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Tanja liest


Die Frau erwachte schweißgebadet, wie so häufig. Wie fast immer. Ihr Gesicht war ganz nass, wie so häufig, wenn sie nachts erwachte. Wie fast immer. Die Nässe auf ihrem Gesicht war zwar auch salzhaltig, war aber kein Schweiß. Wie fast immer. Doch diesmal war sie nicht von ihren eigenen Schreien, ihrem eigenen Weinen aufgewacht, wie sonst fast immer, wenn sie von der dunkelhaarigen Frau mit der großen Nase geträumt hatte, die ihr fast jede Nacht zuraunte, dass es ihr ja leider nicht mehr erlaubt sei, ihr ihre Rechtschreibfehler und die verunglückte Grammatik aus dem Leib zu prügeln, oder sie davon geträumt hatte, dass wieder einmal die ganze Klasse sie ausgelacht hatte, weil ihre Aufsätze oder Diktate, die die Frau mit der großen Nase öffentlich vorlesen ließ, wegen der vielen Fehler schlichtweg nicht verstanden werden konnten, sondern von dem Weinen des Kleinkindes, das neben ihr in einem einfachen Kinderbett lag. Bestimmt aber war die Kleine von den Schreien und dem Weinen der Frau aufgewacht. Der Mond schien durch das vorhanglose Fenster, so dass die Frau kein Licht zu machen brauchte, um das Mädchen zu sich herüberzuholen und es zu beruhigen. Bald darauf schlief die Kleine an ihrer Seite wieder ein.

So ginge das jedenfalls nicht weiter; nicht jede Nacht könnte sie dafür verantwortlich sein, dass der Schlaf ihrer Nichte gestört wurde. Aber die Frau wusste nicht, wie Träume zu besiegen wären.


Der Mann in dem schwarzen Anzug, dem weißen Hemd mit der silbernen Krawatte und der randlosen Brille verbeugte sich für europäische Verhältnisse ein wenig zu tief und zu lange. Weil das Blitzlichtgewitter ihn blendete, hatte er die Augen geschlossen. Er wusste, dass er sie sehr bald nie wieder öffnen würde. Dann setzte er sich umständlich an den kleinen Tisch mit einem Mikrofon. Der Tisch stand ziemlich einsam auf einer großen Bühne, die von schwarzen Vorhängen gesäumt wurde. Er räusperte sich und ruckelte an seinem Krawattenknoten. Im fernen Europa grinste ein anderer Mann die Mattscheibe eines Fernsehgerätes.

„Ich bedaure zutiefst Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere Firma nun zu Wulvsen Industries gehört.“, erklärte der Japaner mit brüchiger Stimme. „Es ging nicht anders. Herr Doktor Wulvsen war … zu überzeugend.“ Der Mann schluckte einen dicken Kloß hinunter, weil er nicht nur eine Kehrtwende in der Unternehmensgeschichte zu erklären hatte, sondern auch sein persönliches Scheitern und das Ende einer Unternehmenskultur. Dann fing der Japaner lautlos zu weinen an.

„Dieser Idiot mit seinem Kamikaze-Wahn!“, schrie der Mann mit den ergrauenden Haaren seine Sekretärin an. „Man muss sich wegen des Wechsels von Eigentumsverhältnissen doch nicht gleich umbringen! Schicken Sie mir den zuständigen Abteilungsleiter. Und dann brauchen wir ja wohl so eine Art Presseerklärung.“

„Wir haben aber keine Pressestelle.“, wandte die Sekretärin ein. Der Mann machte eine energische Geste.

„Aber unsere Dependance in Japan hat eine. Die Erklärung wird mit mir persönlich abgestimmt. Ich rufe dann mal den japanischen Premierminister und den Tenno an. Machen Sie mir eine Leitung, werde denen mal klarmachen, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben.“ Dann verschwand der Mann in seinem ‚Hölle‘ genannten Büro.

Die Sekretärin tat, was ihr aufgetragen worden war. Sie gab die Order des Alten an die japanische Dependance weiter und verband ihn mit dem japanischen Regierungschef, wie schon so häufig.

Die Verbindung mit dem japanischen Kaiser war dann ein ganz klein wenig komplizierter herzustellen.

„Wer möchte mit dem Tenno sprechen?“

„Doktor Roger Wulvsen.“

„Und wer ist dieser Dr. Roger Wulvsen?“ Die Sekretärin setzte ein siegesgewisses Lächeln auf.

„Dr. Roger Wulvsen ist der alleinige Inhaber von Wulvsen Industries, wenn Sie verstehen.“ Die Sekretärin hörte eine ganze Weile überhaupt nichts. Dann hörte sie ein Räuspern, und dann eine sehr belegte Stimme:

„Entschuldigung. Vielmals. Ich bin neu. Selbstverständlich ist Seine Hoheit für Herrn Doktor Wulvsen zu sprechen.“

Dass Wulvsens wirtschaftliche Transaktion und die mortale Reaktion darauf keine diplomatischen Verwicklungen nach sich zogen, lag nicht etwa an telefonischen Beschwichtigungen, denn er war auch hier sehr direkt geworden und hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht, hatte sowohl dem Regierungschef als auch dem Kaiser erklärt, dass der Wechsel eines großen, japanischen Konzerns in den Besitz Wulvsens etwas völlig Normales wäre und noch lange kein Grund, sich etwas anzutun, schließlich würde der Konzern nicht zerschlagen, niemand verlöre seinen Arbeitsplatz und so weiter, und man solle doch, bitte sehr, endlich in der Moderne ankommen, sondern hatte einfach mit den vielfältigen wirtschaftlichen Beziehungen von Wulvsen Industries mit dem Inselstaat zu tun, bei denen Wulvsen an einem ziemlich langen Hebel saß.

„Das kann er doch nicht machen!“, rief die Frau und drehte sich um. Sie stemmte die Hände auf die Spüle und atmete schwer.

„Doch, kann er.“, erwiderte ihr Mann gepresst und gab damit preis, dass er sich mit seiner fristlosen Entlassung abgefunden hatte. „Ich habe einen schwerwiegenden Fehler gemacht, und in solchen Fällen sehen die Arbeitsverträge eine fristlose Kündigung vor.“ Seine Frau fuhr wieder herum und ihr Gesicht drückte Wut und Enttäuschung aus. Und Hoffnungslosigkeit.

„Jeder hat eine zweite Chance verdient. Jeder. Der Alte ist doch noch relativ jung, der ist doch nicht so ein verknöcherter Griesgram. Der hat doch sogar so was Soziales studiert, der …“

Ihr Mann lachte kurz und freudlos auf und unterbrach sie damit.

„Er ist promovierter Sozialwissenschaftler, ja. Aber er leitet auch den weltgrößten Konzern, da bleibt für Sozialromantik kein Platz. Sagt er jedenfalls, und vielleicht hat er sogar recht damit. Wer solche Fehler macht wie ich, der fliegt, so ist das nun mal. Außerdem hatte er mich gewarnt.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und sprach leise weiter. „Ich kann noch froh sein, dass er mir nicht den Kopf abgerissen hat.“

„Verdammt! Er hat recht gehabt! Wie hatte er das wissen können? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit!“, schrie der Mann und raufte sich die Haare, denn schließlich ging es um seine Existenz und die seiner Mitarbeiter. So meinte er jedenfalls.

„Bei Wulvsen gibt es nichts Unmögliches.“, raunte sein Prokurist wissend.

„Herr Iding, wollen Sie schon gehen?“ Der kleine, bärtige Mittdreißiger stand etwas mühsam auf und wendete sich einem etwa Sechzigjährigen zu, der neben ihm stehengeblieben war. Der Bartträger wirkte nicht mehr ganz nüchtern. Andere Mittdreißiger sahen unterschiedlich interessiert zu ihnen herüber, und das waren durchaus einige, denn der kleine Saal beherbergte fast ausschließlich Mittdreißiger beiderlei Geschlechts und eine Handvoll älterer Herrschaften, und das lag daran, dass es sich bei der Gesellschaft um ein Klassentreffen handelte. Genauer gesagt traf man sich, um dem fünfzehn Jahre zurückliegenden Abitur zu gedenken.

„Tja, Frank, das Alter macht sich allmählich bemerkbar. Es war aber schön, Sie haben das wunderbar organisiert. Nur schade, dass Roger nicht kommen konnte.“ Dieses Bedauern konnte zwar Frank, nicht aber einige andere der Anwesenden teilen.

„Finde es gar nicht schade, dass Roger nicht hier ist.“, raunte einer der anderen Mittdreißiger.

„Genau, der würde einem nur die Schau stehlen, vor allem bei den Mädels.“, pflichtete ein weiterer bei und dachte dabei an sein Pferd, seine Yacht und sein Haus.

„Ich habe ihm letztes Jahr einen Kredit angeboten. Hoher, dreistelliger Millionenbetrag zu unverschämt günstigen Konditionen. Drei Wochen später habe ich ein Fax bekommen. Nicht mal unterschrieben. Von seiner Finanzabteilung. Wulvsen Industries brauche keine Kredite.“

„Können wir den Termin mit Wulvsen nicht noch absagen?“, jammerte der Mann.

„Zu kurzfristig. Außerdem wäre das unhöflich, und Unhöflichkeit kommt bei Wulvsen gar nicht gut, glaube ich.“, erwiderte sie Frau kühl.

„Der ist ja selbst wohl kaum die Höflichkeit in Person.“

„Das ist wohl so, aber er kann sich Unhöflichkeit leisten.“

„Ich habe Schiss, richtig Schiss.“, schluchzte der Mann und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

„So ein Kotzbrocken. Er ist ein Rüpel. Und so was will Doktor sein. Wir hätten ihn rauswerfen sollen.“

„Er ist Wulvsen. Wulvsen wirft man nicht raus, wenn man nicht lebensmüde ist.“

Der Gewerkschaftsmanager lockerte seinen Krawattenknoten, schlug mit dem Kaffeelöffel gegen ein Wasserglas und ließ sich auf einem Stuhl im Sitzungsraum nieder.

„Kolleginnen und Kollegen, bitte setzt euch.“, rief er mit gespielter Fröhlichkeit. Das taten die Kolleginnen und Kollegen dann auch gerne, denn die erwarteten mit Spannung die Informationen über den Ausgang der Verhandlungen.

„Es ist spät geworden, aber das kennen wir ja von Verhandlungen mit Wulvsen. Vier Uhr morgens und der Mann wirkte immer noch so frisch, als sei er gerade erst aufgestanden. Und dabei saß er uns vollkommen alleine gegenüber.“, konnte der leitende Gewerkschafter seine Bewunderung nicht ganz verbergen, lachte dabei aber ziemlich gezwungen. Der Mann atmete einmal tief durch. „Er lässt uns als Organisation allerdings nicht in sein Unternehmen.“ Unruhe machte sich breit, Protestrufe waren zu hören, der Vorsitzende hob beschwichtigend die Hände. „Aber die Räte sind drin, und haben die gleichen Rechte wie in anderen Unternehmen.“, versuchte er, Selbstverständliches als Außergewöhnliches zu verkaufen.

„Es gibt aber keinen Vorstand oder Aufsichtsrat!“, rief jemand. Der Obergewerkschafter nickte leicht.

„Ja, aber die Räte sind wenigstens drin. Ich hätte es jedenfalls vor ein paar Stunden noch nicht für möglich gehalten, dass das ohne juristische Auseinandersetzungen geht.“, bemühte der Vorsitzende einen Optimismus.

„Das ist ja schließlich auch gesetzlich so vorgesehen.“, schallte es ihm empört entgegen, so dass er resigniert seinen Kopf einzog.

Thomas Winter schämte sich. Er war von der Organisation und ihrem Leitungsgremium ausgewählt worden, um mit dem rasant aufsteigenden Stern am Unternehmerhimmel zu verhandeln. Es sollte um das Verhältnis von Wulvsen Industries zu den Gewerkschaften gehen, um Tariflöhne und Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben. Das einzige, was Winter erreicht hatte, war, dass Wulvsen Betriebsräte zulassen würde. Das war zwar ohnehin Gesetz, aber Wulvsen hatte den Eindruck manifest erweckt, dass er darüber eine juristische Auseinandersetzung bis in die letzte Instanz herbeiführen wollte, doch schließlich hatte er sich überzeugen lassen. Das jedenfalls dachte Thomas Winter. Doch in den nächsten Wochen sollte sich herausstellen, dass Wulvsens Weigerung, nicht unbedingt nach Tarif zu bezahlen, sondern, wie er gesagt hatte, nach Leistung, anders gemeint gewesen war, als es verstanden worden war, und genau dieses Missverständnis sorgte im Nachgang dafür, dass Thomas Winter bald zum obersten Gewerkschaftsführer aufsteigen sollte, und das lag im Grunde genommen unter anderem daran, dass Thomas Winter, der Arbeitersohn, dem Konzernherrn bei den Verhandlungen einfach sympathisch geworden war, weil er sich ungekünstelt und geradheraus gegeben hatte und Wulvsen bei der Besprechung mit den Arbeitervertretern fast nostalgische Gefühle beschleichen wollten. Dem Gewerkschafter hatte er das aber natürlich nicht gesagt; weder das mit den Gefühlen noch das mit der Sympathie. Dass Wulvsen es geradezu ein Prinzip war, gute Leistung auch gerecht zu entlohnen, sollte sich jedenfalls erst viel später umfänglich erschließen. Ein Geheimnis blieb hingegen dauerhaft, dass sein Einlenken in der Betriebsratsfrage von ihm kalkuliert, seine diesbezügliche anfängliche Weigerung eine gezielte Finte gewesen war.

Ein hellbrauner Briefumschlag wechselte seinen Besitzer, indem er über einen Tisch geschoben wurde.

„Das ist die Anzahlung, zwanzigtausend, wie vereinbart. Lassen Sie sich Zeit, arbeiten Sie gründlich und zuverlässig. Niemand darf Verdacht schöpfen. Sie haben etwa ein Jahr Zeit, dann sollte Wulvsen Industries langsam in ernste Schwierigkeiten geraten.“ Der neue Besitzer eines hellbraunen Briefumschlags schüttelte leise lächelnd den Kopf und flüsterte:

„Ich weiß schon, was ich zu tun habe. Ich werde einen schleichenden Prozess vermeiden. Zu viele Angriffspunkte über eine relativ lange Zeit, so etwas weckt Misstrauen, und der Alte ist misstrauisch, das können Sie mir glauben. Wulvsen wird mit einem Knall untergehen.“

Es hatte geklingelt. Eindeutig. Deshalb riss Wulvsen die Augen auf und schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims, was aber wenig nutzte, denn in der Bibliothek war es dunkel. Nicht ganz, aber es brannte nur eine kleine Lampe und die Sonne war längst untergegangen. Mürrisch stand der Industrielle aus seinem Nachdenksessel auf und trat an den Kamin. Einundzwanzigvierzig, also fast mitten in der Nacht. Wer würde es wagen, ihn jetzt noch zu stören, und das unangemeldet? Er hasste unangemeldete Besucher. Beruflich und auch privat. Er hatte gerade eine neue Struktur für Mittelamerika ersonnen, danach hatte er es zugelassen, dass sich das Bild seines Vorzimmers ohne Rehbein, seiner bisherigen Sekretärin, skizzenhaft in seinem Hirn entwickelte, und wollte eigentlich jetzt mal ein paar Minuten gar nicht denken. Der Ruhestörer würde sich warm anziehen müssen. Sehr warm. Er machte die Musik aus. Entschlossen schritt Wulvsen zur Haustür und schaltete einen kleinen Monitor ein. Vor dem Tor stand ein Mensch, den Wulvsen als so ungefähr einzigen in die Kategorie Freund einzuordnen bereit war.

„Jürgen. Was machst du um diese Zeit hier? Waren wir verabredet?“ Die beiden Männer reichten sich die Hände, wobei Jürgen Link seinen Freund unsicher anschaute und Wulvsen sich nicht zu einem Lächeln zwang, schließlich waren er und Jürgen Freunde und kein Liebespaar.

„Nein, wir sind nicht verabredet, aber ich muss mit dir reden.“, gestand Link. Eine zarte Neugier überdeckte nun Wulvsens Ärger, der ohnehin geschrumpft war, nachdem er gemerkt hatte, dass seinen Freund offenbar etwas bedrückte. Dennoch fand er die Spontaneität und den Zeitpunkt des Besuchs immer noch nicht gut. Sie gingen in die Küche und setzten sich an den leeren Küchentisch.

„Ein Bier kann ich dir anbieten, aber zu essen ist, glaube ich, nichts da.“ Link winkte ab.

„Bier reicht.“ Wulvsen holte zwei Flaschen und setzte sich Link gegenüber. Eine Weile schwiegen sie trinkend.

„Was führt dich also zu mir?“, fragte Wulvsen nach einer Minute, weil er alles andere für Zeitverschwendung hielt. Entschlossen nahm Link noch einen Schluck aus der Pulle, dann legte er seine Hände auf den Tisch und starrte sie an.

„Wie du weißt, kümmere ich mich seit einiger Zeit um Obdachlose.“, begann er.

„Hm.“, knurrte Wulvsen, weil er genau dies für eine der vielen überflüssigen sozialen Marotten seines Freundes hielt.

„Den Leuten geht es wirklich dreckig, besonders in der kalten …“ Wulvsen machte eine unwirsche Geste.

„Niemand muss bei uns obdachlos werden, und Arbeit gibt es auch genug; ich weiß das, bin schließlich Unternehmer. Du kennst meine Meinung dazu.“, sagte er bestimmt. Link schaute ihm jetzt ins Gesicht.

„Ja, ich kenne deine Meinung, aber nicht alle sind selbst schuld an ihrer Lage; das ist meine Erfahrung, ich habe dir schon oft davon erzählt.“

„Hast du.“, gab Wulvsen zu. Link schaute wieder auf seine Hände, die immer noch auf dem Tisch lagen.

„Letzte Woche sind zwei Neue bei uns aufgetaucht. Zwei Männer. Beide haben vor kurzem gebaut, beide sind entlassen worden, ohne Abfindung. Von dem Arbeitslosengeld konnten sie ihre Kredite nicht mehr bedienen. Ihre Häuser sind weg, ihre Frauen sind weg, mittlerweile auch das Arbeitslosengeld. Weil sie monatelang versucht haben, ihre Verhältnisse zu ordnen, mit den Banken verhandelt haben, um ihre Familien gekämpft haben, haben sie Vermittlungsangebote der Arbeitsverwaltung nicht angenommen. Die kümmert sich mittlerweile nicht mehr richtig um sie, auch deshalb, weil sie keine feste Adresse mehr haben …“ Wulvsen setzte seine Bierflasche geräuschvoll ab.

„Was habe ich damit zu tun?“, fragte er scharf. Link sah ihm in die Augen, die lauernd und eiskalt blickten.

„Du hast sie entlassen.“ Wulvsen lehnte sich mit versteinerter Miene zurück.

„Bist du hier, um mir deswegen Vorhaltungen zu machen? Wenn ich jemanden entlasse, habe ich meine Gründe, das weißt du. Außerdem ist das rechtlich immer vollkommen sauber, auch das weißt du. Ich entlasse Leute nicht aus Jux.“

„Ich weiß, aber Herr …“ Wulvsen schnellte vor und näherte sein Gesicht dem seines Freundes.

„Ich will keine Namen hören, Jürgen. Keine Namen. In meiner Firma gibt es Regeln. Diese Regeln stehen in den Verträgen und in diversen Anweisungen. Außerdem gibt es mich. Wer die Regeln einhält und seine Leistung erbringt, hat nichts zu befürchten …“

„Du hast manchmal Launen.“, hielt Link dagegen. Wulvsens Augen weiteten sich.

„Das gebe ich gerne zu.“, rief er. „Das ist ja wohl nur menschlich. Der vorliegende Fall hat aber nichts mit meinen Launen zu tun. Meine Firma ist keine Selbstfindungsgruppe. Ich beschäftige erwachsene Menschen, die in der Regel genug Lebenserfahrung haben, um zu wissen, dass der Chef kein Seelsorger ist. Sein kann. In meinem Fall auch nicht sein will. Das wissen alle, die bei mir arbeiten. Wem das nicht gefällt, der kann gehen; das aber tun erstaunlich wenige, denn ich zahle gut, wie du weißt. Ich entlasse auch verhältnismäßig selten …“

„Du musst ja auch nicht betriebsbedingt kündigen, weil es deinem Konzern und den Töchtern gut geht.“, ereiferte sich Link. Wulvsen grinste ihn an.

„Ist doch schön. Wenn es der Firma gut geht, geht es auch den Beschäftigten gut. Jedenfalls materiell. Alles andere ist Privatsache.“

„Aber diese beiden Männer …“ Wulvsen winkte energisch ab.

„Ich weiß, wen du meinst. Sie haben Fehler gemacht. Nicht einen, Plural. Ich habe sie warnen lassen. Wenn sie sich ihren Aufgaben nicht gewachsen gefühlt haben, hätten sie um Versetzung bitten können; das hätte ich mitgemacht. Haben sie aber nicht, und deshalb mussten sie gehen.“ Link öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Wulvsen war noch nicht fertig und hob den Zeigefinger. „Von einem erwachsenen Menschen mit halbwegs vorhandener Intelligenz ist zu erwarten, dass er sich selbstkritisch analysieren und einschätzen kann; ferner ist zu erwarten, dass er für sein privates Handeln eine Risikoabschätzung vornehmen kann. Wer sich überschuldet, ist selbst schuld. Jedenfalls darf er sich dann im Job keine Fehler erlauben, die ihn den Job kosten könnten. Diese Erkenntnisse erwarte ich von erwachsenen, gut ausgebildeten Menschen, und solche beschäftige ich ausnahmslos.“ Link sah seinem Freund in die Augen, nickte traurig und stand auf. Er stützte sich auf dem Küchentisch ab, beugte sich zu Wulvsen und meinte:

„Manchmal glaube ich, du magst dich noch nicht einmal selbst.“ Wulvsen lachte trocken.

„Mit Sympathie hat das nichts zu tun. Mit Sympathie kann man keinen Weltkonzern führen, glaube mir, das geht nur mit kühlem Verstand.“ Link nickte und verließ mit dem Hinweis, dass er wisse, wo die Tür sei, das Haus.


Wer ist Doktor Roger Wulvsen? – Von Alfred Kerr


Dumme Frage, finden Sie? Sie kennen die Antwort? Klar, jeder weiß, wer Roger Wulvsen ist, schließlich haben wir alle mit ihm zu tun. Von Kindesbeinen an. Von der Wiege bis zur Bahre, sozusagen.

Stimmt, ein Leben ohne Wulvsen-Produkte ist kaum vorstellbar, es sei denn, man lebt völlig autark, baut sein eigenes Gemüse an, züchtet Vieh, kleidet sich mit Selbstgestricktem aus Wolle von den eigenen Schafen, verzichtet auf Elektrizität und die davon abhängigen Geräte, geht nur zu Fuß, und das nur im eigenen Wald. Aber selbst dann ist nicht sicher, dass Wulvsen Industries nicht doch irgendwo die Finger im Spiel hat.

Wulvsen bestimmt also unser Leben, mal mehr, mal weniger. Meistens mehr.

Das, an sich, muss ja noch nichts Schlimmes sein. Zugegeben, Wulvsen ist in manchen Bereichen des Wirtschaftsgeschehens nahe daran, Monopolist zu sein. Wirklich störend ist das bisher nicht gewesen. Nichts deutet darauf hin, dass er seine in manchen Branchen oligarchische Stellung dazu missbraucht, Preise zu diktieren. Noch nicht. Und manches von dem, wo ‚Wulvsen‘ draufsteht, ist ja durchaus nützlich, ja, sogar lebensrettend.

Aber hier soll es nicht um die Produkte von Wulvsen Industries gehen, sondern um den Mann, der Wulvsen Industries ist.

Roger Wulvsen ist der einzige Komplementär einer Kommanditgesellschaft ohne Kommanditisten; das heißt, ihm gehört der ganze weltumspannende Laden alleine. Außerdem ist er der einzige Chef; nach seiner Pfeife tanzen alle.

Und das, das ist mehr Gewissheit als Spekulation, sind nicht nur die Firmenangehörigen.

Wer hat sich nicht schon einmal über die Körpersprache von Politikern, auch sehr hochgestellten, und anderen Konzernchefs amüsiert, wenn diese in Gegenwart von Roger Wulvsen Fernsehauftritte haben oder sich zum Gruppenfoto aufstellen?

Ja, Wulvsen versteht es, selbst mit verbundenen Augen und gefesselten Händen, virtuos auf der Klaviatur der Macht zu spielen.

Bisher allerdings deutet nichts darauf hin, dass er seine Macht missbraucht, und zwar in dem Sinne, dass er dem Volk oder dem Staat schaden würde. Er könnte also vielleicht sogar, wie die Bundeskanzlerin und die Bundesminister, ohne gekreuzte Finger deren Amtseid mitschwören, denn sein Einfluss ist sicher nicht geringer. Vielleicht sollte die Bundesregierung so etwas für Wirtschaftsführer mal in Erwägung ziehen.

Dass er ein frühkapitalistischer Ausbeuter ist, haben schon viele versucht ihm nachzusagen. Sie sind gescheitert, weil sie dafür keine Belege beibringen konnten. In der Tat lehrt zum Beispiel ein Blick in seine ausländischen Dependancen, gerade die in den Entwicklungsländern, dass sich Wulvsen löblich von der Konkurrenz abhebt. Er zahlt fair und die Arbeitsbedingungen sind ordentlich.

Andererseits, und auch das ist mehr Gewissheit als Spekulation, beherrscht er seinen Konzern als alleiniger Machthaber im Stil eines autoritären Führers. Manche werfen ihm Diktatur und Tyrannei vor und können allerdings dafür Belege vorweisen.

Mit oder unter ihm zu arbeiten dürfte also kein Zuckerschlecken sein, aber das kann jeder wissen, der sich auf ihn einlässt; seine Arbeitsverträge sprechen eine deutliche Sprache.

Vielleicht braucht es einen solchen Charakter, um das zu leisten, was Wulvsen geschafft hat, und das ist ja durchaus anerkennenswert.

Aus ein paar Familienbetrieben innerhalb weniger Jahre und nahezu ohne Fremdkapital einen Weltkonzern geschmiedet zu haben, ist ohne Beispiel.

Wir erinnern uns an Entscheidungen von ihm, von denen wir alle annahmen, dass sie das Ende von Wulvsen Industries bedeuteten. Sie haben sämtlich letztlich nur zur Prosperität des Unternehmens beigetragen.

Wir kommen nicht an Wulvsen vorbei, und damit meine ich nicht nur seine Produkte. Er versteckt sich ja nicht. Er ist zu Gast auf Empfängen, bei Politikern und in den Medien, das aber seltener. Ob er bei den Politikern immer ein gern gesehener Gast ist, kann bezweifelt werden, denn er ist ihnen ja nur zu oft unbequem.

Roger Wulvsen ist also ein erfolgreicher und mächtiger Unternehmer, der sein Unternehmen, um es euphemistisch auszudrücken, mit harter Hand führt.

Doch kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: wer ist der Privatmann Roger Wulvsen?

Um einen bekannten Literaturkritiker zu bemühen: wir wissen es nicht. Jedenfalls fast nicht.

Bis zu seinem Eintritt ins Geschäftsleben finden sich hier und da Spuren des Menschen Roger Wulvsen. Wir finden sein Bild in einer Festschrift seines Abiturjahrgangs, seine Dissertation findet sich in wissenschaftlichen Bibliotheken und als Restexemplare auch noch im Buchhandel. Eine Menge Freunde scheint er jedoch auch als Schüler und Student schon nicht gehabt zu haben, jedenfalls bekennt sich niemand dazu.

Festzustehen scheint, dass mit seinem Namen weder Stiftungen noch Vereine in Verbindung gebracht werden können, Veranstaltungen, die dem Amusement oder der Kultur dienen, soll er für Zeitvergeudung halten, sein Leben führt er eher bescheiden, denn er protzt nicht mit auffälligen Immobilien, Yachten oder dergleichen mehr, obwohl er das durchaus könnte.

Alles weitere ist reine Spekulation.

Es ist anzunehmen, dass er nicht verheiratet ist und keine Kinder hat. Seine sexuellen Präferenzen sind unbekannt. Die in die Redaktionskonferenz gestellte Mutmaßung, dass die Firma sein Hobby sei, blieb unwidersprochen. Unwidersprochen blieb auch die gar nicht mal flapsig gemeinte Bemerkung, er ginge zum Lachen in seinen Keller. Über seinen Gesundheitszustand gibt es noch nicht einmal Gerüchte.

Das Einzige, was als fast gesicherte Erkenntnis gelten kann, ist, dass er gerne gut isst.

Doch das beantwortet die Frage nicht:

Wer ist Roger Wulvsen?


Wulvsen ließ die Zeitung sinken. In seinem Kopf spielte sich nun dreierlei ab:

Zufriedenheit darüber, dass eine Frage nicht hatte abschließend beantwortet werden können.

Unzufriedenheit darüber, dass der Artikel keinen Anlass für juristische Schritte seinerseits bot. Und Schadenfreude über die Unfähigkeit von Journalisten.

Das mit den juristischen Schritten würde er allerdings prüfen lassen.

Die Frau wurde von ihrem Wecker geweckt, worüber sie sehr froh war, denn die Nächte endeten für sie, seit das Kind bei ihr war, nicht mehr so oft mit einem Albtraum. Sie träumte zwar noch diesen schrecklichen Traum, aber es war längst nicht mehr so schlimm wie vorher, vorbei waren die Schreie und die Tränen. Sie ging im Traum einfach souveräner mit den Vorhaltungen der Lehrerin um und das heißt, dass sie sie zunehmend einfach ignorierte. Das Kind schlief noch in seinem Bettchen und die Frau streichelte zärtlich über sein Köpfchen. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Kleine maßgeblich damit zu tun hatte, dass sie die Vergangenheit langsam, aber sicher in den Griff bekam; zumindest nachts in ihren Träumen. Möglicherweise lag das an der Erziehungsverantwortung, die ihr zugefallen war, aber sie fand, dass es das nicht alleine war; für sie hing das mit dem Charakter des Kleinkindes zusammen, so seltsam sie das auch finden mochte. Vielleicht würde sie ihr Trauma eines Tages sogar ganz überwinden können. Und vielleicht würde sie sogar dessen eigentliche Ursache beseitigen können. Bei der allmählichen Überwindung des Traumas war ihr ihre Nichte schon jetzt eine unbewusste Hilfe, das wollte sie glauben. Was die Ursachenbeseitigung anlangte, würde das Mädchen in nächster Zeit jedoch keine Hilfe sein können, dafür war es noch zu jung.

Der Ärger eines ereignisreichen Arbeitstages, an dem er seinen südamerikanischen Leitern erst ihre Bilanzen und dann die Leviten gelesen hatte, der eine unschöne, aber für ihn erfolgreiche Konfrontation mit dem niederländischen Wirtschaftsminister mit sich gebracht hatte, und der konsternierte bis zitternde Abteilungsleiter nach der morgendlichen Lage hinterlassen hatte, musste heraus, und so schlüpfte Wulvsen, sobald er zu Hause war, in seine Laufsachen und lief los. Seine Runde führte ihn an einem Kinderspielplatz vorbei, der menschenleer war, bis auf ein kleines Mädchen mit dunklem, lockigem Haar, das konzentriert etwas im Sand eines Sandplatzes baute. Komisch, dachte Wulvsen, keine Aufsicht weit und breit. Er schüttelte den Kopf über die Nachlässigkeit mancher Eltern, warf dem Kind noch einen letzten Blick zu, erinnerte sich, dass er es schon einmal gesehen hatte und lief seines Weges.

Dass die Zeit der Routine bald der Vergangenheit angehören würde, deutete sich Wulvsen am nächsten Morgen zart an, denn beim Zähneputzen rekapitulierte er, dass er seit seinem gestrigen Lauf das Bild des einsamen Mädchens einfach nicht mehr aus seinem Kopf bekam.

Dass seine Gedanken sich verselbständigten, kam so gut wie gar nicht vor, und er glaubte, selbst sein Unterbewusstsein gut im Griff zu haben, so dass das Ergebnis seiner morgendlichen Rekapitulation ihn zu Gegenmaßnahmen im Normalfall veranlasst hätten, und die hätten seinen Denkapparat betroffen. Doch diesmal fasste er einen anderen, und wie sich im Verlauf zeigen sollte, viel weitergehenden Entschluss, und das hatte damit zu tun, dass sich zu dem Bild des einsamen, gelockten Mädchens eines aus seiner eigenen Vergangenheit zuweilen gesellte, das Bild nämlich eines weinenden Mädchens, das lange, glatte schwarze Haare hatte.


Die Klassenlehrerin verteilte die Arbeiten. Die anfängliche Stille im Klassenraum wich immer mehr einem allgemeinen Geraune, je mehr der kleinen Hefte an die Schüler verteilt wurden. Obwohl Roger Wulvsen sein Heft bereits erhalten hatte, legte die Lehrerin zum Schluss noch ein weiteres Heft vor ihn auf den Tisch. ‚Tanja Kiel‘ stand in ungelenken Lettern auf dem Etikett.

„Lies uns doch einmal Tanjas Aufsatz vor, Roger.“, forderte die Lehrerin ihren besten Schüler auf und grinste hämisch. Roger schlug das Heft auf und erschrak. Wie sollte er das vorlesen? Groß- und Kleinbuchstaben schienen wahllos aneinandergereiht und teilweise verkehrt herum geschrieben. Manche Buchstabenfolge ergab gar keinen Sinn, Sätze waren kaum zu erkennen. ‚Chinesisch‘ nannten sie das.

Schweißgebadet und mit hochrotem Kopf beendete Roger seine Lesung unter dem Gejohle der Klasse. Außer der Unleserlichkeit dessen, was da auf dem Papier stand, hatte das Gefeixe und das Gelächter, in das er schließlich befreit einfiel, dazu geführt, dass er am Ende kaum noch lesen konnte. Frau Steyer nickte zufrieden, was soviel bedeuten sollte, dass dies ein schlechtes Beispiel für einen Aufsatz war, ein ganz schlechtes, dem nachzueifern sie dringend abriet.

Ein Mädchen hatte den Kopf in den auf dem Tisch liegenden Armen vergraben und weinte bitterlich.

Nicht viel anders war es, wenn es darum ging, aus dem Lesebuch vorzulesen. Die Lehrerin wusste, wie sie die Stimmung heben konnte.

„So, nun zu den Hausaufgaben. Ihr solltet die Geschichte auf Seite 8 lesen. Wer möchte vorlesen?“ Einige Kinder meldeten sich heftig. Die Lehrerin lächelte süffisant. „Nein Roger, nicht du.“ Sie wendete sich einem schwarzhaarigen Mädchen zu, das sich jetzt wünschte, nicht anwesend zu sein. „Tanja wird uns vorlesen.“

Nach fünf Minuten grölte die Klasse und das Mädchen weinte hemmungslos.

Er hasste diesen kleinen Wichtigtuer, diesen Studiendirektor, der sich dazu berufen fühlte, zukünftige Lehrer auszubilden, und in seinen Seminaren nichts anderes tat, als Fachliteratur zu referieren und bei Unterrichtsbesuchen es nicht wagte, den jeweiligen Schulleitern in die Augen zu sehen. Doch nun wurde es interessant.

Der kleine Studiendirektor war ernst geworden und sah eindringlich in sein Auditorium.

„Niemals, meine Damen und Herren, niemals dürfen Sie eine Schwäche eines Schülers vor der Klasse öffentlich machen. Niemals. Sie dürfen niemals einen Schüler bloßstellen. Vor allem nicht vor seinen Mitschülern. Sie glauben gar nicht, was Sie damit anrichten können.“

Eine Hand flog in die Höhe.

„Ja bitte, Herr Doktor Wulvsen.“ Der kleine Studiendirektor wurde noch ein wenig kleiner, denn er hatte hohen Respekt vor dem Fabrikantensohn mit dem Doktortitel und das lag im wesentlichen an diesem Titel, aber auch an dem an Arroganz grenzenden Selbstbewusstsein des Doktors.

„Seit wann ist das pädagogische Erkenntnis?“, lautete die knappe Anschlussfrage. Der Studiendirektor sammelte sich kurz.

„Seit Comenius dürfte das einhellige Meinung sein. Zumindest in der pädagogischen Lehre und Forschung. Das können Sie bei Muth nachlesen.“ Der Kursteilnehmer nickte. „Gibt es einen besonderen Grund für Ihre Frage, Herr Doktor Wulvsen?“, wagte der Kursleiter eine Frage.

„Nein.“, behauptete der Doktor.

Erst sehr viel später, und zwar während seiner Ausbildung, wurde ihm also wirklich bewusst, hatte er aus berufenem Munde gehört, was er getan hatte; wobei er mitgewirkt hatte, und dass das steyersche ein ganz übles Beispiel für missverstandene Pädagogik gewesen war, und er fühlte sich schuldig, eine Rolle dabei gespielt zu haben, und dazu noch keine löbliche. Doch was hätte er tun sollen mit seinen acht, neun Jahren? Hätte er sich geweigert, hätte jemand anderes gelesen und die Schmach wäre für Tanja die gleiche gewesen. Das Einzige, was er machen könnte, wäre, sich bei Tanja zu entschuldigen. Irgendwann. Das würde sein Gewissen beruhigen und ihr vielleicht ein wenig Mut zurückgeben, den sie in diesen Augenblicken damals scheibchenweise verlor. Aber dafür müsste er sie erst einmal finden und treffen.

Roger Wulvsen war kein geborener Unternehmer. Zunächst aus kindlichem Desinteresse, und dann aus Gründen jugendlicher Opposition hatte er sich für die elterliche Firma nicht interessiert. Er liebte die Literatur und interessierte sich für gesellschaftliche Zusammenhänge, die, das erkannte er bald, von wirtschaftlicher Tätigkeit nicht nur wesentlich mitgeprägt werden, sondern deren materielle Grundlage diese ist. Diese Interessen führten dazu, dass er seine akademische Ausbildung in Fakultäten absolvierte, in denen Fabrikantenkinder eher selten anzutreffen waren, was seine Integration in gewisse Kreise, denen er sich zunächst gerne zurechnen wollte, nicht einfach machte. Die Vorbehalte der anderen gegenüber seiner Herkunft indes führten bei Roger Wulvsen nicht zu bestimmten Anpassungsprozessen, sondern dazu, dass er, aus einer Art Metasicht, diese Kreise einer genaueren Beobachtung schon bald unterzog. Das Ergebnis war, dass er zwar prinzipiell weiterhin deren Ziele für erstrebenswert hielt, nicht jedoch die vorgeschlagenen Wege dorthin, und die Erkenntnis, dass es eine ganze Menge Menschen in diesen Kreisen gab, die eher wenig authentisch diese Ziele vertraten.

Er jedenfalls nahm sich vor, diese von ihm für prinzipiell erstrebenswert gehaltenen Ziele in dem von ihm für den einzig vernünftig befundenen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Rahmen, und das wäre der aktuelle und über viele Jahrzehnte bewährte, nicht aus den Augen zu verlieren und, wenn möglich, auch umzusetzen, und dabei möglichst authentisch zu bleiben. Zu dieser Zeit konnte er noch nicht wissen, dass ihm dies auch zu großen Teilen gelingen, er selbst jedoch den Blick hierauf zunächst wesentlich verstellen sollte.

Zum Ende seines Studiums war er also sozial und politisch ein Heimatloser, was jedoch durch ein tragisches Familienunglück sich ändern sollte.

Durch jene Tragödie nämlich fiel dem jungen Mann von heute auf morgen Verantwortung zu.

Und Macht.

Er musste aus dem Stand sich nicht nur um das mittelständische Unternehmen der Eltern kümmern, sondern ebenfalls noch um die ähnlich großen einiger Verwandter, die auch durch das Unglück betroffen worden waren, und bewies dabei soviel Geschick, dass er innerhalb weniger Jahre hieraus einen internationalen Konzern geschmiedet hatte, dem nichts anderes als Erfolg die Zukunft versprach.

Ob es die familiäre Tragödie, die unerwartet auf ihn zugefallene Herausforderung, die neue gesellschaftliche Stellung, seine bis dahin nicht erfolgte Festlegung der eigenen Verortung in dem sozialen Gefüge, die eigene Bindungslosigkeit, oder alles zusammen und einiges mehr waren, was seinen Charakter in jener Zeit prägte, kann für das weitere Geschehen als nicht erheblich genug gelten, um hier weiter gründlich analysiert werden zu müssen.

Fest steht, dass er als junger Mann, fast völlig auf sich allein gestellt, Aufgaben zu bewältigen hatte, an die er zuvor nicht einmal im Traum gedacht hatte und er es mit Menschen zu tun bekam, die er vorher bestenfalls namentlich kannte.

Jedenfalls entschied er sich, sei es aus Selbstschutz, Unsicherheit oder unbedingtem Erfolgswillen, seinen Weg mit einer gewissen Unnachgiebigkeit zu gehen, was ihm nicht immer Freude oder Freunde machte, die er aber, aufgrund fehlender früherer Festlegungen, ohnehin, mit einer späten Ausnahme, nicht hatte; allerdings fehlten sie ihm auch nicht.

Diese Haltung erfuhr positive Verstärkung durch den Erfolg, den er zunehmend hatte, und der dazu führte, dass nicht nur er selbst sein Handeln als richtig und zielführend empfand, sondern der auch seine Umgebung veranlasste, über manches an seinem Verhalten hinwegzusehen. Die, die das nicht taten, spielten bald keine Rolle mehr, und nach einer Weile war es dann eindeutig zu spät, daran etwas zu ändern.

Doch es wäre weit gefehlt zu meinen, er spielte eine Rolle in dem Sinne, dass er den unerbittlichen und unnahbaren Unternehmer nur gab. Er musste nichts spielen.

Ihm war durchaus bewusst, dass sein Regiment mit früheren Verhaltensidealen wenig zu tun hatte, aber er glaubte, und das mit einigem Recht, dass er ein gerechtes Regiment führte, wobei mancher Betroffene hierzu sicher eine andere Meinung hatte.

Roger Wulvsen, der ehedem Heimatlose, hatte sich selbst eine Heimat geschaffen, eine eigene Welt sozusagen, und die war durchaus in der Lage, der übrigen Welt, der Welt der anderen also, ihren Stempel gehörig aufzudrücken.

Auf jeden Fall setzte er in seinem Imperium um, was er nach wie vor für richtig hielt, nämlich dass jedem Menschen eine Chance zustehe, die dann aber in eigener Verantwortung und unter Respektierung der anderen zu nutzen sei. Dass er hierbei förderte, war allerdings selten offensichtlich, weil er mit seiner Art der Förderung auch immer eine Forderung verband, da diese beiden Aspekte seiner Meinung nach unbedingt zusammengehörten, denn sein Fordern war durchaus dominant und wurde entsprechend wahrgenommen, so dass der andere Aspekt scheinbar bestenfalls ein Schattendasein führte. Hierbei spielte sicherlich sein Charakter eine Rolle, und der verbat es ihm einfach, sein förderndes Engagement zu kommunizieren, weil er auf Lob durchaus verzichten konnte. Doch diese Klandestinie sollte aufgrund späterer, zunächst zaghafter, dann intensiverer sozialer und zwischenmenschlicher Kontakte von ihm nicht aufrecht erhalten werden können.

Martha verabschiedete sich von den Erzieherinnen und ihren kleinen Freunden und Freundinnen, dann setzte sie sich vor dem Kindergarten auf eine Bank. Ihre Tante würde in ein paar Minuten kommen und sie abholen.

Sie hatte sich kaum gesetzt, als sie einen Mann mit einem Streifen Stoff um den Kopf in Sportkleidung auf sich zulaufen kommen sah. Er sah kurz zu ihr und lief weiter.

Martha hatte sich ein wenig erschrocken, als sie seinen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Einen Augenblick hatte sie daran gedacht, noch einmal in die Tagesstätte zurückzugehen, aber als er dann vorbeilief und keine weitere Gefahr von ihm auszugehen schien, änderte sie ihre Pläne.

Ähnlich wie Martha hätten durchaus auch Erwachsene reagiert, wenn Roger Wulvsen mit grimmiger Miene auf sie zugelaufen gekommen wäre, und so hielt sich die Fünfjährige also ziemlich tapfer, als sie der Gefahr trotzte. Doch die Zeit der Prüfungen hatte erst begonnen.

Bei gutem Wetter sah sie den Mann, dem sie zu diesem Zeitpunkt eher böse als gute Absichten zu unterstellen bereit gewesen war, nämlich fast jeden Tag, immer sah er kurz zu ihr, mitunter verfinsterte sich seine Miene, so dass sie sich hilfesuchend umsah, aber nie passierte etwas, bis er ihr, nach ein paar Tagen, freundlich zuwinkte, was sie beim dritten Mal zögerlich mit einer entsprechenden Geste beantwortete. In der zweiten Woche setzte er sich kurz zu ihr und sprach ein paar Worte mit ihr, was er dann mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder tat. Seine Worte waren gar nicht böse und er hatte eine angenehme Stimme, aber mit Männerstimmen hatte Martha wenig Erfahrung. Und je näher Martha den grimmigen Läufer kennenlernte, desto mehr entzauberte der sich und war dem Kind ein netter Gesprächspartner und Zeitvertreiber. Doch auch er bekam etwas von Martha, ohne es allerdings zunächst zu merken.

Martha hatte nicht das zweite Gesicht, sie war nicht übernatürlich begabt, oder so etwas. Sie war allerdings sehr intelligent, und sie war sehr interessiert an anderen Menschen, was jedoch nicht mit einer Neugier, die manchmal als unangenehm empfunden wird, verwechselt werden sollte. Ihr reichte es schon, sich mit anderen zu unterhalten, und schon vermochte sie sich ein Bild zu machen, obwohl sie erst fünf Jahre alt war. Später sollte sie diese Gabe durch ein einschlägiges Studium auch auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.

Nachdem Martha nun ihren ersten Schrecken überwunden hatte, begann sie, die Gespräche mit dem fremden Mann zu genießen, denn jedes von ihnen brachte ihr Roger Wulvsen, allerdings auf verschlungenen Umwegen, näher, obwohl ihre Themen von eher kindlicher Belanglosigkeit zunächst waren.

Ihr Interesse an ihm war schon gerade deshalb geweckt, weil er ihr zunächst einen Schrecken eingejagt hatte, als sie ihn die ersten Male gesehen hatte und weil er sich später in ihren Gesprächen als nett und einfühlsam präsentierte. Und daher legten die ersten Treffen bereits Martha den Gedanken nahe, dass es sich bei dem Fremden um eine - Martha hätte dies damals anders formuliert, denn ihr Wortschatz war der eines Kindes – mindestens ambivalente Persönlichkeit handelte, obwohl sie Themen wie zum Beispiel Charaktereigenschaften überhaupt nicht ansprachen und auch Wulvsen hierzu einem Kind gegenüber überhaupt keine Veranlassung sah, das sollte erst später kommen.

Die abendliche Auseinandersetzung mit seinem Freund hatte Wulvsen nicht kalt gelassen, aber dabei ging es ihm weniger um die von Jürgen betreuten Menschen, sondern um dessen Ansatz. Es war auch nicht die erste derartige Auseinandersetzung gewesen, sie hatten eben zu manchen Themen unterschiedliche Auffassungen. Aus diesem Grunde vertieften sie diese Themen bei ihren Zusammenkünften in der Regel auch nicht, aber eben manchmal schon, und dann machten sie sich gegenseitig ihre Standpunkte klar. Da beide keine missionarischen Eiferer waren, hinterließen diese Auseinandersetzungen keine bleibenden Schäden, so dass sie sich danach noch immer in die Augen schauen konnten, dennoch sah sich Wulvsen bemüßigt, seinem Freund seinen Standpunkt noch einmal schriftlich nahezubringen, ohne damit eine Entschuldigung oder Rechtfertigung zu verbinden, denn dazu sah er keinerlei Veranlassung.

Wulvsen setzte sich also an seinen heimischen Schreibtisch, zog einen Bogen Briefpapier aus einer Schublade, denn er wollte dem Freund handschriftliche Mitteilungen machen, nahm einen teuren Füllfederhalter und begann schwungvoll, Buchstaben zu Wörtern und Worte zu Sätzen zusammenzufügen, die insgesamt einen inhaltsreichen Text ergaben.

Er warnte Jürgen ausführlich vor den Gefahren der Sozialromantik, Schwerpunkt Romantik, und bot zum Schluss beiläufig an, mal darüber nachdenken zu wollen, ob er nicht in Zukunft darüber nachdenken könnte, Jürgens Projekte zu unterstützen, die dann aber strengstens subsidiär angelegt sein müssten.

Wulvsen ahnte nicht, wie bald und wie sehr er in solche Projekte verstrickt werden sollte.

Mit einem Image ist es so eine Sache. Ein Image kann etwas Zutreffendes über einen Menschen aussagen, oder den Menschen verzerren. Ein Mensch kann wesentlich selbst zu der Ausgestaltung seines Images beitragen oder es seinen Mitmenschen überlassen, sich ein solches Bild zu machen. Auf jeden Fall muss ein Image nicht in jedem Fall mit der Realität übereinstimmen, muss nicht alle Facetten eines Menschen berücksichtigen; es kann vorurteilsbehaftet sein, es kann schönfärberisch sein, es kann diskreditieren, es kann überhöhen. Kurz: der Übereinstimmungsgrad eines Image mit dem ihm zugrundeliegenden realen Charakter kann höher oder niedriger sein.

Bei Roger Wulvsen war dieser Grad sehr hoch.

Er galt als durchsetzungsstark bis zur Brutalität.

Er galt als streng bis zur Menschenverachtung.

Seine strategischen Schachzüge hatten manchmal etwas Intrigantes.

Seine Unfreundlichkeit nannten manche Verachtung.

Sein Beharrungsvermögen Sturheit.

Seine Ausdauer maschinenhaft.

Seine Ahnungen Hexerei.

Seine Entscheidungen genial.

Seine Kompromisslosigkeit autistisch.

Seine Umgangsformen rücksichtslos.

Seine Launen cholerisch.

Seine Art der Unternehmensführung rüpelhaft zu nennen, wäre keine Übertreibung gewesen.

Roger Wulvsen wusste das alles, und er fand, dass es hinreichend passte, ihn zu charakterisieren. Er war nämlich tatsächlich so, und er dachte gar nicht daran, etwas daran zu ändern, denn sein Erfolg bestätigte ihm jeden Tag, dass er richtig handelte, und er wusste, dass er gewissen Prinzipien folgte, und Ungerechtigkeit konnte man ihm schwerlich vorwerfen, was ihm überaus bewusst war. Den Vorwurf, ein Misanthrop zu sein, hätte Wulvsen energisch und weit von sich gewiesen.

Ein enorm wichtiger Aspekt, den er selbst nur zu gern verdrängte und an den er nach der ersten Zeit des Erfolgs schon gar nicht mehr dachte, spielte nämlich bei einer solchen Betrachtungsweise, die er sich sehr gerne zu eigen machte, keine Rolle. Dieser Aspekt war der, dass nämlich, als der Erfolg sich einstellte, und Wulvsen auch deshalb seine Verhaltensmuster, denen er eine entscheidende Rolle in seiner Erfolgsgeschichte zuzumessen bereit war, für nicht überdenkenswert hielt, jeglicher Widerspruch langsam aber sicher erstarb. Zunächst in der Firma, dann aber auch darüber hinaus, in der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft, verstummten die, die zu widersprechen anfangs gewagt hatten, dann entweder durch sein robustes Verhalten oder die Tatsache, dass er fast immer Recht behielt, seinen unbedingten Erfolg, oder wegen all dieser Dinge zusammen, entweder resignierten, oder aufgaben, oder einfach begannen, ihn zu bewundern. Seine leitenden Angestellten funktionierten, sie erfüllten die ihnen übertragenen Aufgaben, was wiederum dem Erfolg des Konzerns nicht abträglich war, und das war die Hauptsache. Punktum. Widerspruch wagten sie nicht, was aber den Bilanzen nicht schadete.

Ihm fehlte also, beruflich wie privat, das Korrektiv, wenn man von gelegentlichem Widerspruch seines Freundes Jürgen und seiner Sekretärin einmal absah; darüber hinaus hatte er schließlich kaum noch ähnlich tiefe soziale Kontakte.

Ihn störte also nicht, dass er als, um es euphemistisch auszudrücken, schwieriger Charakter wahrgenommen wurde, denn er war ein schwieriger Charakter, und er glaubte, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, dass Ereignisse in seiner Vergangenheit ursächlich dafür verantwortlich gewesen sein könnten und er dadurch den grundsätzlichen Glauben an das Gute im Menschen verloren hatte. Seit dieser Zeit nämlich, so dachte er, ohne das wirklich zu reflektieren, war er seiner Umgebung und seinen Mitmenschen nicht mehr unvoreingenommen gegenübergetreten, war nicht mehr die Blaupause gewesen, auf die jeder seinen Stempel drücken konnte. Seitdem hatte er alles und jeden einer kritischen Betrachtung zunächst unterzogen. So dachte er, und so könnte es tatsächlich gewesen sein.

Der Kopfmensch Wulvsen fand das alles in Ordnung, und nach seiner Auffassung hätte das auch so weiter gehen können. Doch selbst die souveränsten Machtmenschen sind nicht immer in der Lage, alle Geschehnisse zu steuern. Manchmal merkt selbst diese Spezies nicht, dass ihr Dinge entgleiten, die sie voll im Griff zu haben wähnen.

Dass er von manchen für einen Unmenschen gehalten wurde, störte ihn zunächst nicht, dann aber, ab einem gewissen Zeitpunkt, schleichend und von ihm selbst fast unbemerkt, immer mehr, so dass er Kompensation darin suchte, zunächst heimlich etwas zu tun, was gemeinhin Gutes genannt wird, und daran war ein kleines Mädchen nicht ganz unschuldig.

Roger Wulvsen jedenfalls merkte es nicht, und als er es merkte, war es bereits zu spät, aber das machte ihm dann nichts mehr aus.

„Rück mal, ich lege mich noch zu dir, bis du eingeschlafen bist.“ Martha machte Platz in dem für sie ohnehin zu großen Bett und Tanja legte sich neben sie. Tanja wusste, dass sie mit ihrer Nichte recht komplizierte Sachverhalte besprechen konnte; Sachverhalte, die selbst für Erwachsene nicht leicht zu durchdringen waren. Martha war zwar erst fünf, aber bei den Elternabenden der Tagesstätte hatten ihr die Erzieherinnen immer wieder versichert, wie intelligent Martha wäre. Und darüber hinaus, wie eine sich mal ausgedrückt hatte. Tanja wusste das. Sie wusste um die Intelligenz ihrer Nichte und sie wusste um das ‚darüber hinaus‘. Martha hatte manchmal etwas Magisches. Den gut gemeinten Rat, Martha auch zu Hause zu fördern, hatte sie schweigend und mit einem Lächeln entgegengenommen, hatte dann versichert, alles zu tun, was sie könnte. Aber das war eben nicht das Optimale. Bei weitem nicht.

Martha schmiegte sich an ihre Tante.

„Schade, dass du mir nicht vorlesen kannst.“

„Du wirst bald selbst lesen lernen, in der Schule. Ab dem nächsten Jahr.“, sah Tanja in die Zukunft.

„Schon, dann kann ich dir vorlesen.“, schlug Martha vor.

Die Zeiten, in denen sie sich geschämt hatte, Ausreden erfunden hatte, weil sie ihrer Nichte nicht vorlesen konnte, waren vorüber, was fast ausschließlich der Intelligenz und dem Einfühlungsvermögen Marthas zuzuschreiben war. Es waren bittere Momente gewesen, aber eines Tages hatte Martha gesagt: „Ich verstehe schon. Du musst nicht immer traurig sein deswegen.“ Und hatte sich an sie gekuschelt.

„Ja, so machen wir es.“ Eine Weile schwiegen sie. Dann meinte Martha:

„Du hast doch was.“ Tanja sah an die Zimmerdecke, dann auf ihre Hände, die auf der Bettdecke lagen.

„Ich muss eine neue Arbeitsstelle annehmen.“, nuschelte sie.

„Warum?“

„Mit den paar Stunden Putzen verdiene ich nicht genug; entweder brauche ich eine mit einer längeren Arbeitszeit, oder ich muss zwei Stellen annehmen. Ich wäre dann häufiger und länger weg.“

„Hm. Wenn es sein muss. Hast du denn schon eine neue Stelle?“

„Bin noch auf der Suche. - Das beste wäre, wenn ich jeden Tag arbeiten könnte, vielleicht auch abends.“

„Auch Samstag und Sonntag und Ostern und Weihnachten?“, fragte Martha erschrocken.

„Nein.“, lachte Tanja. „Montags bis freitags, vielleicht auch mal samstags für ein paar Stunden.“

„Dann würde das Geld reichen?“

„Es wäre knapp, aber es würde reichen, ja. Ich habe alles durchgerechnet.“ Martha schmunzelte zufrieden, denn rechnen konnte ihre Tante, das wusste sie. Tante Tanja brachte ihr seit einiger Zeit Rechnen bei, so dass sie im Kindergarten hohes Lob erfuhr, wenn es darum ging, spielerisch mathematische Aufgaben zu bearbeiten. Was Martha aber nicht wissen konnte, war, dass Tanja manchmal nicht ganz die Wahrheit sagte. Aber nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus einer Not. Denn Tanjas Putzjob war ihr alles andere als sicher und die Stellensuche gestaltete sich mehr als schwierig, und das hatte beides mit ihrem Handicap zu tun, denn schließlich konnte sie nicht von Tür zu Tür gehen und nach Putzstellen fragen.

„Wie lange hast du noch?“, fragte ihr Mann verschlafen. Rehbein sah ihren Herbert, der im Schlafanzug in der kleinen Küche stand, mitleidig an. Er war schon seit einem Jahr Rentner, stand aber immer noch mit ihr auf. Elke Rehbein schloss die Dose mit den Broten für den Alten. Einmal Käse, einmal Hartwurst, Streichmettwurst und Schokolade, wie fast immer. Manchmal variierte sie aber auch. Damit käme er in der Regel bis zum Abend hin.

Rehbein schmierte ihm Brote, seit er die Firma übernommen hatte, da waren mütterliche Instinkte durchgekommen, denn in den ersten Tagen war es vorgekommen, dass er bis Feierabend überhaupt nichts gegessen hatte, und so etwas konnte sie nun gar nicht mit ansehen. Sie würde der Neuen sagen müssen, dass er Kaffee verabscheute.

„Heute kommen meine Nachfolgekandidaten. In sechs Wochen dürfte ich die Dame eingearbeitet haben, dann ist Schluss. Sechs Wochen allerdings nur, wenn er sie in Ruhe lässt. Dagegen aber spricht die Erfahrung.“ Herbert kratzte sich am Kopf, nahm sie kurz in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Hast wohl recht. Die wird Monate brauchen, um sich an das raue Klima zu gewöhnen, wenn sie es denn je schafft.“ Elke Rehbein seufzte und wendete sich wieder der Kaffeemaschine zu und konnte natürlich nicht wissen, dass es etwas anders kommen würde, als sie sich das dachte.

Ella Olsson, Anfang zwanzig, intelligent, strebsam und aus Schweden, fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand durch die widerspenstigen rotblonden Locken, während sie in den kleinen Spiegel in dem winzigen Bad des schuhkartongroßen Zimmers im Gästehaus des Konzerns schaute. Die Locken waren nicht zu bändigen, nur eine Kurzhaarfrisur könnte Abhilfe schaffen, gefiel ihr aber nicht. Sie hatte weder die Augenbrauen nachgemalt, noch ihre Wimpern verklebt; auch würde sie keinen Lippenstift benutzen oder gar Rouge auflegen. Sie sollten sie sehen, wie sie war, und dazu gehörte eine bequeme Hose und ein Pulli, kein Rock, kein Kleid, keine Bluse. Ihr einziges Zugeständnis war ein Jackett. Wenn sie mich nicht nehmen, dann nicht, dachte sie. Ich verbiege mich nicht. Sie verließ das Bad und zog sich ihre weichen, bequemen Wildlederschuhe an. Auch Pumps kamen nicht in Frage.

Ella Olsson hatte sich diesen Schritt wohl überlegt. Es wäre an der Zeit, mal aus Skandinavien herauszukommen, diese Länder kannte sie gut genug. Sie war zwar in ihrem jungen Leben schon verhältnismäßig viel gereist, doch beruflich war sie irgendwie in Schweden hängengeblieben, und bei Wulvsen. Wulvsen Industries, dachte sie, eigentlich ist das eine etwas irreführende Bezeichnung, denn Wulvsen bestand schon lange nicht mehr nur aus Industrie. Die schwedische Niederlassung war noch ziemlich jung gewesen, wie sie selbst, als sie damals dort anfing, und dann war allen fast schwindlig geworden, als weitere Niederlassungen, Werke, Zentralen in den nordischen Ländern wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber nicht nur dort. Ella sah ihre Chance, quasi in der Mitte dieses weltweiten Spinnennetzes zu arbeiten, in der Zentrale der Zentralen, am Puls des Konzerns sozusagen. Sie glaubte, das wäre interessant, spannend, und damit sollte sie auf jeden Fall recht behalten.

In der Etage darunter mühte sich Hubert Kahl mit einer dezent-eleganten Seidenkrawatte ab. Mit nervösen Fingern zog der junge deutsche Mann den Knoten zusammen, prüfte die Länge des Binders, schüttelte missmutig den Kopf und löste wieder alles. Er bekam die richtige Länge einfach nicht hin. Entsetzt stellte er fest, dass der Kragen des neuen weißen Hemdes schon durchgeschwitzt war, und er atmete ein paar Mal tief durch, um ruhig zu werden. Die Haare würde er auch noch einmal kämmen müssen. Gut, dass er sie schwarz gefärbt hatte, denn seine natürliche Haarfarbe war eher nichtssagend. Wenn alles klappte, würde er sich jeden Tag so herausputzen müssen, aber er war bereit, dieses Opfer zu bringen; schließlich war es sehr ungewöhnlich, sich als Mann für eine Vorzimmertätigkeit zu bewerben, aber das betrachtete Hubert lediglich als Episode seines weiteren Karrierewegs.

Beim nächsten Mal klappte es, der Binder saß; jetzt hieß es nur noch, diese schrecklich unbequemen Schuhe an die Füße zu bringen. Aber: seine Karriere würde es ihm danken.

In der Etage über Ella prüfte Tonia Esteban mit einem kritischen, aber entspannten Blick den Sitz ihrer Brille, den Effekt ihres Lippenstiftes und die Tönung des Puders auf ihren Wangen. Perfekt. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengerafft, der von einer eleganten Spange gehalten wurde. Sie zog ihr schwarzes Kostüm zurecht, das wunderbar mit ihrer perlenweißen Bluse kontrastierte. Ein silbernes Kettchen krönte ihren Ausschnitt. Mit Freude schlüpfte sie in die neuen, hochhackigen Schuhe, die etwas über ihre geringe Körpergröße hinwegtäuschten, und ging ein paar Schritte. Am liebsten hätte sie sich noch eine Brosche angesteckt, doch sie wollte nicht übertreiben. Sie würde sich jetzt nicht mehr setzen, weil ihre Kleidung sonst knittern könnte. Sie mochte das nicht. Nicht für andere, sondern für sich. Tonia Esteban war etwa so alt wie ihre Konkurrentin aus Schweden und hatte eine ähnliche berufliche Karriere hinter sich, und zwar ausschließlich bei Wulvsen Industries und fand es an der Zeit, sich geografisch und beruflich zu verändern. Die beiden Frauen unterschieden sich also rein äußerlich und in einem Teil ihres Charakters, aber beide hatten sich für diesen neuen Job beworben, und zwar aus ehrlichem Interesse.

Esteban war in Mexiko geboren, aufgewachsen und im Grunde bisher aus diesem Land auch noch nicht herausgekommen, wenn man von kurzen Aufenthalten in den Vereinigten Staaten absah. Das sollte jetzt anders werden, sie würde ihr Stupsnäschen mal ganz keck in die große, weite Welt stecken und dabei lernen und sich entwickeln. Wenn sie den Job denn bekäme.

Die Beamtin schob Tanja ein Formular über den Tisch.

„Das müssten Sie dann noch unterschreiben.“, meinte sie formell.

„Wo soll ich unterschreiben?“ Tanja zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Nur jetzt nicht nervös werden. Scheinbar interessiert betrachtete sie das Blatt Papier und nahm einen Kuli zur Hand. Die Offizielle wies auf das Papier.

„Unten rechts.“ Sie tippte mit dem Finger auf die Stelle. Sicherheitshalber machte sie noch ein Kreuz neben die entsprechende Zeile, schließlich kannte sie ihre Kundschaft.

„Wollen Sie sich das Formular denn nicht erst durchlesen?“, fragte die Beamtin verblüfft.

„Das ist doch sicher nicht nötig.“, war die staatstragende Antwort. Dann sah sie sehr genau zu, wie Tanja Unleserliches neben das Kreuz malte.

Die große, schwarze Limousine mit den abgedunkelten hinteren Scheiben näherte sich der Konzernzentrale, wie fast jeden Tag, auf einer Nebenstraße, bog dann auf eine Rampe, die in eine Tiefgarage führte, hielt kurz, bis das Rolltor sich geöffnet hatte, und glitt dann nahezu lautlos hinab. Dieser Teil der Garage war für den Chef und seine persönlichen Besucher reserviert und daher von dem anderen Teil sicht- und blickdicht durch Betonmauern abgetrennt. Die Limousine war das einzige Fahrzeug, außer einer weiteren, identischen, in diesem unterirdischen, großen Raum.

Der Chef hatte sich vor langer Zeit gegen einen Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach des Verwaltungshochhauses entschieden – „Zu auffällig, dann weiß ja jeder, wann ich komme.“, hatte er gesagt, und die Tiefgarage vorgezogen, durch die er eben unauffällig sein Büro erreichen konnte.

„Morgen wird unsere letzte Fahrt, Chef.“, erklärte der Fahrer in grauem Anzug und Krawatte, bevor er den Motor ausmachte und um das Fahrzeug herumging, um seinem Fahrgast die Tür routiniert zu öffnen. Er sah in den Rückspiegel und wartete auf eine Reaktion. Der Mann im Fond sah ihn überrascht an.

„Was heißt das denn?“, fragte der.

„Mache morgen meinen Letzten.“ Die Männer sahen sich in die Augen. Der Fahrer sah in graue und der Herr von hinten in braune.

„Rente, oder habe ich Sie gefeuert?“ Die grauen Augen legten sich ein wenig in Falten und der Fahrer lachte kurz.

„Rente.“

„Und das sagen Sie mir erst jetzt?“ Der Fahrer lachte wieder, hatte aber nicht bemerkt, dass der Alte ehrlich erschrocken geklungen hatte.

„Das wissen Sie doch schon seit einem halben Jahr.“ Er zog den Zündschlüssel und stieg aus.

„Wir bleiben in Kontakt.“, versprach der Herr im dunklen Dreiteiler, als sie sich gegenüberstanden. „Mit Ihnen kann man so gut über Autos fachsimpeln. Und nicht nur das.“ Er schlug seinem ergrauten Mitarbeiter freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich zum Lift.

„Bis später.“

Der Chef betrat den Lift, den er mittels eines kleinen Schlüssels in die Tiefgarage geholt hatte, und der nur für ihn reserviert war. Dieser Lift hielt nur dort, wo der Chef ihn halten ließ. Er steckte den Schlüssel in eine Vorrichtung und drehte ihn. Bevor die Türen sich schlossen, winkte er Hönnes noch einmal kurz zu.

Erst Hönnes und in Kürze Rehbein, dachte der Alte. Er würde sich an neue Gesichter gewöhnen müssen, und das behagte ihm gar nicht. Aber Rehbein fühlte sich in ihrem Alter den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Er, Wulvsen, allerdings, war ihnen mehr als gewachsen, er war quasi selbst eine Anforderung, und das konnten nicht viele von sich behaupten.

Er hatte sein Sekretariat personell so belassen, wie er es vorgefunden hatte vor zwölf Jahren. Wie sein Vater es ihm unfreiwillig hinterlassen hatte. Na ja, fast. Seiner persönlichen Sekretärin hatte er nämlich eigene Zuarbeiter zugeordnet, die für sie die Schreibarbeit und die übliche Sekretariatsarbeit erledigten, so dass Rehbein sich ganz ihm widmen konnte. Es war gut gegangen all die Zeit, obwohl die Besetzung mit nur einer Sekretärin weder zeitgemäß noch der Größe des Unternehmens angemessen war, denn schließlich hatte die bestenfalls europaweit tätige Firma seines Vaters nur rund tausend Beschäftigte gehabt und Wulvsen beschäftigte weltweit mittlerweile hunderttausende Menschen. Er hatte das Management daher weitgehend dezentralisieren müssen, ohne allerdings die Übersicht zu verlieren, weil er Rehbein nicht zu sehr belasten wollte, denn schließlich trug die mit ihm schon eine nicht unerhebliche Last, wie er selbst wusste. Wegen der Übersicht, die auch Kontrolle genannt werden kann, hatte er ein ausgeklügeltes Berichtswesen implementiert, das funktionierte, denn schummeln ging bei Wulvsen nur genau ein Mal. Das Problem war nur, dass dieses Berichtssystem genau auf ihn zulief, und nur auf ihn, wegen der Kontrolle eben. Mit Controlling hatte dieses Berichtssystem allerdings nicht viel zu tun. Wulvsen hatte zwar im Laufe seiner Zeit als Unternehmer gelernt, mit Zahlen umzugehen, aber Prosa war ihm lieber, denn er verstand es meisterlich, zwischen den Zeilen zu lesen und das verlangte den Berichterstattern in jeder Hinsicht einiges ab, vor allen Dingen Ehrlichkeit. Es war all die Jahre gut gegangen, und genau das hielt er mittlerweile für ein Wunder, obwohl er an einen solchen Firlefanz, wie er das zu nennen pflegte, nicht glaubte. Aber gerade deshalb würde sich das jetzt ändern müssen, denn das Risiko von Wundern könnte er nicht mehr länger eingehen. Weil ihm, eigentlich reichlich spät, wie er selbst wusste, eine Idee gekommen war, die später mit einer Erkenntnis hervorragend korrespondieren würde, aber das konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, wollte er ein Team in seiner räumlichen Nähe haben, das sich unmittelbar um das zentrale Management kümmern sollte, und das wäre ja im Grunde genommen er selbst. Dieses Team müsste ihm im wesentlichen den Rücken freihalten, damit er die Entscheidungen treffen könnte, deren Generierung immer komplizierter wurde. Dieses Team würde eine Rolle in diesem Berichtswesen spielen müssen, müsste ihn diesbezüglich entlasten. Er dachte damals überhaupt nicht daran, in den Prozess der eigentlichen Entscheidungsfindung jemand anderes mit einzubeziehen, aber er brauchte hierfür genug Freiraum, und den sollte ihm sein neues Vorzimmer verschaffen. Ein Vorzimmer, das schlagkräftig sein müsste, und auf das er jederzeit unmittelbar zugreifen können müsste. Drei Bewerber hatte er in die engere Wahl genommen und einladen lassen. Vielleicht würde er alle drei nehmen, mindestens aber zwei. Wenn sie denn geeignet wären. Eigentlich waren sie zu jung. Aber gut. Man würde sehen. Sie würden mehr sein müssen als nur Vorzimmerkräfte. Erheblich mehr, so hatte er sich das gedacht.

Er würde allerdings mit Rehbein sprechen müssen, ihr erklären müssen, dass er sie nicht übergehen wollte, dass er sie für durchaus qualifiziert hielt, ebenfalls in diesem Team eine Rolle zu spielen, dass diese Idee rein zufällig mit ihrer Pensionierung zeitlich zusammengefallen war. Das wäre er Elke Rehbein schuldig. Mindestens.

Er hatte sich vorgenommen, beim Auswahlgespräch nicht persönlich anwesend zu sein, denn er wollte ein unverstelltes Bild von den Kandidaten gewinnen. Also würde er nur Beobachter sein. Sein müssen, wenn er Charakterstudien betreiben wollte, und das wollte er, denn wenn er den Vorsitz übernähme, würden die Kandidaten sich alles andere als natürlich geben, das wusste er aus Erfahrung. Allerdings würde er ein sehr aktiver Beobachter sein, so waren seine Planungen.

Hönnes‘ Zurruhesetzung hatte er allerdings vollkommen verdrängt.

„Wollen Sie eine Zeitschrift?“, fragte die Mitwartende und reichte ihr ein buntes Blatt.

„Nein danke.“, lächelte Tanja und drückte Martha, die auf ihrem Schoß saß, enger an sich. Sie sah zu der Uhr an der Wand und verfolgte den Sekundenzeiger mit dem Blick. Ja, mit Zeit kannte sie sich aus. Mit Zeit und mit Zahlen.

Sie saß mit Martha im Sprechzimmer und wartete auf den Arzt, auf dessen Schreibtisch eine Digitaluhr stand. Eine mit Sekundenanzeige. Wenn sie jemand gefragt hätte, in wieviel Sekunden Martha zwölf würde, sie hätte es auf Anhieb sagen können. Aber es fragte niemand.

„Es ist nichts Schlimmes, Frau Kiel; ich werde Martha ein paar Tropfen aufschreiben, die sollten den kleinen Magen bald wieder in Ordnung bringen. Die abweichende Dosierung schreibe ich Ihnen auf einen Zettel.“ Der beleibte Kinderarzt reichte Tanja ein kleines Blatt Papier und das Rezept.

„So, Frau Kiel. Die Einnahme so, wie Ihnen der Arzt es aufgeschrieben hat.“ Der Apotheker steckte das kleine Fläschchen in eine Tüte und reichte sie der Dunkelhaarigen mit einem freundlichen Lächeln. Mit einem ebensolchen Lächeln nahm Tanja die Tüte entgegen und verließ die Apotheke. Sie wusste allerdings, dass sie mit der Tüte und dem Fläschchen auch ein Problem bekommen hatte. Eines mehr.

Rehbein hörte es summen und sah auf das Licht, das auf der Kommunikationsstation blinkte. Er war da. Sie drückte auf einen Knopf und sagte: „Morgen, Herr Wulvsen. Was kann ich für Sie tun?“

„Rufen Sie die Frau von Hönnes an und sagen Sie ihr, dass ihr Mann sie morgen Abend zum Essen einlädt; sie soll sich hübsch machen; dann kommen Sie mit dem Tagesplan.“ Sie schwieg. Sie hörte ein Schnaufen. „Bitte.“, sagte er dann. „Und danke für das Frühstück.“, schob er ein paar Sekunden später nach.

„Alles klar.“, lächelte sie zufrieden. Sie hatte lange gebraucht, ihm etwas Höflichkeit beizubringen, jedenfalls, was seinen Umgang mit ihr selbst anbelangte, aber es war ihr schließlich gelungen, und damit nahm sie, was ihr durchaus bewusst war, weltweit eine Sonderstellung ein.

Tanja hatte sich einige Strategien und Taktiken ausgedacht im Laufe ihres bisherigen Lebens, um andere Menschen zu täuschen. Darüber hinwegzutäuschen, dass sie eine bestimmte Kulturtechnik nicht beherrschte. Da sie zu jung für Lesebrillen war, funktionierte dieser Trick allerdings nicht. Aber Allergien, ihre kleine Nichte, Desinteresse, plötzlich auftretende Kopfschmerzen, unbestimmte, temporäre Konzentrationsmängel und allerlei mehr dienten der Entschuldigung, dargebotene Zeitungen, Bücher und Ähnliches dankend abzulehnen. Das klappte allerdings nicht immer. Als junger Mensch war sie, wenn sie ertappt worden war, nicht lesen zu können, in Tränen ausgebrochen, war rot geworden und manchmal einfach weggelaufen. Zum Heulen und Laufen war ihr auch als Erwachsener in solchen Situationen zumute, aber sie hatte gelernt sich zu beherrschen und sich schweigend abzuwenden. Niemals jedoch hatte sie zugegeben, was sie zu verbergen suchte.

Sven Ariel war ein hübscher Junge und später ein gutaussehender Mann. Er war für einen Mann mittelgroß, blond, breitschultrig, hatte blaue Augen, ein kantiges Gesicht und auch im Winter leicht gebräunte Haut. Er trieb gerne Sport und entsprechend war sein Körper geformt. Er war der Schwarm aller Mädchen und Frauen, Typ Schwede. Er war sanft, zurückhaltend, einfühlsam und achtete auf sein Äußeres. Er pflegte sein Haar, seine Fingernägel, rasierte sich penibel, und zwar nicht nur im Gesicht und war musisch interessiert. Er liebte Literatur und Autos.

Zeitweise litt er unter seinem Nachnamen, der ihn manchmal zum Gespött der Mitschüler machte, besonders in den höheren Klassen, als die Schüler mit dem Namen etwas assoziieren konnten. Aber mehr noch als unter seinem Namen litt er unter seinem Körper. Das Leiden wurde besonders stark, als sein Körper sich endgültig entschieden hatte, ein Mann zu werden, und zwar ein besonders männlicher, gut aussehender Mann. Denn seine Seele, sein Kopf, waren da anders disponiert. Er machte Abitur, wurde später Berufskraftfahrer, und zwar ein guter. So gut, dass er bald die Chefs fuhr. Doch das Unwohlsein wurde stärker und er fürchtete, vor lauter Verwirrung seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Und so entschloss er sich, das zu werden, wovon er immer geträumt hatte: eine Frau.

Svenja Ariel war eine gutaussehende, umwerfende Frau. Sie war für eine Frau recht groß, blond, hatte breite Schultern, blaue Augen, ein kantiges Gesicht und auch im Winter gebräunte Haut. Sie trieb Sport und war infolgedessen schlank und durchtrainiert. Sie war ein Typ Frau, auf den manche Männer stehen, Typ Schwedin. Sie war vielleicht ein wenig maskulin und achtete sehr auf ihr Aussehen. Ihren Nachnamen fanden die Leute interessant, genauso wie ihre etwas tiefe Stimme. Bis auf eine entscheidende Kleinigkeit war sie eine begehrenswerte Frau.

Doch ihre Metamorphose konnte natürlich nicht geheim bleiben, und die Gesellschaft und ihre Umgebung, vor allem die Kollegen, waren nicht so beschaffen, dass sie mit einer derartigen Verwandlung in einer Art und Weise umgingen, umgehen konnten, die für alle, vor allem für die sich Verändernde, befriedigend war.

So froh Svenja Ariel gewesen war, die ersten Schritte auf dem Weg zu einer richtigen Frau zu tun, so wohl sie sich in der äußeren Hülle einer Frau fühlte, so verzweifelt war sie über ihr Ausgestoßensein. Es gab nicht viele Menschen, die sie vorbehaltlos zu ihren Freunden zählen konnte. Ihre Eltern hatten den Kontakt abgebrochen, sobald sie sie mit ihren Plänen konfrontiert hatte. Freunde und Freundinnen hatten sich abgewendet, die Kollegen verspotteten sie.

Geblieben war ihr einzig Jürgen Link, der vor etwas mehr als fünfzehn Jahren die Jugendgruppe geleitet hatte, in der sie sich engagiert hatte und den sie ab und zu noch immer traf. Link war der einzige, der in ihr Geheimnis quasi von Anfang an eingeweiht war, denn sie hatte sich nach einer Konfirmandenfreizeit ihm anvertraut. Es war keine Beichte, sondern einfach nur das Ausschütten des Herzens vor einem Menschen gewesen, der ihr vorurteilslos gegenüberzutreten bereit gewesen war.

Vor Jürgen Links Haustür stand sie nun und drückte mit zittrigem Finger auf den abgenutzten Klingelknopf. Sie hatte gekündigt. Eine super Stelle in einem Ministerium. Sie war Cheffahrerin gewesen und der Minister hatte sich gern mit der attraktiven Frau geschmückt. Der einzigen Ministerfahrerin. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt, das hatte sie rasch gemerkt. Ihre Geschichte hatte sich nämlich herumgesprochen. Mal fand sie Rasierer in ihrem Spind, mal Kondome, die anzüglichen Bemerkungen hatte sie anfangs überhört, aber als dann auch im Vorzimmer des Chefs getuschelt wurde, und schließlich auch der Chef selbst mitgetuschelt hatte, war es genug gewesen.

„Gut siehst du aus, aber an deinen neuen Namen habe ich mich immer noch nicht gewöhnt, obwohl du ihn ja schon ein paar Jahre führst.“, lachte Jürgen Link die große Blondine an, die ihm gegenüber auf dem abgenutzten Sofa saß.

„Danke.“, lächelte sie mit dunkler Stimme. Link beobachtete seinen Besuch.

„Du hast doch was auf dem Herzen.“, stellte er fest. Die Frau sah auf.

„Woher …“ Link lachte und machte eine Geste.

„Berufskrankheit.“ Die sonnengebräunte Frau mit dem kantigen Gesicht sah auf einen Punkt auf der Tischplatte.

„Ich habe gekündigt.“, sagte sie leise. Link ließ sich seine Überraschung nur durch die hochgezogenen Augenbrauen anmerken. „Ich habs nicht mehr ausgehalten.“

„Kann ich mir vorstellen.“, nickte Link mitfühlend.

„Aber ich muss was tun, muss unter Leute. Natürlich brauche ich auch das Geld.“ Die Tischplatte war immer noch interessant. Daher also wehte der Wind, Svenja brauchte seine Hilfe. Link dachte an den letzten Besuch eines Freundes zurück, der ihm gegenüber zum ersten Mal ein persönliches Versäumnis zugegeben hatte. Na ja, vielleicht war es ja auch sein erstes persönliches Versäumnis überhaupt gewesen. Erstaunlich war jedenfalls, dass der Freund es zugegeben hatte.

„Wulvsens Fahrer geht in Pension und er hat noch keinen neuen.“, meinte Link nach einer Weile und sie riss den Blick hoch.

„Wulvsen? Das soll ein Schwein sein.“, informierte sie vorurteilsbehaftet und sah ihren Gastgeber entgeistert an. Der schüttelte nachsichtig den Kopf.

„Urteile nicht zu vorschnell.“, riet er ruhig.

„Wieso, kennst du ihn?“, rief sie entrüstet, denn dass ihr Freund so jemanden kannte, konnte sie sich einfach nicht vorstellen.

„Ja, ich kenne ihn und ich versichere dir, dass er anders sein kann, als man gemeinhin glaubt. Sicher, er ist etwas speziell …“, sprach Jürgen und hoffte, dass er nicht zu viel versprach. Aber der Brief, den er vor ein paar Tagen von Roger erhalten hatte, stimmte ihn vorsichtig optimistisch.

„Speziell!“, höhnte sie.

„Vertrau mir. Bewirb dich. Sei einfach du selbst. Natürlich. Aufgesetztes Verhalten mag er nicht. Spiel mit offenen Karten.“ Sie sah ihn forschend an, dann sagte sie:

„Okay, ich habe nichts zu verlieren. Aber ich möchte nicht, dass du ein gutes Wort für mich einlegst, ja? Ich möchte das selbst schaffen.“ Link verstand, dass sie gerade jetzt auf ihre eigene Kraft setzen musste und nickte.

Zum Abschied schenkte Link ihr noch einen kräftigen Händedruck und ein aufmunterndes Lächeln, blickte ihr aber mit gemischten Gefühlen nach, denn er war sich seiner Worte nicht ganz sicher. Hatte er Wulvsen überhöht? Sollte er nicht doch vorher mit Roger reden? Nach einer Minute des Nachdenkens sagte sich Link zweimal Nein. Nein, er würde nicht mit Roger reden, das wäre er Svenja schuldig. Und nein, Roger war tolerant, auch wenn sich das nicht so sehr schnell erschloss. Entschlossen schloss Jürgen Link die Haustür.

Beim Einschlafen dann ereilte Link noch ein Gedanke daran, dass es schon ungewöhnlich war, dass sein Freund noch keinen neuen Fahrer hatte, denn Wulvsen hatte ihm mehr als einmal dargelegt, dass der Fahrer eine Vertrauensperson sein müsse, da er dem ja schließlich sein Leben anvertraute und oft viele Stunden des Tages mit ihm auf engem Raum zusammen wäre. Wulvsen hatte es versäumt, sich rechtzeitig um eine Nachfolge zu kümmern. Ausgerechnet Roger, der sonst kaum etwas dem Zufall überließ, der fast alles plante, jedenfalls solche Dinge. Aber gut, so hätte Svenja wenigstens eine kleine Chance, dachte Link, denn er konnte sich ungefähr vorstellen, welche Einstellungsvoraussetzungen Roger eingefallen wären, hätte er ordnungsgemäß ausgeschrieben.

Wulvsen! Sie hatte Hilfe, einen Rat von Jürgen erhofft, und der hatte ihr ausgerechnet Wulvsen als neuen Arbeitgeber vorgeschlagen! Den Mann, der alle brüskierte, Minister, Diplomaten, Bürgermeister, dessen Arbeitsverträge von manchen Gewerkschaftern als besonderes Beispiel für Perfidie hingestellt wurden, der, so hörte man, ein eisernes Regiment führte, der diktatorenhaft seinen Konzern beherrschte. Link behauptete, er sei anders, aber war das zu glauben, nach all dem, was man hörte? Wie würde so jemand mit einer wie ihr umgehen? Jürgen behauptete, er sei toleranter, als man gemeinhin von ihm anzunehmen bereit war. Sie war nicht bereit, dem zu folgen. Nicht nach alldem, was sie gehört hatte.

Nun lag sie in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Es wäre ihre letzte Chance, in ihrem ach so geliebten Beruf arbeiten zu können. Ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief war, dass Angst ein schlechter Ratgeber wäre.

Zwei Wochen später hatte sie ihren Termin. Sie machte sich keine großen Hoffnungen. Sie hatte sich als Svenja Ariel beworben, in ihrem Lebenslauf stand, dass sie als Sven Ariel geboren worden war. Wenn Wulvsen oder einer seiner Adlaten diese Zeilen gelesen hätte, wäre die Sache gelaufen, davon war sie überzeugt.

Svenja hatte mit ihren nächtlichen Überlegungen recht und auch wieder nicht. Denn Wulvsen, um das mal sehr euphemistisch auszudrücken, wusste, was er wollte, und das setzte er gemeinhin auch durch. Das, was die gemeine Öffentlichkeit, der sogenannte Mann auf der Straße über ihn in Erfahrung bringen konnte, reichte meistens, um ihn mit Begriffen wie Kotzbrocken, Menschenschinder, Heuschrecke oder Tyrann zu charakterisieren. Doch es gab noch eine andere Seite Wulvsens, da wiederum hatte Link nicht danebengelegen. Diese andere Seite jedoch führte bisher eine Existenz eher im Verborgenen, blitzte nur sehr gelegentlich auf und durch die abweisende Schale, die seine Person umgab. Doch Dr. Roger Wulvsen hatte vor ein paar Tagen eine folgenschwere Bekanntschaft gemacht.

Die Flurbeleuchtung verlosch automatisch, so dass Tanja nun im Dunkeln vor der Wohnungstür ihrer Nachbarin stand. Für die paar Stufen vom Dachgeschoss hinunter hatte sie zehn Minuten gebraucht, immer wieder wollte sie Kehrt machen, hatte es sich dann aber anders überlegt, entsprechend oft war das Licht ausgegangen, und sie hatte sich vorsichtig bewegen müssen, um nicht zu stürzen, schließlich hatte sie Erziehungsverantwortung. Den Zettel des Arztes hielt sie krampfhaft in beiden Händen. Normalerweise erklärte der Arzt die Dosierung der Medikamente. Mündlich. Diesmal hatte er es nicht getan, und Tanja hatte einfach nicht nachgefragt, deshalb stand sie nun hier, auch auf die Gefahr hin, dass sie morgen der Spott der Hausgemeinschaft und der ganzen Straße wäre. Sie drückte entschlossen den Klingelknopf und betätigte den Lichtschalter, schließlich ging es um Martha.

„N’abend, Frau Schulz. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe ein Problem.“ Tanja sah zu Boden, in den sie am liebsten versunken wäre und hielt sich an dem Zettel mit der ärztlichen Anleitung mit beiden Händen fest. Frau Schulz sah die nicht mehr ganz junge, schöne Frau mit den langen, schwarzen Haaren und dem dunklen Teint, der den Anschein erweckte als wäre die Frau gerade erst aus dem Sommerurlaub gekommen, neugierig an, die nicht wagte, ihren Blick zu erwidern und sich ganz offensichtlich schämte. Tanja war eine hilfsbereite Person und hatte Frau Schulz schon so manchen Dienst erwiesen; dafür passte Frau Schulz hin und wieder auf Martha auf, aber das tat sie sehr gerne, denn Martha, das wusste auch schon jemand anderes, den die Frauen in diesem Augenblick gar nicht im Focus hatten, war herzallerliebst.

„Na, dann kommen Sie mal rein.“, lächelte die alte Dame und hielt Tanja die Wohnungstür auf. Sie gingen in Frau Schulz‘ gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer.

„Nehmen Sie doch Platz, Frau Kiel. Möchten Sie etwas trinken?“ Tanja erbat ein Wasser, denn ihr Mund war ziemlich trocken und der Kloß im Hals ließ sich einfach nicht ohne weiteres runterschlucken. Nachdem Frau Schulz, die nette Nachbarin, sie versorgt und sich gesetzt hatte, fragte sie freundlich: „Was kann ich für Sie tun?“ Zögernd und mit zittrigen Fingern legte Tanja den Zettel auf den Couchtisch. Es war ein A-6-Blatt mit einer Arzneireklame darauf.

„Ich war heute mit Martha beim Arzt, sie hatte Magenschmerzen.“, flüsterte die Frau. „Er hat ihr Tropfen verschrieben und hier aufgeschrieben, wie sie sie einnehmen soll.“

„Ja?“, sagte die Rentnerin und sah ihre Nachbarin fragend und auffordernd an. Etwas stimmte da nicht. Tanja strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und trank noch einen Schluck Wasser.

„Ich …“, begann sie stockend. Sie senkte den Kopf und Frau Schulz sah, wie sich der schmächtige Körper der jungen Frau, die ihre Nichte alleine großzog, stoßweise bewegte. Als Frau Schulz merkte, dass ihre Nachbarin weinte, erschrak sie. Sie legte eine Hand auf die schmale Schulter der Schwarzhaarigen und meinte:

„Was ist denn, ist etwas mit Martha?“ Tanja schüttelte den Kopf und wischte sich mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht.

„Nein, ich … ich … ich kann nicht lesen.“ Frau Schulz bewegte sich nicht und sagte nichts, ließ aber ihre Hand, wo sie war. Dann stand sie entschlossen auf, öffnete eine Klappe im Wohnzimmerschrank, entnahm ihm zwei kleine Gläser und eine Flasche, füllte die Gläser mit einer klaren Flüssigkeit und stellte Gläser und Flasche neben den Zettel.

„Es ist so demütigend, als erwachsener Mensch nicht lesen zu können.“, schluchzte Tanja. Frau Schulz tat ihre Nachbarin leid und so sann sie nach tröstenden Worten und weitergehenden Vorschlägen.

„Aber, ich meine … Sie sind doch eine hübsche … Frau … wenn vielleicht ein Mann …“, machte Frau Schulz unvollkommene Vorschläge. Aber Tanja schüttelte resignativ den Kopf.

„Welcher vernünftige Mann lässt sich mit jemandem wie mir ein?“, entgegnete Tanja mutlos und musste an einen gewissen Drews denken, der sich zwar mal mit ihr eingelassen hatte, aber alles andere als vernünftig gewesen war.

Was sie nicht wusste – es hätte schon einen gegeben.

Eine halbe Stunde und einige Gläser weiter hatten die beiden Frauen eine, wenn auch nur als vorübergehend anzusehende, Lösung für Tanjas Problem erarbeitet und verabredet, und Tanja war ein dicker Stein laut polternd von der Seele gefallen.

„Also, so machen wir das: wenn Sie Probleme haben, kommen Sie einfach zu mir. Aber langfristig müssen Sie lesen lernen.“, sprach Frau Schulz resolut, aber sanft. Tanja strahlte sie an.

„Ja, langfristig, wenn ich es zeitlich einrichten kann; aber im Augenblick kann ich das kaum. Ich muss arbeiten und Martha fordert auch ihre Zeit. Vielleicht nächstes Jahr, wenn Martha zur Schule geht. Wir könnten dann zusammen lernen.“ Frau Schulz nickte wohlwollend und die beiden Frauen stießen noch einmal miteinander an.

„Die Zahlen stimmen nicht.“, sagte Tanja im Hinausgehen.

„Welche Zahlen?“, fragte Frau Schulz.

„Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Papier. Eine Rechnung oder so. Ich kenne die Zeichen. Es ist eine Multiplikation, eine Division und eine Addition. Sie haben falsch multipliziert und dividiert.“ Frau Schulz hielt inne.

„Kommen Sie doch noch einmal herein.“

Und so kam es, dass die leseunkundige Tanja ihrer zwar mathematisch nicht untalentierten, aber auf diesem Feld nicht genialen Nachbarin Hilfe zurückgeben konnte, was einerseits dazu führte, dass Frau Schulz von einem Staunen ins andere fiel, weil Tanja, ohne technische Hilfsmittel zu bemühen, weitere versicherungsmathematische Ungenauigkeiten auf ihrem Bescheid entdeckte und dass andererseits Tanja von einem wohligen Gefühl heimgesucht wurde, das sie wohl seit dem Tod ihrer Schwester nicht gehabt hatte.

Ein Firmenwagen holte sie am Gästehaus ab und sie sahen sich zum ersten Mal. Sie gaben sich höflich die Hände und stellten sich einander vor. Hubert war den beiden Frauen auf Anhieb unsympathisch. Er wirkte bis zur Arroganz selbstsicher und herablassend. Die Mittelamerikanerin und die Skandinavierin hingegen gaben sich so, wie sie waren. Elegant und zart die eine, natürlich und robust die andere. Wie selbstverständlich nahm Hubert folgerichtig neben dem Fahrer Platz. Ella setzte sich sorglos nach hinten, doch Tonia warf Hubert einen bösen Blick zu und gab beim Einsteigen acht, dass ihre Kleidung nicht zerknitterte. Arrogante Zicke, dachte Ella. Hubert hatte sie ohnehin schon als Macho eingeordnet. Langsam, viel zu langsam fuhren sie nach Ansicht der drei leicht nervösen jungen Leute durch den morgendlichen Verkehr und hielten dann vor dem imposanten Portal der Zentrale. Hubert sprang forsch aus dem Auto, Ella stieg langsam aus und sah die Fassade des Glaspalastes hinauf. Tonia tastete sich förmlich aus dem Fahrzeug und achtete dabei darauf, dass ihr Kostüm das Autoblech nicht berührte. Die Fassade kannten sie, als langjährige Firmenangehörige, natürlich schon, und zwar von Fotos. In der Zentrale, der legendären, und das Legendäre hing eindeutig mit dem Alten zusammen, waren sie sämtlich noch nie gewesen, und entsprechend stieg die Spannung. Dann gingen sie, Hubert voran, in den Firmentempel. Hubert eilte durch die riesige, menschenleere und nur mit ein paar Sitzgelegenheiten möblierte Halle, aber dafür hatte er gar keinen Blick, auf die Rezeption zu. Die Damen jedoch waren etwas enttäuscht von dem eher provinziellen Ambiente. An der Rezeption, die nach Ansicht der beiden Frauen angesichts der Bedeutung des Konzerns von Understatement zeugte, sprach Hubert selbstsicher den Diensthabenden, einen glatzköpfigen Fünfzigjährigen an, obwohl er ebenso eine gleichfalls anwesende Dame hätte fragen können: „Wir sollen zum Vorstellungsgespräch, Chefetage. Wie kommen wir denn da hin?“ Der Pförtner musterte den Probanden von oben bis unten, warf einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu seiner Kollegin und auch ein Wachmann, der sich dezent im Hintergrund hielt, zog die Augenbrauen hoch.

„Guten Tag erstmal. Wie ist Ihr Name? Bei wem haben Sie einen Termin?“ Die Damen waren mittlerweile ebenfalls herangetreten und der Pförtner bezog sie daher höflicherweise in seine Fragen mit ein.

„Sagte ich doch. Der Termin ist beim Chef.“, protzte Hubert.

„Das wird sich erweisen. Was ist das für ein Termin?“ Hubert sah ungeduldig in die Luft.

„Ein Auswahltermin. Nachfolge Chefsekretärin. Mein Name ist Kahl.“, gab er schneidend Auskunft. Der Pförtner sah auf einen Monitor.

„Und wie heißen die Damen?“

„Esteban.“, sprach Tonia weich.

„Olsson.“, informierte Ella mit scharfem ‚ß‘.

Hubert beugte sich über den Tresen und fragte verschwörerisch: „Wie ist er denn so?“

„Wer?“, fragte der Pförtner, ohne aufzusehen.

„Der Chef.“

„Herr Doktor Wulvsen?“

„Das ist doch wohl der Chef?“ Der Glatzkopf sah Kahl seltsam an.

„Da haben Sie wohl recht, junger Mann. Ich weiß es nicht, ich habe ihn noch nie gesehen. Ich kenne ihn nur von Fotos.“ Hubert war erstaunt.

„Kommt er denn nicht morgens hier herein und begrüßt alle?“ Der Pförtner lächelte hintergründig.

„Nein, er hat seinen eigenen Eingang. Aber als Chefsekretär lernen Sie ihn ja bald besser kennen. Fünfzehnter. Raum 1510.“ Der gar nicht so feine Spott des reiferen Mannes war Kahl entgangen, nicht aber seinen Konkurrentinnen, die sich durch das männerbündlerische Verhalten Kahls in ihrem Urteil über ihn bestätigt sahen.

Huberts Bewegungen waren dennoch jetzt etwas weniger forsch als zuvor, was die Damen zufrieden zur Kenntnis nahmen. Anscheinend hatte sich der Konkurrent nicht ausreichend über den Konzernlenker und Alleineigentümer informiert, sonst wüsste er nämlich, was sie wussten, und das verlieh ihren Bewerbungen für diesen Job eine etwas abenteuerliche, oder gar heldenhafte Note.

Zugegebenermaßen waren die Informationen, die Ella und Antonia eingeholt hatten, im Ergebnis etwas kryptisch geblieben, aber unter dem Strich blieb die Essenz, dass dieser Wulvsen ziemlich verschroben sein musste. Nun ja, sie würden ihn ja gleich kennenlernen, schließlich wäre damit zu rechnen, dass er sich seine Chefsekretärin selbst aussuchen würde.

Sie fuhren in den fünfzehnten Stock und traten auf einen mit Teppichboden ausgelegten, fensterlosen Flur, in dem absolute Stille herrschte. Eine hagere Dame in grauem Kostüm kam ihnen entgegengetrippelt, doch ihre Schritte hörte man nicht.

„Sie müssen die Kandidaten sein.“, rief sie grußlos, „Folgen Sie mir bitte.“ Sie gingen um eine Ecke. Dieser Teil des Flurs sah genauso aus, wie der, von dem sie gekommen waren, mit dem Unterschied, dass hier, gegenüber einer Flügeltür, drei Stühle an der Wand standen.

„Bitte setzen Sie sich.“, sprach die Dame und trippelte davon.

Die Hagere klopfte an eine schwere Tür und trat nach ein paar Sekunden ein.

„Die Kandidaten sind jetzt da.“, informierte sie Elke Rehbein, die gerade dabei war, eine Mappe zusammenzuraffen.

„So früh schon? Das wird ihm nicht gefallen; es ist noch nicht seine Zeit.“

Die Hagere zuckte die Schultern, was alles heißen konnte, ging wieder hinaus und Rehbein betrat mit einem gewissen Unbehagen, das sie auch nach den vielen Jahren nicht ganz hatte abschütteln können, das Allerheiligste. Die linke Wand des Raumes bestand aus einer Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke reichte und aus verspiegeltem Glas bestand; man konnte zwar hinaus- , aber nicht hereinsehen, was allerdings auch sonst nicht ganz so einfach gewesen wäre, denn das Gebäude war das höchste in der Gegend und das Chefzimmer befand sich im obersten Stockwerk. Vor dieser Glasfront stand ein langer Besprechungstisch. Die rechte Wand war eine einzige Schrankwand, doch niemand außer dem Alten wusste genau, was sich hinter den einzelnen Türen und Klappen verbarg. Wulvsens Riesenschreibtisch stand an der der Tür gegenüberliegenden Stirnseite des Raumes, dahinter befand sich wiederum eine Schrankwand und rechts eine Tür, die zu einem kleinen Bad führte und die Tür des exklusiven Lifts. Wulvsens graumelierter Schädel blickte von seinem Monitor, an dem er sich über das aktuelle Geschehen in seinem Imperium auf dem Laufenden gehalten hatte, auf, als Rehbein hereintrat und wies mit dem Kinn auf einen der beiden Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.

Er hatte sich seines Jacketts entledigt und trug nur die aufgeknöpfte Weste über dem weißen Hemd, um seinen Hals baumelte eine locker sitzende Krawatte. Rehbein wusste, dass er diese Bekleidungskonventionen der Geschäftswelt nicht unbedingt mochte, was noch sehr zurückhaltend ausgedrückt ist. An terminfreien Tagen, die es hin und wieder, aber sehr selten gab, erschien er auch schon einmal in Jeans und Poloshirt im Büro, aber das wussten fast nur seine Sekretärin und sein Fahrer.

Rehbein stellte sich, wie immer am frühen Morgen, auf eine eher einsilbige Konversation ein, denn seine Betriebstemperatur würde er erst am Mittag erreichen; allerdings war ihr auch bekannt, dass er in der Frühe reizbar und sensibel sein konnte. Manche nannten dies auch unberechenbar und cholerisch.

„Die Neuen sind schon da.“, eröffnete die Sekretärin. Wulvsen sah sie verständnislos an.

„Welche Neuen?“

„Meine Nachfolgekandidaten.“ Wulvsens Miene verdüsterte sich.

„Wer hat das terminiert?“, fragte er unheilschwanger und ballte seine rechte Faust.

„Dornhege.“, antwortete sie knapp und kniff die Lippen zusammen.

Schon wieder dieser Dornhege. Für Wulvsen war das Maß jetzt voll. Immer wieder hatte sein Personalchef in der Vergangenheit die Entscheidungen des Alten kritisiert, hatte sogar versucht, sie zu hintertreiben. Fachliche Qualifikation hin oder her, Dornhege musste weg.

„Machen Sie seine Papiere fertig, nach dem Termin räumt er seinen Schreibtisch. Schreiben Sie sofort neu aus, aber nur intern.“ Er flüsterte fast. Rehbein hatte sich schon so etwas gedacht, schließlich kannte sie den Alten lange genug. Er hasste Termine vor zehn Uhr und eigentlich müsste auch Dornhege das wissen, schließlich war der nicht erst seit gestern Personalchef. Sie räusperte sich.

„Um zwölf kommt OB Wohllebe.“ Wulvsen sah sie ärgerlich an.

„Was will der denn?“, spie er abschätzig.

„Es geht um das neue Logistikzentrum in diesem Gewerbegebiet.“ Normalerweise würde er sich nicht persönlich um solche Sachen kümmern, aber hier lag eine Besonderheit vor, und so würde er den Oberbürgermeister persönlich treffen. Irgendwie würde sich sein Entgegenkommen schon auszahlen, hatte der Alte gedacht.

„Gut. Um elf will ich die entsprechenden Fachleute zum Briefing hier haben.“ Rehbein nickte. „Danach Videokonferenz mit allen Leitern.“

Er hatte sich ziemlich schnell an diese Videokonferenzen gewöhnt, er fand sie praktisch; so konnte er beinahe reibungslos mit den Auslandsleitungen konferieren. Die fanden das auch gut. Jedenfalls besser, als wenn er persönlich anreiste, was allerdings immer noch vorkam. Über den Monitor war seine Brüllerei wohl erträglicher. Zumindest brauchten sie keine Angst vor tätlichen Übergriffen zu haben. Anfangs hatte er die Konferenzen abgehalten, wann es ihm in den Sinn kam, auch morgens oder abends, bis Rehbein ihm erklärt hatte, dass die Erde aufgrund bestimmter Gegebenheiten in verschiedene Zeitzonen aufgeteilt ist, und es morgens um neun in New York zum Beispiel erst drei Uhr in der Nacht ist. Er hatte eine Augenbraue hochgezogen und hielt von da an die Videokonferenzen um die Mittagszeit ab. Die asiatischen und amerikanischen Leitungen mussten sich dann eben anpassen.

Sie gingen die Nachmittagstermine durch.

„Was soll ich Frau Hönnes denn genau sagen?“, wollte sie abschließend wissen.

„Bestellen Sie einen Tisch bei ‚Hilde‘, morgen um sieben; Hönnes soll morgen um sechs hier sein.“ Der Alte wendete sich wieder seinem Bildschirm zu, aber Rehbein blieb sitzen. „Ist noch was?“, fragte Wulvsen ungehalten. Rehbein räusperte sich.

„Was meinen Sie damit?“ Wulvsen sah sie mit zusammengezogenen Brauen an.

„Womit?“

„Dass Hönnes morgen um sechs hier sein soll.“ Wulvsens Miene verfinsterte sich.

„Das meine ich genauso, wie ich es gesagt habe.“, raunte er kompromisslos. Verstört stand Rehbein auf und ging hinaus. Das war das erste Mal in den zwölf Jahren, dass er den Fahrer zu sich bestellte. Ob das mit Hönnes‘ letztem Tag zusammenhing?

Wulvsen schloss die Datei und stand auf. Er griff kurz zu seinem Jackett, das über seinem Bürosessel hing, zog seine Hand dann aber wieder zurück. Stattdessen öffnete er ein Fach der Schrankwand und zog erst einen Pullover heraus und dann über, nachdem er sich seiner Weste entledigt hatte. Er atmete einmal tief durch und sah über die Stadt. Seine Gedanken wanderten kurz zu einem kleinen Mädchen, das er vor kurzem kennengelernt hatte. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden und sich auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren. Das mit dem Loswerden klappte auch, aber nur unvollkommen.

Das Mädchen ging zielstrebig auf eine der Schaukeln des Spielplatzes vor dem Kindergarten zu und setzte sich darauf. Dann wartete es ohne zu schaukeln. Einerseits wartete es auf seine Tante, die es gleich abholen würde, aber sein Blick war nicht in die Richtung gerichtet, aus der die Tante zu erwarten gewesen wäre, sondern der ging zum Wald hinüber. Aus dem führte nämlich ein Weg heraus und zugleich hinein. Das Mädchen lächelte, als es den Läufer erblickte. Der lächelte zurück und winkte kurz, kam zu dem Mädchen gelaufen und setzte sich auf die andere Schaukel.

Die Freude war beiderseitig. Das Mädchen war einfach froh, die Zeit bis zur Ankunft seiner Tante nicht alleine überbrücken zu müssen, und in dem Läufer einen interessanten Gesprächspartner gefunden zu haben, und der empfand die paar Minuten Unterhaltung mit dem Kind als äußerst erholsam. Nach ein paar Tagen gab er sich selbst gegenüber sogar zu, sozusagen gestärkt aus diesen Gesprächen hervorzugehen, obwohl die Gegenstände ihrer Unterhaltungen eher profan waren. Oder vielleicht gerade deshalb. Außerdem war da noch etwas … Der Läufer war viel zu sehr Realist, um auch nur im Entferntesten daran denken zu können, dass diesen Momenten eine Art Magie innewohnte. Das sollte dann später kommen.

Das Mädchen aber lernte den Läufer mit der Zeit immer besser kennen. Besser vielleicht, als ihm das lieb sein konnte, aber er konnte damals noch nicht wissen, welche Schlüsse das Kind aus den Gesprächen mit ihm zog, angesichts seines Alters zu ziehen in der Lage gewesen war.

Ein unscheinbarer, mittelgroßer Mann unbestimmten Alters in einem grauen Pullover über weißem Hemd und Krawatte bog mit einer Laufmappe in der Hand um die bekannte Ecke, kam grauhaarig und stoppelbärtig auf die Wartenden zu ohne zu grüßen und betrat dann ein Zimmer durch eine Tür, die sich neben der Flügeltür befand. Ella fröstelte, als ihr Blick dem des Mannes begegnete. Nur Tonia war nicht entgangen, dass er sehr teure Schuhe trug. Da sie jedoch auf seine Füße geachtet hatte, hatte sie nicht bemerkt, dass der Mann sie im Vorübergehen taxiert hatte. Dies wiederum war Ella aufgefallen, die den zweiten Menschen, den sie seit ihrer Ankunft in der Chefetage gesehen hatten, relativ neugierig betrachtet hatte. Einzig bemerkenswert hatte sie seinen eisgrauen Blick gefunden, der sie frösteln ließ. Hubert hingegen hatte, nachdem er festgestellt hatte, dass der Mann kein Anzugträger war, weggesehen.

Dann erschienen vier weitere Personen, zwei Männer und zwei Frauen, die ihnen kurz zunickten und durch die Flügeltür schritten.

Junges Gemüse, dachte der Alte. Wenn die geeignet wären, müsste er sich gründlich umstellen, was ihm gar nicht gefallen wollte, denn Rehbein, die in den letzten zwölf Jahren in seinem Vorzimmer gesessen hatte, war mittlerweile über sechzig und ihm eine große Hilfe gewesen, als er damals die Firma übernommen hatte, übernehmen musste, und sie wusste, wie er tickte, wusste ihn zu nehmen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Kinder ihm zuarbeiten könnten, dass sie die notwendige Reife besäßen, die Leitung des weltumspannenden Konzerns, also ihn, zu organisieren, denn dies, so wusste Wulvsen selbst nur zu gut, stellte eine besondere Herausforderung dar. Er konnte es sich nicht vorstellen, obwohl die Qualifikationen aller drei nicht in Frage standen, wie er wusste und er selbst um ein gerüttelt Maß an Fantasie verfügte. Er war sich nicht sicher, ob sie so funktionieren würden, wie er sich das für die Zukunft vorstellte. Ob sie so funktionieren könnten. Aber man würde sehen. Sie würden ihre Chance bekommen.

Wulvsen schüttelte den Kopf, um ein Bild loszuwerden, das darin ohne sein Zutun entstanden war, was an sich schon ein Unding war. Es war das Bild eines lockenköpfigen Mädchens.

Der Besprechungsraum war nicht zu groß und ziemlich hell, denn eine Wand bestand, wie das Chefbüro, aus Glas, die anderen waren mit hellbraunem Holz vertäfelt. Ein Konferenztisch mit Stühlen waren die einzigen sichtbaren Einrichtungsgegenstände. Eine Tür an der linken Stirnseite stand offen und Wulvsen im grauen Pullover links neben dem Tisch. Neben dieser Tür war ein großer Spiegel angebracht. Die vier Ankömmlinge begrüßten den Chef ehrerbietig und gingen an ihre Plätze vor der Glasfront, was Wulvsen mit Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm.

„Soll das ein Verhör werden?“, fragte er barsch.

„Wie bitte?“, fragte Dornhege irritiert.

„Wenn Sie vor dem Fenster sitzen, können die Ihre Gesichter nicht erkennen. Setzen Sie sich an die Stirnseite.“, kommandierte der Alte. Rehbeins Mundwinkel zuckten leicht, als die vier ihre Unterlagen verschieben mussten. Wulvsen nahm den Personalchef, der genau dies heute die längste Zeit gewesen wäre, an die Seite.

„Wie wollen Sie es angehen?“ Dornhege straffte sich.

„Wollen ihnen mal ein wenig auf den Zahn fühlen. Sollen mal zeigen, was sie so drauf haben.“, grinste Dornhege. Doch das Grinsen verging ihm, als er Wulvsens düstere Miene erblickte.

„Papperlapapp, Dornhege. Wir müssen sie nicht examinieren, das ist doch alles schon geschehen; außerdem haben wir ihre Leistungsnachweise und Beurteilungen. Ich will mir ein Bild von ihnen machen, verstehen Sie? Ich will wissen, mit welchen Persönlichkeiten ich es zu tun habe. Und später zusammenarbeiten soll. Eventuell. Sie werden ihnen meine Fragen stellen.“ Wulvsen zog ein kleines Kästchen aus der Tasche und ein noch kleineres Gerät, das Dornhege nicht erkennen konnte und drückte beides dem Verdutzten in die Hand. Elke Rehbein, die sich das Wundern, bald nachdem der Junior die Firma übernommen hatte und dabei an die Weltspitze gestürmt war, rasch abgewöhnt hatte, beobachtete die Szene mit einer belustigten Neugier, denn der Alte hatte manchmal verrückte Einfälle; allerdings dachte er sich immer etwas dabei.

„Stecken Sie sich das ins Ohr und sagen Sie einfach das, was ich Ihnen einflüstere.“ Verblüfft sah der Personalchef auf das Gerät und schickte sich an, Widerstand zu leisten.

„Aber …“ Weiter kam er nicht, denn Wulvsen hatte sich schon umgedreht und war im Nachbarraum verschwunden, so dass er Dornheges roten Kopf nicht mehr gesehen hatte. Er schloss die Tür und setzte sich in dem fast ganz dunklen Raum an einen kleinen Tisch. Durch den vermeintlichen Spiegel hatte er das Geschehen im Konferenzzimmer im Blick. Dornhege schraubte sich den Ohrhörer in das linke Ohr und steckte den Empfänger in die Jackentasche, dann gab er Rehbein ein Zeichen, die daraufhin aufstand, die Tür öffnete und einen Namen rief. Wulvsen gefiel das nicht.

„Alle zugleich.“, sagte er ins Mikrofon. Er sah Dornhege stutzen und Rehbein Anweisung geben, die die Tür schon fast hinter einer kleinen, eleganten, schwarzhaarigen Frau Mitte zwanzig mit Brille geschlossen hatte. Sie rief zwei weitere Namen. Es erschien ein Schlacks in Anzug und mit Krawatte, der sofort auf die Kommissionsmitglieder zustürmte und diese wortreich, aber nichtssagend persönlich begrüßte, sowie eine rotblond Gelockte in Pullover und Jeans, deren einziges Zugeständnis an die Wichtigkeit dieses Termins ein sportliches Sakko zu sein schien. Der Schlacks hatte sich mittlerweile soweit beruhigt, die Damen hatten ohnehin nur schweigend in die Runde genickt, dass er zwischen seinen Konkurrentinnen Platz nehmen und Dornhege die ob der stürmischen Begrüßung durch den jungen Mann leicht benommenen Kommissionsmitglieder vorstellen konnte.

Ella Olsson aus Schweden, Tonia Esteban aus Mexiko, Hubert Kahl aus Deutschland. Alle drei Mitte zwanzig, alle drei seit mindestens fünf Jahren im Konzern. Alle drei waren überdurchschnittlich intelligent und hatten Bestbeurteilungen erhalten und arbeiteten, gemessen an ihrem Alter, in verantwortungsvollen Positionen. Fremdsprachenkenntnisse vorhanden; sie sprachen Englisch und Französisch, Deutsch und die beiden Damen eben auch ihre Muttersprache. Wulvsen hatte persönlich mit den Vorgesetzten der Kandidaten gesprochen. Wirklich ans Herz gelegt worden war ihm nur Kahl, der sehr flexibel und loyal sei. Wulvsen übersetzte das für sich mit ‚stromlinienförmig‘. Man würde sehen.

„Kommt Herr Wulvsen nicht selbst?“, wollte Hubert Kahl, der seine Enttäuschung nicht verbergen konnte, wissen. Die Blicke der Damen verrieten, dass auch sie an einer Antwort auf diese Frage interessiert waren. Dornhege wirkte unsicher.

„Nun, es ist so … Es handelt sich ja nicht um die Besetzung einer Führungsposition.“, fiel ihm dann ein.

Der Anzugträger sackte etwas in sich zusammen und sah auf den Tisch.

„Aber die Sekretärin ist doch die Person, die am nächsten an ihm dran ist.“, wandte die Schwarzhaarige mutig und berechtigt ein. Die Lockige warf ihr einen raschen Seitenblick zu. Recht hat sie, dachte Ella.

„Sie können sicher sein, dass wir kompetent genug sind, eine solche Auswahlentscheidung zu treffen.“, beschied der Personalchef die Bebrillte, die die Belehrung regungslos entgegennahm, während die Gelockte sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und der Krawattenträger sich straffte. Wulvsen gefiel die kecke Art der jungen Damen.

„Was soll das, Dornhege? Gehen Sie inhaltlich darauf ein.“, sagte Wulvsen ins Mikro.

„Äh, ja. Herr Wulvsen vertraut uns. Ja.“, schob Dornhege mit rotem Kopf knapp hinterher, und es war gut für ihn, dass er Wulvsens Gesicht in diesem Moment nicht sehen konnte.

„Beruhigend.“, flüsterte Ella.

„Also, ich bin Teamplayer.“, trompetete Kahl ungefragt in die Runde. „Ich spiele Fußball und Handball, übernehme aber auch gerne eine Führungsrolle.“ Der Kommission fielen die Kinnladen herab. Zumindest hätten sie es können, denn so eine Eröffnung hatte sie noch nicht erlebt, und sie kannte natürlich den Mann in dem kleinen Nebenraum.

„Ja, äh.“, stotterte Dornhege. Er konnte nicht sehen, was in dem kleinen, fensterlosen Raum hinter ihm geschah. Aber ein Teil davon war gut zu hören.

Wulvsen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und zerknüllte wutentbrannt den Lebenslauf des Knaben.

„Wer ist eigentlich Vorsitzender? Sie, Dornhege? Oder macht hier jeder, was er will?“, zischte er ins Mikro. „Sie werden den Raum jetzt verlassen! Und nehmen Sie den Milchbart mit! Sie können ihm die Tränen trocknen, er ist nämlich raus! Und Sie auch! Holen Sie sich zum Feierabend Ihre Papiere bei Rehbein!“ Dornhege drehte sich um und sah sich selbst im Spiegel. Er schüttelte den Kopf und machte protestierende Gesten, außerdem war er aschfahl geworden.

„Eine Stunde vor Feierabend!“, schrie der Alte, mit dem Erfolg, dass der ehemalige Personalchef aufgab, sich mit zitternden Fingern den Knopf aus dem Ohr nahm, den Empfänger auf den Tisch legte, aufstand, „Kommen Sie bitte mit, Herr Kahl.“, sagte und mit dem verwirrten jungen Mann den Raum grußlos verließ.

Der Betriebsratsvorsitzende und die Gleichstellungsbeauftragte wirkten ratlos, während die noch amtierende Chefsekretärin erleichtert aufatmete. Tonia und Ella hatten das Ganze mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, und hofften darauf, dass sich in der nächsten Zeit eine Erklärung für das Geschehene präsentieren würde. Sie ahnten jedenfalls zumindest, dass jemand hinter diesem Spiegel saß, und der dürfte nicht ganz unmaßgeblich sein. Und da es hier um die Funktion einer Chefsekretärin ging, konnte das nur bedeuten, dass …

Ein paar Minuten lang geschah nichts und niemand sagte ein Wort, dann öffnete sich die Tür neben dem Spiegel und der Mann mit der Mappe, aber diesmal ohne Pullover, erschien, nickte kurz und nahm dann hemdsärmlig und mit zerzausten Haaren Dornheges Platz ein.

Rehbein wusste nicht, was sie davon halten sollte. Es wäre zwar völlig normal, wenn der Chef seine Sekretärin persönlich aussuchte, aber was war bei Wulvsen schon normal. Oder wollte der Alte aus lauter Ärger über Dornhege ein Exempel statuieren? Ausgerechnet an den beiden unschuldigen Damen? Oder war sein Erscheinen ausnahmsweise mal ein gutes Zeichen? Die Vertreter der Belegschaft jedenfalls wurden eindeutig nervös. Wulvsens Kopf war immer noch leicht gerötet. Er beugte sich zu Rehbein und meinte flüsternd: „Hönnes soll mich früh nach Hause bringen, muss laufen.“

Den beiden jungen Damen stellte er sich nicht vor, aber die machten sich so ihre Gedanken, und die waren ziemlich zwiespältig. Mindestens.

Wenn das Wulvsen wäre, warum hatte er nicht gleich von Anfang an ganz souverän und rollenkonform den Vorsitz übernommen? Warum hatte er Dornhege von seiner Rolle suspendiert? Dass Kahl hatte gehen müssen, konnten sie nachvollziehen, denn dessen Benehmen war der Situation, und die war ein Vorstellungsgespräch für eine nicht ganz unwichtige Position in dem weltgrößten Konzern, völlig unangemessen gewesen. Wenn das Wulvsen wäre, gälte es, jetzt besonders vorsichtig zu sein. Eigentlich. Aber hierin waren sich die Damen unabgesprochen einig: sie würden sich nicht verbiegen lassen, auch nicht von einem Wulvsen.

Als der sich gesetzt hatte, schob Rehbein ihm einen kleinen Zettel hinüber, auf dem nur

Kahl und Dornhege sind verwandt

stand. Er nickte grimmig. Das hatten wir doch schon mal, dachte er. Schon wieder Dornhege. Dann hatte er mal wieder intuitiv die richtige Entscheidung getroffen. Wollte der Kerl ihm doch glatt Verwandtschaft ins Sekretariat setzen.

Ella erkannte den Pullovermann von eben, Tonia die Schuhe nicht, denn die konnte sie von ihrer Position gar nicht sehen. Vor ihnen saß ein Mann, wohl um die vierzig, vielleicht aber auch jünger, mit meliertem Haar und ebensolchem Fünftagebart, grauen Augen, mit aufgekrempelten, weißen Hemdsärmeln. Die Krawatte hatte er gelockert und der oberste Knopf seines Hemdes stand offen. Teuer, aber nachlässig, dachte Tonia und rückte ihre Brille zurecht. Das kann nie und nimmer der Alleinherrscher des weltgrößten Konzerns sein. Ella zog ihre Jacke zusammen, denn irgendwie schien die Raumtemperatur gesunken zu sein. Seine kalten, grauen Augen musterten sie ohne Regung, und beide wollten unabhängig voneinander diesem Blick standhalten, kapitulierten aber nach einer halben Minute, so dass sie nicht sehen konnten, wie ein flüchtiges Siegerlächeln über sein Gesicht huschte.

Der Alte hatte einen Blick in die Bewerbungsunterlagen werfen können und war von den Lebensläufen der beiden jungen Damen angetan. Sogar die Fotos waren aktuell, hatte er festgestellt. Esteban war der südländische Typ, eben Mexikanerin, dunkler Teint, Stupsnase, aber zurückhaltend. Olsson blickte aus grünblauen Augen temperamentvoll in die Runde.

In Wulvsens Kopf verschmolzen die beiden unterschiedlichen Köpfe der Bewerberinnen. Ellas rotblonde Locken wurden dunkel, ihre grünblauen Augen wurden braun, Tonias Teint wurde etwas heller und ihr Gesicht runder. Vor Wulvsen saß plötzlich ein ihm oberflächlich bekanntes kleines Mädchen und lächelte ihn an. Er wischte das Bild fort, aber an seiner durch diese Erscheinung vergleichsweise sehr mild gewordenen Stimmung änderte das nichts mehr.

„Ella Olsson und Tonia Esteban, richtig?“, fragte er mit sonorer, neutraler Stimme und dem dazu passenden Blick. Die Angesprochenen nickten. „Sie scheinen unterschiedlicher Auffassung zu sein, wie man zu einem solchen Auswahltermin erscheint.“ Er sah in fragende Gesichter. „Ihre Kleidung.“, erklärte er mit einem hinweisenden Nicken.

„Ich habs gerne bequem.“, sagte die Schwedin keck, „Ich trage Jeans, so lange ich denken kann. Außerdem hat das die Filiale in Malmö nicht davon abgehalten, mich einzustellen. Ich glaube, Herr Karlsson war ganz zufrieden mit mir. Auch ohne Kostüm.“, bemerkte sie spitz mit einem Seitenblick auf die Esteban. Wulvsen unterdrückte ein Schmunzeln.

„Ja, die Schweden sind da ziemlich tolerant. Was ist mit Ihnen, Frau Esteban?“

Die Mexikanerin schob das Kinn ein wenig vor und informierte sachlich: „Ich musste lange genug sehr … einfache Kleidung tragen. Seit ich es mir leisten kann, kleide ich mich, wie ich finde, elegant.“ Sie macht kein Hehl aus ihrer Slumkindheit, dachte Wulvsen zufrieden.

„Meinen Sie, Frau Olsson, dass Sie in Jeans auch, sagen wir, Konzernchefs oder Politikern angemessen entgegentreten können?“

„In Schweden hat das geklappt. Es kommt auf die Person an und nicht auf das Äußere, würde ich sagen.“ Wulvsen schien durch sie hindurchzusehen. Der Spruch hätte auch von ihm kommen können.

„Sie wissen aber schon, dass dies hier eine andere Kategorie ist als Malmö?“ Olsson wurde rot.

„Ja, schon, aber …“, wollte sie sich verteidigen, wurde aber von einer ungeduldigen Geste des Mannes unterbrochen.

„Schon gut. - Können Sie beide mit schwierigen Chefs umgehen?“, fragte er mit steinerner Miene. Rehbein horchte auf. Hatte er etwa eben zugegeben, schwierig zu sein?

„Ich lasse mich nicht verbiegen, bei aller Loyalität.“, entgegnete die Schwedin schnell.

„Ich habe lange genug Demut gezeigt; ich will gerade bleiben.“, ergänzte die Mittelamerikanerin. Wenn die beiden Damen hinter seine Fassade hätten blicken können, hätten sie ein zufriedenes Schmunzeln gesehen.

„Welche Konsequenzen würden Sie ziehen, wenn Ihr Chef zu weit ginge, und wann wäre ein solcher Punkt erreicht?“ Das interessierte Rehbein nun auch.

„Wenn er ungerecht mir gegenüber wäre und sich nicht dafür entschuldigt. Wenn er zudringlich würde.“, war die schwedische Position.

„Kann ich bestätigen. Auch ständig schlechte Stimmung könnte ich nicht ertragen.“, fügte die Brillenträgerin hinzu und Rehbein hielt den Atem an.

„Ein paar freundliche Worte können nicht schaden.“, meldete sich die Skandinavierin. Rehbein resignierte kurz, aber nur bis zu nächsten mexikanischen Einlassung.

„Wären für mich aber nicht Bedingung.“, schwächte die Esteban nämlich ab und Olsson nickte dazu. Rehbein atmete auf.

Gut, dass der neue Job keine Spaßveranstaltung würde, scheint den beiden hoffentlich klar zu sein, dachte Wulvsen und ließ es dabei, denn die unterschiedlichen Damen hatten Eindruck auf ihn gemacht, und er wollte ihnen durchaus eine Chance geben. Außerdem sprachen ihre Zeugnisse für sich.

„Würden Sie Ihren Chef in die Schranken weisen? Auch auf die Gefahr hin, dass Sie das den Job kosten würde?“ Internationales Nicken. Rehbein wirkte zufrieden, Betriebsrat und Gleichstellung wollten jedoch beinahe verzweifeln ob der Wulvsenschen Plaudertaktik.

„Was erhoffen Sie sich von diesem Job?“

„Es wäre eine Herausforderung.“, erklang es weichgespült und schwarzäugig.

„Ja.“, bestätigte die Schwedin.

„In welcher Hinsicht?“

„Menschlich erst einmal. Herr Wulvsen soll … sehr individuell sein. Andererseits möchte ich lernen, wie so eine Zentrale funktioniert, wie ein solcher Konzern gesteuert wird, und das ganz ohne Leitungsgremien.“, erklärte Olsson.

„Ich möchte viele wichtige Menschen treffen und aus diesen Begegnungen lernen. Dazu gehört auch Herr Wulvsen, der schließlich diesen Riesenkonzern ganz alleine lenkt.“, ergänzte Esteban. Die nächste Frage ließ Rehbein aufhorchen.

„Könnten Sie beide sich vorstellen, zusammenzuarbeiten?“ Die Kandidatinnen sahen sich überrascht an, dann sahen sie zum Alten.

„Ich hasse Zickenkrieg.“, meinte die Gelockte und ließ offen, wie sie das meinte.

„Konflikte lassen sich lösen.“, erscholl es aus dem lateinamerikanischen Mund, dem schönen.

Der Alte sah die beiden Kandidatinnen ausdruckslos an, doch zwischendurch erschien ihm für eine Nanosekunde ein anderes Gesicht, und zwar so, dass er es bewusst gar nicht richtig wahrnahm, und das war das lächelnde Gesicht eines gelockten Mädchens.

Wulvsen unterdrückte geübt ein Lächeln, nahm Rehbeins Zettel, drehte ihn um und schrieb

beide

darauf. Dann erhob er sich und ging durch die Nebentür grußlos hinaus.

Die restliche Kommission hatte sich in den Nebenraum zurückgezogen, wo die Gleichstellungsbeauftragte zunächst einmal die Folgen eines Wutausbruchs beseitigte und Rehbein einen Pullover an sich nahm, so dass die Kandidatinnen nun allein auf die Urteilsverkündung warteten.

„Weißt du, wer das war?“, fragte die Mexikanerin in ihrem durch spanischen Akzent weichgespülten Deutsch und verbarg zunächst einen Gedanken vor der nunmehr einzig verbliebenen vermeintlichen Konkurrentin.

„Keine Ahnung, aber merkwürdig war das schon.“, erwiderte die Schwedin hart und hatte der Mittelamerikanerin damit gar nichts zu verbergen. „Der sah aus wie ein ganz normaler mittlerer Angestellter.“

„Seine Schuhe waren teuer; maßgefertigt.“ Ella sah Tonia an.

„Das hast du gesehen? Kannst du das beurteilen?“

„Als er hinausging. - Mein Vater hat mal Schuhe gemacht.“

„Aha. Als er draußen an uns vorbeigegangen ist, hat er uns jedenfalls sehr genau angesehen.“

„Das wiederum habe ich nicht bemerkt.“

Sie schwiegen eine Weile, wie auch im Nachbarraum nach einer kurzen Anweisung Rehbeins geschwiegen wurde. Die Entscheidung war gefallen, das Verfahren war korrekt abgelaufen, es war nichts mehr zu diskutieren, obwohl Wulvsens Entscheidung für die Verdoppelung seiner Vorzimmerbesatzung überraschend gekommen war.

„Meinst du, er könnte es gewesen sein?“, fragte Tonia.

„Wer?“

„Der Typ eben.“

„Wer soll das gewesen sein?“, verlangte die Schwedin Klarheit.

„Der Alte.“

„Welcher Alte?“ Hatte Ella kurze Zeit den Eindruck gehabt, mit der Mexikanerin vielleicht klarkommen zu können, kamen ihr jetzt Zweifel. Tonia erging es allerdings nicht anders.

„Na, Wulvsen.“, erklärte Tonia und verdrehte die Augen. Ella warf sich zurück in ihre Stuhllehne.

„Das war ein Mann ohne Jackett, mit offenem Hemd und nicht vernünftig gebundener Krawatte. Absolut mittelmäßig. Gerade du solltest einschätzen können, dass einer der wichtigsten Wirtschaftslenker nicht so daherkommt.“

„Was heißt ‚gerade ich‘?“, begehrte Tonia auf. Ella machte eine Geste.

„Na ja, du achtest doch sonst so auf das Äußere.“

„Ich habe sein Hemd und seine Krawatte gesehen.“, meinte sie und erklärte damit für Ella nichts.

„Was heißt das?“, wollte die Schwedin entnervt wissen.

„Ziemlich teuer.“

Ella zuckte die Schultern, als die drei scheinbaren Entscheider wieder hereinkamen, sich aber nicht setzten.

„Wir werden es mit Ihnen beiden probieren.“, verkündete Rehbein, „Und das ist wörtlich zu nehmen. Die Probezeit beträgt sechs Monate. Ihr Inventar wird umgehend nach Deutschland gebracht. Ihnen wird empfohlen, hier in der Nähe Wohnung zu nehmen. Die Firma hilft. Ich bringe Sie jetzt in die Personalabteilung, wo alles weitere erledigt wird, wenn Sie einverstanden sind. Dann kommen Sie zu mir und wir beginnen mit der Einarbeitung. Noch Fragen?“

Die beiden Kandidatinnen lächelten nach einer Schocksekunde erst verschämt, und dann erleichtert und glücklich.

„Wann werden wir Herrn Wulvsen kennenlernen?“, fragte Ella und sah Rehbein direkt an, die allerdings den Blick mild erwiderte und orakelte:

„Das entscheidet Herr Dr. Wulvsen.“

„Ich habe gelesen, dass wir jederzeit gekündigt werden können.“, reklamierte Tonia. Rehbein lächelte nachsichtig.

„Ja, das ist richtig. Solch eine Klausel haben wir alle in unseren Verträgen, aber Sie müssen ihn gründlich lesen: für eine Kündigung muss es nämlich handfeste Gründe geben.“

„Wie lange sind Sie schon dabei?“

„Fast dreißig Jahre.“, warf Rehbein in den Raum. „Allerdings leitet Herr Dr. Wulvsen die Firma erst seit ungefähr zwölf Jahren, und entsprechend wurden von ihm die Arbeitsverhältnisse … angepasst.“

„Aber das ist doch unanständig!“, rief Olsson dazwischen. Rehbein sah sie geduldig an.

„So sind die Regeln. Die Bezahlung ist ja auch unanständig.“, konterte sie lächelnd und hatte natürlich recht. Wulvsen wusste, was er seinen Leuten mit sich zumutete, und das versuchte er mit einigem Erfolg zu vergelten. Allerdings konnte nicht die Rede davon sein, dass er die Menschen kaufte, dafür waren sie zu sorgfältig ausgewählt. Nun ja, manchmal eben, wie das Beispiel Dornhege zeigte, nicht sorgfältig genug.

Rehbein führte die jungen Frauen zur Personalabteilung und suchte dann das verwaiste Vorzimmer auf. Sie klopfte an die Cheftür und trat ein. Wulvsen lehnte sich zurück, sah sie mit dem Anflug eines Siegerlächelns an und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. ‚Na, wie habe ich das gemacht?‘, sollte das wohl heißen. Elke Rehbein lächelte ebenfalls und nickte ihm zu.

„Gute Entscheidung.“, meinte sie.

„Denke ich auch.“, lobte sich ihr Chef.

„Wollen Sie sie gleich sehen?“

„Nein, das wird sich schon noch ergeben. Ist Dornhege mit seinem Spezi schon weg?“

„Er packt seine Sachen.“

„Gut, sehr gut.“, nickte er, doch Rehbein hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen. „Was noch, Rehbein?“, fragte er deshalb, und zwar einigermaßen freundlich. Seine Sekretärin sah ihn mutig an.

„War das eine spontane Entscheidung, beide zu nehmen?“ Wulvsen setzte sich gerade hin und legte seine Hände auf den Schreibtisch. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden.

„Was heißt schon spontan? Vor ein paar Tagen hatte ich diese Idee ...“ Er überlegte und sah Rehbein dabei genau an, doch die hielt seinem Blick stand. Und dann ließ er seine scheidende Sekretärin einen kleinen Einblick in seine zukünftige Strategie nehmen, ohne zu viel preiszugeben, doch das wäre ohnehin nicht gegangen, denn was er Schritt für Schritt vollziehen würde, entsprang gar keinem konkreten und detailreichen Plan, sondern geschah, wie das manchmal bei ihm vorkam, völlig intuitiv vor dem Hintergrund einer vagen Idee, aber diesmal spielte nicht nur sein Bauchgefühl eine Rolle, sondern auch sein Unterbewusstsein, das bestimmte Ahnungen hatte, und noch etwas anderes, das sollte ihm später klarwerden. „Die Damen werden mehr sein müssen als Sekretärinnen, so denke ich mir das zumindest. Die Firma ist zu groß geworden, als dass ich mit einem Sekretariat herkömmlicher Art auskäme.“ Jetzt grinste er wieder. „Aber sagen Sie ihnen nichts; sonst werden sie noch übermütig.“ Rehbein nickte, weil sie glaubte, etwas verstanden zu haben und sah zu Boden.

„Danke.“, sagte sie leise.

„Wofür?“, fragte der Alte erstaunt.

„Dass Sie mit der Umstrukturierung gewartet haben, bis ich in Pension gehe.“, flüsterte sie, meinte aber durchaus noch mehr. Wulvsen schüttelte leis den Kopf, stand auf und stellte sich vor Rehbein. Gut, dann wäre der Zeitpunkt für klärende Worte eben jetzt gekommen. Er fasste sie an den Oberarmen und sah sie ernst an.

„Ich habe nicht gewartet. Wenn ich diese Idee eher gehabt hätte, und ich hätte sie viel eher haben müssen, wären Sie auf jeden Fall mit dabei gewesen, glauben Sie mir. Und zwar nicht als Sekretärin, ich weiß schließlich, was Sie können. Ich wollte Sie mit diesem Schritt zu diesem Zeitpunkt nicht brüskieren. Sie glauben gar nicht, wie wertvoll Sie für mich waren all die Jahre. Nein, es war reiner Zufall, dass ich vor ein paar Tagen auf diesen Gedanken gekommen bin.“

Rehbein glaubte ihrem Chef, denn wenn er eines nicht täte, dann wäre das, nicht die Wahrheit zu sagen, das wusste sie besser als kaum ein anderer, und dass er sie schätzte, hatte er mehr als einmal deutlich gemacht. Sie würde alles dafür tun, dass die beiden netten Frauen die nächsten Wochen durchhielten.

„So, da sind wir.“ Das internationale Duo stand etwas unschlüssig in dem riesigen Vorzimmer und sah sich interessiert um. Beeindruckend fanden sie das Panoramafenster, das die Außenwand des Raumes darstellte und einen weiten Blick über die Stadt bot. Rehbein blickte mit ihren hellblauen, wachen Augen auf, lächelte flüchtig und dann setzten sie sich zu dritt an einen kleinen Besprechungstisch. Rehbein zögerte etwas, denn sie war ein wenig ratlos, weil mit der geplanten Modifizierung des Vorzimmers sicherlich auch eine Veränderung der von dort zu erledigenden Aufgaben einhergehen würde. Genaueres wusste sie aber natürlich nicht, denn schließlich hatte Wulvsen keine weiteren Erläuterungen von sich gegeben. Vielleicht wusste er selbst noch nichts Genaues, das traute Rehbein ihrem Chef durchaus zu. Wulvsen hatte in der Vergangenheit schon des Öfteren etwas angestoßen, ohne ein ganz konkretes Ziel vor Augen gehabt zu haben, hatte in den in Gang gesetzten Prozess steuernd eingegriffen, und irgendwann hatte es ein Ergebnis gegeben, das nie enttäuschend gewesen war. Wenn er also erst vor ein paar Tagen diese Idee gehabt hatte, würde er die Dinge sich vielleicht einfach entwickeln lassen, vermutete Rehbein. Sie räusperte sich.

„Morgen wird hier ein zweiter Schreibtisch stehen, den Sie sich erstmal teilen müssen, bis ich weg bin, das wird aber gehen. In den nächsten Tagen können Sie zu Hause alles abwickeln, die Firma hilft Ihnen dabei. Das Geschäft kennen Sie ja, Sie haben ja bisher auch schon Ähnliches gemacht, nur eben etwas weniger wichtig, ein paar Nummern kleiner. Hier wird es für Sie im Wesentlichen darauf ankommen, ihm den Rücken freizuhalten, seine Zeit zu managen, Entscheidungen vorzubereiten …“

„Machen das nicht die Fachabteilungen?“, unterbrach sie Olsson.

„Sie werden bald schon merken, dass die Fachabteilungen nur zuarbeiten, Sie müssen diese Zuarbeit für ihn vorbereiten und aufbereiten; es gibt da so ein Berichtssystem, das er erfunden hat, ich werde es Ihnen erklären; die Entscheidungen fällt Herr Doktor Wulvsen. Und zwar ausschließlich alleine. Sie werden das bald merken. Sie werden auch bald merken, dass das hier alles etwas anders ist als Sie es gewohnt sind. Natürlich gibt es die normalen Sekretariatsaufgaben, wie Sie sie kennen, die werden aber im wesentlichen von einem weiteren Büro wahrgenommen, das Ihnen zuarbeiten wird. Wichtig ist die Koordinierung der Termine, und das hängt in gewisser Weise auch mit seiner Disposition zusammen, also, wie er gerade drauf ist, wie man heute sagt. Sie müssen da sehr flexibel sein und gut aufpassen.“, erklärte Rehbein geheimnisvoll.

„Wie sollen wir feststellen, wie er drauf ist?“

„Oh, seinen Gemütszustand kann man sehr schnell feststellen, zumindest hier, im fast persönlich-privaten Bereich. Bei offiziellen Terminen kann er aus seinem Herzen schon mal eine Mördergrube machen, wenn es notwendig ist, und notwendig ist, was der Firma dient.“

„Hier ist das anders?“

„Ja.“, nickte Rehbein ernst. „Irgendwo muss er sich ja mal … natürlich geben können.“

Esteban legte den Kopf schräg.

„Sie sagen das so eigenartig.“ Rehbein nickte.

„Sie werden es sowieso bald merken. Er lässt seinen Emotionen manchmal freien Lauf.“

„Soll das heißen, dass er, äh, dass er sich hier abreagiert?“

„Weint?“, ergänzte Olsson schnell. Rehbein sah die beiden ernst an.

„Emotionen bestehen bei ihm meistens aus Wut. Weinend habe ich ihn jedenfalls noch nicht erlebt.“ Die Neuen wurden bleich.

„Das heißt, wir sollen so eine Art Blitzableiter sein? Tritt er dann Türen ein?“, empörte sich Olsson.

„Neinnein.“, beschwichtigte Rehbein und wusste, dass sie jetzt den Pfad der Wahrheit ein wenig verlassen müsste, denn sie wollte unbedingt, dass die beiden jungen Frauen ihre Chance erhielten. „Sie selbst werden nicht Gegenstand seiner Wut werden, wenn Sie sich tadellos verhalten. Er ist nicht ungerecht. Aber Sie müssen seine Stimmungen einzuschätzen lernen und lernen, was Sie ihm wann zumuten können.“

„Oder wen.“, ergänzte Esteban, wozu Rehbein zustimmend nickte.

„Was ist er für ein Mensch?“, wollte Tonia sanft wissen. Rehbein lachte kurz.

„Er passt in keine Kategorie. Sie hatten eben im Gespräch auf die Arbeitsatmosphäre hingewiesen. Es wird schwierig für Sie. Erwarten Sie keine Liebenswürdigkeiten oder Komplimente. Er hat seine eigene Art, Danke zu sagen oder zu loben.“

„Wann werden wir ihn kennenlernen?“ Rehbein lächelte hintergründig und antwortete ausweichend, weil sie ja vom Alten hierzu keine konkrete Aussage erhalten hatte.

„Die wenigsten hier sind ihm schon einmal persönlich begegnet. Sicher, die Leiter der Auslandsniederlassungen kennen ihn, die Abteilungsleiter hier, und einige, die öfter mit ihm persönlich zu tun haben, aber sonst kaum jemand. Jedenfalls nicht bewusst.“

„Weiß er denn dann überhaupt, was in seinem Konzern geschieht? Ich meine, wirklich, und nicht nur auf dem Papier, wenn er sich nicht blicken lässt?“ Ella wirkte empört und wieder spielte ein eigenartiges Lächeln um Rehbeins Mundwinkel.

„Sie können sicher sein, dass er mehr weiß, als irgend jemand ahnt, auch wenn die Standorte auf der ganzen Welt verteilt sind. – Auf jeden Fall müssen Sie damit rechnen, dass er sich in den nächsten Wochen etwas rar macht und ihre Zusammenarbeit mit ihm erst richtig beginnt, wenn ich nicht mehr da bin. Die ersten sechs Wochen sind für Sie entscheidend, steht übrigens in Ihrem Vertrag. Wenn ich mein OK gebe, sind Sie drin.“

„Sie waren bisher seine einzige Sekretärin …“, brachte Esteban nun vorsichtig vor.

„Ja. Herr Dr. Wulvsen ist offenbar der Auffassung, dass die Firma hier etwas anders aufgestellt sein sollte.“ Rehbein hob eine Hand. „Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, er hat mir seine Pläne nicht erläutert. Auch daran werden Sie sich gewöhnen müssen: dass er manchmal sehr spontan ist.“ Die Neuen nickten, hatten natürlich weiteren Informationsbedarf, aber sie fragten nicht weiter nach; man würde sich eben bezüglich Neuorganisationen überraschen lassen.

„Wer war der Mann, der eben in dem Besprechungszimmer erschienen ist und das Auswahlgespräch geführt hat, und warum sind Kahl und Herr Dornhege so plötzlich verschwunden?“, fragte Ella, um Klarheit bemüht, eine entscheidende Frage. Rehbein überlegte und nickte dann.

„Zum letzten Punkt kann ich nichts sagen, aber der Mann war Herr Dr. Wulvsen.“ Rehbein konnte nun sehen, wie die beiden sich zunickten. Sie haben es also zumindest geahnt, dachte sie, und freute sich darüber, denn Kombinationsgabe schadete in diesem Job sicherlich nicht.

„Der sah den Fotos aber nicht sehr ähnlich.“

„Und im Fernsehen sieht er auch anders aus.“, ergänzte Tonia. „Außerdem wirkte er etwas derangiert.“, kritisierte sie.

„Er verwandelt sich gerne ein wenig und er muss sich wohl über etwas echauffiert haben. Die Öffentlichkeit kennt ihn ja meist nur mit Anzug und Krawatte, und da er ja eher ein etwas unscheinbarer Mann ist ... jedenfalls äußerlich, erkennt man ihn in einem anderen Outfit vielleicht nicht gleich.“, lächelte Rehbein, nicht alles erklärend.

„Wie alt ist er?“

„Er sieht älter aus als er ist.“, blieb die reife Frau im Vagen.

„Warum macht er sich so rar?“, wollte Ella wissen. Rehbein machte jetzt ein ernstes Gesicht.

„Er weiß, dass er in seiner Position selten Reaktionen auf seine Person erhält, die natürlich, die ehrlich sind. Die Menschen sind entweder gehemmt, oder sie erwarten etwas von ihm. Er mag das nicht. Er bevorzugt eine offene, natürliche Kommunikation ohne Hemmungen oder Erwartungen, die mit seiner Position verknüpft sind.“ Sie überlegte kurz. „Wenn es die Situation erlaubt, gibt er sich möglichst nicht zu erkennen, was natürlich gerade hier nicht so häufig vorkommen kann.“ Sie zögerte und gab dann eine sehr persönliche Einschätzung ab, die von anderen zumindest abenteuerlich genannt worden wäre. „Er ist kein Menschenfeind. Er kommt mit Fremden wunderbar zurecht, solange die nicht wissen, wer er ist. Er hasst Speichellecker und Arroganz, und das lässt er sein Gegenüber in solchen Fällen auch spüren. Ihre ungekünstelte Art muss ihm wohl gefallen haben.“ Den beiden jungen Frauen wurde jetzt einiges klar. Sicher wären sie ganz anders aufgetreten bei dem Einstellungsgespräch, wenn sie gewusst hätten, wer da vor ihnen saß. Trotz aller Prinzipien.

„Kahl hat ihm anscheinend nicht gefallen.“, warf Tonia ein.

„Und mit Liebenswürdigkeiten können wir eher nicht rechnen.“, fügte Ella hellseherisch hinzu.

„Das ist wohl so. Ihre schwierigste Aufgabe wird sein, ihn zu bremsen, zu beruhigen.“

„Wie soll das denn gehen?“, empörte sich Ella. Rehbein zuckte die Schultern.

„Offenbar traut er Ihnen das zu, sonst hätte er sich nicht für Sie entschieden. Sie müssen lernen, Situationen richtig einzuschätzen und rechtzeitig einzuschreiten, wenn er dabei ist, zu weit zu gehen.“ Ella schüttelte die Locken und Tonia meinte nur:

„Da halte ich lieber einen wütenden Stier auf.“

Elke Rehbein fand an diesem Arbeitstag nicht mehr die Zeit, über ihre Lüge, nein, ihre Schönfärberei nachzudenken, das tat sie dann erst beim Einschlafen. Sicher, sie selbst hatte hin und wieder durchaus die Funktion eines Blitzableiters einnehmen müssen, wenn der Alte geladen gewesen war, aber sie hatte sich daran gewöhnt und die Autorität derjenigen, auf die er all die Jahre nicht hatte verzichten können; schließlich hatte sie ihm geholfen zu erschaffen, was die Firma nun war, und das hatte er ihr gegenüber mehr als einmal zugegeben. Aber was hätten die Neuen vorzuweisen? Immerhin hatte er sich auf sehr ungewöhnliche Weise für sie entschieden. Für beide. Also wären sie immerhin zu zweit, und sie selbst wäre ja noch eine Weile dabei und könnte aufpassen. Vielleicht würde sie ihm an ihrem letzten Arbeitstag noch einmal eindringlich ins Gewissen reden. Was Elke Rehbein zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, war, dass dies gar nicht mehr nötig sein würde.

Wulvsen zog das Tempo an. Wenn er eine Schleife liefe, hätte er noch einen Kilometer, und der musste sein, schließlich hatte er, entgegen vergangener Gepflogenheiten, mal wieder eine Pause gemacht, aber nach all dem Ärger, den der Arbeitstag mit sich gebracht hatte, hatte er ein wenig Ablenkung gebraucht und sich kurzerhand ein paar Minuten mit dem kleinen Mädchen unterhalten, was sehr erfrischend gewesen war, und wofür er die Schleifen, die langsam zur Gewohnheit wurden, gerne in Kauf nahm. Wenn er ehrlich wäre, war es weitaus mehr als erfrischend gewesen, und in gewisser Weise war er ehrlich. Zu sich selbst nämlich. Beim nächsten Mal würde er die Kleine nach ihrem Namen fragen.

Ausgelaugt, aber glücklich beendete er seinen Lauf an einer versteckten Tür in seiner Gartenmauer, die in lichter Höhe von fast drei Metern sein Grundstück umgab. Er musste heute nicht mehr weg, jedenfalls nicht beruflich, denn diesen Abend hatte er sich frei gehalten, und insofern war es ein ganz besonderer Abend. Er duschte, zog sich um, trank etwas, um sich dann auf ein Fahrrad zu schwingen und sein Grundstück eben durch jene selbe Tür wieder zu verlassen und dem entgegenzuradeln, was man als sein zweites oder drittes oder viertes Leben bezeichnen könnte.

Er stellte das Fahrrad an einem unscheinbaren Hauseingang ab. Der Eingang gehörte zu einem verklinkerten Reihenhaus, von denen es hier viele gab. Er ging drei Stufen bis zu der Haustür hinauf und schellte. Ein adipöser Mann mit schütterem Blondhaar öffnete.

„Roger, du kommst spät.“

„Hatte noch nachzudenken.“, erklärte Roger. Der Schüttere bat ihn herein.

Wulvsen hängte seine leichte Jacke an die Garderobe. Er mochte die Abende bei seinem Freund, dessen kleines Haus immer irgendwie unaufgeräumt und verwohnt wirkte, obwohl der genauso alleine lebte wie Roger, aber Jürgen bekam halt öfter Besuch und danach roch es förmlich, während es bei ihm nach, ja, nach Einsamkeit roch.

„Die Abende mit dir sind schön, Jürgen.“, meinte er, als sie in das gemütliche Wohnzimmer gingen.

„Klar, bei deinem Tagesablauf. Setz dich, Bier steht schon da und die Schnittchen kommen sofort.“

„Hausmacher?“, freute sich Wulvsen lächelnd.

„Hausmacher.“ Jürgen Link verschwand kurz in die Küche und kam mit einer Platte wieder. Er setzte sich. Die Einrichtung war schlicht, aus hellem Holz und die abgenutzten Sessel und das Sofa waren mit bequemen Polstern versehen.

„Ich habe ein Problem.“, eröffnete Link vornübergebeugt und machte sich nach seinen Erfahrungen der letzten Jahre nicht viele Hoffnungen, dass sein Freund ihm weiterhelfen könnte. Oder wollte. Doch diesmal täuschte er sich.

„Und ich weiß, wie man Probleme lösen kann.“, lachte Wulvsen und lehnte sich entspannt zurück. Link runzelte seine Stirn und sagte:

„Ja.“ Mehr fiel ihm im Augenblick nicht ein.

„Lecker die hausmacher Wurst.“, Roger nahm noch ein Schnittchen und Jürgen lachte.

„Ich weiß doch, was du magst.“

„Erzähl von deinem Problem.“

„Das Problem habe ja eigentlich nicht ich, sondern benachteiligte Frauen.“, stellte Jürgen klar.

„Dann erkläre mir dein Projekt.“ Roger öffnete eine Flasche Bier.

„Du willst also Beschäftigungsmöglichkeiten für ehemalige Nutten schaffen?“, fragte Roger kritisch.

„Im Prinzip ja, aber ich würde es anders nennen. Es könnten auch ein paar ehemalige Prostituierte dabei sein, aber es handelt sich um benachteiligte Frauen, Roger.“ Roger nickte, denn die Idee seines Freundes hatte etwas. Roger wusste, dass Jürgen kein sozialromantischer Spinner war, sondern sich bestens auskannte und ehrlich engagiert war, nicht nur förderte, sondern auch forderte, was die meisten seiner Klientel gut gebrauchen konnten, denn die hatten fast alle verlernt, sich selbst zu helfen, sich selbst etwas zuzutrauen. Außerdem rechnete er sich an, mitgeholfen zu haben, Jürgen bezüglich der Sozialromantik auf den rechten Weg gebracht zu haben. Nach Jürgens Worten verhielt sich das bei diesen Frauen etwas anders; die wollten unbedingt an ihrer unwürdigen augenblicklichen Situation etwas ändern, mussten etwas ändern, um ihren endgültigen Absturz abzuwenden. Das sagte Roger zu, denn nur einfach Geld für fragwürdige Projekte auszugeben, hielt er für nicht zielführend. Jürgen schien das mittlerweile akzeptiert zu haben, was Roger zufriedenstellte. Außerdem würde Jürgen das Projekt leiten, was schon eine gewisse Garantie wäre.

„Deine Skizze war sehr anschaulich, Jürgen. Ich überlege mir mal was. Übrigens: Kann man diese Personen auch mal kennenlernen?“ Jürgen lächelte erleichtert; er hatte seinen Freund interessiert, das war der erste Schritt. Dass Roger die Damen vielleicht mal kennenlernen wollte, war ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes, denn für Roger, so wusste Jürgen, war es wichtig, die Menschen, mit denen er auch nur entfernt zu tun hatte, kennenzulernen, wenn auch nicht unbedingt persönlich; er wusste eben gerne, mit wem er es zu tun hatte, vor allem bei Personen mit einem besonderen Hintergrund.

Der weitere Abend verlief dann eher amüsant, was beide Männer genossen. Für Roger war es eine willkommene Ablenkung vom Tagesgeschäft, das bei ihm ja durchaus nicht alltäglich genannt werden konnte, und Jürgen erfreute sich immer wieder an dem Esprit seines Freundes und fand gut, dass er dem Industriellen zu ein wenig Kurzweil verhelfen konnte.

Beim Aufräumen allerdings stellte sich Jürgen Link die Frage, was den Sinneswandel Rogers hinsichtlich seines Projektes bewirkt haben könnte, denn der war in der Vergangenheit, was diese Dinge anlangte, ziemlich kritisch gewesen. Es blieb jedoch bei dieser Frage, denn Jürgen beantwortete sie sich nicht; das hätte er auch nicht gekonnt, weil er die Konstellationen nicht kannte, nicht die der Sterne, sondern andere, eher personelle. Aber diese Frage hätte selbst Roger nicht beantworten können, der zwar die personelle Konstellation kannte, aber nicht um ihre Bedeutung wusste. Noch nicht.

„Ich freue mich auf heute Abend.“ Hönnes sah das Telefon an, über das er seiner Frau gerade gesagt hatte, wann er ungefähr zu Hause sein würde, als wolle es ihn beißen. Gut, es wäre sein erster Abend als Rentner, aber was gab es für seine Frau zu freuen?

„Was ist denn heute Abend?“, fragte er vorsichtig; könnte ja sein, dass er etwas vergessen hatte. Geburtstag? Hochzeitstag?

„Na, das Essen bei ‚Hilde‘.“, meinte seine Frau ungeduldig. Welches Essen bei welcher Hilde? Waren sie eingeladen bei einer ihrer Freundinnen? Besser nicht nachfragen, bestimmt hatte sie es ihm gesagt und er hatte es verdrängt, schließlich war er auch nicht mehr der Jüngste.

„Ist der Chef fertig? Er wollte doch um sechs nach Hause?“ Hönnes stand im Vorzimmer und sah Rehbein an, die ihre Sachen für heute packte. Von den Neuen war nichts zu sehen, obwohl das Gerücht ging, dass sie durchaus sehenswert wären.

„Geh schon einmal rein, er wartet.“ Hönnes war verwirrt. Im Allerheiligsten war er noch nie gewesen. Rehbein nahm ihn lächelnd beim Arm und schob ihn in das Chefzimmer. Er schaute sich um, dann sah er den Chef, wie der sich langsam erhob und sein Jackett zuknöpfte.

„Herr Hönnes! Schön, dass Sie etwas früher gekommen sind.“ Wulvsen nahm einen Umschlag von seinem Schreibtisch und kam auf Hönnes zu. Rehbein lächelte.

„Herr Hönnes, ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Sie haben mich jahrelang gefahren – immer sicher, immer schnell - , Sie haben meine Launen ertragen, waren mein Blitzableiter, mein Seelsorger. Ich glaube nicht, dass es einen besseren Cheffahrer gibt.“ Er reichte Hönnes mit einem seltenen Lächeln den Umschlag. „Nehmen Sie es persönlich. Für all die Jahre. Und jetzt geben Sie mir den Schlüssel.“

„Welchen Schlüssel?“, fragte Hönnes erstaunt.

„Den Autoschlüssel. Sie haben jetzt Feierabend. Ich werde fahren. Und machen Sie den Umschlag auf.“, lächelte der Alte. Hönnes tat, wie ihm geheißen und seine Kinnlade sackte nach unten.

„Das, das … das …“

„Haben Sie sich verdient.“, vervollständigte Wulvsen, nahm seine Tasche, hängte sich seinen Mantel über den Arm und zog seinen Fahrer in den Exklusivlift. „Ich fahre Sie heute.“

Sie hielten vor einem kleinen Reihenhaus.

„Gehen Sie hinein und machen Sie sich ein wenig frisch. Ihre Frau wartet schon auf Sie. Wir fahren dann zusammen weiter.“

„Ich dachte, Sie wollten früh nach Hause.“ Wulvsen schüttelte lächelnd den Kopf.

„Habe es mir anders überlegt.“

„Aber wir sind heute Abend bei Hilde.“, informierte Hönnes tonlos von hinten.

„Ich weiß.“

„Woher…?“

„Ich lade Sie zum Essen ein.“

„Bei Hilde?“, fragte der Exfahrer verwirrt. Wulvsen lachte.

„‘Hilde‘ ist das beste Restaurant in der Stadt, Hönnes.“ Hönnes räusperte sich.

„Das geht nicht.“, sagte er kategorisch, doch er hatte nicht mit seinem Chef gerechnet.

„Und ob das geht.“

„Sie haben mir meinen Traumwagen geschenkt …“

„Und den sollen Sie jetzt ordentlich begießen.“

„Dann kommen Sie wenigstens mit rein.“ Wulvsen zögerte, stieg dann aber aus und folgte Hönnes in das Reihenhaus. Im Flur kam ihnen ein junger Mann entgegen.

„N’Abend Paps. Na, jetzt endgültig Feierabend? Hast du einen Kollegen mitgebracht?“ Hönnes aber hastete bereits die Treppe hinauf, so dass der Mann sich an Wulvsen wenden musste.

„Sind Sie Vaters Nachfolger?“ Wulvsen räusperte sich.

„Äh, nein.“

„Ein Kollege aus der Firma?“

„Sozusagen.“

„Muss ja ein seltsamer Laden sein. Ein Chef, der sich versteckt, alle verschreckt, aber sonst ganz in Ordnung ist, wie mein Alter sagt. Der macht sich wohl einen Spaß daraus, den wilden Mann zu spielen.“, lachte der große Dunkelhaarige. Wulvsen blickte an dem Sohn hinunter.

„Vielleicht sollten Sie sich was anderes anziehen.“

„Wieso?“

„Wir gehen essen.“, erklärte der vermeintliche Kollege des Vaters. Der Sohn, der von seiner Mutter in davon Kenntnis gesetzt worden war, dass seine Eltern essen gehen wollten, sich aber wunderte, dass dieser edel gekleidete Mann und seine Person mit einbezogen werden sollten, trollte sich kopfschüttelnd und wurde von den Eheleuten Hönnes abgelöst.

„Sind Sie der Nachfolger meines Mannes? Das ist aber außergewöhnlich, dass Sie Ihren Einstand mit einem Ruheständler feiern.“, lächelte Frau Hönnes den Fremden an. Hönnes hub an, etwas klarzustellen, kam aber nicht dazu.

„Normalerweise sitze ich hinten, Frau Hönnes, angenehm.“ Die Mundwinkel der Ehefrau rutschten nach unten und ihr Gehirn schien, nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, Unmenschliches zu leisten, doch nach einer Weile schien der Groschen gefallen.

„Sie sind der A … äh, Herr Wulvsen?“, brachte sie hervor.

„Ja, ich bin der Alte.“, gab Wulvsen lächelnd zurück. Hönnes war rot angelaufen, als der Sohnemann im Jackett die Treppe herunterkam und kurz stockte.

„Is was passiert?“

„Auf welchen Namen ist der Tisch reserviert?“, wollte der Chefkellner zum wiederholten Male von seiner Mitarbeiterin wissen.

„Hönnes.“, antwortete die junge Frau geduldig.

„Und Sie sind sicher, dass die Reservierung von Wulvsens Büro getätigt wurde?“ Auch das hatten sie durchaus schon besprochen.

„So hat sich die Frau gemeldet.“

„Haben Sie mal den Namen recherchiert?“

„Wulvsen?“, fragte die Frau unschuldig. Der Mann sah an die Decke und stöhnte.

„Nein, Hönnes.“ Die Frau schüttelte bestimmt den Kopf.

„Keine Resultate.“ Timmermann war nervös. Wulvsens Büro reservierte nicht für irgendjemanden. Ein Hönnes war aber nicht bekannt. Weder ihm, noch dem weltweiten Netz. Es konnte sich natürlich um einen Scherz handeln. Aber was, wenn nicht? Er sah auf die Uhr und ging dann scheinbar zufällig an die Fensterfront, um einen Blick hinauszuwerfen. Wulvsen kam mit drei ihm nicht bekannten Menschen vom Parkplatz auf das Restaurant zu. Mist. Timmermann musste leider fort. Rasch lief er zu seiner Vertreterin Frau Stegner.

„Wulvsen kommt. Selbst. Möglicherweise ist Hönnes ein Geschäftspartner oder nur Tarnung. Geben Sie Ihr Bestes, wir sind schließlich stolz, Wulvsen als Stammgast zu haben.“ Dann eilte er davon.

Stegner hatte keine Zeit, ihn zu fragen, wer von den drei Männern, die jetzt mit einer Frau um die sechzig das Restaurant betraten, Wulvsen war, denn sie selbst kannte ihn nicht. Die anderen Kollegen zu fragen, würde auch nichts nutzen, denn die Geschäftsführerin hatte die Mannschaft unlängst ausgetauscht; außerdem würde sie sich diese Blöße nicht geben. Unsicher trat sie auf die vier Personen zu. Ein gutaussehender Mann Ende zwanzig, die ältere Frau, ein Mann in dem Alter der Frau in einem distinguiertem Anzug, ein Mann um die vierzig, vielleicht jünger, ebenfalls in einem Anzug. Von der Stange, wie Stegner einschätzte. Ebenso schätzte sie, dass der Lenker eines Weltkonzerns wohl etwas älter sein müsste.

„Guten Abend, was kann ich für Sie tun?“ Sie sah den älteren Mann an, der wiederum den mittleren Mann, dann die Frau etwas hilflos ansah, die dann aber „Hönnes, wir haben … äh, für uns ist auf den Namen Hönnes reserviert.“, stammelte. Stegner führte die Gruppe an einen festlich eingedeckten Tisch und winkte einem Kellner. Sie persönlich schob den Stuhl unter den älteren Mann, von dem sie ausging, dass er Wulvsen sei, obwohl sie sein Verhalten etwas verstörend fand.

„An Tisch sechs haben wir heute Abend Herrn Doktor Wulvsen mit Geschäftspartnern. Also bitte besondere Aufmerksamkeit.“, gab sie Order an die Kellner und das Küchenpersonal. Sie selbst hatte natürlich ein besonderes Auge auf den Tisch mit den besonderen Gästen und gab auf alles acht.

„Was haben sie zu trinken bestellt?“, wollte sie demnach wissen.

„Der Junge und der Mittelalte Bier und das Paar Wein.“ Typisch, dachte die brünette Stegner, dann ist alles klar. Ein Wulvsen würde in dem besten Restaurant am Platze wohl kaum Bier trinken.

Der Kellner stellte die Biere vor Wulvsen und Hönnes Junior mit einem geringschätzigen Blick ab und ließ dann ein paar Tropfen des Weines, der dem alten Hönnes viel zu teuer vorgekommen war, in dessen Glas fallen. Ein paar Sekunden geschah nichts. Hönnes wunderte sich, dass der Kellner das Glas nicht weiter füllte, oder wenigstens ging. Seine Frau dachte das gleiche, kramte aber in ihrem reichlich gefüllten Archiv von Filmszenen in ihrem Kopfe nach vergleichbaren Beispielen. Der Junior sah seinen Vater dringlich an, drang aber nicht durch. Endlich hielt Wulvsen sein Glas dem Jungen entgegen und meinte neutral: „Gut, dass man dies hier nicht vorkosten muss.“ Frau Hönnes wurde dank dieser Hilfe fündig und dachte an Paul Newman und Julia Roberts, bei ihrem Mann fiel endlich der Groschen und der Sohn prostete Wulvsen dankbar und fürs erste aufatmend zu.

„Ähm, ja.“, murmelte Hönnes, als die Tropfen auf seiner Zunge verdampft waren, was zur Folge hatte, dass der Kellner sein Glas halb füllte und ebenso mit dem seiner Frau verfuhr; dann wurden die Karten gereicht.

Wulvsen schwante spätestens, als der Kellner die Bestellungen aufnahm, was gespielt wurde, denn Hönnes wurde als erster nach seinen Wünschen gefragt, was eigentlich der Dame am Tisch zustand. Da er das Personal noch nie gesehen hatte, vermutete er eine Verwechslung und war bereit, bis zu einem gewissen Punkte die Komödie mitzuspielen.

Der erste Akt bestand darin, dass Hönnes, der sein leer gewordenes Glas selbst wieder füllen wollte, die Flasche vom Kellner aber fast aus der Hand gerissen wurde, um ihn von dem selbständigen Tun nach der Sitte des Hauses abzuhalten. Das hätte man nach Wulvsens Meinung auch besser regeln können und so zogen sich seine Brauen zusammen.

Der zweite Akt brachte dann das amuse du geule zeitgleich mit der Vorspeise, und zwar ohne Entschuldigung. Da dies den Hönnes, auch dem Nachwuchs, egal zu sein schien, mischte sich Wulvsen nicht ein, machte aber ein reichlich missmutiges Gesicht.

Als die Suppe sich aber als Kaltschale faktisch entpuppte, obwohl sie schriftlich durchaus anders propagiert worden war, raunzte Wulvsen („Die Suppe ist kälter als das Bier.“) den Kellner mit einem Gesichtsausdruck an, der jedem einen gehörigen Schrecken eingejagt hätte, der jedoch, weil der Kellner nicht hinsah, nur zu einem Schulterzucken führte und dazu, dass dieser ohne weitere Reaktion am Tische vorbeistrebte.

„Was war?“, fragte die schlanke Stegner dringlich und leise interessiert.

„Suppe zu kalt, Bier zu warm.“, meinte der Mann lapidar. Die Stegner nahm Kurs auf den Vierertisch.

„War etwas nicht in Ordnung?“, fragte sie Hönnes überbetont höflich, der seinen Exchef hilfesuchend daraufhin ansah.

„Die Suppe ist kalt.“, stellte dieser klar, doch die Stegner sah immer noch Hönnes an, der nun stotterte: „Also, eigentlich, … es ging doch.“ Der Bube sah Wulvsen an und Frau Hönnes in ihre Suppe, die kalte.

Triumphierend ließ Stegner die Teller abräumen und Wulvsen bestellte ein Frustbier, schließlich wollte er Hönnes den Abend nicht verderben.

Das nächste Bier bestellte er, als der junge Hönnes nicht gefragt wurde, wie er sein Steak gebraten haben wollte. Da er die Familie noch nach Hause bringen wollte, schwor er sich, den nächsten fauxpas technisch zum Anlass zu nehmen, die Stühle im übertragenen Sinn gerade zu rücken, denn ein weiteres Bier war aus Verkehrsordnungsgründen jetzt nicht mehr drin.

Das war dank Claudius Timmermann auch nicht mehr notwendig, denn der Oberkellner konnte die Auslieferung der Desserts zur Unzeit, als nämlich noch das Geschirr des Hauptganges auf dem Tisch des Jetztrentners ruhte, im letzten Augenblick stoppen, und bewahrte somit auch Juliane Stegner vor einigen weiteren Peinlichkeiten und einem Canossagang zur Geschäftsführerin, allerdings nicht vor der Erkenntnis, dass teure Anzüge nicht immer auf den ersten Blick so aussehen müssen und nicht vor der Ermahnung Wulvsens, unbedingt keine Festlegungen aufgrund von Äußerlichkeiten zu treffen, die sie mit hochrotem Kopf entgegennahm und sich wünschte, sie stünde auf einer Falltüre, die unter ihr aufgehen möge.

„Muss etwa ich Ihnen die Grundzüge Ihres Jobs vermitteln?“, fragte Wulvsen streng und unter der Beobachtung seiner blasser werdenden Gäste.

„Sicher nicht.“, antwortete sie kleinlaut.

„Dann beherzigen Sie, was ich Ihnen gesagt habe.“ Stegner nickte eifrig, so etwas würde ihr sicher nie wieder passieren, dachte sie nervös und rang die Hände.

„Bitte …“, stammelte die junge Frau. Wulvsen sah die Dame eine Weile nachdenklich an und machte dann eine wegwerfende Handbewegung.

„Keine Sorge, ich erzähle nichts weiter.“, beruhigte er sie, was zu kollektivem Aufatmen beim Servicepersonal führte, denn Wulvsen war gerüchteweise durchaus auch hier nicht unbedingt für seine Nachsichtigkeit bekannt. Einzig Timmermann blieb skeptisch, und wenn Stegner Wulvsen gekannt hätte, wäre ihr zwar ihr Lapsus erst gar nicht passiert, sie hätte jedoch auch nicht voreilig aufgeatmet, als sich die Tür hinter den vier scheidenden Gästen geschlossen hatte, denn zwei Minuten später stand Roger Wulvsen höchstselbst wieder vor ihr, nachdem er ebendiese Tür geräuschvoll zugeworfen hatte, und zwar von Innen, und sah sie von oben an. Timmermann war hinter dem Buffet in Deckung gegangen.

„Jetzt hören Sie mal zu, Sie Laienkellnerin. Wenn ich alleine gewesen wäre, und die drei netten Leute sich nicht noch eben für Sie verwendet hätten, wäre das hier nicht so glimpflich für Sie abgegangen.“ Er suchte mit seinem Blick anderes Personal, und wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte, wurde erwischt und konnte von Glück sagen, dass Roger Wulvsens Blicke keine körperlichen Schäden anrichten konnten. „Und das trifft auf den Rest der Belegschaft ebenso zu. Grüßen Sie Hilde von mir.“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Am späten Abend setzte er die angesäuselten und verstörten Hönnes‘ an deren Reihenhaus ab und fuhr mit seinem Chefauto nach Hause. In den nächsten Tagen würde sich der neue Fahrer vorstellen, den Dornhege noch eingeladen hatte. Man würde sehen. Er konnte sich immer noch ärgern, dass er nicht daran gedacht hatte, rechtzeitig auszuschreiben, denn von Leuten gefahren zu werden, die die ganze Zeit devot schwiegen, oder übervorsichtig fuhren, wie die Ersatzfahrer, fand er anstrengend. Vielleicht würde er doch noch ausschreiben müssen. Initiativbewerbungen konnte man nämlich meist abhaken, denn die Leute wussten ja gar nicht, was von ihnen erwartet würde. Er müsste unbedingt noch einen Blick in die Bewerbungsunterlagen werfen.

Das elektrische Tor schwang auf, bevor er sein Grundstück erreichte, dann passierte er die Natursteinmauer und fuhr die geschotterte Zufahrt zu seiner alten Villa hinauf.

Er betrat das leere Haus, machte Licht und sah, dass die Putzfrau ganze Arbeit geleistet hatte.

Sie hatte sogar die Anzüge, die die Reinigung gebracht hatte, an die Garderobe gehängt.

Seine Schritte hallten durch die Eingangshalle, von irgendwo her war das Ticken einer Uhr zu hören. Noch auf der Treppe entfernte er die Krawatte von seinem Hals und knöpfte die Weste auf. Im Obergeschoss hallte nichts mehr, dafür sorgte der dicke Teppichboden. Bevor der Alte sein Schlafzimmer betrat, sah er den langen Flur entlang, von dem ein paar Zimmer abgingen, die er als Gästezimmer hatte herrichten lassen, die aber äußerst selten Gäste beherbergten, schließlich könnte er sich nicht auch noch um Hausgäste kümmern, und Hauspersonal kam ihm, außer einer Reinemachfrau, nicht ins Haus.

Beim Einschlafen dachte er noch kurz darüber nach, dass ihm eigentlich auch eine große Eigentumswohnung in der Stadt reichen würde, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, denn er mochte seinen großen Garten und die ländliche Umgebung, und wo sollten Kinder in der Stadt schon spielen. Dieser letzte Gedanke erreichte Roger Wulvsen aber schon im Reich der Träume, so dass er sich am nächsten Morgen nicht mehr an ihn erinnern konnte.

Wulvsen erhob sich lächelnd, als sein Freund von dem Oberkellner an seinen Tisch geleitet wurde.

„Jürgen, schön, dass du mir beim Essen Gesellschaft leisten willst.“ Die Männer gaben sich die Hände und Link orderte ein Getränk.

„Schönen Dank für die Einladung, Roger. Ich bin nicht ganz uneigennützig hier.“

„Ja klar.“, lachte Wulvsen. „Du hast Hunger und gleich gibt’s vorzügliches Essen.“ Link schüttelte lächelnd den Kopf.

„Neinnein, darum geht es nicht. Jedenfalls nicht nur. Wir sind jetzt soweit.“ Roger schaute etwas dumm.

„Wer ist wieweit?“ Jürgen lachte.

„Das weißt du doch, schließlich war das mit der Dienstleistungsfirma deine Idee. Unsere Reinigungsfirma steht, und die Damen könnten loslegen.“ Roger nickte.

„Gut, dann schicke mir die Unterlagen. Direkt an mich.“ Link hob die Augenbrauen.

„Persönlich?“

„Persönlich. Die Sache soll doch ein Erfolg werden, und außerdem habe ich momentan keinen Personalchef.“ Link sah seinen Freund eigenartig an.

„Es gibt nur ein Problem.“, gab Jürgen zu bedenken.

„Probleme sind dazu da, dass man sie löst, das weißt du doch.“, lachte Wulvsen. „Worin besteht das Problem?“

„Die Damen müssen von ihrer Arbeit leben können, manche haben eine Familie zu ernähren, haben Kinder …“ Roger unterbrach seinen Freund durch eine Geste mit der Hand.

„Das ist kein Problem, wenn sie anstandslos ihre Leistung erbringen.“ Link nickte. So kannte er seinen Freund: immer zupacken, nie etwas liegenlassen, fördern und fordern. Dennoch war etwas neu.

„Du weißt doch schon seit Jahren, dass ich solche sozialen Projekte durchführe. Bisher hast du dich zwar dafür interessiert, aber wirklich etwas dazu beitragen wolltest du nicht. Wieso hast du es dir anders überlegt?“ Roger sah ihn an und schien dann ernsthaft zu überlegen.

„Du hast recht. Und du untertreibst, Jürgen.“, nickte er nachdenklich. „Ich fand das bisher manchmal sogar übertrieben. Zu kuschelig, verstehst du?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was mich umgestimmt hat.“ Er lachte. „Vielleicht ist es eine gewisse Altersmilde.“ Doch das Alter war es nicht, was sein Interesse hervorgerufen hatte, vielmehr hatte die Bekanntschaft mit einem kleinen Mädchen dazu geführt, dass Roger Wulvsen so manchen Abend im Dunkeln und in seinem Nachdenksessel in seiner Bibliothek gesessen hatte und mit steigendem Erfolg sich in die Lebenssituationen anderer Menschen hineinzuversetzen versucht hatte. Irgendwann hatte er dann beschlossen, dass gerade die Personen, denen Link zu helfen versuchte, ihre Chance verdient hätten, denn sein Freund war alles andere als ein Sozialromantiker, und daran, so dachte Roger Wulvsen, hätte er selbst einen gewissen Anteil. Roger Wulvsen, aber das hätte er in diesem Falle und zu diesem Zeitpunkt nicht zugegeben, war stolz auf sich und seine neu entdeckte Empathie.

Die dicke, dunkle Holztür flog auf und ein intellektuell aussehender, das bedeutet Brille, Geheimratsecken und fahle Haut, Mittdreißiger stürzte aus dem Chefbüro und beeilte sich, die Tür zum Flur zu erreichen. Hinter ihm flog ein Aktenordner durch die noch offene Chefbürotür und ein gebrülltes „Kümmern Sie sich besser um die wirklich wichtigen Dinge; zum Beispiel die wirtschaftliche Entwicklung des Konzerns, Sie Pfennigfuchser!“, dann schloss sich die Tür zum Allerheiligsten und die drei Frauen sahen sich an. Hätte Ella bleich werden können, wäre sie es geworden, so merkte man nur an ihren zitternden Händen, dass sie äußerst nervös geworden war. Tonias Gesichtshautfarbe war von dem gewohnten Braun mit Oliveneinschlag zu einem hellen Mausgrau mutiert; ihr zitterten nicht die Hände, sondern die Unterlippe. Gemeinsam war den beiden Neuen jedoch der Gedanke, dass sie hier nicht bleiben könnten und wollten.

„Herr Dörfert, wollen Sie Ihren Ordner nicht mitnehmen?“, rief Rehbein dem Chefcontroller hinterher, der bereits in der offenen Tür stand. Dörfert stoppte, drehte sich hastig um und bückte sich, um den Ordner aufzuheben. Gehetzt sah er die drei Frauen an.

„Sicher.“, flüsterte er mit hochrotem Kopf, um dann zu verschwinden.

Dörfert war den beiden Neuen vor einer halben Stunde ganz nett vorgekommen; er hatte sich vorgestellt und ein paar Worte mit ihnen gewechselt, die sich nicht um das Wetter gedreht hatten. Daher waren sie ziemlich konsterniert, wie der Alte mit augenscheinlich netten Menschen umging.

„Was war das denn?“, fragte Ella.

„Kommt das öfter vor?“, wollte Tonia wissen. Rehbein sah die beiden an.

„Ja, das kommt öfter vor und ich weiß es nicht. Dörfert wollte mit ihm über die Kosten der Reinigung sprechen. Keine Ahnung, warum er so reagiert hat.“ Damit war für Rehbein die Sache offenbar erledigt.

„Rehbein! Die Termine!“, schrie es aus dem Lautsprecher. Das mit dem ‚bitte‘ klappte eben nicht immer.

„Ja, Herr Dr. Wulvsen.“ Rehbein nahm den Kalender und stand auf.

„Da wollen Sie jetzt rein?“, fragte Ella entgeistert und Tonia wartete mit Spannung auf die Antwort. Rehbein lächelte die beiden tapfer an und sagte sanft:

„Aber ja.“

Ihre Selbstsicherheit, mit der sie das Chefzimmer nun betrat, rührte aus vergangenen Begebenheiten, bei denen sich die nunmehr angehende Pensionärin, ausgestattet mit einer genügenden Portion Selbstbewusstsein, den Launen des Alten entgegengestemmt hatte und ihn immer häufiger auf Normaltemperatur hatte bringen können. Doch diesmal sah die Sache anders aus und die Dame mit dem grauen Pagenschnitt stutzte, als sie Wulvsen hinter seinem Schreibtisch sitzen sah. Die Krawatte hing locker um seinen Hals, der Hemdkragen war geöffnet, die Jacke über die Lehne seines Stuhles gehängt. Das war noch nichts Ungewöhnliches, aber alles andere schon. Die Brote hatte er noch nicht angerührt, sein Schreibtisch war übersäht mit zusammengeknülltem Papier, sein Kopf war hochrot, das Kinn vorgestreckt, die Fäuste geballt, das graue Haar wirr. Zum ersten Mal ahnte Rehbein, die Unerschütterliche, nichts Gutes. Sie trat zögerlich näher und nahm ihm gegenüber Platz. Er beruhigte sich glücklicherweise, als sie anfing, die noch offenen Termine des Tages und darüber hinaus mit ihm durchzugehen.

„Donnerstagvormittag kommen die Koreaner …“

„Ich weiß.“, brummte Wulvsen. Rehbein atmete einmal tief durch und arbeitete dann mit ihm die Liste ab.

„ … Am Nachmittag kommt dann die neue Fahrerin. Sie wartet draußen beim Auto.“, erklärte sie abschließend und erleichtert, die Viertelstunde ohne größeren Unfall überstanden zu haben. Doch ihre Erleichterung erwies sich als vorschnell. Er reckte seinen Kopf erst in die Höhe, dann nach vorne.

„Welche Fahrerin?“, fragte er leise und Rehbeins Alarmglocken läuteten.

„Dornhege hatte sie für Donnerstag eingeladen; sie hatte sich, glaube ich, initiativ beworben, weil wir ja nicht ausgeschrieben hatten. Sie ist die einzige Kandidatin.“ Wulvsen grummelte vor sich hin, weil genau das sein Versäumnis gewesen war. Laut zugeben wollte er das aber nicht.

„Warum weiß ich nichts von diesem Termin? Dornhege ist gefeuert! Der Fahrer ist eine Vertrauensperson! Ich verbringe eine Menge Zeit im Auto! Wer kommt denn auf so eine Schnapsidee?! Wer ist hier eigentlich der Chef?“, brüllte er irrational. Rehbein atmete tief durch.

„Aber Sie haben doch die letzte Entscheidung.“, wagte Rehbein einzuwenden. Oder ist er doch so sehr Macho, dass er sich eine Frau hinter seinem Chefwagenlenkrad nicht vorstellen kann?, dachte sie. Der Alte sprang auf.

„Das wäre ja noch schöner! Raus jetzt!“, rief er ohne Sinn und Rehbein beeilte sich, ihm die Unterlagen der Bewerberin auf den Tisch zu legen und das erste Mal seit Jahren, das Allerheiligste eiligst zu verlassen.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, musste sie eine kurze Weile innehalten und tief durchatmen, was den beiden Neuen keinen Mut machte. Als sie sich wieder gesetzt hatte und zur Ablenkung Papiere sortierte, fragte Tonia mitfühlend: „War es so schlimm?“ Rehbein sah die junge Frau an und murmelte: “Schlimmer.“

Das kleine Mädchen saß auf einer Schaukel. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen; weder andere Kinder noch Erwachsene, wieder mal. Er konnte es immer noch nicht fassen und sich selbst mal wieder ein Herz. Er musste sich nicht um einen freundlichen Gesichtsausdruck bemühen, der gelang mittlerweile nicht nur leidlich, sondern entsprang einer ehrlichen Freude, und setzte sich auf die Schaukel neben dem Mädchen, das ihn mit großen, braunen Augen ansah und ihn anscheinend schon erwartet hatte. Sein dunkelbraunes, normalerweise gelocktes Haar war in zwei Zöpfen gebändigt, die ihm über den Ohren vom Kopf abstanden. In den kleinen Händen hielt es vorsichtig einen großen Umschlag.

„Hallo.“, grüßte er und sah geradeaus, das Mädchen aber ihn an.

„Du siehst aber wieder komisch aus.“, lispelte sie und zeigte an ihre Stirn. Der Mann zog das Stirnband vom Kopf und wrang es erfolgreich aus.

„Das ist ein Schweißband.“, erklärte er.

„Was ist ein Schweißband?“

„Das verhindert, dass mir der Schweiß in die Augen läuft.“

„Warum schwitzt du so?“

„Ich renne in der Gegend rum, das weißt du doch mittlerweile.“

„Warum machst du das?“

„Ich sitze den ganzen Tag und brauche einen Ausgleich; deshalb laufe ich. Manchmal laufe ich nach der Arbeit, manchmal zwischendurch, und das meist hier.“, erklärte er und offenbarte damit durchaus Entscheidendes. Das Mädchen legte den Kopf schräg.

„Warum sitzt du denn so viel?“

„Ich sitze am Schreibtisch und arbeite.“

„Im Büro?“

„Im Büro. Warum bist du eigentlich immer alleine hier?“

„Ich warte auf meine Tante.“ Die Tante also.

„Warum ist deine Tante nicht hier?“

„Sie kommt gleich.“

„Ist sie nur mal kurz fortgegangen?“

„Nein, sie ist arbeiten.“ Wulvsen sah das Kind erschrocken an.

„Sie geht arbeiten und stellt dich hier ab? Jeden Tag?“, fragte er entsetzt, denn er könnte ja nicht den ganzen Tag dem Kind Gesellschaft leisten, schließlich hatte er eine Firma zu leiten. Das Mädchen kicherte und zeigte mit krummem Zeigefinger auf den Kindergarten, der an den Spielplatz grenzte.

„Sie bringt mich morgens da hin und holt mich nachmittags hier ab.“ Wulvsen atmete erleichtert auf, war aber mit dieser Antwort noch nicht ganz zufrieden.

„Wieso wartest du nicht im Kindergarten auf deine Tante?“

„Die haben schon zu.“ Aha.

„Kann deine Tante nicht eher kommen?“

„Sie muss doch arbeiten.“

„Wie lange musst du auf sie warten?“ Das Mädchen zuckte die Schultern.

„Weiß nicht.“ Eine schlanke, langschwarzhaarige Frau näherte sich dem Spielplatz.

„Da ist meine Tante.“, rief die Kleine und winkte der Frau zu. Wulvsen erhob sich und sagte:

„Tschüss.“ Er drehte sich noch einmal um. „Wie heißt du eigentlich?“

„Martha.“, erklärte Martha. Er nickte und trabte los. Martha musste also offenbar nur ein paar Minuten auf ihre Tante warten, was ihn einigermaßen beruhigte.

Er hatte einfach keine Lust auf eine Unterhaltung mit der Tante des Mädchens gehabt, mit dem Mädchen hätte er allerdings gerne noch weiterhin gesprochen. Es hatte irgendwie … gut getan. Martha. Gut. Schöner Name. Womöglich hätte die Tante ihm Vorhaltungen gemacht, weil er sich mit ihrer Nichte unterhielt. Ein Wort hätte das andere gegeben und schließlich hätte sie wissen wollen, wer er wäre. Danach hätte es keine unbeschwerten Gespräche mit Martha mehr gegeben.

Dr. Roger Wulvsen, der von sich selbst annehmen wollte, mit einigen Ausnahmen so gut wie gar nichts dem Zufall zu überlassen, in der Regel an fast alles zu denken, was wichtig war, in der Lage war, sein Leben so ziemlich durchzustrukturieren, hatte keinen Augenblick daran gedacht, nach dem Familiennamen des kleinen Mädchens zu fragen, und auch später verschwendete er keinen Gedanken an dieses Versäumnis.

Der Bote legte einen Packen Schnellhefter auf den Aktenbock neben Rehbeins Schreibtisch.

„Das ist für den Alten persönlich.“, erläuterte er.

„Für Sie immer noch Herr Dr. Wulvsen.“, tadelte Rehbein, so dass der Bote errötete und schnell verschwand. Rehbein warf einen Blick auf das Begleitschreiben. Tatsächlich, ‚Herrn Dr. Wulvsen persönlich’ stand darauf. Sie schlug den ersten Schnellhefter auf. Personalunterlagen. Die Reinigungsfirma, mit der in den letzten Tagen ein Vertrag abgeschlossen worden war, den der Alte selbst unterschrieben hatte, hatte die Unterlagen der Reinigungskräfte geschickt. Seltsam.

„Ich habe einen Mann kennengelernt.“, trompetete Martha, als sie an Tanjas Hand mit ihrer Tante zur Bushaltestelle ging. Tanja verstaute die bunten Urkunden, die Martha heute bei einer Wissensolympiade im Kindergarten eingeheimst hatte, sorgfältig in ihrer Tasche. Martha hatte vier erste Plätze errungen, nur beim Buchstabieren hatte es lediglich für Rang drei gereicht. Tanja runzelte die Stirn.

„Was für einen Mann?“

„Ein alter Mann.“

„Wie alt ist er denn?“ Martha zuckte die Schultern.

„Er hat schon graue Haare.“ Soso.

„Aha. Und wie hast du ihn kennengelernt?“

„Er läuft.“ Okay, Martha stellte sie mal wieder auf die Geduldsprobe, also atmete Tanja einmal tief durch.

„Wo läuft er?“

„Am Kindergarten vorbei. Manchmal. Er hat ein Schweißband.“, erklärte die Kleine stolz.

„Ein Jogger?“ Martha nickte. „Hat er dich angefasst?“ Tanja konnte eine gewisse Besorgnis nicht verbergen.

„Nein. Er arbeitet in einem Büro.“

„Fragt er dich aus?“

„Wir unterhalten uns nur. Er ist nett. Er hat sich schon ein paar Mal mit mir unterhalten.“ Ihre Behauptung über das Wesen des Läufers kam Martha zwar etwas vorschnell vor, denn schließlich hatte er ihr bei ihren ersten Begegnungen schon ein wenig Angst eingejagt, aber das wollte das Mädchen schnell vergessen, und es hatte beschlossen, dass der letzte Eindruck der maßgebliche sein sollte, und damit lag sie, was Rogers Verhältnis zu ihr anlangte, durchaus richtig.

„Du hättest mir schon früher von ihm erzählen sollen.“, mahnte Tanja pädagogisch.

„Ich weiß, aber er ist doch nett.“

„Ist ja gut. Wie heißt er?“

„Keine Ahnung.“

„Frag ihn.“

Der Kelch der Arbeitslosigkeit war diesmal an Tanja vorübergegangen, sie hatte ihre mittägliche Stelle behalten können. Vorläufig. Allerdings würde sie sich schleunigst etwas anderes suchen müssen, denn sie lebten schon jetzt von der Substanz, und die war nicht besonders üppig.

Wulvsen lehnte sich zufrieden zurück und schob den Stapel mit den Unterlagen der neuen Reinigungsfirma an die Seite. Natürlich hatte Dörfert Recht gehabt, dass die Reinigungskosten künftig höher wären als bisher, aber das würde er in Kauf nehmen, ohne seinen Controller in seine Beweggründe einzuweihen. Sein Freund Jürgen hatte gut ausgewählt; jedenfalls sah die Aktenlage so aus. Die Damen würden aller Voraussicht nach ihre Chance nutzen.

Roger Wulvsen hatte also die neuen Reinigungskräfte kennengelernt, indem er die entsprechenden Akten studiert hatte. Sein Vertrauen in seinen Freund, das er durch dieses Studium bestätigt sah, führte allerdings dazu, dass er es nicht für nötig befand, sich auch künftig mit neu eingestelltem Reinigungspersonal durch einen Blick in die entsprechenden Papiere zu beschäftigen, und so konnte es passieren, dass er im weiteren Verlauf mehrere Überraschungen erlebte.

Gegen Mittag traf die südkoreanische Delegation ein. Der in der Zentrale für Ostasien zuständige Abteilungsleiter erschien persönlich im Vorzimmer, um sie anzukündigen, und das hatte einen guten Grund. Er verstand sich nämlich gut mit der Chefsekretärin und konnte so die Stimmungslage des Alten, die immer entscheidend war, ausloten.

„Sie sind da.“, sagte er, „Wie ist die Lage?“ Er sah in ein bedauerndes Gesicht der Chefsekretärin. „Ach du Scheiße.“, war sein Kommentar.

Elke Rehbein war im Prinzip guter Hoffnung, dass der Abteilungsleiter Ostasien die kommende Sitzung überleben würde, bei den Koreanern war sie sich nicht ganz so sicher, denn der Alte hatte seit ein paar Tagen eine wirklich schlechte Laune, und das lag unter anderem daran, dass Hönnes in Rente gegangen war, und immer noch kein neuer Fahrer zur Verfügung stand. Vielleicht könnte er sich ja doch für diese Frau erwärmen. Die schlechte Laune des Alten resultierte aber nicht nur aus diesem Mangel, sondern mindestens zur Hälfte aus seinem Ärger über sich selbst, weil er schlichtweg nicht daran gedacht hatte, für eine reibungslose Nachfolge zu sorgen. Die Inhalte der anstehenden Besprechung, die durchaus Brisanz besaßen, beeinträchtigten seine Gemütsverfassung hingegen kaum, obwohl die Forderungen der Asiaten überzogen waren, wie die Sekretärin fand. Rehbein rechnete es ihm hoch an, dass er seinen Ärger nicht an den Ersatzfahrern oder an ihr abreagierte, so gerecht war er nun doch.

„Dreiundzwanzig.“ Damit wies Rehbein den Besprechungsraum an und erhob sich langsam, um dem Alten den Termin in Erinnerung zu bringen. Sie steckte den Pagenkopf durch den Türspalt, sah den Chef wie wild auf der Tastatur seines Computers herumhämmern und sagte vorsichtig: „Die Koreaner sind da.“ Es erfolgte keine Reaktion, daher versuchte sie es noch einmal: „Die …“

„Ich habe verstanden!“, brüllte Wulvsen, mit dem Erfolg, dass nebenan die beiden jungen Frauen die Köpfe hochrissen und sich ihre Augen weiteten. Nachdem Rehbein sich wieder gesetzt hatte, geschah seltenes: Wulvsen stürmte hemdsärmelig und mit wehender Krawatte aus seinem Zimmer, durchmaß, ohne einen Blick auf die Anwesenden zu werfen, das Vorzimmer und stürmte davon. Rehbein atmete erleichtert aus.

„Die sollten sich warm anziehen.“, murmelte sie.

Als der Konzernlenker 23 kampflos erobert hatte, staunten die Asiaten nicht schlecht. Statt eines distinguierten Herren stand ihnen grußlos ein Kampfstier gegenüber, der zudem noch unangemessen gekleidet war. Sie begannen, den Gerüchten Glauben zu schenken, und hatten damit mindestens die erste Runde schon verloren. Sie hätten sich damit trösten können, dass zu diesem Zeitpunkt hierin kein Mensch auf der Welt hätte punkten können, außer vielleicht ein kleines Mädchen, aber dies wussten sie nicht. Der anwesende Abteilungsleiter berichtete später hinter vorgehaltener Hand, dass die Gäste kaum zu Wort gekommen seien und der Alte ihnen seine Bedingungen quasi diktiert hätte. Seinen Enkeln würde er allerdings eine andere Geschichte erzählen, die seine Rolle, die real gar keine gewesen war, in ein gutes Licht stellte.

„Na, wie war es?“, fragte Rehbein den Abteilungsleiter, der ziemlich geschafft im Vorzimmer erschienen war.

„Ich habe so etwas noch nicht erlebt, und das sage ich, obwohl ich es jede Woche sagen könnte. So eine Energie! Er hat sie ausgezogen, ohne dass sie das gemerkt haben, Rehbein. Ich bin nur froh, dass ich nicht in ihrer Haut gesteckt habe. Mannomann. Immerhin war der Vizewirtschaftsminister dabei. Diplomatie ist garantiert nicht seine Stärke.“

„Täuschen Sie sich nicht, wenn es drauf ankommt, kann er auch anders.“, behauptete Rehbein selbstsicher.

„Das scheint aber selten zu passieren. Ich habe ihn jedenfalls bisher nicht anders als als Dampframme erlebt.“ Tonia und Ella konnten ein Kichern gerade noch vermeiden.

Als der Abteilungsleiter gegangen war, fragte Ella zweifelnd: „Kann er wirklich diplomatisch sein?“ Rehbein lachte.

„Ich habe es zwar noch nicht erlebt, aber ich denke schon, das heißt, ich hoffe es eher. Dem Unternehmen hat seine Art allerdings noch nicht geschadet.“

Der Erfolg der asiatischen Begegnung führte nun dazu, dass Wulvsen nicht wieder in sein Zimmer strebte, sondern, außerordentlich und für ihn selbst eigentlich auch nicht erklärlich, den normalen Lift in die Eingangshalle nahm, um eine potenzielle Fahrerin vor dem Gebäude zu treffen und sie von der Zwecklosigkeit ihrer Bewerbung zu überzeugen, was zu schaffen er sich nach dem eben beendeten Geschäftsgespräch als Leichtigkeit vorstellte. Innerlich unter Druck, schoss er aus dem Aufzug an ängstlich vor dem grimmigen Mann zurückweichenden Wartenden, einer Wachfrau, einer Rezeptionistin, die sich sicherheitshalber am Empfangstresen festhielt und dem glatzköpfigen Pförtner, der mit einem Blick auf ein Foto seines Chefs, das er vorsichtshalber, damit er ihn im Zweifelsfalle erkenne, auf seinem Tisch liegen hatte, erkannte, um wen es sich bei dem Eiligen handelte und der sofort den Kalendertag rot einkreiste, weil er heute nach fünf Jahren zum ersten Mal seinen obersten Vorgesetzten gesehen hatte, vorbei und auf die elektrische Drehtür zu, die ihm eindeutig zu langsam lief. Und dann stand er draußen und wusste selbst nicht genau, warum. Ein Grund fiel ihm allerdings spontan ein. Direkt vor der Tür stand nämlich ausnahmsweise sein Mercedes, und wurde von einer großgewachsenen, blonden Frau mit, wie er herausfand, stahlblauen Augen, umrundet. Er hielt inne, ließ sich Zeit, beobachtete die Frau eine Weile und musste zu seiner eigenen Überraschung feststellen, dass sein Ärger zum großen Teil verraucht war, was er der äußeren Erscheinung der Frau wenigstens zum Teil, aber nur widerwillig zuschreiben wollte.

Mit weichen Knien schlenderte Svenja betont langsam über den leeren Vorplatz auf das verglaste Hochhaus zu, der Konzernzentrale von Wulvsen. Noch hätte sie Zeit umzukehren, aber das war nicht ihre Art. Überhaupt nicht. Vor dem Eingang stand eine schwarze R-Klasse in Langversion. Sie hatte sich immer schon gewünscht, ein solches Auto zu fahren und umrundete es interessiert. DO-RW-2, lautete das Kennzeichen. Plötzlich stand ein unscheinbarer Mann im Hemd vor ihr, und fragte, ob sie das Auto kaufen wolle.

„Wollen Sie ihn kaufen?“, fragte er, mit untypisch in die Hosentaschen gesteckten Händen provokativ. Die Frau, sie mochte Anfang dreißig sein, was aber auch täuschen konnte bei ihrem eher maskulinen Typ, sah ihn mit gerader, schmaler Nase, hohen Wangenknochen, gebräunter Haut und etwas schmallippig, also umwerfend schön, an und schüttelte den Kopf.

„Nicht meine Preisklasse.“, meinte sie mit dunkler Stimme und musterte den Grauhaarigen mit der unkonventionellen Kleidung abschätzig.

„Sind Sie der Leiter des Fuhrparks?“, wollte sie dann noch wissen. „Ich habe nämlich jetzt ein Vorstellungsgespräch.“ So ein Zufall, dachte sich Roger, das ist also die Möchtegernfahrerin, die Initiativbewerberin. Aus irgendeinem Grunde schickte er die Frau nicht direkt nach Hause, wie er das noch vor ein paar Wochen gemacht hätte, sondern entschloss sich, sie ein wenig näher kennenzulernen, später könnte man ja weitersehen, denn sie hatte sich ausdrücklich als Cheffahrerin beworben, und da er in diesem Zusammenhang davon ausgehen musste, dass alle Welt wusste, wer bei Wulvsen der Chef war, musste ihr entweder etwas entgangen sein, oder sie liebte das Risiko.

„In gewisser Weise bin ich der Leiter, ja.“, entgegnete er kryptisch, aber nicht unfreundlich. Die breitschultrige Blondine, die ihr Haar hochgesteckt hatte, in schwarzem Hosenanzug und weißer Bluse daherkam, legte ihren Kopf schräg, was der vermeintliche Fahrdienstleiter nun wieder ganz apart fand.

„Ich bin mit einem Herrn Dornhege verabredet.“ Rogers Miene, die gerade noch den Eindruck erwecken konnte, als wolle sie ein sehr frühes Morgengrauen darstellen, verfinsterte sich.

„Der ist nicht mehr hier beschäftigt.“, wurde sie brummend informiert; spätestens nach dieser Aktion hätte er seine Kündigung verdient gehabt, dachte Wulvsen.

„Vertreten Sie ihn?“, wollte nun die Blonde Näheres erfahren.

„In welcher Funktion?“, fragte der Alte lauernd und eine Antwort vermeidend zurück, und die Blonde mit der umwerfenden Figur zuckte die Schultern.

„Na ja, ich hatte einen Termin mit dem Personalchef.“, schlug sie eine Möglichkeit vor, erhielt aber keine als befriedigend anzusehende Antwort.

„Fahren wir erstmal das Auto in die Garage.“, gab der Alte stattdessen das weitere Vorgehen vor und kramte den Schlüssel aus seiner Hosentasche. „Sie fahren. – Wie heißen Sie überhaupt?“ Ariel hatte mittlerweile in Erwägung gezogen, dass dieser etwas spezielle Herr möglicherweise mit ihrer Bewerbung zu tun haben könnte; vielleicht war er in der Personalabteilung beschäftigt und mit einem besonderen Auftrag hier.

„Haben Sie die Unterlagen nicht gelesen?“, konterte sie deshalb versuchsweise, was seine linke Augenbraue sich lupfen ließ.

„Nicht ganz.“, gab er zu, wusste aber in diesem Augenblick nicht genau, ob er gerade dies vielleicht besser hätte tun sollen, denn die Frau begann aus bestimmten Gründen, ihn zu interessieren. Ariel bemerkte zufrieden, dass sie mit ihren Annahmen offenbar nicht ganz falsch gelegen hatte, und entschloss sich, ihren Namen preiszugeben.

„Ich heiße Svenja Ariel.“

„Interessanter Name.“, murmelte er. Sie stiegen ein. Bevor sie den Wagen anließ, fragte sie: „Darf ich auch Ihren Namen erfahren?“ Er starrte geradeaus.

„Nein.“ Sie zeigte keine Reaktion, was ihm imponierte und er die Richtung. Allerdings fühlte sie sich nicht ganz wohl dabei, mit einem Unbekannten in einem fremden Auto zu sitzen, aber die Ungewöhnlichkeiten, das konnte sie aber nicht wissen, hatten gerade erst begonnen.

Ariel ließ den Wagen an und lauschte eine Sekunde den Geräuschen des Motors, die freilich kaum zu hören waren. Kurz schloss sie die Augen, bevor sie losfuhr. Wulvsen war dies nicht verborgen geblieben und ihm gefiel das, offenbarte es doch eine gewisse Leidenschaft für die Technik, die der Wagen bot.

Als sie in dem fast leeren Teil der Tiefgarage geparkt hatten, in dem nur noch ein Duplikat ihres Wagens stand, fragte er ohne Hinterlist, aber mit Interesse, und weil diese Frage ihm gerade in den Sinn gekommen war: „Warum haben Sie sich bei uns beworben? Der Ruf des … Alten ist nicht der beste.“ Die breitschultrige, große Frau sah auf das Armaturenbrett.

„Es ist eine von vielen Bewerbungen.“, sagte sie leise und gepresst. Wulvsen spürte, dass dies vielleicht ein ungewöhnliches Bewerbungsgespräch werden könnte, denn dafür hatte er einen Sinn: für ungewöhnliche Situationen. Er setzte also die Unterhaltung fort.

„Wen haben Sie zuvor gefahren?“ Er hatte zwar keine Zeit gehabt, sich die Unterlagen genau anzusehen und schalt sich innerlich für das Versäumnis, aber er könnte das Bewerbungsgespräch ja schon einmal mit einer Anamnese beginnen.

„Einen Minister.“, lautete die überraschende Antwort. Er sah sie erstaunt an.

„Dann waren Sie im öffentlichen Dienst. So einen Job gibt man nicht leichthin auf.“ Ihr Blondschopf sackte nach vorne.

„Ich habe ihn nicht leichthin aufgegeben, aber darüber möchte ich nicht reden. Jedenfalls nicht mit Ihnen.“ Sein Interesse war geweckt, sein Ärger schon längst verflogen und ihre Reaktionen fand er mutig. Sie waren also mittendrin im Bewerbungsgespräch, und das in einer Tiefgarage. Wulvsen hätte sich am liebsten dafür gelobt.

„Na, dann kommen Sie mal mit.“, sagte er, stieg aus und holte den persönlichen Lift. Ihr wollte etwas mulmig werden, weil sie die ganze Situation sehr ungewöhnlich, wenn nicht geheimnisvoll fand. Schweigend fuhren sie in der engen Kabine nach oben, wobei sie bemüht war, ihn nicht anzusehen, was sich angesichts der verspiegelten Wände als nicht ganz einfach erwies und betraten dann sein Büro.

Frisch gewaschen. Sie riecht wie frisch gewaschen, dachte er.

„Ziemlich groß für einen Fahrdienstleiter.“, bemerkte die Blonde spöttisch und begutachtete das geschmackvoll, aber unpersönlich eingerichtete Riesenzimmer und dessen beeindruckende Aussicht auf die Stadt. Wulvsen setzte sich und deutete auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. Er schob ein paar Papierknäuel zur Seite, schlug ihre Akte auf und studierte sie gründlich, aber ohne eine sichtbare Reaktion, die allerdings die Ariel, die ihn sorgenvoll beobachtete, weil sie in ihm mittlerweile durchaus so etwas wie einen Entscheidungsträger vermutete, denn ihr Lebenslauf war ja nicht gerade alltäglich, erwartete.

Svenja Ariel, geboren am … in … als Sven Ariel, Mutter Hausfrau … Sieh mal einer an, dachte er und sein Respekt vor der Dame wuchs.

Svenja hatte das Gefühl, als vergingen Stunden, während sein Blick über die Zeilen huschte. Sie wartete darauf, dass er die Stirn in Falten zog, dass seine Mundwinkel nach unten sackten, dass er vielleicht spöttisch lächelte, eine eindeutige oder zweideutige Bemerkung machte, all dies hatte sie schließlich schon oft erlebt; aber da war nichts. Absolut nichts.

Doch der Alte hatte schon reagiert, jedoch eben unsichtbar, was eine der vielen Voraussetzungen dafür war, in der Wirtschaftswelt Erfolg zu haben, und er war überrascht, aber positiv überrascht. Jemand, der einen solchen Schritt vollzogen hatte wie die junge Frau vor ihm, hatte Respekt verdient, also würde er jetzt auch mal was für gesellschaftlich randständige Personen tun, ähnlich wie Jürgen, aber erzählen würde er dem nichts davon. Jedenfalls nicht gleich, sondern vielleicht bei passender Gelegenheit.

„Aha.“, sagte er nach drei Minuten emotionslos, klappte die Mappe zu und sah die Blondine anders an. Die wiederum konnte mit diesem Blick nichts anfangen und fragte mit gar nicht so fester Stimme und trockenem Mund:

„Was ist? Kommt bald ein Entscheidungsträger?“ Ein Lächeln schien um seine Mundwinkel zu spielen.

„Sie haben also das Geschlecht gewechselt.“, stellte er mehr fest, als dass er fragte. Statt rot zu werden, reckte die Automobilistin das Kinn kampfbereit vor. Auf diese Frage war sie vorbereitet, schließlich hatten alle danach gefragt, bei denen sie sich vorgestellt hatte. Allerdings war noch niemand auf die Idee gekommen, diese Sentenz nicht als Frage, dafür aber so selbstverständlich und neutral als Feststellung zu formulieren, wie man ‚Die Sonne scheint‘, oder ‚Es wird dunkel‘ sagt.

„Im Kopf war ich immer schon eine Frau.“, entgegnete sie unangemessen abwehrbereit und sah ihr Gegenüber mit funkelnden Augen an. Angesichts ihrer Erfahrungen war sie bereit zu kämpfen, auch wenn sie damit rechnen musste, dass es für sie nichts mehr zu gewinnen gäbe. Jetzt nicht mehr. Ihr Gegenüber sah sie schweigend an.

„Haben Sie deshalb den sicheren Job aufgegeben?“, fragte er unbewegt. Sein grauer Blick bohrte sich förmlich in ihre blauen Augen.

„Ich konnte es nicht mehr ertragen.“, gab sie zu, obwohl sie gar nicht so weit gehen wollte, aber dieser Mann, der sich bisher noch nicht einmal vorgestellt hatte, schien einen eigenartigen Einfluss auf sie auszuüben. Er schien ihr ein wenig von ihrer Selbstbestimmung genommen zu haben. Sie konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass genau das zu seinen unternehmerischen Fähigkeiten zählte, die ihn an die Weltspitze gespült hatten.

„Was nicht ertragen?“ Er gewann diese rhetorische Schlacht, als sie den Blick senkte. Ihr war es jetzt völlig egal, wer er war, was seine Funktion in diesem Imperium wäre.

„Die Tuscheleien, die Anspielungen, die Blicke, nicht nur von den Kollegen und Kolleginnen, auch von den Vorgesetzten.“, presste sie hervor.

„Von Wulvsen erwarten Sie mehr Toleranz?“, fragte er die schmalhüftige Schönheit.

„Wulvsen ist nicht stromlinienförmig, hörte ich.“, antwortete sie keck.

„Von wem?“, fragte er schnell nach.

„Li … - geht Sie nichts an.“ Nach dieser Bemerkung hatte sie diesen Termin bereits abgehakt, denn die war einfach unhöflich gewesen, hatte die Rechnung aber ohne den Frager gemacht. Der dachte nämlich kurz nach und drückte dann einen Knopf auf seiner Kommunikationseinheit.

„Rehbein? Bringen Sie mal einen Blanko-Arbeitsvertrag rein. - Bitte.“ Rehbein im Vorzimmer schüttelte den Kopf. Das war wieder was Neues.

„Sie haben eine Sekretärin?“, fragte die Blonde erstaunt.

„Ich habe eine Sekretärin.“, bestätigte er knapp und seine sich verengenden Augen konnten vieles, unter anderem den Anflug eines Lächelns, bedeuten.

Rehbein erschrak regelrecht, als sie eine große, hübsche Blondine vor seinem Schreibtisch sitzen sah. Aber immerhin schien er sich beruhigt zu haben. Sie grüßte kurz und legte die Blätter vor Wulvsen auf den Tisch, der gerade mal wieder dabei war, zusammengeknülltes Papier zu entsorgen.

„Das ist Frau Ariel, die neue Fahrerin.“, klärte er Rehbein leichthin auf und sah die Sekretärin verschmitzt an. Auf diese Information reagierten die anwesenden Frauen in gleicher Weise: sie rissen Augen und Mund auf.

„Ja, dann.“, murmelte Rehbein und schlich aus dem Zimmer. Irritiert und fast wütend, weil sie meinte, ein Spiel würde mit ihr gespielt, fragte nun Svenja:

„Seit wann kann ein Fahrdienstleiter Einstellungen vornehmen? Zumal, wenn es um den Cheffahrer geht?“ Wulvsen antwortete nicht, sondern unterschrieb schweigend den Vertrag, ergänzte eine Zahl für den Monatsverdienst und ein paar Zeilen und reichte ihn der Neuen. „Rehbein wird Ihnen alles weitere erläutern. Es wird kein Zuckerschlecken, hoffentlich haben Sie es sich überlegt; im Grunde genommen müssen Sie rund um die Uhr zur Verfügung stehen können. Jedenfalls, wenn kein vollwertiger Ersatzfahrer vorhanden ist, und das ist er im Augenblick nicht.“ Zögerlich nahm sie die Blätter.

„Das wird schon gehen.“, murmelte sie und stand auf. Als sie die Hand auf die Türklinke gelegt hatte, rief er ihr nach:

„Ich will heute früh nach Hause. In zwei Stunden unten.“ Sie wandte sich kurz um, schüttelte den Kopf und verließ den Raum. Was hätte sie damit zu tun, dass der Fahrdienstleiter früh nach Hause wollte? Als sie nun im Vorzimmer stand, kam ihr eine Ahnung, denn sie hatte noch keinen Fahrdienstleiter kennengelernt, der ein Vorzimmer mit drei Sekretärinnen besaß. Allerdings hatte sie noch Hoffnung.

„Ist das hier die Fahrdienstleitung?“, fragte sie nach einem kurzen Hallo. Sie sah in freundlich lächelnde Gesichter. Die grauhaarige Frau von eben antwortete mit zuckender Miene:

„Ja, das ist die Leitung.“

„Muss ich etwa den Fahrdienstleiter fahren?“ Die drei Damen lachten, was sie nun völlig irritierte.

„Schauen Sie sich mal die Unterschrift unter Ihrem Vertrag an.“, riet ihr Rehbein. „So unleserlich ist seine Schrift ja nicht.“ Svenja sah auf das Blatt. Dort stand klar und deutlich Wulvsen.

„Heißt der Fahrdienstleiter auch Wulvsen?“, zeigte sie sich schwer von Begriff.

„Mädchen, das war der Alte.“, klärte Rehbein schmunzelnd auf. Ariel konnte nicht recht in die nun einsetzende allgemeine Heiterkeit einstimmen, denn sie war eindeutig verstört. Rehbein hingegen, die Zweiflerin, lachte auch vor Erleichterung, denn Machoismus wäre ihr an dem Alten trotz allem fremd vorgekommen.

Als Ariel in ihrem Auto Platz genommen hatte, um noch einmal kurz nach Hause zu fahren, atmete sie erst einmal tief durch. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie nahm sich vor, noch einmal gründlich über Vorurteile nachdenken zu wollen. Besser noch, sie würde mit Jürgen darüber sprechen. Noch einmal nahm sie sich den Vertrag vor. Erst beim zweiten Lesen blieb ihr Blick an dem festgesetzten Monatsgehalt hängen. Über so etwas hatten sie gar nicht gesprochen, wunderte sie sich. Sie wunderte sich aber auch über die Zahl, die dort stand. Bei dieser Zahl nämlich hätte es ihrerseits nichts mehr zu verhandeln gegeben.

Nachdem Ariel gegangen war, hielt schnell wieder Ernsthaftigkeit Einzug in die Vorhölle.

„Die Abwesenheit von Liebenswürdigkeit, vor der Sie uns gewarnt hatten, ist das eine,“ sagte Ella, „dieses Wechselbad der Gefühle das andere.“

„Der ist unberechenbar.“, konstatierte Tonia. „Was wir in den paar Tagen schon alles erlebt haben.“ Sie ballte die Linke zur Faust und schnellte den Daumen heraus. „Er erteilt Kahl und Dornhege eine Abfuhr.“ Zeigefinger. „Er unterhält sich nicht unangenehm mit uns.“ Mittelfinger. „Er bewirft den Controller mit Aktenordnern.“ Ringfinger. „Er trickst die Koreaner aus.“ Kleiner Finger. „Er macht Frau Rehbein zur Schnecke.“

„Und stellt eine Fahrerin ein, womit niemand gerechnet hatte.“, ergänzte Ella fingerlos.

„Welches dieser Ereignisse haltet ihr für so maßgeblich, dass ihr ihn dafür tadeln würdet?“, wollte die Chefsekretärin wissen. Die Jüngeren überlegten kurz und meinten dann unisono: „Die Sache mit Ihnen hätten wir ihm nicht durchgehen lassen.“

„Fünf zu eins für ihn – ist doch nicht schlecht, oder?“, lächelte Rehbein.

„So, jetzt wird geschlafen.“ Tanja setzte sich auf Marthas Bettkante und strich ihrer Nichte liebevoll über den Kopf.

„Ich weiß jetzt, wie er heißt.“, behauptete das Mädchen.

„Wie wer heißt?“

„Na, der alte Mann. Der läuft. Er heißt Roger.“, strahlte Martha und Tanja streichelte weiter, wobei ihr Blick allerdings das Kinderzimmer und auch den heutigen Abend verließ und sie darüber ganz vergaß, sich nach dem Nachnamen des alten Mannes zu erkundigen, den Martha im übrigen auch gar nicht wusste, weil sie sich in ihrem zarten Alter für Nachnamen überhaupt nicht interessierte.

„Ich kannte auch einmal einen Roger.“, gab Tanja verträumt bekannt.

„Wer war das?“

„Wir sind in eine Klasse gegangen.“

„Das ist sicher schon lange her.“

„Ja, das ist lange her.“

„Konnte der … hatte der auch …“ Martha wusste nicht, wie sie formulieren sollte, ohne ihre Tante zu verletzen. Tanja stupste mit dem Zeigefinger Marthas kleine Nase an und lächelte.

„Er konnte lesen. Sogar sehr gut.“ Beim Einschlafen dachte Martha daran, dass ihr neuer, alter Bekannter sicher auch gut lesen könnte.

„Svenja.“, rief Link erfreut aus, als er die Tür geöffnet hatte und seine Freundin entdeckte. „Mit dir hatte ich nicht gerechnet.“ Svenja lächelte ihn an und hielt ihm eine Flasche Sekt vor die lange Nase.

„Es gibt etwas zu feiern.“

„Ich kann das immer noch nicht fassen. Als ich ihn heute Nachmittag vor seiner Villa abgesetzt hatte, hätte ich ihn am liebsten umarmt.“, erklärte Svenja zum wiederholten Male an Links Küchentisch.

„Ich hab dir doch gesagt, dass er anders ist, als manche denken. Mit dem Umarmen würde ich allerdings vorsichtig sein.“, schmunzelte Link. Svenja sah ihm in die blauen Augen.

„Ich bin so glücklich, Jürgen.“ Link legte seine Hände auf ihre.

„Das ist schön, Svenja.“, sprach er leise. Dann hob er einen Zeigefinger. „Aber glaube nicht, er sei die Sanftmut in Person. Er ist sehr tolerant und hilfsbereit, aber er kann auch gnadenlos sein, wenn man ihm querkommt. Falschheit und Speichelleckerei mag er gar nicht.“ Svenja neigte den Kopf leicht zur Seite.

„Woher kennst du ihn so gut?“ Links Blick ging nach innen und er lächelte.

„Ist ne alte Geschichte. Erzähle ich dir vielleicht später einmal.“

Jürgen Link war ein Stein vom Herzen gefallen, als Svenja ihm erzählt hatte, dass sie die Stelle hatte. Er hatte also Recht behalten, aber schließlich hätte das auch anders ausgehen können. Ganz anders. Er hatte seinen Freund also doch richtig eingeschätzt.

Selbst unbedarfte Fremde hätten die Situation mit einiger Menschenkenntnis ohne große Mühen in kurzer Zeit richtig erfassen können. Die Augenpaare mehrerer, scheinbar unschlüssiger Männer mit Essenstabletts beobachteten nämlich mehr oder weniger heimlich die attraktive Blondine, die sich mit einem Salat und einem Wasser der Kasse der Essensausgabe näherte. Die Besitzer dieser Augenpaare waren bereit, der Frau zielstrebig und temporeich zu folgen und sich einen Platz an demselben Tisch zu sichern, um somit ihrem hormonellen Triebbedürfnis Rechnung zu tragen und ihr facettenreiches Balzverhalten aufzuführen. Im Grunde genommen galt die Aufmerksamkeit dem gesamten femininen Trio an der Theke, denn zufällig befanden sich Ella Olsson und Tonia Esteban, in männlichen Augen in unterschiedlicher Weise ähnlich attraktiv wie die Blonde, direkt hinter dieser, so dass gleich mehrere Optionen eröffnet schienen. Anziehend an den drei Frauen war aber nicht nur ihr Äußeres, sondern ebenso ihre Position im Hause. Wer, wenn nicht die Chefsekretärinnen und die Cheffahrerin, konnten denn mehr über die Absichten des obersten Chefs wissen? Die maskuline Riege hatte aber, dem Klischee entsprechend, die Rechnung ohne weibliche Intelligenz gemacht, denn die Sekretärinnen, in so etwas erfahrener, weil schon länger auch äußerlich Frau, hatten die männlichen Scanvorgänge rasch richtig eingeordnet und eine Defensivtaktik souverän und unabhängig voneinander gedanklich erarbeitet, in die sie die anscheinend ahnungslose Chauffeuse bereit waren in der Praxis mit einzubeziehen.

„Dürfen wir uns zu dir setzen?“, fragte daher die Schwedin scheinbar harmlos. Svenja, erfreut über das Häppchen emotionaler Zuwendung, nickte, und so steuerten die drei Begehrten einen Tisch mit exakt drei Stühlen an, was die Hoffnungen der Männlichkeit auf kurzfristige Befriedigung ihrer Sehnsüchte zerstob wie der Herbstwind trockenes Laub auf der Straße.

Roger Wulvsen schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass ihm die Aufmerksamkeit aller sicher war. ‚Alle‘ waren in diesem Falle mit einer Ausnahme Herren in teuren Anzügen und mit wichtigen Mienen, die sich hier zusammengefunden hatten, um mit der Kanzlerin, dem Kanzleramtsminister und einigen Staatssekretären über die Außenwirtschaft und einiges andere zu plaudern. Dies allerdings hatte sich schon bald, und wie so oft, als Zeitverschwendung herausgestellt, denn der Wirtschaftsminister war mal wieder nicht erschienen, die Regierungschefin blieb wie immer im Vagen und die Herren wussten ohnehin, dass sie ihre Angelegenheiten wie gewohnt selbst würden regeln müssen. Die Ausnahme war die Kanzlerin selbst.

„Die Politik hat für die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu sorgen, nicht wir.“, rief Wulvsen mit rotem Kopf.

Manche der Wirtschaftsbosse sahen betreten auf den Tisch, andere aufmerksam die Kanzlerin in Erwartung einer Reaktion an, einige feixten ganz unverhohlen.

„Aber Herr Doktor Wulvsen.“ Die Kanzlerin hob beschwichtigend die Hände. „Wir tun, was wir können, aber wir müssen uns mit unseren europäischen Partnern abstimmen.“, leierte sie. Wulvsen stand auf und nahm seine Aktenmappe.

„Dann laden Sie uns mal wieder ein, wenn Sie das gemacht haben. Ich jedenfalls stehe erst dann wieder zur Verfügung, alles andere ist nämlich Zeitvergeudung, und in unserem Falle,“ er sah in die Runde und nahm die Regierungschefin und die anderen Regierungsvertreter dabei ausdrücklich aus, „ist Zeit Geld und Arbeitsplätze.“ Er stürmte grußlos hinaus, verfolgt von erstaunten bis belustigten Blicken. Viele der gesetzten Herren hätten es ihm, dem Jüngsten am Tisch, am liebsten gleichgetan, doch fehlte ihnen der Mut, bestimmt aber die Bedeutung, die Kanzlerin zu düpieren. Die nickte einem unscheinbaren Mann zu, der Roger flugs hinterhereilte. Das Hinterhereilen wurde dem Kanzleramtsminister dadurch erleichtert, dass Wulvsen es nicht für nötig befunden hatte, die schwere Tür des Konferenzsaales hinter sich zu schließen, die Erfüllung des unausgesprochenen Auftrags, Wulvsen zur Rückkehr zu bewegen, misslang jedoch. Wulvsen nämlich stürmte davon, uneinholbar und auch unansprechbar von dem Beauftragten der Regierungschefin, und fand sich plötzlich an der frischen Luft wieder. Suchend blickte er sich um. Er befand sich vor dem Haupteingang des Gebäudes, das weiträumig abgesperrt war; weiter vorne, jenseits der Sperren, standen Journalisten, Reporter, Fernsehleute. Polizisten und Sicherheitsleute liefen unauffällig auf dem Gelände umher. Sicher, er war vor der Zeit und am falschen Ausgang, denn die Fahrzeuge warteten in der Nähe des Seitenausgangs. Einige der Medienleute waren jetzt auf ihn aufmerksam geworden, eine Kamera richtete sich auf ihn. Wenn er sich richtig erinnerte, befand sich der Nebenausgang links um die Ecke, also lief er nach links. Vorne setzten sich ein paar Fotografen in Bewegung. Er war jetzt um das Gebäude herum und strebte auf einer abschüssigen Rampe seinem Wagen zu, der neben anderen, gleichklassigen in einer Reihe auf einem Parkstreifen stand. Ariel war umlagert von den anderen Fahrern, was Wulvsen nicht wunderte. Wenn die wüssten, dachte er.

„Chef, was machen Sie denn schon hier?“, fragte Svenja mit vollem Mund, denn sie hatte gerade, sehr zur Freude ihrer Kollegen, herzhaft in einen Apfel gebissen.

„Wir fahren, aber dalli.“ Schon saß er im Auto und trommelte mit den Fingern auf der Armlehne herum. Ariel stieg ebenfalls ein.

„Diesmal nicht hinten?“, fragte sie und startete den Achtzylinder.

„Bin zu wütend zum Arbeiten.“, gab er zu und dann rasten sie los.

Svenja hielt ihre Neugier im Zaum, denn der Alte neben ihr machte ein Gesicht, als wollte er jemanden würgen.

„Die hat keine Ahnung.“, murmelte er. „Keine Ahnung von Wirtschaft, keine Ahnung von Arbeit, keine Ahnung von Politik.“ Dann sah er durch das Seitenfenster hinaus, ohne jedoch die Dinge, die dort an ihnen vorbeirauschten, wahrzunehmen, denn er versuchte, Gedankenblitze und Ideenschnipsel zu etwas Tauglichem zusammenzubringen.

Sanft sieht er tatsächlich nicht aus, dachte Svenja, als sie an den Journalisten vorbeibrausten. Im Rückspiegel erkannte sie den Kanzleramtsminister, der ihnen atemlos hinterherschaute. Sollte sie ihn fragen, was passiert war? Besser nicht. Nicht in seiner jetzigen Gemütsverfassung. Schließlich war sie auch deshalb eine so gute Fahrerin geworden, weil sie wusste, was wann zu tun war, und Konversation war jetzt sicher nicht angesagt. Ihr letzter Chef, immerhin ein Landesminister, war auch schon mal wütend aus politischen Veranstaltungen gekommen, aber Wulvsen war geradezu außer sich gewesen, als er auf den Parkplatz gerannt gekommen war, und immerhin war er bei der Kanzlerin gewesen. Sie versuchte aushilfsweise sich zusammenzureimen, was wohl geschehen war. Er war schon nicht mit Begeisterung nach Berlin gefahren, das hatte er deutlich gemacht. Solche Besprechungen mit der Kanzlerin seien Zeitverschwendung, hatte er gegrummelt, um dann wüst auf die Regierungschefin zu schimpfen. Svenja konnte ihn bis zu einem gewissen Grade verstehen, aber sie hatte gedacht, dass eine solche Einladung doch auch eine Ehre sei und er sich zusammenreißen würde, und die Veranstaltung zumindest über sich ergehen lassen würde. Ihr Chef hatte eine Veranstaltung der ersten Frau im Staate vorzeitig und wutschnaubend verlassen. Ihr Chef hatte den Minister einfach stehenlassen. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, dass dieses Verhalten negative Konsequenzen für den Alten oder den Konzern haben würde, dafür war der Alte viel zu rational. Sie musste unbedingt Jürgen fragen, wieviel Macht dieser Mann besaß.

Svenja war froh, endlich sein Haus erreicht zu haben, denn seine schlechte Laune hatte sich auch während der Heimfahrt nicht gelegt. Umso überraschter war sie, als sie ihn plötzlich von hinten sanft reden hörte, nachdem sie angehalten hatte.

„Wenn Sie die kleine Straße hier weiter fahren und dann links abbiegen, kommen Sie nach einer Weile zu einem Kindergarten. Davor ist ein Kinderspielplatz. Dort hält sich jeden Tag ein kleines Mädchen auf, das den Kindergarten besucht; der schließt aber um sechzehn Uhr und die Kleine wird erst um viertel nach vier von ihrer Tante abgeholt. Wenn ich früh zu Hause bin, oder zwischendurch, und laufe, setze ich mich manchmal zu dem Kind, bis seine Tante kommt. Morgen wird das nicht der Fall sein können. Ich möchte, dass Sie um vier bei diesem Kindergarten sind und mit Martha auf die Tante warten. Reden sie mit ihr und schlagen ihr vor, die Kleine jeden Tag abzuholen und nach Hause zu bringen, zumindest aber bei dem Mädchen zu bleiben, wenn ich das nicht kann und Sie frei sind.“ Svenja drehte sich nach hinten und sah ihren Chef an, doch der scherzte offenbar nicht. Sie zog die Augenbrauen zusammen und wollte etwas erwidern, doch er sagte nur: „Machen Sie das.“, und stieg aus.

Dieser Mann hatte heute einen Auslandsleiter entlassen, seine Abteilungsleiter zur Schnecke gemacht und den finnischen Ministerpräsidenten angeschrieen. Er hatte gestern eine offizielle Konferenz der Kanzlerin vorzeitig verlassen und sich auch vom Kanzleramtsminister nicht zur Rückkehr überreden lassen, war mit der ausgespuckten Bemerkung „Ignoranten!“ in den Wagen gestiegen. Sie musste mit Vollgas an den Journalisten vorbeifahren und die Zeitungen verlautbarten am nächsten Tag ‚Industrieller düpiert Regierungschefin‘, und jetzt verlangte er von ihr, dass sie sich um ein Kindergartenkind kümmerte. Dieser Mann hatte zwei Seiten. Mindestens.

Ein Mann in einem Anzug und mit einer Aktenmappe unter dem Arm rannte auf einige geparkte Autos zu. Die Aufnahme war aus großer Entfernung gemacht worden und der Mann hatte das Gesicht abgewandt.

„Der läuft wie Roger.“, rief Martha und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm. Tanja schaute interessiert um die Ecke, in der Hand ein Trockentuch.

„Wer läuft wie wer?“

„Der Mann da im Fernsehen, der läuft wie Roger.“ Tanja sah auf den Bildschirm, konnte aber nur einen Nachrichtensprecher ausmachen, der nicht lief, sondern saß und in die Kamera schaute.

„Die Kanzlerin hat sich bisher nicht zu seinem vorzeitigen Aufbruch geäußert.“, hörte sie nur noch.

„Wer ist denn nun gelaufen wie dein Roger?“

„Ein Mann in einem Anzug. Der war ganz weit weg. Der ist auf Autos zugelaufen.“

„Aha.“, meinte Tanja und wandte sich wieder dem Abwasch zu. Sie hatte den Fernseher für Martha angeschafft und hörte eigentlich die Nachrichten nur. Gut, manchmal schaute sie sich Liebesfilme an. Sie kuschelte dann am Wochenende mit Martha auf der Couch. Martha schlief meist bald ein, aber sie schaute immer bis zum Schluss. Zeitungen hatte sie keine, wozu auch? Nachrichten im Fernsehen anzusehen fand sie anstrengend, denn dort wurden manchmal erläuternde Zeilen eingeblendet, die sie nicht lesen konnte. Tanja Kiel beschränkte sich daher meist aufs Radiohören, was die Informationsbeschaffung anlangte, so dass ihr nicht nur Geschriebenes, sei es auf Papier oder auf Monitoren, entging, sondern auch Bilder, die auf Papier oder Monitoren manchmal mit Geschriebenem einhergehen, es ausschmücken oder erläutern. Wäre dies anders gewesen, hätte sie über all die Jahre den Werdegang eines alten Schulfreundes verfolgen können, denn so ganz konnte sich Roger Wulvsen nicht aus den Medien heraushalten. Aber das war nicht geschehen, und so konnte in der Folgezeit passieren, was passierte.

Martha hielt es durchaus für möglich, dass der Mann im Fernsehen ihr Roger gewesen war. Eigentlich war sie sogar ziemlich sicher. Was sich in der Hauptstadt genau abgespielt hatte, erschloss sich ihr noch nicht ganz, was mit ihrem jungen Alter zusammenhing, aber es musste wichtig gewesen sein, denn sonst wäre es ja nicht im Fernsehen gewesen.

Eine große, blonde Frau mit freundlichen Gesicht und dunklem Hosenanzug kam auf Martha zu. Direkt. Etwas trotzig und gespannt sah Martha ihr entgegen.

„Bist du Martha?“, fragte die Frau mit tiefer Stimme. Martha nickte vorsichtig. Der erste Schritt ist gemacht, dachte Svenja und wusste dann nicht weiter, denn sie wusste nicht, in welcher Form sie von dem Alten sprechen sollte. Es lag nahe, dass er sich von Martha nicht mit ‚Herr Dr. Wulvsen‘ anreden ließ, und so wurde Ariel wagemutig.

„Roger schickt mich, ich heiße Svenja.“, behauptete die Frau und Martha legte den Kopf schräg. „Ich soll bei dir bleiben, bis deine Tante da ist, und euch, wenn ihr wollt, nach Hause bringen.“ Svenja deutete auf das große, schwarze Auto, mit dem sie gekommen war.

„Ist das dein Auto?“, fragte Martha. Svenja lächelte, denn mit dem Vornamen des Alten schien sie es ja genau richtig getroffen zu haben; wohl war ihr dabei aber nicht.

„Nein, das Auto gehört der Firma, in der … Roger und ich arbeiten.“ Sie ertappte sich dabei, rot geworden zu sein, weil sie so tat, als duzte sie den Alten.

„Du darfst mit dem Auto fahren?“ Svenja lächelte noch immer, überlegte aber dabei angestrengt, was sie sagen sollte. Sie entschied sich für die Wahrheit.

„Ja, ich bin Fahrerin.“

„Aha, und wen fährst du?“

„Ich fahre den Chef.“, erklärte Svenja nicht ohne Stolz, wusste aber nicht, ob das die richtige Antwort gewesen war. Martha sah sie seltsam an.

„Jetzt aber nicht?“

„Nein, jetzt nicht, jetzt bin ich hier. Ich habe ein wenig Zeit und komme einer Bitte eines Kollegen nach.“

„Der Kollege ist Roger?“

„Genau.“ Svenja hatte mittlerweile Mühe, Selbstsicherheit vorzutäuschen, denn sie sprach von Wulvsen wie von einem alten Bekannten.

„Woher soll ich wissen, dass das stimmt?“

„Dass was stimmt?“, fragte Svenja irritiert.

„Dass du Roger kennst.“

„Wir könnten ihn anrufen.“, schlug Svenja spontan vor. Martha überlegte kurz und nickte dann. Svenja wusste plötzlich nicht mehr, ob das eine gute Idee wäre, schließlich saß der Alte in einer wichtigen Besprechung. Aber sie hatte nun mal diesen Weg eingeschlagen und wollte ihn weitergehen, schließlich handelte sie im Auftrag des Alten, und genauere Instruktionen hatte sie nicht erhalten, also konnte sie guter Hoffnung sein, dass sie das nicht den Job kosten würde. Sie entschied sich für eine SMS.

„Was hast du da gemacht?“, fragte Martha neugierig.

„Ich habe ihm eine Nachricht geschickt, und gebeten, dass er zurückruft.“ Tatsächlich ging Svenjas Handy. Sie gab es sofort an Martha weiter, denn sie hätte nicht gewusst, wie sie ihn anreden sollte in Gegenwart des Kindes. Sie könnte ihn doch unmöglich duzen!

„Hallo Roger, hier ist eine Frau, die behauptet, ihr seid Kollegen. Die ist mit einem großen Auto hier. Sie ist Fahrerin von dem Chef. Sie will hier mit mir auf Tante Tanja warten und mich dann sogar nach Hause bringen und Tante Tanja auch. Kennt ihr euch wirklich?“

Martha hörte einen Moment lächelnd zu. Der einzige Mensch, den ich kenne, der sich offenbar freut, die Stimme des Alten zu hören, dachte Svenja.

Tanja wartete, bis der Bus abgefahren war und hastete dann über die Straße. Sie war in Eile, denn sie war aufgehalten worden, hatte dann aber Glück gehabt, dass der Bus etwas Verspätung gehabt hatte, so dass sie nicht den nächsten hatte nehmen müssen. Martha wartete schon fast eine halbe Stunde. Als sie um die letzte Ecke bog, stutzte sie; Martha unterhielt sich mit einer großen, blonden Frau.

„Ja, Martha hat mir erzählt, dass manchmal ein alter Mann bei ihr sitzt, wenn ich noch nicht da bin, ich bin ihm selbst aber noch nie begegnet.“, erzählte die schlanke Frau mit den schwarzen Augen und den langen, schwarzen, glatten Haaren, von denen sie eine Strähne, die sich angesichts des wehenden Lüftchens vor ihr Gesicht mit dem etwas schiefen Mund bewegt hatte, jetzt mit schlanken Fingern hinwegstrich. Svenja war die einfach gekleidete Frau von Anfang an sympathisch gewesen; sie wirkte bescheiden und schien Martha sehr gerne zu haben. Tanja schüttelte den Kopf.

„Aber das Angebot kann ich doch nicht annehmen. Ich kenne ihn nicht und ich kenne Sie nicht.“

Svenja Ariel konnte das alles nachvollziehen, war aber von ihrer eigenen Harmlosigkeit und sogar von der Lauterkeit der Idee des Alten überzeugt. Sie überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, dass ihn Martha für einen alten Mann hielt.

„Ich biete Ihnen doch nur an, einfach so lange bei Martha zu warten, bis Sie kommen und Sie dann beide nach Hause zu bringen, wenn Sie das wünschen. Ansonsten geht es nur darum, bei dem Kind ein paar Minuten zu bleiben. Wenn mein Kollege Martha nicht Gesellschaft leisten kann.“ Tanja sah die kleine Martha an, die sie von unten anlachte und „Bitte, Tante Tanja.“, sagte.

„Na gut.“, lächelte Tante Tanja ihre Nichte an und Svenja öffnete den Verschlag.

Dass Martha sich wunderte, aber etwas anders als Tanja, sah man ihr nicht an, aber sie machte sich durchaus ihre Gedanken, die jedoch nicht, noch nicht, zu einem Ergebnis führten, was ihr aber nichts machte, denn sie war trotz ihres jungen Alters geduldig. Sie war jedenfalls gespannt, wie das mit Roger weitergehen würde.

Ihre Tante jedoch sah auch jetzt keine Veranlassung, die Bekanntschaft mit Marthas Bekanntem zu machen, was an einer gewissen Menschenscheu liegen konnte, die sie seit Kindesbeinen mit sich herumschleppte. Diese Menschenscheu war zwar schwächer geworden in den letzten Jahren, wie auch ihre nächtlichen Albträume verblasst waren, seit Martha bei ihr war, doch der Kollege von Frau Ariel konnte ja sonstwas sein. Und was wäre, wenn er herausbekäme, dass sie gewisse Kulturtechniken nicht beherrschte? Würde er sich dann nicht mehr mit Martha treffen wollen? Schließlich bedeutete es auch für sie eine Erleichterung und trug zu ihrer Beruhigung bei, wenn Martha nicht alleine auf sie warten müsste. Wie es war, war es am besten so, fand sie.

Das war ja noch mal gut gegangen. Svenja hätte nicht gewusst, wie sie dem Alten eine Weigerung der Tante hätte erklären sollen. So fuhr sie denn ihre neuen Fahrgäste nahezu beschwingt zu deren Haus. Im Rückspiegel sah sie ab und zu Marthas freundlich lächelndes Gesicht, was einerseits beruhigend war. Andererseits wurde die Fahrerin das Gefühl nicht los, dass das Mädchen etwas wusste oder ahnte, doch Ariel hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was dies sein könnte. Besorgt war sie dennoch nicht.

Nach fast dreißig Jahren Firmenzugehörigkeit sollte Elke Rehbein verabschiedet werden. Aufgrund ihrer persönlichen Art und ihrer Funktion in der Firma war sie geachtet bis beliebt, und das nicht nur im Inland. Sie genoss Respekt und Anerkennung, weil sie es zwölf Jahre im Vorzimmer des ‚rasenden Roger‘, wie der Alte hinter vorgehaltener Hand auch genannt wurde, ausgehalten hatte, und weil sie durchaus die eine oder andere Information über seine jeweils aktuelle Stimmungslage bereit war durchsickern zu lassen, was den meisten überlebenswichtig erschien. Auch war bekannt, dass, wenn sie jemandem gewogen war, Informationen oder Wünsche auch andersherum ihm zugetragen werden konnten. Zudem hatte sie für jeden ein aufmunterndes Wort, der es nötig und verdient hatte, und aufmunternde Worte hatten wahrlich viele nötig, die das Allerheiligste betreten mussten oder es verließen.

Ihr Abschied hatte sich tatsächlich hinausgezögert. Der Alte hatte lange nicht mit den Neuen so richtig warm werden wollen, so hatte es jedenfalls für Elke Rehbein den Anschein. Ein Vierteljahr hatte es gedauert. In diesem Vierteljahr allerdings hatte es kaum Friktionen gegeben. Es war, als habe er sich zurückgenommen. Ob er das bewusst gemacht hatte, oder ob es Zufall gewesen war, dass er kaum im Vorzimmer aufgetaucht war, wusste Rehbein nicht. Die Zusammenarbeit des Alten mit den Neuen hatte in dieser Zeit eher auf Sparflamme funktioniert; sie besprachen die Termine mit ihm und Rehbein und taten das Übliche, Auseinandersetzungen mit ihm hatte es so gut wie nicht gegeben. Die neuen Damen hatten sich als wissbegierig und fleißig erwiesen; sie lernten rasch. Vor hochmögenden Besuchern hatten sie zwar Respekt, ließen sich aber von Titeln, Funktionen und ähnlichem nicht einschüchtern. Wie ihr Verhältnis zum Alten sich entwickeln würde, konnte Rehbein nicht einschätzen, denn hierfür hatte es einfach zu wenige Treffen mit ihm gegeben. Von einer Neuorganisation des Vorzimmers, die der Alte mal in Aussicht gestellt hatte, war bisher noch nichts zu spüren gewesen, was den jungen Frauen aber vielleicht die Einarbeitung erleichtert hatte. Ihre Tätigkeiten hatten sich jedenfalls bis jetzt von denen, die sie gewohnt waren, nicht sehr unterschieden. Ab jetzt würde es ernst, sie wäre ja nicht mehr da. Aber Rehbein kannte ihn gut genug, um nicht zu wissen, aber zu ahnen, dass etwas passiert sein musste. Er wirkte, wenn nicht aufgetaut, so doch angetaut, so dass sie die Hoffnung hatte, dass es nun auch ohne sie klappen könnte.

Roger Wulvsen hatte sich in der Tat zurückgehalten, und das in mancherlei Hinsicht.

Tanja liest

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