Читать книгу Im Sog des Lichts - Reinhard Füchtenschneider - Страница 5

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Erst hatten sie nur Blicke ausgetauscht. Abschätzend und lauernd. Ein Spiel, das immer mehr Substanz bekam. Rick wollte es eigentlich nicht. Doch bei jeder Gelegenheit, da er sie sah, konnte er sich ihrem Reiz nicht verschließen. Die vielen Kleinigkeiten von zufälligen Berührungen, zweideutigen Bemerkungen, oder auch stillschweigender Übereinstimmung wurden zur Summe. Sie hatten ein Gewicht bekommen, das er mit sich trug. Überall hin. Vieles an ihr verstand er nicht. Es gab da etwas an ihr, das ihm noch immer verborgen blieb. Etwas Geheimnisvolles. Es weckte seine Neugierde und machte sie interessant. Ihr Name war Anna.

Anna hatte eine sportliche Figur, kurze, schwarze Haare und dunkle, unergründliche Augen, die nie müde wurden. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge waren meistens ernst. Selten lachte sie ungezwungen. Ihr Bauch lachte nie. Das Lachen kam bei ihr aus dem Kopf. Annas ganze Erscheinung spiegelte Kontrolle und Eitelkeit wider. Sie kontrollierte sich selbst, kontrollierte Kevins Meinungen und Ansichten. Sein Bruder Kevin schien es nicht zu bemerken. Er konnte oder wollte nicht sehen, wie sie ihn manipulierte. Es waren immer nur Kleinigkeiten. Die aber bewirkten, dass sie ihren Willen durchsetzte. Und sie war jetzt dabei, auch ihn zu kontrollieren. Langsam hatte sie sich in sein Denken eingeschlichen. Rick spürte, dass auch er schleichend manipuliert wurde. Sie übte Druck auf ihn aus. Liebe war es nicht. Das wusste er. Anna hatte ihn nie mit verliebten Augen heimlich angesehen. Ihr Blick war eher prüfend, manchmal neugierig oder auch provozierend gewesen, jedoch nie eindeutig. Sie hatte ihn gelockt, mit ihrer Körpersprache, wenn sie durch den Raum ging, mit ihrer Art sich zu setzten, mit ihrer Tonlage, wenn sie ihn ansprach. Und es hatte zugenommen. Mit jeder neuen Begegnung wurden ihre Anspielungen heftiger. Ihre Präsenz massiver. Nie aber waren sie eindeutig. Immer häufiger hatte er Anna begehrlich angestarrt. Deutlich nahm er wahr, dass sie es bemerkte und genoss. Verflucht, er wollte seinem Bruder nicht die Freundin stehlen. Aber besaß Kevin sie überhaupt? War es nicht eher so, dass Anna seinen Bruder in Besitz genommen hatte? Ob Anna Kevin liebte, konnte Rick nicht sagen. Sicher war, dass sein Bruder diese Frau vergötterte, und sie ließ es zu. Kevin war seit einem halben Jahr mit ihr zusammen. Sie studierten Architektur an der Fachhochschule in Detmold. Dort hatte er sie auch kennen gelernt. Kevin war ein Sonnyboy. Als Kind war er schon unbekümmert gewesen. Selbst wenn er ihn drangsaliert hatte, war das Ergebnis oft nur ein kurzer aber heftiger Wutausbruch gewesen. Anschließend hatte sein sonniges Gemüt wieder sein Wesen bestimmt. Auch heute noch ging er sorglos mit seinem Leben um. Ihm schien alles leicht zu fallen. Das Leben schien in Kevins Vorstellung eine Aufreihung von Annehmlichkeiten zu sein. Deshalb hatte er meistens gute Laune, die er nach allen Seiten hin versprühte. Dabei war er auffallend agil. Er erledigte alles im Laufschritt. Seine zwanglose Art überspielte die Ernsthaftigkeit, die er bei seiner Arbeit an den Tag legte. Er war gut, sogar sehr gut, doch es kümmerte ihn nicht. Kevin machte alles aus dem Bauch heraus, mit unerschöpflicher Energie plante und konstruierte er. Seine Entwürfe waren bemerkenswert kraftvoll. Er ließ sich durch nichts beeinflussen. Nur Anna übte Einfluss auf ihn aus. In Bezug auf Kreativität, konnte sie ihm nicht das Wasser reichen. Sie verstand es aber, Einfluss auf die alltäglichen Dinge zu nehmen, die Kevin nicht so ernst nahm.

Rick und Kevin bewohnten gemeinsam das elterliche Haus in Oerlinghausen. Rick hatte im Erdgeschoss seine Wohnung und das Maklerbüro eingerichtet. Er war unverheiratet und im Moment mal wieder Single. Seine Geschäftstüchtigkeit hatte er von der Mutter geerbt, die seit einiger Zeit in einer neuen Beziehung lebte. Seitdem stand die obere Wohnung leer. Kevin, der zuvor beim Vater gelebt hatte, war in die Wohnung gezogen, als er sein Studium aufnahm. Rick hatte das zähneknirschend akzeptiert, denn sein Verhältnis zu seinem Bruder war schon immer für ihn ein Problem gewesen.

Anna sah Rick erst immer nur zufällig. An der Haustür, oder im Flur, wenn sie Kevin besuchte. In der letzten Zeit jedoch, waren beide immer öfter bei ihm aufgetaucht. Als Immobilienmakler hatte Rick interessante Projekte, die für ihr Studium von Wert waren. Praktische Anschauungsprojekte, die unter dem Aspekt < gute Architektur > diskutiert wurden. Das hatte ganze Abende ausgefüllt. Und so hatte es begonnen. Zuerst war Rick nur Annas athletische Erscheinung aufgefallen. Ihr federnder Gang und ihre Art sich zu bewegen, hatten ihn fasziniert. Doch das waren nur Momentaufnahmen gewesen, denen er keine Bedeutung beigemessen hatte. Mit jeder weiteren Begegnung nahm jedoch seine Wahrnehmung zu. Ihm fiel auf, dass sie mit ihrem Aussehen kokettierte. Ihr Äußeres war ihr besonders wichtig. Sie provozierte geradezu mit ihrem Aussehen. Um ihre straffe Figur zu behalten, joggte Anna regelmäßig. Es war ein Bestandteil ihres Lebens. Kevin war einige Male mitgelaufen, fand jedoch keine rechte Freude daran. Ballsportarten lagen ihm mehr. Rick hatte keine sportlichen Ambitionen. Hatte sie eigentlich nie gehabt. Die Natur war aber gnädig zu ihm und er war mit einem schlanken, drahtigen Köper ausgestattet, der zumindest die Vermutung aufkommen ließ, er würde Sport treiben. Anna hatte seinen Körper schon öfters taxiert. Ihr eigentliches Interesse an ihm blieb aber unergründlich. Rick nahm an, es wäre sexueller Natur. Einen anderen Grund konnte er sich nicht vorstellen, da alle Zeichen in diese Richtung deuteten. Er dachte über ein geschäftliches Projekt nach, das er in der nächsten Woche unter Vertrag nehmen wollte, als sein Bruder ins Büro gestürmt kam.

»Hast du gleich mal ne’ Stunde Zeit?«, fragte er gehetzt. Seine langen, blonden Haare, die er oft einfach wachsen ließ, umwehten seinen Kopf. Rick mochte es nicht, wenn man ihn so überfiel.

»Kannst du nicht wie jeder normale Mensch anklopfen?«

Kevin ging auf den Vorwurf gar nicht ein. Er flegelte sich in den ledernen Besuchersessel, schnappte sich eine Wohnzeitschrift vom Tisch und durchblätterte sie oberflächlich.

»Brauche deinen Rat, großer Bruder!«

Kevin war mit einem kurzärmligen, schwarzen T-Shirt und einer verwaschenen, blauen Jeans bekleidet. Schuhe hatte er nicht an. Seine nackten Füße lugten aus den Hosenbeinen heraus. Rick betrachtete seinen Bruder immer noch verärgert. Sein Aufzug passte einfach nicht hierher. Er wirkte wie ein Fremdkörper in dieser durchstylten Umgebung. Das Büro war mit anthrazitfarbenen Teppichboden ausgelegt. Die Möbel hellgrau und hochglänzend. Einige moderne Bilder, in grellen Farbtönen, betonten die mausgrauen Wände. Die vornehme Atmosphäre erhellte strahlendes Sonnenlicht, das durch ein breites, raumhohes Fenster den Raum durchflutete. Rick musste jedoch schmunzeln, als ihm einfiel, dass sein Bruder seine Wohnung und auch diesen Raum eingerichtet hatte.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, fragte er versöhnlich.

»Will oben einige Wände einreißen. Du hast doch bestimmt noch die alten Baupläne?«

Kevin sah über die Zeitschrift seinen Bruder erwartungsvoll an.

»Die sind in der Ablage, unten im Keller«, antwortete Rick nach kurzer Überlegung.

Im Gegensatz zu Kevin hatte Rick dunkelbraunes Haar und einen dunklen, schmalen Oberlippenbart. Seine gepflegte Er-scheinung war ein weiterer, auffallender Unterschied zwischen ihnen. Ähnlichkeit war jedoch zweifelsfrei an den blauen Augen abzulesen. Man konnte an ihnen und auch am schlaksigen Körperbau ihren Verwandtschaftsgrad ablesen.

Kevin war aufgestanden.

»Kannst du mir nicht gleich ein paar Arbeitskopien der alten Pläne machen? Du weißt schon, Grundrisse, Schnitte...Bin fürchterlich im Druck, großer Bruder, muss noch einen Plan zeichnen, bevor Anna kommt!«

Im Hinausgehen wedelte Kevin mit der Zeitschrift.

»Bring ich dir gleich wieder, wenn ich die Pläne hole!« und weg war er.

Rick hörte nur noch seine Schritte auf der Treppe, auf der Kevin gewöhnlich drei Stufen auf einmal nahm. Er seufzte, stand auf und begab sich in den Keller. Kevin hatte Glück, dass er zufällig Zeit hatte. Sonst wäre der Überfall wieder ein Grund für eine Streiterei gewesen. Als er jetzt die alten Akten aufschlug und nach den Plänen sah, erinnerte er sich an die vielen Auseinandersetzungen in ihre Kindheit. Rick war sich bewusst, dass er selbst der Auslöser endloser Konfrontationen gewesen war. Er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, seinem jüngeren Bruder seinen Willen aufzuzwingen. Den Frust über die ständigen Belehrungen und Ermahnungen des Vaters hatte er stets an Kevin weitergereicht. Doch das war Vergangenheit und Rick dachte nur ungern daran. Er verdrängte die Erinnerung, da sie ein schlechtes Gewissen in ihm hervorrief. Ihr Vater war schon vor Jahren ausgezogen und dass Kevin mit ihm gegangen war, hatte er gut verstanden. Sein eigenes Verhältnis zum Vater war immer zwiespältig gewesen. Dessen Bevormundung hatte er nur schwer ertragen. Obwohl Kevin zwei Jahre jünger war als er, wurde er vom Vater ständig als Vorbild dargestellt. Kevin brachte bessere Noten nach Hause. Kevin war zuverlässiger. Kevin war aufmerksamer. Kevin... Kevin... Gott sei Dank war das Vergangenheit. Inzwischen waren neun Jahre vergangen. Als Rick jetzt die Pläne unter den Kopierer legte, dachte er daran, dass heute das Verhältnis zu seinem Bruder besser war. Doch das war nicht sein Verdienst. Kevin schien ihm sein früheres Verhalten nicht nachzutragen. Er stellte auch keine Bedrohung mehr dar. Als sie Kinder waren hatte er das anders gesehen. Kevin hatte ihm die Aufmerk-samkeit und Liebe seiner Eltern entzogen. Rick empfand das heute noch so. Es hatte ihn verstockt und hinterhältig werden lassen...

Das konnte nur Anna sein. Er hörte oben im Flur den Türsummer und die Haustür aufspringen. Dann vernahm er ihre Schritte auf der Treppe, deren Rhythmus er inzwischen genau kannte. Nachdenklich ordnete er die Zeichnungen wieder in die Akte, nahm die Kopien und wandte sich der Kellertreppe zu. Im Büro ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Wieso dachte er über Anna soviel nach? Machte sie ihn wirklich an, oder bildete er sich das nur ein? Weshalb beschäftigte ihn diese Frau so stark? Er stand jetzt auf und öffnete die große Terrassentür. Um sich ablenken, trat er in den Garten hinaus. Beim Anblick des Grüns fiel ihm ein, dass es Zeit wurde, den Rasen zu mähen. Es war Freitag Nachmittag und das gute Wetter würde sich halten. Es waren noch einige Anrufe zu erledigen, dann würde er sich an die Arbeit machen. Jetzt freute er sich darauf.

Als er wieder das Büro betrat, stand Anna in der Tür. Sie hatte ihn wohl beobachtet, denn sie stand reglos im Türrahmen und sah ihn aufmerksam an. Ihre dunklen Augen taxierten ihn jetzt noch ernst. Aus Verlegenheit verzog Rick den Mund zu einem Grinsen, als er sie ansprach:

»Hallo Anna, habe dich eigentlich nicht erwartet.«

Anna löste sich aus dem Türrahmen und kam jetzt lächelnd auf ihn zu.

»Ich muss dich um Asyl bitten. Kevin hat mich für eine halbe Stunde rausgeschmissen. Er will seinen Plan unbedingt fertig stellen und er war der Meinung, dass ich ihn nur ablenke.«

»Das würde mir auch so gehen«, grinste Rick.

Anna war nur mit einer kurzen Sporthose und einem weiten Oberhemd bekleidet. Ihre Füße steckten in einfachen Gummilatschen. Sie trat dicht an Rick heran und küsste ihn auf die Wange. Ohne den Kopf zurückzunehmen sagte sie:

»Lenke ich dich etwa auch ab?«

Rick hatte ihren Atem auf seiner Haut gespürt. Er holte tief Luft, ehe er stockend und ausweichend antwortete:

»Ich will in den Garten, Rasen mähen. Muss mich nur noch umziehen. Du kannst mir aber helfen, wenn du willst.«

»Helfen? Beim Umziehen?«, fragte sie burschikos und sah ihn unverwandt an. Rick lachte verlegen auf:

»Anna! Bring einen alten Mann nicht durcheinander. Du kannst schon mal den Mäher aus dem Schuppen holen. Ich komme gleich nach.«

Um Fassung bemüht kamen Ricks Worte gepresst aus seinem Mund. Ihre Augen trafen sich für einen kurzen Moment, dann brach Rick den Blickkontakt ab. Er flüchtete buchstäblich aus dem Raum, da er nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Den spöttischen Blick Annas in seinem Rücken sah er nicht mehr. Er hörte nur ihre Stimme, die hinter ihm herrief:

»Beeil dich bitte!«

In seiner Wohnung angekommen, blieb Rick unschlüssig stehen. Er spürte wie aufgewühlt er war. War es hier so heiß, oder bildete er sich das nur ein? Mechanisch zog er sich aus. Das weiße Baumwollhemd und die helle Hose hing er sorgfältig im Schlafzimmer auf einen Bügel. Es fiel ihm schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Annas Anwesenheit hatte ihn gefreut, gleichzeitig aber total verunsichert. Er ging ins Bad und hielt seinen Kopf unter einen kalten Wasserstrahl. Wie wohl das tat. Er würde Annas Anspielungen einfach ignorieren. Das musste doch möglich sein. Mit diesem Vorsatz zog er eine alte Hose und ein T-Shirt über und verließ seine Wohnung. Auf der Terrasse angekommen, sah er sich nach Anna um. Doch sie war nirgends zu sehen. War sie im Geräteschuppen? Plötzlich hörte er ihre Stimme. Sie schien im Vorgarten zu telefonieren. Rick ging auf die Hausecke zu, blieb dann aber abrupt stehen, als er ihre Worte verstehen konnte.

»Franco, jetzt werde nicht komisch. Ich hab dir doch gesagt, dass ich übers Wochenende in Oerlinghausen bin....Nein.... ich kann jetzt nicht nach Detmold kommen....Montag....Du wirst doch bis Montag warten können....Ja, wenn ich es dir sage, Montag bring ich dir das Geld....natürlich,....kannst dich drauf verlassen....Ich kann jetzt nicht weiterreden....ja....Montag. «

Anna hatte ihre Stimme bei den letzten Sätzen gesenkt, als wären sie für fremde Ohren nicht bestimmt. Rick gewann den Eindruck, dass ihr das Gespräch unangenehm gewesen war, denn sie hatte nervös und genervt geklungen. Irritiert stieg er in die Holzsandalen, die auf der Terrasse standen. Wer war Franco? Der Name war ihm fremd. Nie hatte Anna irgendeinen Franco erwähnt. Als sie an der Hausecke auftauchte und ihn auf der Terrasse stehen sah, konnte Rick den Schreck in ihren Augen ablesen. Sie fing sich aber sofort wieder und ein verlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Musste noch ein Telefonat annehmen«, sagte sie und deutete auf ihr Handy. »Werde das Ding aber jetzt abstellen, damit wir Ruhe haben.«

Sie fingerte an der Tastatur des Handys herum, als Rick sie fragte:

»Sag mal, wer ist denn dieser Franco? Ich hab den Namen eben unfreiwillig gehört. Du hast nie von ihm gesprochen.«

»Franco? – Der ist in meiner Laufgruppe in Detmold. Der Kerl nervt mich ständig. Fragt mich andauernd ob ich mit ihm laufe.«

Sie hatte ihn bei der Antwort nicht angesehen, war auf die Gartenmöbel zugegangen und hatte ihr Handy auf den Tisch abgelegt. Jetzt drehte sie sich zu Rick um, grinste ihn frech an und fragte:

»Sag mal, hast < du > denn keine Lust mal mit mir zu laufen?«, während ihr Blick prüfend an ihm herunterglitt.

»Laufen?«, echote Rick irritiert.

»Ja, nur wir beide, wäre doch schön.«

Anna hatte sich lässig an die Tischkante gelehnt und ihre langen Beine übereinander geschlagen. Rick registrierte, dass er sie anstarrte.

»Du weißt doch, dass ich nicht trainiert bin. Ich hätte doch keine Chance mitzuhalten«, antwortete er zögernd.

»Du sollst ja nicht gegen mich laufen, sondern mit mir«, grinste sie. »Die Strecke oben am Steinbruch ist meistens menschenleer, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass dich jemand sieht, wenn dir die Puste ausgeht. - Dort wären wir bestimmt allein - .«

Anna sah Rick vielsagend an und der Tonfall ihrer Stimme ging Rick unter die Haut. Der Gedanke mit ihr allein zu sein, beflügelte intuitiv seine Phantasie. Er hatte große Mühe sein Befinden zu verbergen und versuchte möglichst gelassen zu antworten:

»Na ja, es wäre bestimmt gut, wenn ich etwas für meine Kondition tun würde.«

Seine eigene Stimme kam ihm plötzlich fremd vor.

»Heißt das, du kommst mit?«

»Wenn du mir versprichst, dein Tempo meinen Fähigkeiten anzupassen – ja.«

»Da mach dir mal keine Sorgen, deinen Wünschen komme ich bestimmt entgegen«, lachte Anna ungeniert.

Verdammt, ihre Art sich auszudrücken, konnte man nur missverstehen. Oder war alles nur Einbildung? Rick versuchte in ihren Augen eine Antwort zu finden. Wie immer blieben sie unergründlich.

»Wann sollen wir denn los?«, fragte er, um nicht auf ihre Doppeldeutigkeit einzugehen.

»Passt es dir morgenfrüh?«

»So gegen elf würde gehen, ich habe vorher noch einen Be-sichtigungstermin«, antwortete Rick.

Sein Puls überschlug sich inzwischen.

»Okay, sagen wir elf Uhr am Parkplatz oben im Wald.« Anna löste sich mit einem Lächeln auf ihren Lippen vom Tisch und kam auf ihn zu. Doch dann sah sie an ihm vorbei und ihr Lächeln erstarb.

»Ihr wollt euch im Wald treffen?«, hörte Rick plötzlich Kevins Stimme hinter sich. »Was soll ich denn davon halten!?«

Kevin stand in der offenen Bürotür und starrte sie an. Eine Schrecksekunde lang gefror das Blut in Ricks Adern. Dann nahm er wahr, wie Anna in ein helles, unbekümmertes Lachen verfiel, auf Kevin zusteuerte, ihn in den Arm nahm und mit ihren Händen sein langes Haar durchwühlte.

»Mein Lieber, da bist du ja endlich. Ich hab schon gedacht du hast nur noch dein Studium im Kopf. Dein Schatz geht morgen mit dem alten Mann da laufen, damit er nicht ganz verrostet.«

Ohne sich umzudrehen, deutete sie mit dem Daumen über ihre Schulter, küsste Kevin leidenschaftlich auf den Mund und kicherte dann belustigt auf. Rick konnte jedoch an Kevins Miene ablesen, dass er die Sache nicht so lustig fand, denn er sah ihn skeptisch mit hochgezogenen Brauen an.

»Bist du mit der Planung fertig? Ich bin schon ganz gespannt, welche Grundrisslösung du erarbeitet hast«,

hörte Rick Anna mit kindlicher Neugierde sagen.

Sie will ihn ablenken, schoss es Rick durch den Kopf. Ohne jedoch auf Annas Frage zu antworten, löste Kevin sich von ihr und sagte vorwurfsvoll an Rick gewandt:

»Wie bist du nur auf die verrückte Idee gekommen, mit Anna laufen zu wollen?«

»Das war meine Idee«, schaltete sich Anna ein. »Ich hab ihm versprochen, mein Tempo seinen Möglichkeiten anzupassen. Ich will ja nicht, dass er mir unterwegs zusammenbricht.«

»Komm doch mit, ein bisschen Bewegung würde dir bestimmt nicht schaden«, sagte Rick mit belegter Stimme.

Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Das Misstrauen seines Bruders war allzu deutlich. Kevin schien über den Vorschlag nachzudenken. Er stand barfuss auf der Terrasse, seine Hände in den Gesäßtaschen seiner Jeans vergraben und sah abwechselnd Rick und Anna an.

»Lasst mich mal da raus. Ihr wisst, dass ich dazu keine Lust habe. Außerdem möchte ich an dem Projekt weiter arbeiten.«

»Jetzt zeig mir erst mal den Grundriss!« Anna zog Kevin ins Haus, doch an der Tür drehte er sich noch mal zu Rick um:

»Hast du mir die Kopien gemacht? – du weißt, wegen meiner Umbauabsichten.«

»Sie liegen auf meinem Schreibtisch«, antwortete Rick, froh darüber, dass man vom Thema Laufen abgekommen war.

»Ich will jetzt erst mal den Rasen mähen, danach komme ich vielleicht noch rauf.«

»Wir können auch morgen über die Sache sprechen«, sagte Kevin bestimmt. Er sah Rick ernst an und ging an Anna vorbei ins Haus. Einen kurzen Moment schaute Anna Rick ver-schwörerisch an, dann verschwand auch sie.

Rick hatte Kevins Blick aufgefangen. Er kannte diesen Ausdruck genau. Eine Mischung aus vorwurfsvollem Nichtverstehen, Trotz und Traurigkeit. Er hatte seinen Bruder getäuscht. Soviel war klar. Den gleichen Ausdruck in den Augen hatte Kevin als Kind gehabt, wenn er ihn angelogen oder hintergangen hatte. Ahnte Kevin, dass er nicht am Laufen, sondern mehr an Anna interessiert war? Sicher, sonst hätte er ihn nicht so angesehen. Verflucht, warum hatte er sich auf Annas Spiel eingelassen? Wie war es überhaupt dazu gekommen? Jetzt fiel ihm dieser Franco wieder ein. Schuldete Anna ihm nicht Geld, dass sie ihm am Montag bringen wollte? Welches Geld? Langsam kam ihm der Verdacht, dass sie ihn nur von Franco ablenken wollte, als sie den Vorschlag machte, mit ihm zu laufen. So wie sie eben Kevin abgelenkt hatte. Aber das war nur eine Vermutung. Sicher war nur, dass Kevin sauer war. Er wird es verkraften, sann Rick nach. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem gehässigen Grinsen. Die Chance, mit Anna allein zu sein, war zu verführerisch.

Beim Rasenmähen überlegte Rick, wie er den Rest des Abends verbringen sollte. Er hatte mehrmals verstohlen zum Haus hinüber gesehen, um von Anna einen Blick zu erhaschen. Sie war aber weder am Fenster, noch auf der Terrasse des Garagendaches aufgetaucht. Nur Kevin hatte ihn beim Schließen des Fensters kurz beobachtet, sich aber sofort abgewandt, als er zu ihm hinauf sah. Den Abend würde er mit den Beiden nicht verbringen können. Er beschloss ins Dorf zu gehen und ein Bier im Movie zu trinken. In der Kneipe war immer was los. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Rick sah mit gewissem Stolz über das Anwesen. Nachdem er mit einem Rechen die dicht bewachsenen Randzonen gesäubert hatte, machte der Garten wieder einen gepflegten Eindruck. Das Elternhaus, ein einfacher Bau mit einem roten Satteldach, war im letzten Herbst neu gestrichen worden. Um dem schlichten Haus mehr Charakter zu verleihen, hatte Rick weiße Fensterläden anbringen lassen, die sich vom hellgelben Anstrich wohltuend absetzten. Kevin hatte das als Zuckerbäcker-Architektur bezeichnet, aber ihm gefiel es. Zufrieden ging Rick ins Haus zurück. Der elterliche Besitz gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und ein Stück Selbstvertrauen.

Der Abend verlief anders, als Rick es sich vorgestellt hatte. Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen, die auch nicht weichen wollte, als er im Movie Bekannte traf. Er hatte Mühe, sich auf die Gespräche zu konzentrieren. Das Bier schmeckte nicht und die gelöste Stimmung an der Theke nervte. Eigentlich hatte er auch eine Kleinigkeit essen wollen, aber sein Magen schien wie zugeschnürt zu sein. Schließlich verließ er das Lokal, in der Hoffnung an der frischen Luft Ruhe zu finden.

Ziellos schlenderte er durch den Ort. Ihm war bewusst, dass er dem Treffen mit Anna entgegenfieberte. Auch die Disharmonie zu Kevin machte ihm jetzt zu schaffen. Doch dieser ruhelose Zustand war ihm nicht fremd. Er hatte immer irgendwelchen Dingen nachgejagt. Die Rastlosigkeit war ein Teil von ihm geworden. Ständig hatte er Abwechselung in flüchtigen Bekanntschaften gesucht. Auch beruflich jagte er dem Erfolg hinterher. Er fühlte sich ständig herausgefordert, war immer auf dem Sprung. Obwohl er sich heute für einen erfolgreichen Geschäftsmann hielt, denn sein Maklerbüro warf inzwischen gute Gewinne ab, war er trotzdem oft unzufrieden. Sein mangelndes Selbstbewusstsein suchte fortwährend Bestätigung. Wichtig waren für ihn Äußerlichkeiten. An ihnen richtete er sich aus. Statussymbole bestimmten den Wert der Dinge. Sie waren für Rick von entscheidender Bedeutung. Ein schönes Haus in bester Wohnlage, oder auch eine besondere gesellschaftliche Stellung waren Dinge, die aus seiner Sicht Selbstwertgefühle vermitteln konnten. Kevins Selbstsicherheit verstand er nicht. Woher sein Bruder die Kraft für seine unerschütterliche Ruhe, das Vertrauen in sich selbst und die Zufriedenheit mit seinem Dasein nahm, wusste er nicht. Wie oft hatte er versucht, das Selbstvertrauen Kevins zu erschüttern. Ohne Erfolg.

Rick hatte unbewusst den Heimweg eingeschlagen. Seine Unruhe hielt an und er war so in Gedanken vertieft, dass er die Schönheit der lauen Sommernacht nicht registrierte. Das fahle Licht der wenigen Straßenlaternen begrenzte seine Wahrnehmung auf eine kleine, menschenleere Welt, in der er sich verloren vorkam. Plötzlich fühlte er sich einsam. Das Haus lag im Dunkeln, als er das Grundstück betrat. Annas Wagen war verschwunden und Rick nahm an, dass sie mit Kevin unterwegs war. Frustriert betrat er seine Wohnung. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht.

Die Stille im Haus umgab ihn wie ein undurchdringlicher Nebel. Sie isolierte ihn, legte seine überreizten Nerven offen und machte ihm gleichzeitig seine aufkommende Müdigkeit bewusst. Benommen begab er sich ins Schlafzimmer, zog sich aus und legte sich ungewaschen ins Bett. Mit geschlossenen Augen sah er Annas Bild auftauchen. Sie grinste ihn unverschämt an und forderte ihn auf näher zu kommen. Er musste sich zugestehen, dass er der Verlockung kaum noch standhalten konnte. Der Gedanke, sie zu berühren, löste alle Dämme in ihm auf. Mehrmals wurde er in dieser Nacht von wirren Träumen wach. Im halbwachen Zustand hasste er sich, hasste seine eigene Schwäche, hasste Kevins unbekümmerte Sicherheit und Freude am Leben. Später beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er konnte es nicht benennen, doch es beunruhigte und ängstigte ihn. Die Vorahnung eines schrecklichen Ereignisses legte sich wie ein dunkles Tuch über ihn und drohte ihn zu ersticken.

Am anderen Morgen war alles anders. Helles Sonnenlicht weckte ihn. Es war Wochenende und der strahlende Sommertag ließ ihn seine düsteren Gedanken vergessen. Er ging zur Terrasse hinaus und sog begierig die frische Morgenluft ein. Der Duft des gemähten Grases hing noch in der Luft. Rick liebte diesen Geruch. Entspannt begab er sich ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Das Sonnenlicht zauberte einen kleinen Regenbogen in den sich ausbreitenden Wasserstrahl. Seine Hand mit Duschgel nahm jeden Muskel und jede Rundung seines Körpers wahr, als er sich einseifte. Er spürte, wie angespannt und empfindlich er reagierte. Bei dem Gedanken an Anna stellte sich spontan eine Erektion ein. Sofort verwarf er den Gedanken und ließ jetzt eiskaltes Wasser über sich laufen. Die Kälte spülte seine Erregung und Empfindlichkeit in den Abfluss. Er verharrte so lange unter dem Wasserstrahl, bis seine Haut taub war. Beim Anziehen fühlte er sich frisch und ausgeruht. Alles versprach, dass es ein schöner Tag werden würde. Ein Besichtigungstermin stand noch an, dann würde er mit Anna laufen. Was war schon dabei. Jetzt freute er sich darauf, sie zu sehen.

Da die Besichtigung des Objektes kürzer ausfiel, als geplant, war Rick schon früher an der verabredeten Stelle. Ein Parkplatz, der ringsum von dichtem Wald umgeben war. Er zog sich um und beobachtete gespannt die Auffahrt. Ob Anna wirklich kommen würde? Jetzt zweifelte er daran. Als er am Morgen das Haus verlassen hatte, stand ihr Wagen wieder vor der Garage. Weder sie noch Kevin waren ihm begegnet. Das Warten machte ihn nervös. Ungeduldig lief er hin und her. Ein kühler Luftzug ließ ihn für einen Moment frösteln, denn der Platz lag noch im Schatten. Er überlegte, dass die leichte Brise fürs Laufen ideal war, denn es machte die Hitze erträglich. Jetzt nahm er ein Motorengeräusch wahr. Es näherte sich und wurde immer lauter. Dann sah er sie. Anna bog mit ihrem offenen VW-Käfer in den Parkplatz ein. Rick registrierte wie hinreißend sie aussah. Als sie ihren Wagen neben seinem anhielt und ausstieg, konnte er nur schwer seinen Blick von ihrer schlanken Figur nehmen. Sie winkte zu ihm herüber und rief: »Ich muss nur noch meine Laufschuhe anziehen, dann bin ich soweit.«

Er beobachtete, wie sie ihre Schuhe zuband. Diese Frau bringt mich noch um den Verstand, durchfuhr es ihn. Leichtfüßig kam sie jetzt auf ihn zu. Sie trug eine hautenge, knielange Hose, die nichts verdeckte, sondern eher alles betonte. Darüber fiel locker ein weit ausgeschnittenes T-Shirt. Anna sah ihn übermütig an und sagte lachend:

»Hallo Rick, bist du sicher, dass du nur mit mir laufen willst?«

Das < nur > hatte sie besonders betont.

Ihr loses Mundwerk und ihre freche, herausfordernde Art machte ihn stumm. Verzweifelt suchte er nach Worten und nahm gleichzeitig wahr, wie sie seine Unsicherheit registrierte.

Spöttisch verzog sie ihren Mund zu einem Grinsen.

»Ist Kevin sauer, weil wir uns hier treffen?«, antwortete Rick, um auf ihre Frage nicht eingehen zu müssen.

»Dein lieber Bruder ist momentan nicht an mir, sondern mehr am Studium interessiert«, antwortete sie bedeutungsvoll.

Rick nahm sie kurz in den Arm und küsste sie leicht auf die Wange. Ihr Duft war betörend.

»Es ist jedenfalls schön dich zu sehen. Ich hatte gestern nur den Eindruck, dass Kevin mit unserem Vorhaben nicht einverstanden war.«

»Was sollte er dagegen haben? Wir laufen doch nur durch den Wald. Oder hast du dir etwas anderes vorgestellt?«

Anna sah ihn gespielt unschuldig an.

»Vorstellen kann ich mir alles. Du brauchst da aber keine Bedenken haben. Ich werde ganz artig hinter dir her laufen«, antwortete Rick und versuchte seiner Stimme einen möglichst gelassenen Unterton zu geben, um seine Anspannung zu verbergen. Gleichzeitig wusste er, dass diese Bemühung umsonst war. Sie hatte längst seinen Zustand erraten.

»Wenn du so gut laufen kannst, wie Sprüche klopfen, werde ich Mühe haben dir zu folgen«, lachte sie und lief los, den Waldweg hoch. Die Laufstrecke war ein Rundkurs und der Weg führte durch hügeliges, stark bewaldetes Gelände.

Rick folgte ihr so gut es ging. Anna war zweiundzwanzig und damit sechs Jahre jünger als er. Da er hinter ihr herlief, konnte er sie beim Laufen beobachten. Der Wunsch sie zu besitzen wurde immer stärker. Er mochte es, wie sie sich bewegte. Sie lief leichtfüßig und das Spiel ihrer Muskeln war durch die eng anliegende Hose sichtbar. Als sie das Tempo leicht erhöhte, kam Rick erstmals der Gedanke, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, Anna zuzusagen, aber der Wunsch, mit ihr allein zu sein, hatte alle anderen Gedanken in weite Ferne gerückt. Würde er sich blamieren? Aber genau das würde passieren, wenn das Tempo so weiterging. Er musste sich etwas einfallen lassen. Die Strecke ging weiter bergauf und sein Atem kam jetzt stoßweise aus seinen Lungen. Annas Laufschritt war gleichmäßig und ruhig. Sie hatten den alten Steinbruch erreicht, an dessen Kante sich jetzt der Waldweg noch steiler nach oben wand. Auf diesem Steilstück fiel er immer weiter zurück. Rick kam der Gedanke, einen verstauchten Knöchel vorzutäuschen und schrie einmal kurz auf. Dann humpelte er ein paar Schritte und blieb stehen.

Als Anna den Schrei vernahm, war sie ebenfalls stehen geblieben. Neugierig kam sie auf ihn zu.

»Hast du dich verletzt?«

»Mein.... Knöchel«, stieß er hervor und versuchte sich bei ihr abzustützen, indem er seinen Arm um ihre Schulter legte. Ihre Haut war schweißnass und elektrisierte ihn förmlich. Sie hatten beide auf seinen Fuß gestarrt. Er hob aber jetzt den Kopf und legte seinen Mund an ihren Hals. Der Kuss rief starkes Verlangen in ihm hervor und er zog sie näher an sich heran. Sie kam ihm entgegen und berührte mit ihrer Hüfte scheinbar unabsichtlich sein Glied. Rick schmeckte die salzige Feuchtigkeit auf ihrer Haut, erwiderte den Druck und küsste leidenschaftlich ihre geöffneten Lippen. Sie erwiderte den Kuss, schob beide Hände unter sein T-Shirt und drückte ihn an sich. Er tastete jetzt mit seiner rechten Hand nach ihrer Brust. Doch als er sie berührte, stieß sie ihn urplötzlich von sich.

»Bist du verrückt geworden?«, platzte es aus ihr heraus.

Rick keuchte erregt und er machte erneut den Versuch, sie an sich zu klammern. Er konnte die neue Situation nicht verstehen, wollte in ihren Augen ablesen, was sie dachte. Irritiert sah er das verlangende Glitzern in ihren Augen. Ihr leicht geöffneter Mund sprach die gleiche Botschaft. Er reagierte jetzt nur noch, konnte seinem Verlangen nur ohnmächtig nachgeben. Seine Hand hatte ihr T-Shirt gefasst.

»Warum so stürmisch? Kannst du es nicht erwarten?«

Ihre Stimme lockte, doch ihre Arme stießen ihn erneut in ein Vakuum hinein. Kaum nahm er wahr, wie ihr T-Shirt zerriss. Wie von Sinnen starrte er auf ihren nackten Busen. Abermals versuchte er sie an sich zu reißen. Sie sah ihn jetzt spöttisch an, genoss sein unbändiges Verlangen, umfasste mit beiden Händen ihre Brust und hielt sie ihm entgegen. Gleichzeitig bewegte sie sich lauernd rückwärts, von ihm weg, ohne zu merken, dass sie sich gefährlich der Abbruchkante des Steinbruchs genähert hatte. Ihren verlangenden Blick auf Ricks ausgebeulte Hose gerichtet, ging ihr nächster Schritt ins Leere. Rick sah nur noch ihre weit aufgerissenen, erstaunten Augen, dann war sie weg, einfach weg. Er hörte mit zunehmenden Entsetzen ihren langgezogenen Schrei und den dumpfen Aufschlag ihres Körpers im Abgrund. Dann war es still. Unheimlich still. Er brauchte einige Zeit in die Wirklichkeit zurück. Wie benommen stand er da und versuchte, das Geschehene zu begreifen. Die Sonne schien nicht mehr, der Wald hatte aufgehört zu existieren. Es gab nur noch diesen verfluchten Abgrund. Sein lähmendes Entsetzen verstärkte sich mit jedem Herzschlag. Es schlug zum Hals heraus, als wolle es sich übergeben. Sein stierer Blick suchte nach einem Halt, etwas Festem, an das man sich klammern konnte. Langsam nahmen die Dinge wieder ihre Form an. Der blutrote Wald wurde wieder grün, und die absolute Stille wurde vom Gezwitscher der Vögel verdrängt. Vorsichtig näherte Rick sich dem Abgrund. Ängstlich sah er über die Kante in den Steinbruch hinunter. Anna lag dort unten, eigenartig verkrümmt, neben einem Busch. War sie in das Strauchwerk gefallen? Es befand sich in der direkten Falllinie. Anna jedoch lag daneben, auf blankem Felsen.

Mein Gott, wie war das nur passiert. Ricks Gehirn fing wieder an zu arbeiten. Aus dem Stand lief es jetzt auf Hochtouren. Fieberhaft überlegte er, was zu tun sei. Er musste Hilfe holen. Jetzt sofort. Nach Anna zu sehen, hatte keinen Zweck, wertvolle Zeit würde verloren gehen, da der Weg in den Steinbruch zu weit war. Ob sie wohl noch lebte? fragte er sich. Hoffnung stieg in ihm auf und wurde zum Motor. Er rannte los, den Waldweg zurück. Seine Geschwindigkeit musste er zügeln, da es in Windungen bergab ging. Hatte er sein Handy im Auto? Hatte er es überhaupt mitgenommen? Er versuchte sich zu erinnern. Als er jetzt den Parkplatz erreichte, standen ihre Autos wie verwaist im Schatten der Bäume. Seine Hoffnung, dort jemanden anzutreffen, zerstob in tausend Stücke. Sein Autoschlüssel, wo war sein Autoschlüssel? Gehetzt durchsuchte er seine Hosentaschen. Ja, da waren sie. Mit zitternden Händen schloss er seinen Wagen auf. Wo war das Handy? Nein, er musste es zu Hause liegen gelassen haben. Verflucht, hatte Anna ihr Handy mitgenommen? Er sprang zu ihrem offenen Wagen hinüber und durchsuchte ihn. Auch das Handschuhfach war leer. Scheiße, verdammte Scheiße, er musste zu einem Telefon. Wo war hier ein Telefon? Seine Gedanken fuhren bereits die Landstraße hinunter, bis in den Ort hinein. Ja, an der ersten Kreuzung stand eine Telefonzelle. Er sah sie deutlich vor sich. Überhastet stieg er in seinen Wagen und raste ohne sich anzuschnallen los. Hoffentlich lebte sie noch, hoffentlich! Wie von Sinnen beschleunigte er den Wagen bis an das Machbare. Mit quietschenden Reifen nahm er die Kurven der sich windenden Landstraße. Zu spät sah er den Trecker mit dem voll beladenen Anhänger, der vom Feld auf die Straße fuhr.

Ausweichen konnte er nicht mehr. Die Landstraße war auf beiden Seiten mit dicht stehenden Bäumen flankiert. Der Schreck war fürchterlich. Mit aller Kraft stieg er auf die Bremse. Doch in der nächsten Sekunde war ihm bewusst, dass er in den Anhänger rasen würde. Mit weit aufgerissenen Augen sah er das Hindernis auf sich zukommen. Es gab kein Entrinnen. Mit dumpfen Knall brach sein Wagen in die hintere, linke Seite des Anhängers.

Seine letzten Sekunden dehnten sich ins Unermessliche. Er sah sich als Kind mit seiner Mutter im Garten, sah den Drachen, den er mit seinem Vater gebaut hatte, sah seinen Bruder im Sandkasten spielen. Im Zeitraffer lief sein Leben vor ihm ab. Als er den Sturz Annas in den Steinbruch noch mal durchlebte, jede Kleinigkeit wie in Zeitlupe, an sich vorbeilaufen sah, packte ihn eine fürchterliche Angst. Dann war es soweit. Die Lenksäule drang tief in seinen Brustkorb ein. Es tat eigentlich gar nicht so weh, dachte er noch, als sein Kopf auf dem Armaturenbrett aufschlug. Jäh wurde es dunkel.

Doch dann geschah etwas Unglaubliches. Wie aus einem tiefen Schlaf erwachend nahm er seine Umgebung wieder wahr. Wieso lebte er noch? Er sah sich selbst total verkrümmt und blutüberströmt im Auto sitzen. Eine eigenartige Leichtigkeit nahm ihn gefangen. Langsam, ganz langsam löste er sich aus der Betrachtung. Jetzt sah er das Auto, das nur noch ein Haufen zusammengedrücktes Blech war, unter sich. Sah den jungen Mann, der in einer viel zu großen Latzhose steckte, erschrocken vom Trecker springen. Er entfernte sich weiter, immer weiter. Die Straße, die sich wie ein Bandwurm durch die Landschaft schlängelte, verschwand. Ein eigenartiges Licht umgab ihn jetzt. Die Sonne war es nicht, dachte er. Ruhe trat ein. Eine absolute Ruhe in Verbindung mit einer erstaunlichen Geborgenheit. Wie wohl das tat.

Dann war da noch etwas. Er konnte es erst nicht benennen. Es war nur angenehm und es wurde immer stärker. So etwas wie Liebe umgab ihn. Er spürte es jetzt deutlich. Dieses Gefühl durchdrang ihn immer mehr. Es erhält mich am Leben, dachte er. Eine Energie, die völlig Besitz vom ihm nahm, verbunden mit diesem eigenartigen Licht. Das Licht nahm jetzt langsam ab. Er hatte das Gefühl zu schweben. Erste Umrisse wurden wieder deutlich. Grenzenloses Erstaunen erfasste ihn, als er die Erde als Kugel sah. Wie ein riesiger blau schillernder Ball bewegte sie sich durchs All. Und er entfernte sich weiter, mit zunehmender Geschwindigkeit. Eine Energie hatte ihn erfasst, die ihn immer schneller von der Erde wegzog. Die strahlend blaue Erdkugel wurde kleiner, bis sie schließlich mit ihrem Mond nur noch kleine, helle Punkte waren. Die absolute Ruhe und das Gefühl von Geborgenheit blieb. Er versuchte an sich herunterzusehen, doch da war nichts. Eigenartig, trotzdem existierte er. War das alles ein Traum? Das konnte doch nicht sein. Er fühlte doch seine Arme und Beine, sah sie aber nicht. Er spürte auch die Beschleunigung, die immer noch anhielt. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, die Zeit würde langsamer vergehen, je schneller er wurde. Gab es überhaupt noch irgendeine Zeit, die verging? Nein, eigentlich nicht. Zumindest spürte er sie nicht mehr, oder nur noch ganz gering. Er wusste es nicht genau.

Das All um ihn herum war inzwischen ein glitzerndes Sternen-meer. Doch sie standen nicht still. Mit ungeheurer Geschwindigkeit zogen sie an ihm vorbei, immer noch schneller werdend. Jetzt konnte er schon gar keine einzelnen Lichtpunkte mehr erkennen. Wie Millionen Leuchtspurgeschosse sahen sie aus. Dann wurde es schlagartig dunkel. Eine wohltuende Müdigkeit erfasste ihn und er verlor langsam das Bewusstsein.

Rick...Rick...Als er wieder zu sich kam, hörte er seinen Namen. Erst aus weiter Ferne, dann immer lauter. Rick .... Sonst war alles wie vorher. Dieses wohlige Gefühl zu schweben, die Energie voller Liebe und Kraft. Die Geschwindigkeit schien abgenommen zu haben. War er zum Stillstand gekommen? Oder hörte jetzt der Traum auf?

Rick.....Hallo, Rick. Jetzt war die Stimme ganz nah. Er versuchte die Augen zu öffnen. Hell war es. Einfach nur hell. Schemenhaft bewegte sich etwas. Er konnte es nicht genau erkennen. Augenscheinlich regte es sich. Von dort kam auch die Stimme: »Hallo Rick«, war wieder zu hören. In der Helligkeit, die langsam abnahm, waren Konturen zu erkennen, die einer Person ähnelten. Aber irgendwie sah sie merk-würdig aus - anders. Durchsichtig war sie. Nein auch nicht. Mehr so wie ein Glas voller Rauch. Nun konnte er das Wesen erkennen. Es war bekleidet mit einer Art Mantel, der in vielen Farben schimmerte. Der Kopf war weiß. Auch das Gesicht, ja selbst die Haare. Ein Augenpaar sah ihn interessiert an. »Hallo Rick«, sagte jetzt wieder das Wesen, doch der Mund hatte sich nicht bewegt. »Rick Bender, willkommen«, war jetzt zu hören.

»Wo bin ich?«

»Du hast eine lange Reise hinter dir und musst dich noch ein wenig schonen. Aber gleich wird es dir besser gehen.«

Wieder hatte sich der Mund nicht bewegt.

»Mir geht es gut, aber wo bin ich hier?«

»Cedan heißt der Ort, aber das wird dir jetzt noch nicht viel sagen«, war die Antwort. Die Helligkeit hatte soweit nachgelassen, dass er jetzt die Umgebung wahrnehmen konnte, die einer leicht hügeligen, wüstenartigen Landschaft ähnelte. Ein Meer von wellenartigen, leichten Erhebungen breitete sich vor ihm aus. Erstaunt stellte er fest, dass es kein Sand war. Teilweise sahen die Hügel transparent aus, so als hätten sie keine feste Substanz. Ihre Farbe war wie heller Sand und ging in der Ferne in ein leichtes Blau über. Einen Horizont gab es nicht. Das leichte Blau in der Ferne wurde nach oben hin dunkler, so dass sich über ihm ein dunkelblauer Himmel ausdehnte. Die Szenerie war von erhabener Schönheit. Licht schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen, aber nicht gleichmäßig, so dass es wie Licht und Schatten aussah. Eine Sonne sah er nicht.

»Gefällt es dir?«, hörte er jetzt.

Sein Gegenüber stand auf einer leichten Erhebung und blickte auf ihn herab. Rick lag rücklings auf einer Ebene. Verblüfft stellte er fest, dass er wieder einen Körper besaß. Nur er schien schwerelos zu sein und auf eine eigenartige Weise durchsichtig. Er versuchte mit seiner Hand seinen Oberschenkel zu berühren. Doch der Griff ging ins Leere. Er konnte sich selbst nicht spüren. Auch den Griff nach unten auf den Boden spürte er nicht. Alles um ihn herum war nicht fest, er selbst auch nicht. Dass er total nackt war, nahm er gelassen hin. So etwas wie Schamgefühl kam nicht auf.

»Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte der Andere.

»Versuch mal aufzustehen. Du brauchst nur daran zu denken, aber bitte langsam und vorsichtig.«

Rick versuchte sich abzustützen, um aufzustehen. Aber der Griff ging abermals ins Leere. Dann besann er sich und stellte sich konzentriert vor aufzustehen und im gleichen Moment stand er aufrecht da. Seinen Körper hatte er für den Bewegungsablauf nicht gebraucht. Der Gedanke daran hatte genügt. Unvermittelt erfasste ihn ein Schwindelgefühl und Angst stieg in ihm hoch. Es gab nichts Festes, an dem er sich hätte anlehnen können. Er schwebte über der sandartigen Fläche und hatte das Gefühl gleich abzustürzen. Doch nichts dergleichen geschah. Er registrierte, dass er schwebend an der Stelle verweilen konnte, da er augenscheinlich kein Eigengewicht besaß.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte das Wesen.

Rick musterte jetzt seinen Gegenüber genau. Überraschend wurde ihm klar, dass er die Gedanken des Anderen lesen konnte. Deshalb hatte sich wohl auch der Mund nicht bewegt, als das Wesen ihn angesprochen hatte. Aufmerksam betrachtete er ihn. Sein weißes Haar war bürstenartig kurz geschnitten. Die schlitzartigen, dunklen Augen sahen ihn neugierig an. Sie schienen das einzige, wirklich Lebendige an ihm zu sein. Der weit geschnittene Mantel verdeckte den größten Teil seines Körpers. Nur die unbekleideten Füße schauten unten heraus. Er ist ein Mensch, ein normaler Mensch, kein Überwesen, war ihm jetzt klar. Ein verstorbener Typ aus Japan. Sein Name ist Misaki, Misaki Tendoo stellte er fest. Auch konnte er in die Lebensgeschichte dieses Mannes hineinsehen, je mehr er sich mit ihm befasste. Polizist war er gewesen und hatte eine Frau zurückgelassen, als er gestorben war. Bei einem Banküberfall hatte ihn eine verirrte Kugel getroffen. Seine Ordnungsliebe, seinen Hang zur Perfektion, seine starke Disziplin und Selbstbeherrschung traten offen hervor. Weder Zuneigung, noch Ablehnung konnte Rick herauslesen. Es war eher gleichgültige Freundlichkeit, die ihm entgegengebracht wurde.

Doch dann wurde ihm bewusst, dass der Andere ja auch in ihn und in sein Leben hineinsehen konnte. Er schämte sich seiner Begierde, die zu einer Katastrophe geführt hatte. Sofort musste er wieder an Anna denken.

»Hat sie überlebt?«, fragte er mit seinen Gedanken.

»Das weiß ich nicht, dazu kommen wir später«, sagte Misaki. »Folge mir bitte und versuche einfach mit Hilfe deiner Gedanken, dich zu bewegen. Erst mal musst du wieder laufen lernen.«

»Wohin gehen wir?«, wollte Rick wissen.

»Folge mir einfach«, entgegnete Misaki, »und versuche dich nur auf deine Bewegung zu konzentrieren.«

Er drehte sich um und schwebte davon. Rick beobachtete wie der Andere langsam über die Landschaft glitt, ohne die Arme oder Beine zu bewegen. Vorsichtig wollte er loslaufen, merkte aber schnell, dass das Bewegen der Beine keinen Erfolg hatte. Er ruderte nur auf der Stelle. Misaki sah sich zu ihm um und grinste. Rick konzentrierte sich jetzt auf seine Gedanken und auf die Strecke, die er zurückzulegen hatte. Er stieg etwas an und konnte sich leicht vorwärts bewegen. Dann geriet er in eine Schieflage und versuchte mit Armen und Beinen wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Ohne Erfolg.

»Bleib erst mal stehen und richte dich wieder auf«, hörte er Misaki sagen.

In Ruhestellung gelang es Rick mit Hilfe seiner Gedanken sich wieder gerade zu richten. Dann, ganz langsam, bewegte er sich nach vorn und achtete jetzt darauf aufrecht zu bleiben.

So schwebten beide langsam über die Landschaft dahin. Rick hatte jedoch alle Mühe Misaki zu folgen. Es war nicht einfach, die Geschwindigkeit konstant, die Richtung einzuhalten und auch noch gerade aufgerichtet zu bleiben. Sobald er versuchte sich die Umgebung anzusehen, fing er an zu trudeln, oder driftete ab. Mitunter vergaß er die Höhe einzuschätzen und geriet mit seinen Beinen in den Untergrund. Erstaunt stellte er fest, dass der Boden keinen Widerstand darstellte. Er konnte genauso gut durch den Boden wie über ihm schweben. Ihm fiel ein, dass er sich vorhin ja auch nicht abstützen konnte, als er sich aufrichten wollte. Die Landschaft schien eine Art Projektion zu sein.

»Nur auf die Bewegung achten«, mahnte Misaki.

Nach einiger Zeit hatte Rick sich an die Art, sich fort-zubewegen, gewöhnt. Es fing sogar an Spaß zu machen. Gern hätte er die Geschwindigkeit erhöht. Misaki schwebte jedoch konstant, ohne sich um ihn zu kümmern, vor ihm her. Wie lange sie unterwegs waren, konnte Rick nicht einschätzen. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Überhaupt hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war er jetzt schon tot? Gerade erst, oder schon hundert Jahre? Wie viel Zeit hatte er gebraucht um an diesen Ort zu kommen? Er wusste es nicht.

Plötzlich bemerkte er, dass er in den Untergrund geraten war. Er hatte den Eindruck, als würde er durch eine Nebelwand schweben. Misaki war auch nicht mehr zu sehen. Ein Gefühl von Panik kam auf. Er hatte völlig die Orientierung verloren. Wo war oben, wo war unten? Verdammt, er hatte zuviel über die Zeit nachgedacht. Dann hörte er Misaki lachen. Er folgte dem Gelächter und tauchte wieder auf.

Rick sah jetzt, dass sich die Landschaft verändert hatte. Die Hügel waren größer und mächtiger und das Gelände fiel zu einer Seite steil ab. Es bildete ein Tal, das sich vor ihm ausbreitete. Misaki war stehen geblieben. Er deutete in das Tal und sagte: »Meide diesen Ort.«

Verwundert nahm Rick das Tal in Augenschein. Es machte geradezu einen lieblichen Eindruck. Über weite Strecken war von hier oben dichter Wald zu erkennen. Sonst fiel ihm aber nichts Besonderes auf. »Was ist mit diesem Tal?«, wollte Rick wissen.

»Später«, erwiderte Misaki, »meide es einfach!«

Er wandte sich ab und schwebte einen steilen Hang hinauf. Rick beeilte sich ihm zu folgen. Rechts und links türmten sich die Berghänge immer steiler und höher auf. Sie bildeten eine Schlucht, durch die sie langsam dahin schwebten. Es war still. Kein Laut war zu hören. Das Licht schien gefiltert durch die Felswände zu dringen und verlieh der Umgebung etwas Unwirkliches. Dann war das Ende der Schlucht zu erkennen. Dahinter öffnete sich, etwas tiefer liegend, eine gewaltige Ebene. Was Rick jetzt sah, konnte er kaum glauben. Er brauchte einen Moment um das, was er sah, zu verarbeiten. So etwas wie eine Stadt lag vor ihnen, die sich über die ganze Ebene ausbreitete. Doch eine Stadt im eigentlichen Sinn war es nicht. Es war eine unglaubliche Menge von hausähnlichen Gebilden, die in verschiedenen Höhen über dem Tal schwebten. Er sah Gebilde, die wie Schneckenhäuser aussahen, Glaskugeln, in denen man verschiedene Ebenen erkennen konnte, große Pilze, die auf einer Grünfläche standen. Pyramiden auf Wasserflächen. Große Kuben, an deren Oberfläche sich das Licht brach. Sogar kegelartige Häuser mit riesigen Dächern aus Schilfrohr entdeckte er. Es gab auch Gebilde, die organische Formen hatten und so kompliziert aussahen, dass es schwer fiel, ihre Form zu erfassen. Am auffälligsten waren riesige, blumenartige Konstruktionen, die wie Hochhäuser anmuteten. Sie hatten an ihrer Spitze eine Blüte von gewaltigem Durchmesser und darauf waren große Glaskugeln, die wie Wassertropfen aussahen und als Behausung dienten. Es war ein berauschender Anblick. Überall waren Leute zu sehen, die zwischen den Objekten dahin schwebten. Alle waren sie mit farbenfrohen Gewändern bekleidet.

Unten im Tal war eine Landschaft zu sehen, von der Rick den Blick nicht mehr wenden konnte. Ein großer See breitete sich aus. Seine Farbe war türkisgrün und an seinen Rändern fiel das Wasser kaskadenartig steile Abhänge hinunter. Um den See herum war weißer, wallender Dunst zu sehen, so dass man den Eindruck gewann, der See würde auf einer Wolkendecke schweben. Die ganze Szenerie war in helles, warmes Licht getaucht, als würde Spätsommer herrschen.

Rick beschlich ein eigenartiges, aber angenehmes Gefühl. Hier wollte er bleiben. Es ist wie im Paradies, schoss es ihm durch den Kopf. Die ruhige, friedliche Atmosphäre nahm ihn ganz gefangen. Er konnte sich an dem Anblick nicht satt sehen.

Misakis Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er deutete ihm zu folgen und sie glitten steil nach oben. Bald war die Stadt tief unter ihnen. In der Ferne tauchte jetzt etwas auf, das aussah, wie eine am Himmel schwebende, riesige Glasscheibe. Misaki hielt direkt darauf zu. Als sie näher kamen, erkannte Rick, dass es kein Glas, sondern eine flache Wasserfläche war, die ungeheure Ausmaße besaß. Sie näherten sich ihr von schräg unten und schwebten dann einfach hindurch. Ein gewaltiger See breitete sich vor ihnen aus. Mitten in dieser von Licht durchfluteten Wasserfläche schwebte eine Insel. Sie hatte die Form einer hochglänzenden, schwarzen Diskusscheibe. Ihre Dimension war gewaltig. Sie war umgeben von einer ringförmigen Plattform aus Stahl. Als sie näher kamen wurde das gigantische Ausmaß deutlich. Von überall her sah Rick jetzt Personen auf den Diskus zustreben. Was er aus der Ferne für polierten Stahl gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Ring aus weiß glühendem Licht. Die Oberfläche des großen, diskusähnlichen Hauptkörpers schien aus dunklem Glas zu bestehen. Sie hatten jetzt den Außenring erreicht und es wurde deutlich, dass es zwischen der Lichtscheibe und der darüber liegenden, schwarzen Kuppel eine hohe schlitzartige Öffnung gab. Langsam glitten sie darauf zu und kamen mitten auf der Plattform zum Stehen.

Rick konnte noch andere Personen auf der ringförmigen Scheibe wahrnehmen. Sie strebten dem offenen Schlitz entgegen, oder kamen aus ihm heraus. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, jedoch von ihm zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen.

»Warte bitte einen Moment, ich komme gleich zurück«, sagte Misaki und verschwand im Schatten der schwarzen Kuppel. Rick blieb ratlos zurück. Er konnte es eigentlich nicht glauben, was er bis jetzt erlebt hatte. Wie war es möglich, dass er plötzlich einen Japaner verstand? Die Gedanken Misakis waren für ihn lesbar gewesen. Seine eigenen Absichten und Wünsche hatte er ihm problemlos übermitteln können. Verstand der Japaner etwa seine Sprache? Nein, es war eigentlich keine Frage der Sprache. Die Gedanken und Absichten Misakis waren für ihn verständlich gewesen, bevor sie in eine Sprache umgesetzt wurden, denn Misakis Mitteilungen hatten sich weder japanisch noch deutsch angehört. Es war einfach so, dass er ihn eindeutig verstanden hatte. Auch, als er hinter ihm durch die Schlucht geschwebt war, hatte er einige Gedanken Misakis aufgeschnappt. Doch die Umgebung war so faszinierend gewesen, dass er nicht weiter darauf geachtet hatte. Erstaunlich war, dass die Absichten des Anderen so offensichtlich waren. Geradezu bildhaft und anschaulich.

»Rick Bender?«, hörte er jetzt eine Stimme hinter sich.

Er drehte sich um und sah dort sechs Personen aus der Kuppel heraustreten, die ihn neugierig betrachteten. Misaki war unter ihnen. Er konnte drei Männer und drei Frauen erkennen. Sie alle waren mit weiten, glitzernden Umhängen bekleidet. Ein Mann löste sich aus der Gruppe und kam langsam auf ihn zu. Er hatte langes, wallendes Haar, das hinten mit einem Band zusammen gebunden war. Das ursprüngliche dunkle Braun schimmerte noch aus den langen Locken heraus. Das Gesicht wies markante Züge auf und das kantige Kinn, deutete auf Durchsetzungsvermögen hin. Seine Stirn war hoch und gerade. Und die Wangen, mit ihren Falten, zeugten von einem bewegten Leben, das vorwiegend an frischer Luft stattgefunden haben musste. Von seiner hohen Gestalt und den breiten Schultern fiel ein sandfarbener, schlichter Umhang herab. Er betrachtete ihn wortlos. Da Rick nackt war und von sechs bekleideten Personen beobachtet wurde, beschlich ihn ein ungutes Gefühl.

»Ich bin Callum und stehe dieser Gemeinschaft vor«, sagte der Fremde. »Du bist hier auf Cedan angekommen und wir müssen entscheiden, ob du hier bleiben kannst.«

»Ob ich hier bleiben kann?«, fragte Rick ungläubig.

»Du bist gestorben und im imaginären Universum angekommen. Cedan ist einer von vielen Millionen nicht materiellen Planeten. Wie du siehst, lebt man nach dem Tode weiter. Unsere Gemeinschaft hier entscheidet mit einfacher Mehrheit, ob du bei uns aufgenommen wirst.«

Callum hatte ihn bei diesen Worten ernst angesehen. Rick versuchte ihn einzuschätzen, was ihm aber erst nicht gelang. Hinter den ernsten, hellen Augen konnte er nur Gelassenheit und Stärke erkennen. Doch da war noch etwas zu sehen. Sympathie war es. Sie lag verborgen hinter dem Stolz, den er jetzt auch noch wahrnahm. Callum war Schotte. Aus dem Hochland kam er und war in einer ländlichen Idylle aufgewachsen. Ein Gutshof, mit vielen Ställen und einem Herrenhaus, war seine Heimat gewesen. Er hatte eine Familie mit drei Kindern, sah Rick jetzt. Gestorben war er an einem Blindarmdurchbruch. Der Arzt hatte bei Dunkelheit und Sturm nicht früh genug das Gut erreichen können.

»Wieso bin ich hier auf Cedan gelandet?«, wollte Rick jetzt von ihm wissen.

»Das ist reiner Zufall. So, wie du den Geburtsort auf der Erde nicht bestimmen kannst, so ist es auch nicht möglich, seinen Ankunftsort in dieser Welt zu bestimmen. Du hättest ebenso gut auf einem der anderen Planeten ankommen können. Ein Ordnungsprinzip oder ein System konnten wir diesbezüglich nicht feststellen. Deshalb nehmen wir an, dass der Ankunftsort dem Zufall überlassen bleibt. Wie du auch feststellen konntest, hat jeder Ankömmling anfangs Probleme, in der neuen Welt zurechtzukommen. Nach ihrer Ankunft kümmern wir uns deshalb um sie.«

»Was muss ich tun, um bleiben zu können?«, fragte Rick irritiert.

»Darauf hast du keinen Einfluss«, entgegnete Callum.

Er hatte Rick die ganze Zeit beobachtet, während er sprach. Jetzt drehte er sich zu seinen Begleitern um. Eine kurze Pause entstand. Nach einiger Zeit nickten Misaki und die neben ihm Stehenden Callum zu. Worauf sich dieser wieder an Rick wandte.

»Du kannst jetzt mit hinein kommen. Heute Abend werden wir darüber befinden, ob du bleiben kannst, oder nicht. Bis dahin bist du unser Gast. Misaki wird dir eine Unterkunft zuweisen, damit du etwas ruhen kannst.«

Bis auf Misaki verschwanden alle im Schatten der Kuppel. Er lächelte ihm aufmunternd zu. »Na, dann komm mal mit.«

Er glitt in die Kuppel hinein und Rick folgte ihm. Was er jetzt sah, war so unbegreiflich schön, dass er erstaunt seine Umgebung betrachtete. Die schwarze Kuppel war mit Tausenden kleinen Lichtern bestückt, so dass die gigantische Illusion eines Sternenhimmels zu sehen war. Nur dieser hatte mehr Sterne, als er es von der Erde her kannte. Und sie bewegten sich auf scheinbar elliptischen Bahnen, bildeten Sternhaufen, Sonnensysteme und Galaxien. Rick war stehen geblieben und sah fassungslos den Bahnen der Gestirne nach. Erst als Misaki ihn ansprach, folgte er ihm tiefer in die Kuppel hinein. Kleine, schwarzglänzende Objekte, die in geringer Höhe über der Lichtscheibe schwebten, traten in sein Blickfeld. Sie sahen aus wie kleine, fliegende Untertassen. Misaki wies auf eines der Objekte und sagte:

»Bitte hier herein.«

Ohne eine Tür zu öffnen, schwebten sie durch die Hülle in das Innere des Objektes. Rick empfing ein angenehmes Halbdunkel. Durch die abgedunkelte Außenwand hatte man einen herrlichen Blick in die Kuppel, auf die Plattform hinaus und den tief darunter liegenden flachen See. Der Raum war sonst leer.

»Versuch erst mal etwas zu schlafen, damit du gleich ausgeruht bist. Du musst wissen, dass man auch hier, wie auf der Erde, nur über ein gewisses Maß an Energie verfügen kann. Die verbrauchte Energie kannst du nur durch Schlaf wieder ersetzen. Warte hier bitte , bis man dich ruft«, sagte Misaki.

»Darf ich dir noch einige Fragen stellen?«, beeilte sich Rick, da Misaki sich schon wieder abgewandt hatte.

»Das hier ist alles schwer zu begreifen«, sagte er. » Es ist so unbegreiflich, dass ich immer noch vermute, ich träume dies alles.«

»Es wird einige Zeit dauern, bis es für dich Realität ist. Das ging uns allen so.«

Am liebsten hätte Rick hundert Fragen auf einmal gestellt. Alles um ihn herum war rätselhaft. Als er jetzt an sich heruntersah, fragte er:

»Wieso habe ich wieder einen Körper? Ich kann ihn sehen, aber nicht fühlen!«

»Dein Körper ist eine Art Hologramm, das hier auf Cedan entstanden ist. Es geschieht ohne unser Zutun und es entspricht exakt dem Bild, wie du dich gesehen hast. Wir können es nicht erklären, aber dein Körper wird mit dir, im Laufe der Zeit, zusammenwachsen, Alles was du hier vorfindest, Häuser, Pflanzen und teilweise sogar Landschaften sind Vorstellungen von bestimmten Personen, die in Hologramme umgewandelt wurden.«

»Das geht so einfach?«, fragte Rick.

»So einfach auch wieder nicht. Unser Geist ist in dieser Welt unendlich leistungsstark. Aber das muss man auch erst lernen, da nur bestimmte Dinge möglich sind. Versuch aber jetzt erstmal zu schlafen.«

Misaki wandte sich ab und verschwand. Alleingelassen kam sich Rick verloren vor. Doch dann spürte er wieder diese positive Energie in sich, die voller Liebe war und von der er annahm, dass sie ihn am Leben erhielt. Die letzten Geschehnisse waren so ungewöhnlich gewesen, dass sie dieses Gefühl überlagert hatten. Wohltuende Müdigkeit erfasste ihn. Er versuchte sich in eine horizontale Lage zu bringen, was ihm auch gelang. Eigenartig, obwohl er seinen Körper nicht spürte, konnte er dessen Lage und Position im Raum wahrnehmen. Er versuchte in sich hineinzuhorchen, doch da war nichts. Atmen brauchte er nicht, fiel ihm jetzt auf. Er existierte einfach, ohne es zu spüren. Durch das dunkle Glas seiner Behausung sah er den Sternenhimmel der Kuppel über sich, dessen Licht schwach durch die Außenwand drang. Seine Gedanken glitten ab und er erinnerte sich an seine letzten Stunden auf der Erde. Welcher Teufel hatte ihn geritten, sich mit Anna in einem einsamen Wald zu treffen? Hatte sie inzwischen schon so einen starken Einfluss auf ihn gehabt? Die Ereignisse schienen endlos zurück zu liegen, als wären sie vor hundert Jahren passiert. Aber das Unglück war doch eben erst geschehen. Seltsam, jetzt, da er intensiv daran dachte, war der Ablauf wieder ganz nah. Was war mit Anna? Lebte sie noch? Bestimmt würde sie heute noch leben, wenn er sich besser unter Kontrolle gehabt hätte! Verdammt, wie hatte er sich nur so verantwortungslos verhalten können?

Kevin kam ihn in den Sinn. Was hatte er seinem Bruder nur angetan. Jeder Versuch, das Geschehen zu erklären wäre doch sinnlos gewesen. Dass Anna ihn verführen wollte, wäre doch nur die halbe Wahrheit gewesen. Welche Schuld lag jetzt auf ihm!!! Herrgott, was hatte er da angestellt. Bei dem Gedanken befiel Rick eine schwere Last, die ihn zu ersticken drohte. Was musste Kevin jetzt durchmachen. Inzwischen würde er es erfahren haben, dass Anna und auch er verunglückt waren. Er hatte alles zerstört. Sicher auch die Unbekümmertheit seines Bruders, die würde es auch nicht mehr geben. Das war das Schlimmste.

Die Müdigkeit hatte Rick jetzt so erfasst, dass ihm die Gedanken langsam entglitten, und er in einen unruhigen Schlaf verfiel.

Als er erwachte, wusste er im ersten Moment nicht wo er war. Langsam kam die Erinnerung wieder und das Erstaunen über seine jetzige Situation. Er versuchte sich in eine senkrechte Lage zu bringen. Irgendetwas war anders. Inzwischen war es dunkel draußen, bemerkte er. Eine Nachtphase gab es hier also auch. Die Lichtplattform strahlte jetzt viel intensiver und die darunter liegende Wasserfläche hatte eine hell türkise Farbe angenommen, einem beleuchteten Swimmingpool ähnlich. Den Himmel konnte Rick nicht sehen, da sich über ihm die Sternenkuppel befand, die nach wie vor einen berauschenden Anblick bot. Er war unschlüssig was er jetzt tun sollte. Auf Misaki warten? Was war das nur für eine eigenartige Hülle, in der er da steckte. Kam er hier überhaupt wieder raus? Er versuchte die Glaswand anzufassen, doch seine Hand ging einfach hindurch. Jetzt schwebte er ganz hinaus. Interessiert sah er sich um. Einige Personen kamen vorbei. Auch sie steckten in langen, farbigen Umhängen, betrachteten ihn kurz, kümmerten sich dann aber nicht weiter um ihn. Als er sich gerade auf die Plattform begeben wollte, sah er Misaki aus der Lichtscheibe auftauchen. Er führte etwas mit sich, das wie eine Person ohne Kopf aussah. Ein Umhang schwebte leer neben ihm her.

»Ausgeschlafen?«, fragte er. »Ich habe dir etwas zum Anziehen mitgebracht, damit du vor dem Gremium nicht nackt erscheinen musst.«

»Danke«, entgegnete Rick. Seiner Nacktheit war er sich gar nicht mehr bewusst gewesen. Wie von Geisterhand legte sich der Umhang um Ricks Schultern. Spüren konnte er ihn jedoch nicht.

Misaki führte ihn jetzt tiefer in den Kuppelbau hinein. Dann sah Rick ihn langsam im Lichtboden verschwinden. Er folgte ihm nach. Was Rick jetzt zu sehen bekam, hatte große Ähnlichkeit mit einem Fußballstadion. Es war nur exakt kreisförmig. Ihm fiel ein, dass der Baukörper ja die Form eines großen Diskus hatte. Dieses Stadion war das untere Gegenstück des oberen Kuppelbaus. Misaki war, hoch oben, auf einer Art Ebene stehen geblieben. Die Ränge ringsum treppten sich nach unten ab, bis zu einer riesigen, runden Öffnung, durch die man den türkisfarbenen See erkennen konnte. Über diese Öffnung spannte sich eine geländerlose Brücke. Sie diente wohl als Bühne, mutmaßte Rick. In Gruppen, aber auch vereinzelt, strebten Leute durch die untere Öffnung in das Stadion hinein. Es herrschte eine Stimmung, wie vor einem Länderspiel. Da sich das Rund schon halb gefüllt hatte, drangen unzählige Stimmen, einem Bienenschwarm gleich, zu ihnen hinauf. Die Lichtplattform über ihnen beleuchtete die gesamte Szenerie.

»Dies hier ist unser Cedan - Center«, erklärte Misaki. »Es ist eine Art Theater, Begegnungszentrum und Rathaus zugleich. Es finden hier Diskussionen, Vorträge, Theateraufführungen und Spiele statt. Die meisten Einwohner von Cedan – Stadt kommen regelmäßig her.«

»Was wird denn heute hier gezeigt?«

»Dein Leben«, antwortete Misaki. Erschrocken fuhr Rick zurück.

»Mein Leben? Ihr wollt mein Leben hier im Stadion ausbreiten?« Mit weit aufgerissenen Augen sah er Misaki ungläubig an.

»Wenn du bei uns leben willst, wird jeder, den du triffst, über dein irdisches Leben Bescheid wissen, so wie du auch in jeden Anderen hineinsehen kannst. Es gibt hier keine Geheimnisse.«

»Das lass ich nicht mit mir machen!«, stieß Rick

unbeherrscht hervor. »Wir werden dich nicht dazu zwingen. Du musst uns dann aber verlassen«, entgegnete Misaki bestimmt.

»Wenn ich zustimme kann ich bleiben?« fragte Rick, der verunsichert Misaki anstarrte.

»Nein, das entscheidet die Mehrheit.«

»Es kann also sein, dass hier mein ganzes Leben ausgebreitet wird und ihr schickt mich dann weiß Gott wohin?« Rick hatte sich immer noch nicht beruhigt.

»Ja, so kann es kommen, es kann aber auch sein, dass du in unsere Reihen aufgenommen wirst.«

»Obwohl ich als geiler Bock den Tod einer Frau zu verantworten habe?«, schrie Rick außer sich.

»Du hast an Anna keinen Mord begangen, oder sagen wir mal, du wolltest sie nicht töten. Trotzdem trägst du Mitschuld an ihrem Tod. Das musst du aber vor dir selbst verantworten. – Nicht vor uns. Wir entscheiden hier nur, ob du bleiben kannst.«

Misaki hatte ganz ruhig, aber bestimmt gesprochen. Er sah Rick einen Moment an, ohne etwas zu sagen, dann baute er sich vor ihm auf und es war pure Autorität, die jetzt aus ihm sprach:

»Ich sage dir jetzt, wie die Dinge in dieser neuen Welt ablaufen«, kündigte Misaki an, »und hör mir gut zu! Du hast hier Gelegenheit noch mal neu anzufangen. Du fängst hier an, wie du auf der Erde aufgehört hast. Hast du als Arschloch aufgehört zu leben, wirst du hier als Arschloch anfangen. So einfach ist das.« Er machte eine Pause, um seinen Worten Gewicht zu verleihen, dann sprach er weiter:

»Du bist hier wieder Kind und hast heute gerade laufen gelernt. Dass du ein toller Hecht warst, eine Menge Geld verdient hast, interessiert hier keinen. Auch wenn du ein Vermögen zusammengebracht hättest, es würde keine, aber auch gar keine Bedeutung haben. Das Einzige, was hier zählt ist, wie du dich in deinem irdischen Leben, anderen Menschen gegenüber, verhalten hast. Hättest du dir in deinem Leben mehr Sorgen um deinen Bruder gemacht oder Mitgefühl und Verständnis für deine Mitmenschen gezeigt, hätten wir jetzt kein Problem. So wie die Dinge aber liegen, ist wohl eine Abstimmung nötig. Aber auch das solltest du positiv sehen, denn wenn wir kein Interesse an dir hätten, würden wir uns gar nicht erst die Mühe machen und abstimmen. Denn wir wissen, dass jeder der hier ankommt Schuld auf sich geladen hat und Hilfe benötigt. Die Hilfestellung geben wir dir gerne, wenn die Mehrheit dafür ist. Versuche dem gegenüber offen zu sein und sehe die Welt hier wie ein Kind sie sehen würde. Darin liegt deine einzige Chance.«

Die Auflehnung in Rick steigerte sich. Der Kerl redet mit mir, wie es mein Vater getan hatte, fiel ihm ein. Gab es denn hier auch solche Idioten? Er wusste, dass er allergisch auf so einen Ton reagieren würde. Total verunsichert starrte er Misaki an. Rick nahm wahr, dass Misaki seine Gedanken mitbekam, denn er sah ihn jetzt mit einer Überlegenheit an, die spürbar schmerzte.

Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass sich das Stadion weiter füllte. Von überall her strömten Leute in das Auditorium. Als er jetzt herabsah, stellte er fest, dass sich schon mindestens zwanzigtausend Leute versammelt hatten.

»Wie viel kommen denn noch?«, fragte er bestürzt.

»Es werden über Dreißigtausend sein«, antwortete Misaki.

»Die kommen alle wegen mir?«

»Nein, so wichtig bist du auch wieder nicht. Es sind auch noch vier Frauen auf Cedan angekommen«, kam die Antwort. » »Aber wie ich aus deinen Gedanken ablesen kann, hast du es immer noch nicht begriffen!... Du bist hier nichts und kannst hier auch nichts. Eventuelle Fähigkeiten musst du erst noch erlernen. Vergiss, wer du bist und vor allen Dingen was du gewesen bist. Du musst bereit sein, deine Vergangenheit bedingungslos offen zu legen, mit offenem Visier jedem gegenüber zu treten, dann erst kannst du wieder bei Null anfangen. Es gibt hier keine Lügen, keine verdeckten Schachzüge, keine Hinterhältigkeiten, sie würden sofort auffallen. Offenheit und Ehrlichkeit sind die Grundlage deines neuen Lebens und unserer Gesellschaft hier. Bist du dazu nicht bereit, musst du gehen!«

Eine lange Pause entstand.

Rick hatte Mühe, das alles zu verarbeiten. Der Kerl war wie ein Mühlstein, und er war zwischen die malenden Steine geraten. So hatte noch keiner mit ihm gesprochen. Was bildete sich der Japaner überhaupt ein, dachte er. Gut, er war kein Musterknabe gewesen, aber musste er sich deshalb von diesem Kerl so runtermachen lassen?

Es hatten sich inzwischen noch mehrere Personen zu ihnen gesellt. Es handelte sich um die vier Frauen, von denen Misaki gesprochen hatte. Sie sahen sich ängstlich aber auch neugierig um, registrierte er. Wie er, hatten sie Begleitpersonen an ihrer Seite, die sich jetzt Misaki zuwandten. An einer dieser Frauen blieb Ricks Blick hängen. Im Gegensatz zu den drei Anderen, machte sie einen gefassten Eindruck. Sie war groß und schlank, hatte kurzgeschnittenes Haar, das wohl in ihrem Leben schwarz gewesen sein musste. Bemerkenswert an ihr war jedoch der stolze Blick, mit dem sie ihn jetzt musterte. Sie hieß Abigail und hatte in England gelebt, sah er jetzt. Doch bevor er sich weiter mit ihr befassen konnte, wurde er von Misaki abgelenkt, der in Begleitung Callums auf ihn zukam.

»Rick Bender, bist du bereit?«, sprach Callum ihn an. Im Gegensatz zu Misaki, war Callums Auftreten voller Wärme. Er trat so nah an ihn heran, dass Rick jede Zeichnung seiner Augen wahrnehmen konnte. Er spürte, wie er dem Mühlstein entkam und seufzte erleichtert auf. Callum lächelte ihm jetzt aufmunternd zu. »Bist du bereit?«, wiederholte er. Rick blickte nach unten in das Rund und sah, dass es jetzt ringsum mit Menschen gefüllt war. Unschlüssig spähte er in die Runde. Abigails Blick, der immer noch auf ihm ruhte, war eher spöttisch. Als er erneut in Callums Augen sah, stand sein Entschluss fest!

»Ich bin bereit«, hörte er sich selbst sagen.

Er wusste, seine Stimme hatte sich belegt und nicht überzeugend angehört, aber jetzt war es raus und verflucht, er wollte auch nicht mehr zurück. Zwei Frauen in langen, blauen Gewändern, hatten ihn in ihre Mitte genommen.

»Folgt mir bitte«, sagte Callum und schwebte langsam von der Plattform, nach unten der Brücke zu. Als sie die breite Fläche erreicht hatten, hob Callum die Arme und es wurde still im Stadion. Gleichzeitig verdunkelte sich langsam das Rund. Nur die brückenähnliche Bühne war noch in gleißendes Licht getaucht.

»Heute sind fünf Personen bei uns angekommen!« Callums Stimme hallte laut ins Rund, als hätte er ein Mikrofon benutzt.

»Rick Bender wird der erste sein, der sich bei uns vorstellt.« Bei diesen Worten wies er mit dem linken Arm auf Rick. Die beiden Frauen, neben ihm, forderten ihn auf, sich in die Mitte zu stellen. Als er den Punkt erreicht hatte, traten sie zurück, während Callum nach oben davon schwebte.

Rick blieb hilflos zurück. Bei dem Gedanken, dass jetzt dreißig-tausend Augenpaare auf ihn gerichtet waren, wurde ihm heiß. Auf was hatte er sich hier eingelassen?

Dann senkte sich langsam eine Glaskuppel auf ihn herab. An ihrer Oberfläche fing es an zu flimmern, und erstaunt sah er sich plötzlich, riesengroß als Kind, mit seinem Bruder im Garten spielen. Ein übergroßes 3-d-Bild war entstanden, das über der Glaskuppel schwebte und wie ein Film ablief. Was jetzt folgte, erlebte er wie in Trance. Im Zeitraffer sah er sein ganzes Leben ablaufen. Aber er schien seltsam unbeteiligt. Manche Passagen waren deutlich, andere hingegen rasend schnell und wie durch einen Nebel zu sehen. Wie lange es gedauert hatte, konnte er nicht einschätzen, als es plötzlich dunkel wurde. War es jetzt vorbei? Die Kuppel hob sich über ihm und Licht erhellte wieder das Rund.

Rick stand benommen auf der Brücke. Es war kein Ton zu hören und er fühlte sich, als wäre er eben ohne Innereien vom OP-Tisch aufgestanden. Wie eine leere Hülle kam er sich vor. Nur am Rande nahm er wahr, dass die beiden Frauen ihn wieder in ihre Mitte genommen hatten und Callum auf ihn zugeschwebt kam. Als der Schotte ihn erreichte, sah er ihn aufmerksam an.

»Geht es dir jetzt besser?«, fragte er.

Rick antwortete nur mit einem Kopfnicken.

»Bist du bereit für die Abstimmung?«

Bereit für die Abstimmung? War er bereit für irgendeine Abstimmung? Aus seinem Magen heraus, stieg etwas in ihm hoch. Ein Gefühl von Unwohlsein. Etwas, dass ihn zunehmend störte. Als es in seinem Kopf ankam, konnte er es benennen.

»Mich interessiert eure Abstimmung nicht mehr. Stimmt ab, was ihr wollt, aber lasst mich damit in Ruhe. Ich habe mein Leben vor euch ausgebreitet,...was wollt ihr noch mehr?... Jedenfalls wisst ihr jetzt, mit wem ihr es zu tun habt!«

Callum betrachtete ihn besorgt. Man sah ihm an, dass er versuchte, Rick zu verstehen.

»Willst du denn nicht in unsere Reihen aufgenommen werden?« Rick antwortete nicht sofort.

»Es ist mir egal«, gab er schließlich zur Antwort.

Als Callum ihn immer noch fragend ansah, platzte es förmlich aus Rick heraus:

»Was ihr hier veranstaltet ist ein Zirkus! Ein absoluter Zirkus. Ich hoffe, ihr habt euren Spaß gehabt! Macht was ihr wollt, nur macht es ohne mich...«

aufgebracht fuhr er fort: »Ich bin aus einer Welt heraus gestorben, die nur aus Zwängen und Abhängigkeiten bestand. Und jetzt stehe ich hier und soll über mich abstimmen lassen? Danke, da mache ich nicht mit!«

Rick starrte Callum herausfordernd an. Der hatte mit offenem Mund Ricks Redeschwall über sich ergehen lassen. Jetzt wich aus seinem Gesicht die Überraschung und machte wortloser Anerkennung Platz. Von den Rängen war in inzwischen ein Raunen zu vernehmen. Callum sah sich um und fragte:

»Soll Misaki dich nach draußen begleiten?«

»Misaki ist der Letzte, den ich jetzt sehen will!«

»Hast du etwas dagegen, wenn ich dich begleite?« , fragte Callum unsicher.

Rick hatte sich durch die verbindliche Art Callums wieder beruhigt. Er sah ihn an und schüttelte verneinend den Kopf.

»Es tut mir Leid«, sagte er dann doch noch. »Es war nicht persönlich gemeint.«

»Ich weiß«, antwortete Callum und schwebte die Brücke herab, der großen Öffnung entgegen. Rick folgte ihm nachdenklich. Draußen kamen sie kurz über der Wasserfläche zum Stehen.

»Du kannst mich jederzeit anrufen und um Hilfe bitten, wenn du sie benötigst«, sagte Callum. »Anrufen?«, erwiderte Rick ungläubig.

»Du musst wissen, dass man in dieser Welt seinen Standort auch blitzschnell verändern kann. Denkst du konzentriert an eine bestimmte Stelle, bist du im selben Augenblick dort. Mit Personen verhält es sich ebenso. Möchtest du jemanden sofort sehen, denke konzentriert an ihn und wünsche dir dort zu sein. Wenn du also Hilfe benötigst, nimm Verbindung zu mir auf. Übe es aber erst mit kleineren Distanzen.«

»Danke«, sagte Rick kleinlaut.

»Den Mantel muss ich wieder mitnehmen.« Callum hatte bedauernd die Hand ausgestreckt. Der Umhang löste sich von Rick und schwebte an seine Seite.

»Wohin kann ich gehen?«

»Du solltest versuchen Anna zu finden. Vielleicht kannst du deine Schuld bei ihr tilgen. Es wird aber nicht einfach sein, sie zu finden. Übrigens, es kann auch sein. dass sie noch lebt. Hier ist sie jedenfalls nicht angekommen, was natürlich nichts heißen muss, denn es gibt Millionen Planeten dieser Art. Du hast dich aber sehr schnell vom Unfallort entfernt. Deshalb kannst du nicht sicher sein, dass sie gestorben ist. Suche sie. Zeit genug hast du, denn du bist hier in der Ewigkeit angekommen. - Ich wünsche dir viel Glück!«

Callum verbeugte sich und schwebte nach oben in das Stadion zurück. Seine Worte klangen in Rick nach. War Anna auf einem der unzähligen Planeten hier im Jenseits angekommen, wie Callum vermutete? Oder war sie nicht gestorben? Konnte man so einen Sturz überleben? Er wusste es nicht.

Im Sog des Lichts

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