziemlich sicher gewesen zu sein, dass ein Treffen zustande kommt.“, sprach MW tadelnd.
„Es blieb mir nichts anderes übrig.“ Stand der Mann etwa unter Druck?
„Ich bestelle einen Tisch in einem Restaurant.“ Er nannte seinem unbekannten Gesprächspartner das Restaurant und begann, eine gewisse Vorfreude auf das Treffen zu entwickeln.
„Eine Frage noch.“
„Bitte.“
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Lassen Sie es bei MW oder finden Sie es heraus.“ Am anderen Ende war eine Art Grummeln zu hören und MW dachte schon, dass es das war. Er irrte sich aber hiermit.
„Noch eine Frage.“, hörte er nämlich einen Nachtrag.
„Okay, Columbo.“
„Wie erkenne ich Sie?“
„Wenn Sie Referenzen über mich haben, müssten Sie wissen, wie ich aussehe.“
„Sie haben viele Gesichter.“
„Bringt der Beruf so mit sich. Wir werden uns schon nicht verfehlen.“
Der Fahrer weckte seinen Fahrgast, als der Wagen hielt.
„Wir sind da, Sir.“ Browne schlug mühsam die Augen auf und sah aus dem Fenster in den Abend. Was er sah, konnte ihn nicht recht erfreuen, es handelte sich nämlich um die Backsteinfassade eines alten, unansehnlichen, mehrstöckigen Hauses, dessen Außenmauern dezente Leuchtreklamen zierten; einzig die geschmackvoll dekorierten Fenster gaben Anlass zu der Hoffnung, dass es sich bei dem Restaurant nicht um die Kaschemme handelte, die der erste Eindruck nahelegte.
„Ist das die richtige Adresse?“, fragte Browne misstrauisch, er traute MW nämlich vieles zu.
„Jepp.“
„Na, dann will ich mal.“, bereitete sich Browne auf den Einstieg in ein abenteuerliches Unterfangen vor und stieg aus.
„Soll ich nicht warten, Sir?“, wollte der Fahrer wissen.
„Nein.“, sagte Jackson Browne kategorisch; er hatte sich nämlich etwas vorgenommen. Er wollte erreichen, was in seinen Kreisen als unerreichbar galt: er wollte hinter das Geheimnis von MW kommen, und hierzu, so stellte er sich das vor, müsste er in dessen Sphäre eindringen. Er sah der davonfahrenden Limousine zufrieden nach.
Die Zufriedenheit wollte einer gar nicht einmal so unbestimmten Furcht weichen, als er sich dem Eingang des Lokals näherte, denn schließlich war MW nicht gerade freundlich gewesen am Telefon. Aber immerhin hatte der ihn hierhin eingeladen. Mit diesem Gedanken neuen Mut gefasst, betrat er entschlossen den Gourmettempel.
Als ein schlanker, schwarzer Mann um die vierzig, in einem braunen Anzug, mit kurzen Haaren und einem dezenten Schnurrbart, das nicht ganz voll besetzte Restaurant betrat und sich im von leisem Gemurmel und Geräuschen, die Bestecke auf Porzellan machten, erfüllten Halbdunkel des großen Raumes suchend umblickte, drehten sich nicht nur einige Gäste nach ihm um, sondern MW bestellte beim Kellner umgehend ein Glas Sekt, dann winkte er dem Schwarzen mit der Reisetasche zu, so dass dieser an seinen Tisch trat. Das Blau der Krawatte passt nicht zum Braun des Anzugs, dachte MW. Typisch amerikanisch.
Gemütlich. Das Restaurant wirkte gemütlich auf Jackson Browne, obwohl es nicht die Gemütlichkeit ausstrahlte, die er in diesem Land erwartet hatte, mit barocken Formen und viel Eichenholz und so. Ein unscheinbarer Mann mit kurzen, dunklen Haaren, der allein an einem der Tische saß, winkte. Beinahe hätte er ihn übersehen.
„Mr. MW?“, fragte der Schwarze unsicher. MW nickte und musterte den Neuankömmling neugierig.
„Jackson Browne?“
„Ja.“ Einen Augenblick hatte MW den Eindruck, sein Gesprächspartner würde militärisch grüßen wollen.
„Sehen Sie, war doch gar nicht so schwer. MW reicht übrigens.“ MW wies auf einen freien Stuhl und der Kellner brachte den Sekt.
„Gibt’s was zu feiern?“ MW prostete dem irritierten Browne zu.
„Wissen Sie, wenn ich mit Fremden telefoniere, versuche ich mir vorzustellen, wie sie wohl aussehen. Klappt fast immer.“ Er stellte das leere Glas ab. „Wenn ich ihr Alter hätte schätzen können, hätte ich mir Champagner bestellt.“ Erstaunt nahm Browne Platz und bestellte ein Bier, weil MW das empfohlen hatte und er seinen Gesprächspartner nicht enttäuschen wollte, schließlich hatte er einen Plan. Und einen Auftrag.
„Wenn Sie ausgerechnet mich engagieren wollen, ist dieser Auftrag wohl, sagen wir mal, delikat. Sonst könnten Sie ja irgend ein Detektivbüro engagieren, oder staatliche Dienste in Anspruch nehmen.“, fiel MW mit der Tür ins Haus und überraschte damit Browne.
„Sie kommen aber schnell zur Sache. Ich dachte, wir machen erst einmal Konversation.“, erklärte Browne verdutzt. MW grinste ihn an.
„Machen wir doch.“ MW deutete auf die Reisetasche. „Wollen Sie länger bleiben?“ Browne machte sich wichtig, indem er die Brust rausstreckte und sich ein wenig größer machte.
„Normalerweise hätte ich dieses Treffen anders arrangiert. Ich hätte eine Art Hauptquartier gehabt, Sie wären zu mir gekommen …“, versuchte Browne gestenreich zu erklären, wurde aber unterbrochen.
„Irrtum, ich führe Regie, und zwar immer.“ Browne sah seinen Gesprächspartner an und sah, dass dieser es ernst meinte.
„Die Sache ist eben, wie Sie sagen, sehr delikat und duldet keinen Aufschub. Weil wir wissen, dass Sie … äh, nicht so einfach sind, kommen wir Ihnen sehr entgegen.“ MW horchte auf.
„Nicht so einfach?“
„Sie wissen schon.“, erklärte Browne.
„Nein.“, brummte MW schroff und trank Bier.
„Sie sind ein Einzelgänger, meiden die Öffentlichkeit …“
„Na ja.“ Browne wertete dies als Eingeständnis und lehnte sich zufrieden zurück.
„Ja, wir kommen Ihnen also sehr weit entgegen.“, versuchte er sich in ein Licht zu rücken und seine Wichtigkeit zu unterstreichen.
„Hoho, wie weit soll das gehen?“, wollte MW nun doch wissen, denn er ahnte etwas. Browne ergriff diese Frage als Gelegenheit beim Schopfe.
„Kann ich bei Ihnen übernachten?“, platzte es aus dem Amerikaner heraus. MW sah Browne über den Rand seines Glases entgeistert an.
„Kommt gar nicht in Frage. Nehmen Sie sich ein Zimmer.“, bellte er.
„Wo?“ Gute Frage. In der Nähe gab es zwar Hotels, die aber wegen einer Messe in der Nachbarstadt garantiert ausgebucht waren, das hatte Browne nämlich schon probiert, indem er ein paar Telefongespräche geführt hatte. Seine Frage aber blieb vorerst unbeantwortet, denn MW grummelte nur vor sich hin. Also studierte Browne lieber die Speisekarte, denn das Thema erschien ihm zu heikel, als es zu vertiefen. Das mit dem Studium der Karte war aber nicht so einfach, wie er sich das gedacht hatte; er hatte eben kaum Auslandserfahrung.
„Helfen Sie mir mit der Karte?“, fragte er. MW sah ihn erstaunt an und wies mit einer Geste auf Brownes Speiseverzeichnis.
„Sie halten sie doch schon ganz passabel.“ Browne verdrehte die Augen und gab etwas zu, nämlich:
„Ich kann kein Deutsch.“ MW grinste schadenfroh.
„Alles andere hätte mich auch gewundert.“ Browne runzelte die Stirn.
Nach dem Essen wollte MW wissen, ob es geschmeckt hatte.
„Ist was anderes als Burger und Pommes, nicht wahr?“
„Vorurteile haben Sie nicht, nein?“, sprach Browne durch seine Stoffserviette hindurch, die er zum Zwecke der Säuberung gerade vor seine Lippen hielt, was MW bei seinem Gast für eine angelernte Kulturtechnik hielt.
„Vorurteile können ganz nützlich sein. - Sollen wir uns beim Digestif mal dem wesentlichen nähern?“
Nachdem der Obstbrand verkostet war und frische Biere vor den Männern standen, näherten sie sich in der Tat dem Kern, wobei Browne aufgrund der Flugstrapazen und des ungewohnten Alkoholgenusses einige Anläufe brauchte.
„Sie trinken ganz schön viel.“, bemerkte der Amerikaner.
„Kann es vertragen, was man von Ihnen nicht behaupten kann.“, stellte MW belustigt fest.
„Ich glaube, ich sagte bereits, dass Sie sehr direkt sind.“, entgegnete Browne etwas beleidigt.
„Sie wiederholen sich, ja. Liegt das am Alkohol?“, fragte MW irreführend.
„So etwas kann schnell als Beleidigung aufgefasst werden.“, wurde MW genauso belehrt.
„Wollen Sie mir Benehmen beibringen?“
„Ich meine ja nur.“, ruderte der Schwarze zurück.
„Behalten Sie Ihre Meinung für sich. – Also, was führt Sie zu mir?“ Browne sah sich um. Die Tische waren eher spärlich besetzt und standen weit auseinander, so dass zu dieser Art von Verhalten kein Anlass bestand, fand MW.
„Sollen wir tatsächlich hier darüber reden?“, flüsterte der Ausländer verschwörerisch, hatte aber mindestens einen Nebengedanken.
„Hätten Sie eine Alternative?“, fragte MW und dachte an mögliche Nebengedanken seines Gegenübers.
„Nun, wir könnten doch zu Ihnen …“ MW’s Gesicht verzog sich, als durchzucke ihn ein heftiger Schmerz.
„Browne! Ihren Südstaatenakzent versteht doch sowieso niemand hier.“ Obwohl der wie ein Fake klingt, dachte MW.
„Aber Sie sprechen ein recht deutliches Englisch.“
„Danke, dann werde ich wenig sagen oder flüstern.“
„Ich weiß nicht …“ Browne wiegte seinen Kopf.
„Sollen wir in Mandarin verhandeln?“, schlug MW vor. Browne sah ihn mit großen Augen an.
„Sie können Mandarin?“
„Das habe ich nicht gesagt. – Also, schießen Sie endlich los, bevor Sie nur noch lallen können.“
„Vielleicht sollte ich einen Kaffee …“
„Wenn Sie meinen, dass der hilft.“ MW ließ sich gegen die Lehne seines bequemen Stuhles fallen und musterte die Decke über sich. Browne bestellte einen Kaffee und zog eine rote Mappe aus seiner Reisetasche. Er legte die Mappe auf den Tisch, ohne sie zu öffnen und sah sein Gegenüber bedeutungsschwer an, als beinhalte die Mappe den Schlüssel zu ewigen Wahrheit. Er legte einen Zeigefinger auf sie, sagte aber nichts. MW sah sich das Ganze amüsiert an und fragte dann spottend:
„Browne, haben Sie das Sprechen verlernt?“ Browne schüttelte sich und sah MW in die Augen.
„Es geht um eine junge Frau. Fünfundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Miami, Florida. Das ist im Sü …“
„Ich weiß, wo Florida ist.“, beschied ihn MW barsch.
„Waren Sie schon einmal da?“, fragte Browne erstaunt.
„Nein, aber ich weiß es trotzdem. Ich weiß zum Beispiel auch, dass es auf der Sonne heiß ist, ohne dort gewesen zu sein. Machen Sie weiter.“
„Die Dame ist, äh, etwas schwierig.“
„Dann suchen Sie sich einen Erzieher, für die Bändigung von schwierigen Kindern bin ich nicht zu haben.“
„Sie ist kein Kind mehr.“, streute Browne eine von ihm geglaubte Wahrheit.
„Eine schwierige Fünfundzwanzigjährige ist wie ein Kind.“, belehrte ihn MW.
„Aha. Sie wuchs ohne Eltern auf und war recht flatterhaft. Hat geklaut, Gras geraucht, sich geprügelt. Beamtenbeleidigung und so weiter. War in allerlei Straßengangs. Kein unbeschriebenes Blatt also. Vorstrafen. Setzte sich mit achtzehn in den Kopf, Pornodarstellerin zu werden, was sie dann mit einundzwanzig auch wurde. Vorher war sie so eine Art Aktmodell. Hatte bereits mit vierzehn regelmäßigen Geschlechtsverkehr, mit stetig wechselnden Partnern. Na ja, so absurd sich das anhört, dieser Pornojob regelte ihr Leben. Sie musste früh raus, hatte Verpflichtungen, musste fit sein, musste auf ihre Gesundheit achten. Sie war so eine Art Shootingstar in dem Metier. Ihr Name ist Emmy Blunt.“ MW fiel eine Frage ein.
„Geschlechtskrankheiten?“ Browne schüttelte den Kopf.
„Erstaunlicherweise nicht. Kein HIV.“
„Seit wann kümmert sich die US-Regierung um gefallene Mädchen? Ist das ein neues Sozialprogramm oder so etwas?“
„Natürlich nicht. Der Onkel dieser Dame ist eine sehr hoch gestellte Persönlichkeit.“, erklärte Browne verschwörerisch mit gesenkter Stimme und fühlte sich von MW’s forschendem Blick durchleuchtet. MW legte einen Zeigefinger auf die Mappe.
„Ist sie schwarz?“ Browne war irritiert. Sollte MW farbenblind sein? Dann wäre er eigentlich für den Job nicht geeignet.
„Sie sehen, doch, dass sie rot ist.“ Jetzt war es an MW, irritiert zu sein.
„Eine Indianerin?“, fragte er erstaunt.
„Wer?“, wollte Browne verblüfft wissen.
„Die Frau.“
„Nein.“. meinte Browne bestimmt.
„Sie sagten, sie sei rot.“
„Ich meinte die Mappe.“
„Verdammt, Browne! Welche Hautfarbe hat die Dame?“, jaulte MW und sah an die Decke.
„Ich würde es ein mittleres Dunkelbraun nennen.“
„So wie Sie?“
„Ähnlich.“
„Also schwarz. Ich muss mal.“ MW stand auf und verließ den Raum.
Im Waschraum fingerte er sein Telefon aus der Tasche und gab eine Nummer ein, die nur er kannte. Nahm er jedenfalls an.
„Ich bins. Kannst du schnell herausfinden, ob der US-Präsident eine etwa fünfundzwanzigjährige Nichte namens Emmy Blunt hat? Schick eine sms.“
„Wie schnell?“, fragte seine Partnerin routiniert.
„Sofort!“ MW beendete das Gespräch. Sie klingt irgendwie verschnupft, dachte er.
„Na, geht’s Ihnen jetzt besser?“, grinste Browne und schlürfte seinen Kaffee. MW orderte Bier, nachdem er die Frage souverän ignoriert hatte.
„Wie schmeckt Ihnen das Bier?“, wollte er von dem Amerikaner wissen.
„Besser als der Kaffee.“, gab der zu, bereute das aber sofort.
„Dann sollten wir bei Bier bleiben.“, schlug MW nämlich vor, das dann auch bald kam. MW’s Handy kündigte eine Mitteilung an, die er mit ausdruckslosem Gesicht las, dann sah er ebenso sein Gegenüber an. In solchen Momenten könnte er jedes Pokerspiel gewinnen.
„Okay, Mr. Jackson Browne, was habe ich mit der gefallenen Nichte des US-Präsidenten zu tun?“ Browne verschluckte sich am Bier und rang nach Luft.
„Welcher Präsident?“
„Tun Sie nicht so. Ihr Präsident. Emmy Blunt ist seine Nichte, und um die geht es ja wohl.“
„Woher …“ Browne wurde durch eine harsche Geste am Weiterfragen gehindert.
„Lassen Sie es gut sein, Browne. Sie wissen, dass Informationsbeschaffung zu meinen Stärken gehört, wenn Sie meine Referenzen aufmerksam studiert haben.“
Es brauchte eine Weile, bis sich Browne wieder beruhigt hatte, dann traf er die Feststellung: „Mrs. Blunt hat nicht nur Freunde.“ MW lehnte sich pustend zurück.
„Ach was. Jemand, der Polizeibeamte beleidigt, an Kämpfen zwischen Straßengangs beteiligt ist, stiehlt und was sonst noch, hat nicht nur Freunde?“, höhnte er. Browne schüttelte den Kopf und wurde ernst.
„Bei ihr ist eingebrochen worden. Zwei Mal. Auf jeden Fall hat sich jemand Zutritt zu ihrem Appartement verschafft. Keine Spuren. Beim ersten Mal hat der Täter zwei Silikonattrappen weiblicher Brüste hinterlassen. Sie waren zerhackt. Beim zweiten Mal ein Modell einer Vagina mit einem Messer drin.“ MW’s Miene war immer noch unbewegt.
„War wohl ein heimlicher Fan?“, äußerte er einen Verdacht. Browne verzog das Gesicht vor MW’s Sarkasmus.
„Seit ihr Onkel Präsident ist, ist sie raus aus dem Geschäft.“ MW schaute skeptisch.
„Aber die Fotos und Filme gibt es doch wohl noch?“
„Sicher. Es ist nicht auszuschließen, dass es ein durchgeknallter Fan war. Das ganze scheint aber noch einen anderen Hintergrund zu haben. Die Attrappen waren schwarz.“ MW wirkte jetzt ganz leicht irritiert, was Browne heimlich freute.
„Wie?“
„Die Hautfarbe.“, erklärte der Amerikaner nachsichtig.
„Ein rassistischer Hintergrund?“ Browne nickte.
„Hinzu kommt eine Serie von bestialischen Morden an schwarzen Prostituierten, Pole-Tänzerinnen, Stripperinnen, Pornodarstellerinnen, nicht nur in Florida, sondern überall im Lande, vorzugsweise im Süden. Die Leichen waren grausam zugerichtet.“
„Zerfetzte Brüste und Vaginen?“
„Ja. Zudem rassistische Symbole. Brennende Kreuze.“
„Der Klan?“
„Möglich. Auf jeden Fall gibt es keinerlei Spuren, nichts. Das letzte Opfer war eine Bekannte Emmys aus der Branche, die in heller Aufregung ist. Verstehen Sie jetzt, warum die Regierung sich um das gefallene Mädchen kümmert?“
„Annähernd. Bestimmt aber nicht, weil ihr die Pornoindustrie am Herzen liegt. Ist sie freiwillig ausgestiegen, als ihr Onkel Präsident wurde?“
„Was heißt schon freiwillig? Sie hat es wohl eingesehen.“ MW schien das zu schnell geschossen.
„Sicher?“, fragte er deshalb sicherheitshalber nach. Brownes Blick senkte sich.
„Nein.“, gab der zu.
„Was macht sie jetzt? Womit verdient sie ihr Geld?“
„Sie versucht sich in Webdesign und Fotografie.“
„Kann sie davon leben?“
„Man hilft ihr.“
„Vitamin B?“
„Ja.“ MW zog die Mappe zu sich, blätterte und wurde bleich.
„Hübsches Mädchen. Donnerwetter!“ Er war bei den Fotos angelangt, die sie bei der Arbeit zeigten. „So einen Körper habe ich überhaupt noch nicht gesehen.“
„Ja, sie ist eine schöne Frau, sehr körperbewusst, ihr Körper war ja mal ihr Kapital, sehr sportlich.“
„Warum stellen Sie ihr nicht einfach zwei Bodyguards zur Seite?“
„Ihr Onkel wollte den Besten; außerdem sehen Sie nicht wie ein Bodyguard aus. Es soll alles sehr … diskret sein.“ MW sah sein Gegenüber scharf an.
„Wie, dachten Sie sich denn, soll ich auf sie aufpassen?“ Browne wurde rot, obwohl er auf diese Frage, die im Laufe ihres Gesprächs einfach fallen musste, vorbereitet war. Immer und immer wieder war er diese Szene während des Flugs prophylaktisch durchgegangen. Dass dieser MW sich als mehr als nur schwierig herausstellen würde, hatte er allerdings dabei nicht bedacht.
„Indem Sie bei ihr einziehen.“, nuschelte er und sah auf die Tischdecke. MW verzog das Gesicht.
„Sie wollen, dass der Täter zuschlägt, wenn ich dabei bin, weil er mich möglicherweise unterschätzt und ich dann die Kartoffeln aus dem Feuer hole, indem ich die Arbeit der Polizei mache?“
Browne wurde verlegen und hob beschwichtigend die Hände.
„Wir wollen nur kein Aufsehen erregen. Es sollen so wenig staatliche Stellen einbezogen werden, wie möglich.“ MW bohrte nicht weiter nach, obwohl er keine Antwort auf seine Frage in Brownes Einlassung entdecken konnte.
„Ich bin kein Ermittler, kein Kriminalist.“, stellte er klar.
„Wissen wir, Sie sollen einfach nur auf sie aufpassen.“ MW winkte ab.
„Ich bin kein Kindermädchen.“ Browne wurde jetzt geschäftsmäßig.
„Sie haben den israelischen Außenminister vor einem Attentat bewahrt, Sie haben Ihre Kanzlerin aus der Schusslinie eines Scharfschützen befördert, Sie haben ein Sprengstoffattentat auf die britische Botschaft in Indonesien verhindert, soll ich weiter machen?“
„Ich weiß, was ich getan habe.“ Die Männer schwiegen und tranken.
„Wissen Sie, was merkwürdig ist?“, fragte Browne nachdenklich.
„Hm?“
„Es ist nie beobachtet worden, dass Sie die Täter angegriffen, oder auch nur berührt hätten; Sie sind teilweise noch nicht einmal in deren Nähe gesehen worden.“ MW sah durch den Raum.
„Tja, ich habe so meine Methoden.“
„Wie sind Sie in diese Branche geraten?“, fragte Browne aus ehrlichem Interesse. MW’s grauer Blick bohrte sich in die braunen Augen Brownes.
„Welche Branche?“
„Security.“ MW lächelte.
„Na ja, wenn Sie meinen, dass ich in Security mache, bitte. – Es fing damit an, dass ich der Feuerwehr geholfen habe, eine Katze von einem Baum zu retten.“
„Ein Klettermaxe.“, rief Browne erfreut.
„Nein, ich habe Höhenangst.“ Brownes Gesicht zeigte tiefe Enttäuschung, aber auch Neugier.
„Was ist passiert?“
„Ich habe, sagen wir mal, die Katze veranlasst, herunterzukommen.“
„Katzenflüsterer?“ MW stimmte in das Lachen des Schwarzen ein.
„Vielleicht. Mein nächster Fall war ein ausgebrochener Braunbär, der im Zoo die Leute erschreckte. Ich war zufällig in der Nähe. Er wird wahrscheinlich niemals mehr freiwillig sein Gehege verlassen.“
„So schwer haben Sie ihn verletzt?“, staunte Browne.
„Nein, ich habe ihn gar nicht angerührt. Er ist traumatisiert. Wenn er mich sieht, verzieht er sich in die hinterste Ecke seines Geheges.“ Diese Worte waren mit großem Ernst gesprochen worden, so dass Browne sein Lachen im Halse stecken blieb.
„Dann ein paar Zufallsbegegnungen. Einbrüche, Überfälle, versuchte Körperverletzung, so etwas. Der Polizei fiel irgend wann auf, dass ich häufig Zeugenaussagen machte. Wir arbeiteten locker zusammen, das sprach sich herum. Privatleute engagierten mich, ich machte mich selbständig, staatliche Stellen wurden auf mich aufmerksam, fortan arbeitete ich mehr im Verborgenen, Sie kennen das.“
„Und dann betraten Sie die internationale Bühne.“
„Genau, und deshalb sitzen Sie jetzt hier.“
„Werden Sie den Auftrag annehmen? Wie gesagt, mit den Ermittlungen werden Sie nichts zu tun haben, es sei denn, Sie wünschen das, oder hätten etwas beizutragen.“
„Wie lange soll das gehen?“
„Was?“
„Die Aufpasserei.“ Browne wurde wieder rot, denn auch auf diese Phase des Gesprächs hatte er sich gründlich vorbereitet, doch ahnte er bereits, dass die Zehntausend am Tag diesen Mann nicht über seinen Schatten springen lassen würden.
„Bis keine Gefahr mehr besteht.“ Browne sah in das verzerrte Gesicht seines Gegenübers. „Oder Sie keine Lust mehr haben.“, schob er eilig nach. Das Gesicht entspannte.
„Lassen Sie uns noch ein Bier trinken.“, schlug MW vor, aber Browne wirkte nicht glücklich über diesen Vorschlag.
„Ich kann nicht mehr. Ich bin seit zwanzig Stunden auf den Beinen, dazu der Jetlag, und ich weiß immer noch nicht, wo ich die Nacht verbringen soll.“, stöhnte Browne nach dem vorletzten Bier mit schwerer Zunge. MW grinste ihn an.
„Dann sollten wir mal zahlen. Getrennt.“
Die Restaurantchefin verabschiedete die beiden Männer persönlich.
„Auf Wiedersehen, Herr …“ MW legte einen Zeigefinger auf die Lippen, zum Zeichen, dass sie seinen Namen nicht nennen sollte und Browne fing an zu kichern.
„Es darf nämlich niemand wissen, wie er heißt. Zumindest ich nicht.“, erklärte er der tapfer lächelnden Frau. Als sie draußen in der Nachtluft standen, kündigte er an:
„Morgen frage ich sie, ich glaube, ich bekomme sie rum.“ MW schüttelte den Kopf, hakte sich bei dem größeren Mann unter und dann marschierten sie, einer nicht unbedingt geraden Linie folgend, los.
„Ist es noch weit? Wieso sind Sie nicht mit dem Auto gefahren, wenn es eine solche Strecke ist?“, fragte Browne nach einer Viertelstunde. Natürlich hätten sie in ein paar Minuten bei MW sein können, doch dieser wollte es seinem ungebetenen Gast nicht gar zu leicht machen.
„Ich pflege nicht zu trinken, wenn ich fahre. Beziehungsweise umgekehrt.“ Hierüber hatte Browne eine Weile zu grübeln.
Dann standen sie endlich vor ihrem Ziel.
„Haben Sie irgendwelche Untiere auf dem Grundstück?“, wollte Browne wissen und zeigte auf den mannshohen Zaun, der das verklinkerte Einfamilienhaus umgab.
„Sie werden gleich das einzige sein.“, antwortete MW und öffnete das Tor. Browne kicherte wieder. „Was ist das denn für ein ulkiges Auto?“ Er zeigte auf den hohen, schwarzen Kompaktwagen.
„Es tut seine Dienste.“
„James Bond fuhr, glaube ich, Maserati.“
„Aston Martin. Außerdem bin ich nicht James Bond.“
„Ich dachte.“, kicherte Browne.
Mit den Worten „Ich bin besser“, schob MW seinen Gast ins Haus und geleitete ihn dann die Treppe hinauf. „Das ist das Gästezimmer. Schlafen Sie gut.“ Browne ließ sich auf das Bett fallen und war sofort eingeschlafen. MW ging noch einmal hinunter, nahm sich ein Bier und steckte sich eine Zigarette an, dann ging er wieder hoch in sein Arbeitszimmer, checkte sein Postfach, rief ein Programm auf, in dem er einige Einstellungen vornahm und begab sich ins Bett.
Mit dem Schlafen wollte es bei ihm trotz des genossenen Alkohols jedoch nicht sofort klappen, und das lag an der potenziellen Mandantin.
Normalerweise ließ er eine Nähe zu seinen Klienten nicht zu, und das fiel ihm, gerade wenn es sich um Politiker oder Leute aus der Wirtschaft handelte, nicht schwer. Eine persönliche Beziehung aufzubauen oder gar Gefühle zu entwickeln, hatte er bisher immer vermeiden können, und das hatte ihn keine Mühe gekostet. Nie.
Das aber schien nun anders werden zu wollen, denn er hatte die Bilder gesehen. Bilder von dieser Frau. Und die hatten wie ein Eisbrecher gewirkt. Einen Eisbrecher aber konnte er überhaupt nicht gebrauchen, schon wegen seines Berufsethos‘ nicht. Er würde hart bleiben müssen. Hart wie das härteste Eis.
Als der Morgen graute, musste MW sich erleichtern und stand deshalb auf. Im Erdgeschoss hörte er Geräusche. Leise schlich er die Treppe hinab und lugte ins Wohnzimmer, wo er Browne entdeckte, der sich an einer Schublade zu schaffen machte. Die Lade fuhr mit Macht zu, gerade, als der Amerikaner eine Hand hineinsteckte.
„Aaaahh.“ Browne zog seine Finger aus der Lade, hielt sie hoch und sah sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht kopfschüttelnd an.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, sie sollen nicht schnüffeln, oder brauchten Sie noch ein verspätetes Betthupferl?“, ertönte MW hinter ihm und machte Licht. Browne sah MW entsetzt an.
„Ich habe Kopfschmerztabletten gesucht. Wieso ist die Lade plötzlich zugegangen?“ So, wie Browne aussah, glaubte MW ihm die Geschichte mit den Tabletten sofort.
„Kopfschmerztabletten alleine werden wohl nicht helfen.“, meinte er mit einem Blick auf die gequetschten Finger.
Gegen Mittag erschien Browne im Esszimmer, als MW sich noch einmal die Akte ansah. Der Amerikaner sah ziemlich derangiert aus.
„Wieso glaubten Sie im Wohnzimmer Tabletten zu finden?“, fragte MW statt einer Begrüßung.
„Weiß nicht, ich habe die bei mir überall herumliegen.“
„Wie geht es Ihren Fingerchen?“ Browne hielt ihm die geschwollenen Finger entgegen.
„Was war das für ein Mechanismus?“ MW zuckte die Schultern.
„Erzählen Sie mir von Blunt.“, forderte er den Amerikaner statt einer Antwort auf. Der überlegte kurz und meinte dann:
„Ist ja auch egal. Ich will ehrlich sein, sie würden es ja ohnehin schnell merken. Sie ist ein Ekel. Sie ist laut, sie ist schrill, sie ist extravagant, sie redet zu viel, sie ist hyperaktiv, sie hat Vorurteile, sie ist beleidigend, sie ist launisch. Es ist schlimmer geworden, seit sie diesen Job nicht mehr ausübt.“ MW ließ die Akte sinken.
„Also eine ganz liebenswerte Person.“, ironisierte er.
„Sie hat auch ihre liebenswerten Seiten, ja.“ Überzeugt klang Browne nicht.
„Sicher?“
„Nein. Aber jeder Mensch hat doch liebenswerte Seiten, ist sensibel, nachdenklich, nett?“ MW zog die Augenbrauen hoch.
„Okay, bei Blunt müssen wir das mal unterstellen.“, setzte Browne hinzu.
„Ihre Ehrlichkeit ehrt Sie. Steht dieses letzte Opfer in einer Beziehung zu ihr? Ich meine, diese Misty Stone ist zwar in Texas umgebracht worden, ist aber auch in dieser Branche gewesen.“ Browne setzte sich.
„Sie waren befreundet, ungefähr gleich alt. Die Nachricht von ihrem … Tod hat Blunt umgehauen. Über die Einbrüche ist sie scheinbar gelassen hinweggegangen, sie hat Witzchen gemacht, wissen Sie. Aber diese Geschichte … Sie hat ernsthaft in Erwägung gezogen, Hilfe anzunehmen.“ Was sollte das denn heißen? Die Dame schien etwas gaga.
„Würde sie Hilfe überhaupt akzeptieren?“
„Ich weiß es nicht. Sie liebt ihre Unabhängigkeit, wenn Sie verstehen.“ MW grinste.
„Tot ist man natürlich am unabhängigsten. - Weiß sie von Ihren Plänen, ihr jemanden an die Seite zu stellen? Oder gar, bei ihr einziehen zu lassen?“ Browne wurde unruhig und sah zu Boden. „Bleiben Sie bei Ehrlichkeit.“, ermahnte MW.
„Nein.“
„Was, nein?“
„Sie weiß es nicht.“ MW hob drohend den Zeigefinger.
„Dann sorgen Sie dafür, dass sie es erfährt. Bereiten Sie sie vor. Ich habe keine Lust auf endlose Debatten mit der Dame, es wird ohnehin schwierig genug.“ Brownes Miene hellte sich auf.
„Heißt das, Sie sagen zu?“
„Wenn sie es akzeptiert, vielleicht. Reden Sie mit ihr. Und ich will es von ihr selbst erfahren. Sie soll mich anrufen.“ Browne sah nun so aus, als sollte er auf einem Alligator surfen.
„Mal was anderes, Browne. Haben Sie das Kommunikationsverhalten der Dame untersucht?“
„Wie meinen Sie das?“
„Twitter, Facebook und so. Mit wem kommuniziert sie über was? Das gleiche gilt für diese Stone. Kann doch sein, dass der Täter sich vorher mit ihr in Verbindung gesetzt hat.“
„Gute Idee; ich werde das mal veranlassen.“ MW lächelte überlegen.
„Lassen Sie mal, ist schon erledigt.“ Diesmal zog Browne die Augenbrauen hoch.
„Sie haben …?“ MW nickte.
„Ich habe das mal analysieren lassen.“ Die Augenbrauen blieben oben.
„Sie haben … lassen?“
„Ich bin kein Einzelkämpfer. Außerdem kenne ich mich mit dieser elektronischen Kommunikation nicht aus.“
„Sie haben einen Partner?“
„Partnerin.“
„Kann man die kennenlernen?“, fragte Browne interessiert. MW lachte.
„Ich kenne sie selbst nicht.“ Browne schüttelte enttäuscht und erstaunt den Kopf.
„Sie lassen Recherchen von einer Person vornehmen, die Sie gar nicht kennen?“
„So ist es. Ich habe es bisher nicht bereut.“
„Können Sie das erklären?“
„Nein.“
„Gut.“
„Browne?“
„Ja?“
„Sie sind mir sympathisch.“
„Gut, dass Sie es sagen, gemerkt hätte ich es nicht.“
„Warum hat er in New York angefangen?“, fragte MW unvermittelt.
„Wer?“
„Der Täter. Schauen Sie, er zieht eine Blutspur hinter sich her: New York, ein Mal, Chicago, zwei Mal, Seattle, ein Mal, Los Angeles, San Francisco, jeweils drei Mal, dann Houston, dann diese Mätzchen in Florida. Immer gab es Hinweise auf einen rassistischen, rechtsradikalen Hintergrund, kleine, verbrannte Kreuze, entsprechende Symbole. Der Klan ist doch vorwiegend im Süden aktiv. Warum fing er im Nordosten an? Warum wandert er quer durch das Land? Warum sollte ein rassistischer Südstaatler, der schwarze Prostituierte, oder was er dafür hält, hasst, nach New York fahren, um seine Serie zu starten?“ Browne machte ein ratloses Gesicht.
„Keine Ahnung.“ MW grübelte.
„Schon mal daran gedacht, dass der ganze Symbolismus ein Ablenkungsmanöver sein könnte?“
„Wie meinen Sie das?“
„In New York landen die meisten Auslandsflüge.“
„Sie meinen, er ist gar kein Amerikaner?“
„Auf jeden Fall wäre das möglich.“
„Hey, Sie ermitteln ja!“, lachte Browne.
„Ich möchte nur wissen, mit wem ich es gegebenenfalls zu tun haben werde, sind nur ein paar Gedankenspielchen.“
„Was hat denn Ihre Kommunikationsanalyse ergeben?“, wechselte Browne das Thema.
„Wir hatten natürlich nicht so viel Zeit, nur ein paar Stunden, wie Sie wissen. Aber eines ist interessant. Misty Stone hatte in den Monaten vor ihrem Tod häufiger Kontakt zu einer Person in einem sozialen Netzwerk, oder wie das heißt. Ein regelrechter Schleimer, der aber auch dann und wann mal den väterlichen Ratgeber gibt. So nach dem Motto: trink nicht so viel, rauch nicht so viel, mein Kind. Gibt vor, die Welt zu kennen, mehrere Sprachen zu sprechen. Er nannte sich Speedy Gonzales. Interessanterweise hören seine Einträge mit dem Tod der Frau auf. Als wenn er es gewusst hätte.“
„Es gab Presseberichte.“
„Ja, aber es ist immerhin ein Ansatzpunkt. Blunt hatte Kontakt zu einem ähnlichen Typen.“
„Sie hat sich nach Stones‘ Tod schweren Herzens zurückgehalten, was ihre Präsenz im Netz angeht, hat ihren Nicknamen gewechselt und gibt vor, die Beiträge nur noch zu lesen, aber nicht mehr selbst zu kommentieren.“
„Glauben Sie das?“ Browne zuckte die Schultern. MW hob den Zeigefinger. „Sie sollten sich darum kümmern.“
„Ja, wird gemacht. - Kann man Speedy eigentlich zurückverfolgen, also feststellen, wer er ist, oder von wo er operiert?“
„Nein, der ist geschickt, keine Chance.“ Wenn selbst MW’s Assistentinnenphantom das nicht herausfinden kann, dachte Browne, ist die Chance wohl wirklich ziemlich gering. Ihm fiel seine eigentliche Mission wieder ein und damit eine Idee, die er dann auch noch aussprach.
„Würde es Ihrer Entscheidungsfindung helfen, wenn es eine Möglichkeit gäbe, den Präsidenten, äh, persönlich zu treffen?“, wollte Browne hoffnungsfroh wissen und erschrak, denn er erntete Blicke, als habe er etwas unglaublich Dummes gesagt, und so war das auch, aber das würde sich Jackson Browne in voller Gänze erst später erschließen.
„Sind Sie wirklich der Meinung, ich ließe mich durch eine Audienz bei einem Politiker in meinen Entscheidungen beeinflussen?“, fragte MW entgeistert, wobei er das Wort ‚Politiker‘ förmlich ausspuckte. Seine Meinung von Browne war gerade in den Mariannengraben gerutscht. Browne hob abwehrend die Hände.
„Es war ein Versuch, okay?“ Der Amerikaner schüttelte den Kopf ob des übersteigerten Selbstbewusstseins dieses Privatdetektivs, wie er meinte. Wo nahm der das nur her? Jeder andere würde sich von einem Händedruck und smalltalk mit dem mächtigsten Mann der Welt beeindrucken lassen. Für wen hielt der Kerl sich?
„Weiß er übrigens, dass ich auf Ihrer Einkaufsliste stehe?“ Browne schüttelte abermals den Kopf, diesmal jedoch, um zu verneinen.
„Darum kümmert er sich nicht persönlich.“
Ein paar Stunden assoziierten die beiden Männer noch hin und her, aßen etwas, machten weiter, dann fragte MW beiläufig:
„Wann müssen Sie eigentlich fort?“ Der Amerikaner schlug sich erschrocken mit der flachen Hand vor die Stirn und jaulte auf; er hatte die verletzte Hand als Schlaghand benutzt.
„Sie haben recht, meine Maschine geht heute Abend. Verdammt, daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Wir wollten ja so schnell wie möglich Klarheit, ob Sie akzeptieren. Ich muss mit Blunt sprechen, die Nichte notfalls überreden.“ Er sah auf die Uhr. „In vier Stunden geht mein Flieger, das schaffe ich niemals.“, meinte er resignierend.
„Von wo fliegen Sie?“
„Rammstein.“ MW schmunzelte.
„Das schaffen wir.“, behauptete er.
„Das sind doch dreihundert Meilen, oder so.“, veröffentlichte Browne Zweifel.
„Wir nehmen das ulkige Auto.“
„Da waren wir doch gestern essen.“ Browne wies erstaunt aus dem Fenster.
„Korrekt.“
„Das sind ja nur ein paar hundert Meter; mir kam das gestern viel weiter vor.“ MW schwieg.
Obwohl er zweifelte, dass sie es rechtzeitig schaffen würden, war Browne zunächst guter Dinge und plapperte munter vor sich hin. Etwas ruhiger wurde er, als sie die Autobahn erreichten, um vollends zu verstummen, als die Anzahl der Verkehrsteilnehmer sank, die Besiedelung lockerer wurde und MW dem ulkigen Auto die Sporen geben konnte.
Browne hatte vorsichtshalber die Augen geschlossen, so dass er ein interessantes Phänomen, das auf deutschen Autobahnen eher selten anzutreffen ist, nicht mitbekam: MW fuhr immer auf freier Strecke. Hatte er langsamere Fahrzeuge vor sich, wechselten die alsbald die Spur und ein Blick in die Gesichter der Fahrer hätte Browne erkennen lassen, dass die dies nicht freiwillig getan hatten und, vor allen Dingen, nicht wussten, warum sie es getan hatten. So allerdings entging dem Amerikaner dieses, einem Naturereignis gleichkommende, Geschehen und Verhalten und MW hatte keinerlei Interesse, seinen Fahrgast darauf aufmerksam zu machen.
Während Browne also immer grauer wurde und verbissen schwieg, steigerte sich MW’s Laune, was sich aber nicht durch einen verbalen Mitteilungsdrang oder das Pfeifen von Liedchen oder Melodien äußerte, höchstens einem zufriedenen Lächeln hätte man dies entnehmen können, aber das entging Browne, weil der sich zu visueller Reizaufnahme nicht in der Lage sah.
Als MW den Wagen vor dem ersten Tor der US-Luftwaffenbasis stoppte, hörte er ein Ächzen neben sich. Der schwarze Mann war ganz grau geworden.
„Sie sehen schlechter aus als heute Morgen.“, bemerkte MW trocken. Als Antwort hörte er heftiges Atmen. „Wir sind übrigens da, sie können die Augen wieder aufmachen.“
„Mmmpffff.“
„Wie bitte?“
„Ich glaube, ich bin noch nie so schnell gefahren.“, flüsterte der Graue.
„Die Startgeschwindigkeit eines Flugzeuges …“, begann MW mit einer Belehrung, wurde aber unterbrochen.
„Ich meine, in einem kleinen Auto auf öffentlichen Straßen.“ Browne klang schrill.
Wortlos kletterte der Amerikaner mit weichen Knien aus dem Auto und schwankte zum Heck, wo MW ihm die Kofferraumklappe öffnete. Browne atmete ein paar Mal tief durch und sah MW an.
„Ich melde mich, sobald ich mit der Nichte gesprochen habe.“
„Okay. – Übrigens, ich finde, wir sollten uns duzen.“ Brownes Gesicht hellte sich auf, endlich würde er einen Namen erfahren. Er reichte dem Deutschen die Hand.
„Jackson.“ MW ergriff mit einem Lächeln Jacksons heile Rechte.
„MW.“ Jacksons Lächeln erstarb. Im Fortgehen drehte sich MW noch einmal um und rief dem enttäuschten Schwarzen zu: „Grüß Michelle, falls du sie siehst.“
„Welche Michelle?“
„Die Gattin deines Präsidenten.“
Mit hängenden Mundwinkeln sah Jackson dem fortfahrenden MW nach.
„Ich möchte wissen, mit wem Jackson in den nächsten Stunden telefonisch Kontakt aufnimmt.“, raunte MW in das Telefon.
„Welcher Jackson?“
„Jackson Browne.“
„Ach, der. Ich dachte, es ginge um diesen Hit von Johnny Cash.“, kicherte eine merkwürdige Frauenstimme. Sie sollte sich mal die Stimmbänder operieren lassen, dachte MW.
„Bitte.“
„Okay.“
Am übernächsten Morgen ging vor der Zeit das Telefon, entsprechend war MW’s Laune.
„Hi.“, hörte er aus dem Gerät. Ein Amerikanisch sprechender, schwarzer Mann, dachte er.
„Kaum bist du zu Hause, hast du schon alle Regeln der Höflichkeit vergessen, was?“, raunzte MW.
„Wieso?“, fragte Jackson entrüstet zurück.
„Schon mal was von Zeitzonen gehört? – Außerdem wolltest du erst anrufen, wenn du mit der Nichte gesprochen hast. Hast du?“ Schweigen, das MW, zum Vorteil von Jackson, als Verlegenheit auslegte, seine Wut aber nicht milderte. Dazu trug auch nicht bei, dass Jackson nicht mit einer Antwort auf seine Frage aufwartete.
„Ich habe herausgefunden, wie du heißt.“ In Jacksons Stimme schwang Siegesgewissheit mit, aber MW schmunzelte spöttisch.
„Aha. Und deshalb rufst du mich mitten in der Nacht an?“
„Martin Winterkorn.“, erklang es triumphierend aus dem Gerät. Jetzt musste MW trotz der frühen Uhrzeit doch lachen.
„Hast dir das Melderegister vorgenommen, was? Check es in ein paar Stunden noch einmal.“
„Wieso?“
„Mach es einfach.“
„Na gut. Was die Sache mit Blunt angeht …?“
„Du hast noch nicht mit ihr gesprochen, aber mach es bald.“
„Ich frage jetzt nicht, woher du das weißt, ist das richtig?“, fragte Jackson vorsichtig und fast hoffnungslos.
„Wenn du kein ganz mieses Gefühl bekommen willst, ist das richtig.“
„Was?“
„Nicht zu fragen. “
Ein paar Stunden später war unter der Adresse MW‘s ein Michael Westhofen gemeldet.
Der Schwarze lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Jackson Browne hatte alles getan. Fast alles. Er hatte diesen MW für den Fall interessiert. MW war zwar kein Kriminalist, wie er selbst gesagt hatte, aber er hatte durchaus Interesse an diesen Dingen, und seine Ideen hinsichtlich des Serienmörders hatten etwas, das gaben selbst die professionellen Ermittler zu. Aber MW hatte noch nicht zugesagt, den Auftrag zu übernehmen; hierzu müsste Jackson bei Emmy Blunt Schönwetter machen, und das war nicht so einfach, wenn nicht unmöglich. Er sah nur eine Möglichkeit, sie zu bewegen, wenigstens einmal daran zu denken, sich schützen zu lassen: sie mit dem Schicksal Misty Stones zu konfrontieren. Sie wusste zwar ungefähr, was passiert war, aber er musste ihr vor Augen führen, dass sie in derselben Gefahr schwebte. Er brauchte einen Plan. Er brauchte auch einen Plan, um MW enttarnen zu können. Das war zwar eher eine persönliche und private, eine sportliche Herausforderung, aber er hatte diesen Mann nun einmal kennengelernt und blickte überhaupt nicht mehr durch. Dass jemand seine Identität verschleiert, damit konnte Browne umgehen, das passierte in manchen Kreisen. Aber dass niemand sagen konnte, wie MW seine Heldentaten vollbracht hatte, machte ihn stutzig. Wurde MW einfach gnadenlos überschätzt? Andererseits war da die Sache mit der
Schublade …
Er hat mit Katzen und Bären gesprochen. Jackson musste lächeln. Oder hatte er die Tiere, die Einbrecher, die Attentäter … beeinflusst? Browne schüttelte den Kopf. Er hatte einfach zuviel Fantasie. Übersinnliche Kräfte gehörten in das Reich der Märchen und science fiction.
Kannte MW Michelle Bama? Wieso ließ er Grüße an sie ausrichten? Sicher konnte er ihr am Rande von irgendwelchen Konferenzen begegnet sein. Es half nichts.
Er griff zum Telefon und wollte gerade Emmy Blunt anrufen, als das Gerät sich meldete.
„Ja?“
„Cormack hier.“ Das Büro des Präsidenten. Browne straffte sich. „Haben Sie schon jemanden für die Nichte?“
„Ich stehe in Verhandlungen, Sir.“
„Mit wem?“
„Das möchte ich im Augenblick noch nicht sagen, Sir.“
„Aha.“, sagte Cormack abschätzig. „Woran liegt es, dass Sie noch nicht weiter sind? Sie wissen, dass Geld keine Rolle spielt.“
„Weiß ich, Sir, es liegt auch nicht am Geld.“
„Sondern?“
„Der potenzielle Auftragnehmer setzt das Einverständnis von Mrs. Blunt voraus.“
„Oh je.“
„Genau, Sir.“
„Was wollen Sie unternehmen?“
„Wollte sie gerade anrufen, Sir.“
„Okay, locken Sie, drohen Sie, machen Sie, was Sie wollen, aber bekommen Sie das hin.“ Cormack hatte aufgelegt, bevor Browne etwas entgegnen konnte.
Browne stand im Schatten einer Palme und schwitzte. Seine Anzugjacke hatte er ausgezogen und die Krawatte gelockert, dennoch wirkte er inmitten von Shorts und Bikinis tragenden Menschen deplatziert. Er kam trotz seines Südstaatenslangs aus der Gegend der Großen Seen und würde sich nie an die tropische Schwüle Floridas gewöhnen. Blunt hatte es kategorisch abgelehnt, sich in ihrer Wohnung zu treffen, und so hatte er zugestimmt, den Strand Miamis als Treffpunkt zu wählen. Seine Gedanken wanderten sehnsüchtig zu Blunts klimatisiertem Appartement. Seit einer Stunde wartete er auf die extravagante Lady. Er sah sich um und entdeckte eine Frau, die einer brasilianischen Karnevalstanztruppe entsprungen schien. Um die hochgesteckten, schwarzen Haare hatte sie ein grellbuntes Tuch gewunden, so dass es aussah, als trüge sie einen Turban, aus dem oben ein Haarbüschel herausragte. Ihr ovales Gesicht wurde von einer riesigen Sonnenbrille halb verborgen, die auf einer relativ kleinen, für ihre Rasse schmalen Nase saß. An ihren kleinen Ohren hingen riesige, rosa Reifen. Die muskulösen Schultern und Arme waren unbedeckt, wenn man von einer Reihe bunter Armreifen, die die halben Unterarme umgaben, absah. Sie trug ein grellgelbes, mit giftgrünen Rüschen besetztes Bikinioberteil, das nicht viel zu verdecken hatte. Darunter sah man einen Waschbrettbauch, der unterhalb des Bauchnabels von einer äußerst knappen Jeansshorts begrenzt wurde, die wiederum zwei äußerst wohlgeformte, muskulöse Beine ausstellten, deren Füße in durchsichtigen Plateauschuhen steckten. An ihrer Schulter hing eine große Strandtasche und ihn einer Hand hielt sie eine rosa Hundeleine, an deren Ende ein rotblondes Fellbündel im Sand schnüffelte. Allerdings bemerkte Browne, dass dieser Dame nicht die Aufmerksamkeit zuteil wurde, wie es zum Beispiel in einer Kleinstadt in den Appalachen gewesen wäre. Da hier am Miami Beach haufenweise schrille und schöne Leute herumliefen, zog sie kaum die Blicke auf sich.
Browne hob zaghaft die Hand, worauf die Lady auf ihn zugestapft kam.
„Hi, Jackson!“, rief sie schon von weitem und balancierte auf ihren Plexiglassohlen. „Tut mir leid, dass Sie fünf Minuten warten mussten.“ Sie entblößte eine Reihe weißer Zähne und schob die Sonnenbrille hoch, so dass Jackson jetzt auch ihre großen, etwas weit auseinander stehenden Augen sehen konnte, die ihn unschuldig ansahen. Jackson hatte Mühe, nicht wegzufließen, was in diesem Augenblick nicht an der Hitze gelegen hätte. Wenn MW nicht schwul war, wofür es keine Hinweise gab, würde der Deutsche Mühe haben, dem Reiz dieser Dame zu widerstehen, zumal er täglich auf engstem Raum mit ihr zusammensein würde. Der Hund schnüffelte an Jacksons Schuhen.
„Ich glaube, Trigga braucht eine Schale Wasser.“, konstatierte Blunt mit einem Blick auf die Pelzkugel. Brownes Aggregatzustand schien die Frau eher nicht zu interessieren. Schon stöckelte sie, diesmal, weil auf Beton, sicherer, zielstrebig auf eine Strandbar zu, die, zu Brownes Glück, ein paar schattige Plätze bot.
Die Karnevalsprinzessin orderte ein buntes Getränk für sich, von dem Jackson nicht wissen wollte, was es beinhaltete, und eine Schale Wasser für den Hund. Browne bestellte einen Eistee. Der Paradiesvogel setzte sich umständlich und schlug die braunen Beine übereinander und Browne ließ sich erschöpft auf einen anderen Sessel fallen. Bevor er genug Atem geschöpft hatte, um sie anzureden, trompetete sie: „Nun, Jackson, warum treffen wir uns hier?“ Browne war verblüfft.
„Weil Sie das so vorgeschlagen haben.“ Blunt lachte exaltiert.
„Welches ist der Grund für dieses Treffen?“, fragte sie, betont überbetont.
„Ich habe eine wichtige Ange …“ Sie sog an ihrem Trinkhalm und unterbrach:
„Lebst du eigentlich in Miami?“
„Äh, nein, ich …“
„Was machst du dann hier?“
„Ihr Onkel meinte, es wäre ganz gut, wenn ich in der Nähe wäre.“ Emmy lächelte.
„Ach, BB, der Gute. Macht er sich Sorgen um mich?“
„Nun ja, wir haben ja schon darüber gesprochen, wir glauben, dass Sie gefährdet sind.“
„Glaube ich nicht.“ Blunt nahm ihren Hund, einen Zwergpudel, auf den Schoß und kraulte ihn. Browne hatte mit so einer Einlassung gerechnet, denn er kannte die unbekümmerte Sorglosigkeit der Dame, gedachte allerdings, dieser Art der Bluntschen Lageeinschätzung ein Ende zu machen.
„Es gibt da einige neue Erkenntnisse im Zusammenhang mit Misty …“ Emmys Brille fiel auf die Nase zurück und sie schien ihren Gesprächspartner anzusehen.
„Was ist mit Misty?“, fragte sie leise und mit ehrlichem Interesse.
„Sie hat mit jemandem gechattet.“ Die Schöne lachte unecht.
„Das machen wir doch alle!“, rief sie scheinbar fröhlich und warf einen Arm in die Luft, so dass der Hund erschrocken zusammenzuckte.
„Sie hatte einen bestimmten Chatpartner. Sie selbst hatten einen Chatpartner, der mit diesem Chatpartner von Mrs. Stone identisch sein könnte.“
„Na und? Das soll vorkommen.“, winkte sie ab.
„In der augenblicklichen Situation müssen wir an alles denken. Mrs. Stone ist in Houston umgebracht worden, begonnen hat es in New York. Die Einschläge kommen näher, daher glauben wir, dass Sie in akuter Gefahr sind.“ Für einen Moment wirkte die Karnevalistin nachdenklich.
„Und jetzt? Wollen Sie mich in Schutzhaft nehmen?“, fragte sie höhnisch und lachte. Mit dieser Frau ist nicht vernünftig zu reden, dachte Browne. Er konnte ihr aus ermittlungstaktischen Gründen keine weiteren Einzelheiten verraten, da nicht sicher war, ob sie diese auch für sich behalten würde.
„Wir dachten an Personenschutz.“, erklärte er vage und hatte damit eine gewisse Neugier geweckt, die aber leider eine falsche Richtung einschlug. Die Karnevalprinzessin sah aufs Meer und fragte:
„Zwei Bodybuilder mit Sonnenbrillen?“ Die Muskulöse leckte ihre Lippen. Browne musste an den etwas klein geratenen Herrn mit dem seltsamen Humor und dem runden Gesicht denken, mit dem er vor kurzem einen denkwürdigen Abend verbracht hatte.
Scheiß auf die Ehrlichkeit, dachte Jackson, und sagte mit schlechtem Gewissen:
„So ähnlich.“ Emmy schlug ihm aufs Knie und rutschte auf ihrem Sessel herum.
„Wohnen die bei mir? Wird das eine Rund-um- die-Uhr-Bewachung?“, fragte sie neugierig und hoffnungsvoll. Jackson hoffte, dass MW niemals etwas von diesem Gespräch erfahren würde und bestätigte mit schlechtem Gewissen:
„Ja, vierundzwanzig Stunden.“ Das war wenigstens keine Lüge. Jedenfalls für sich genommen.
„Oho, das wird aber eine anstrengende Zeit.“, rief sie freudvoll.
„Die könnten ja in Schichten aufpassen …“, dachte Browne an Arbeitsbedingungen von Personenschützern laut.
„Für mich, Jackson, für mich! Wenn sie in Schichten arbeiten, wird es noch anstrengender für mich. Ich betrachte es als Herausforderung. Vielleicht kann ich ein paar Fotos oder Videos schießen, wenn du verstehst?“ Sie schob die Brille hoch und kniff ihm anzüglich ein Auge zu. Was hatte er nur getan? Er stellte sich vor, wie MW ein Würstchen aß, denn das aßen die Deutschen bekanntermaßen ja am liebsten und die Blunt tanzte nackt vor ihm. Was würde MW mit ihm tun? Jackson musste mit Schaudern an den traumatisierten Braunbären denken.
„Der Personenschutz möchte gerne von Ihnen persönlich wissen, ob Sie einverstanden sind.“ Er reichte ihr einen Zettel mit einer Nummer, den sie erstaunt entgegennahm.
„Nicht einmal eine Karte?“, fragte sie enttäuscht.
„Das ist keine gewöhnliche … Firma, das sind Spezialisten, die Besten. Es ist alles sehr … diskret.“, log er mit schlechtem Gewissen halb.
„Aha.“
„Wollen Sie sie gleich anrufen?“, fragte er voller Hoffnung. Als Emmy aufsprang, blieb dem kleinen Hund nichts anderes übrig, als zu Boden zu hüpfen.
„Ich muss weiter, Darling. Ich rufe da später an. Bye.“, rief sie im Weggehen, wobei sie aufreizend mit dem kleinen, strammen Hinterteil wackelte.
„Das ist eine ausländische Nummer, die sind ein paar Stunden weiter als wir. Zeitzonen, wissen Sie?“, rief Jackson hinterher, doch Emmy winkte ihm nur zu, ohne sich umzudrehen.
Er hatte es vermasselt. Eindeutig. Sie war nicht aus Angst oder Vorsicht auf das Angebot eingegangen, sondern wegen der Aussicht auf zwei kräftige und staatlich bezahlte Teilzeitlover, mit denen sie spielen könnte. MW war sicherlich ein sportlicher Typ, aber meilenweit entfernt von dem, was sie sich vorstellte. Außerdem war er viel älter als sie. Wenn sie ihn anmachte, würde er sofort den Auftrag zurückgeben. Einerseits. Andererseits würde sie MW nie akzeptieren, weil der nicht ihren Vorstellungen entsprach.
Jackson Browne war bereit, im sandigen Boden von Miami Beach zu versinken, doch der tat ihm den Gefallen nicht, sich aufzutun.