Читать книгу Mauerspechte - Reinhard Griebner - Страница 6
Zweites Kapitel
ОглавлениеAm Grenzübergang Bernauer Straße herrschte geschäftiges Treiben. Obwohl die Abfertigung zügig vonstattenging, standen die Leute in der Warteschlange beiderseits des Postenhäuschens auf Hautkontakt. Ankömmlinge und Ausreisende verpassten einander im Vorübergehen den einen oder anderen Rippenstoß. Aber kaum jemand nahm es übel, die meisten waren ohnehin seit Jahrzehnten darin geübt, sich im Gedrängel zu behaupten. Nur wenn ein farbenfroher Dederonbeutel oder eine prall gefüllte Henkeltüte am Nebenmann hängen blieb, gab es vereinzelt Unmutsbekundungen. „Sie, Mann, nehmen Sie die Pfoten aus mein’ Einjekauftes. Wenn Sie Appetit auf Bananen haben, gehen Sie bei Aldi, da gibt’s die heute für beinahe umsonst.“
Willem spielte flüchtig mit dem Gedanken, einen Abstecher in den Wedding zu starten. Angesichts des Gewusels standen die Chancen gut, sich im Schutz der Wartegemeinschaft – eingeklemmt zwischen Leibern, Reisetaschen, Rucksäcken und jenen zweirädrigen, mit Markisenstoff überzogenen Bollerwägelchen, die der Volksmund Rentner-Porsche nannte – durch die Kontrolle zu mogeln. Wenn die Sache allerdings schiefging, setzte es in der Wachstube eine Standpauke. Und das fiel noch in die Rubrik: Mit einem blauen Auge davongekommen!
Als sein Klassenkamerad Mike Legenstein am vergangenen Donnerstag am Potsdamer Platz beim, wie die Posten das nannten, „Versuch des illegalen Grenzübertritts“ hochgezogen worden war, hatte ihm der diensthabende Offizier nicht nur ein Ohr abgekaut, sondern obendrein die Eltern und die Schule benachrichtigt. Warum sollte Willem es darauf ankommen lassen, hatte er doch unlängst in Nähe des Passierpunkts Chausseestraße ein Loch in der Mauer entdeckt, wo ein Leichtgewicht wie er jederzeit unbehelligt in den Westen krabbeln konnte.
Die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, Paulas Sonnenbrille im Gesicht, stiefelte er an der Betonwand entlang. Noch vor drei Wochen wäre niemand so dicht an den antifaschistischen Schutzwall, wie sein Vater das Bauwerk nicht sehr häufig, aber in vollem Ernst nannte, herangekommen. Heute machte keiner der Grenzer Anstalten, Willem in den Weg zu treten. Die Uniformierten hielten Abstand und trampelten, um der kriechenden Kälte zu widerstehen, auf der Stelle, nuckelten an Zigaretten und hielten ihre Hunde an der kurzen Leine.
Von einer Besucherplattform auf der anderen Seite äugten ältere Menschen, bekleidet mit Lodenmänteln und Trachtenjacken, über die Mauerkante hinweg in den Osten. Als Willem in ihr Blickfeld geriet, rief ein Mann mit Gamsbarthut: „Da ist einer!“, und pellte ein Fernglas aus einem ledernen Futteral. Neben ihm winkte eine Frau aufgeregt mit ihrem Schal. „Gott, wie süß! Ein richtiger kleiner Zoni! Hat nicht jemand ein Überraschungsei dabei?“ Und ehe sich Willem versah, flogen ihm Blitzlichter und eine Handvoll Schokoriegel um die Ohren. „Füttern verboten, ihr Blödmänner!“, schimpfte er und zeigte den Gaffern, ohne deren Almosen die geringste Beachtung zu schenken, den Stinkefinger.
„Undank ist der Welt Lohn!“, beschwerte sich eine faltengesichtige Dame beim Reiseleiter. Der zuckte ratlos die Schultern. „So sind sie eben, unsere Landsleute von nebenan.“
„Na, das kann ja noch heiter werden!“
Eilig wechselte der Fremdenführer das Thema: „Wenn die Herrschaften nun bitte wieder im Bus Platz nehmen wollen. Unsere nächste Station ist die Zitadelle Spandau.“
Beleidigt drehte die Gesellschaft ab.
Willem hatte die Nase ebenfalls voll. Noch einen kurzen Abstecher durch die Seitenstraßen, nahm er sich vor, dann trödele ich zurück zur Schönhauser, fahre mit der U-Bahn zum Alex und hole Mama von der Arbeit ab. Und vorher schaue ich noch mal nach, ob die Demonstranten heil im Zentrum angekommen sind.
In dem Moment drangen eigentümliche Klopfzeichen an sein Ohr. Das Geräusch erinnerte ihn an das Hämmern jenes Bildhauers, den seine Klasse in der Woche vor den Osterferien in Altlandsberg besucht hatte. Sie waren dabei gewesen, als der Meister an einem Porträt herumgemeißelt hatte, das, wie er ihnen geduldig erklärte, unlängst von einer Kirchengemeinde im Oderbruch in Auftrag gegeben worden war. Auch auf mehrmaliges Nachfragen ihrer Klassenlehrerin Fräulein Sturmvogel war der Künstler dabei geblieben, dass es sich um das Angesicht der Jungfrau Maria und nicht um die Revolutionärin Rosa Luxemburg handelte.
Willem hob den Kopf und erspähte über sich einen Spalt in der Mauer, etwa so groß, dass seine Schulmappe hindurchgepasst hätte. Dahinter das geheimnisvolle Klickern: Tick, tick, tack – Metall auf Metall auf Stein. Er taxierte den Abstand der unteren Kante zum Erdboden. Nicht ganz einfach, dürfte aber zu machen sein! Immerhin hatte er bei der letzten Kreisspartakiade die Silbermedaille im Weitsprung und die Bronzene im Hochsprung gewonnen.
Mehrere Trainer hatten sich seither bei seinen Eltern zum Hausbesuch angesagt und versucht, den Kaisers die Vorzüge der Sportschule schmackhaft zu machen. Allerdings nie so überzeugend, dass sich zum „Warum nicht?“ seines Vaters das „Einverstanden!“ der Mutter gesellte. Sie hatte im Westradio, das sie hin und wieder anknipste, etwas von Pillen und Tropfen aufgeschnappt, die den jungen Menschen angeblich in den Leistungszentren verabreicht würden. Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, das den drahtigen Herren im Trainingsanzug gegenüber anzusprechen, allerdings hatten die Gerüchte ihr Misstrauen angestachelt. Und wenn das geschah, war es so gut wie unmöglich, Cornelia Kaiser nur den Hauch einer Zusage zu entlocken.
„Dann wollen wir mal!“ Willem zog seine Handschuhe straff und kniff die Augen zusammen. „Auf die Plätze! Fertig! Los!“ Ein kurzer Anlauf, schon katapultierte er sich katzengleich in die Höhe. Beim Abspringen riss er die Arme nach oben, klatschte mit dem Körper gegen die Wand, kriegte mit der rechten Hand tat- sächlich die Kante des ausgefransten Mauerspalts zu fassen, zog die linke nach, klammerte sich am Beton fest und improvisierte unter Einsatz aller Reserven einen Klimmzug.
„Na also, geht doch!“ Millimeterweise zog er sich nach oben. Schon war der Spalt auf Augen- höhe, da schlug auf der anderen Seite Stahl so heftig auf Stahl, dass die Funken sprühten. Im nächsten Augenblick pfiff ein länglicher Gegenstand haarscharf an Willems Ohr vorbei.
Willem war so erschrocken, dass er reflexartig losließ. Den Rest erledigte die Schwerkraft. Beim Landen versuchte er, im Stil eines Fallschirmjägers abzurollen. Die Übung misslang, ein heftiger Aufprall, sein Hinterkopf schlug auf etwas Hartes. Paulas Brille flog im hohen Bogen davon.
„Scheiße!“
Benommen rappelte sich Willem auf, zupfte an seinen Fingern, schlenkerte mit den Beinen, zum Glück war alles intakt. Allerdings wuchs an seinem Hinterkopf eine Beule, die, durfte er seinem Gefühl vertrauen, binnen Sekunden mit der Größe eines aufgeblasenen Luftballons gleichgezogen haben sollte. Er bückte sich nach der Sonnenbrille, glücklicherweise hatte das Spiegelglas den Sturz heil überstanden. Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch ließ Willem Paulas Geschenk in der Anoraktasche verschwinden und klaubte jenen Gegenstand von der Erde auf, an dem er sich allem Anschein nach beim Absturz die Brüsche eingehandelt hatte – einen Meißel, dessen Schaft, von schweren Hammerschlägen getroffen, die Form einer Pilzkappe angenommen hatte. Die Schneide war so schartig und zerschunden, dass sie für seinen prüfenden Daumen nicht die geringste Gefahr darstellte.
„Mann, Mann, Mann!“ Willem rieb sich die Beule, ließ den Blick zwischen Mauerdurchbruch und dem Fundstück schweifen. Blitzartig wurde ihm bewusst, dass er jenes Geschoss in der Hand hielt, das seinen Kopf nur um Millimeter verfehlt hatte. „Ich glaub, mein Eisbär rodelt!“, stammelte er. „Das hätte verdammt ins Auge gehen können.“ Er rammte wutschnaubend seinen Fuß gegen die Mauer und brüllte in den dunstigen Himmel: „Welcher Idiot schmeißt denn hier mit Werkzeug?!“
Im Loch über Willems Landeplatz erschien das Gesicht eines Jungen, auf dessen Kopf eine mit den Buchstaben „M“ und „P“ dekorierte Baseballkappe saß. Da er eine durch die Atemluft beschlagene, von Nässe und Schmutz verkleisterte Taucherbrille trug, brauchte er einige Zeit, um die Lage zu peilen und Blickkontakt zu Willem herzustellen.
Der starrte sein Gegenüber entgeistert an.
„Was glotzt du, Alter?“, fragte das Mauergesicht mit fremdländischem Akzent.
„Das geht dich gar nichts an.“
„Werd ja nicht pampig!“
„Ist bei euch da drüben Karneval?“, erkundigte sich Willem scheinheilig.
„Was ist das denn für eine bescheuerte Frage?“, kam es aus dem Loch zurück.
„Oder bist du auf dem Weg ins Schwimmbad?“
„Verarschen kann ich mich alleine.“
„Dann tu’s doch!“
Der Junge mit der Taucherbrille knirschte verbissen mit den Zähnen und schien nachzudenken. Nachdem er das lange genug getan hatte, entschloss er sich, Willem in die Abteilung Doofi einzugliedern und ihm ein wenig Entwicklungshilfe zuteilwerden zu lassen.
„Denkst du dämliches Ostbrot, ich will mir beim Steineklopfen einen Splitter ins Auge hämmern? Taucherbrille ist nicht optimal, aber ein guter Notbehelf. Eine echte Schutzmaske kann sich Anton Warkentin nicht leisten.“
„Anton – wie bitte?“
Aus dem Hintergrund vernahm Willem ein Stimmchen, das, dem hellen Klang nach zu urteilen, zu einem Dreikäsehoch im gehobenen Vorschulalter gehörte. „Toni, mit wem redest du?“
„Geht dich nichts an, Hosenscheißer“, erwiderte der Taucher barsch, während er die Gummibänder lockerte, die Brille über sein Kinn zerrte und den Schirm des Basecaps nackenwärts drehte.
„Das sage ich Mamotschka“, fiepte der Kleine eingeschnappt, „dass du Hosenscheißer zu Bruder Boris gesagt hast.“
„Ihr Russenlümmel geht mir auf den Tüffel“, meldete sich zu Willems Überraschung eine dritte Stimme zu Wort, die ein wenig kurzatmig daherkam und zweifelsfrei zu einem Mädchen gehörte. „Vertragt euch gefälligst! Und macht keinen Stress.“
„Russenlümmel will ich nicht gehört haben!“, wetterte der große Warkentin.
„Ich auch nicht!“, äffte ihn sein piepsiges Anhängsel nach.
Das Mädchen ging nicht auf die Widerrede der beiden ein, sondern presste eine Bemerkung hervor, die an der Mauer abprallte. Den Nachsatz, der mehr gekeucht als gesprochen war, verstand Willem schon, konnte ihn allerdings nicht einordnen: „Und jetzt drück mal auf die Tube, Partner, ich krieg langsam weiche Knie.“
„Toscha soll sagen, was er sieht“, forderte der unsichtbare Wicht, der sich vorhin als Boris zu erkennen gegeben hatte.
„Da steht so ein kotzgrüner Knallfrosch“, erklärte sein Bruder missgelaunt, wobei er augenscheinlich auf Willems Pullover anspielte. Allerdings hatte er mit dem Kleinen noch eine Rechnung offen. „Damit das klar ist, Hosenscheißer, wer petzt, fliegt aus dem Team, capito? Petzen ist uncool.“ Und trompetete, nachdem das erledigt war, im Befehlston durch das Mauerloch: „So, und jetzt zu dir, Alter. Rück sofort den Meißel raus!“
Noch bevor Willem etwas erwidern konnte, ertönte auf der anderen Seite ein gequältes: „Vorsicht, Toni, ich kann dich nicht mehr halten!“ Kaum hatte das Mädchen den Notruf abgesetzt, verschwand Antons Gesicht aus der Öffnung und es gab einen dumpfen Aufschlag, begleitet von einem saftigen Fluch.
„Tschort wosmi!“
Schadenfroh schlug sich Willem auf die Schenkel, selbst die Beule war für einen Moment vergessen: „Was ist los, Schwimmbrille? Abgetaucht? Du hast dir doch hoffentlich nicht wehgetan?“
Die Antwort war eine ellenlange russische Verwünschung, hervorgestoßen in einem Atemzug. Bruder Boris, der das Gesagte als Einziger verstanden hatte, kreischte vor Vergnügen.
„Ich will den Ossi auch mal besichtigen“, hörte Willem das Mädchen jenseits der Mauer übergangslos sagen. „Klopf dir den Dreck von der Hose, Toni, und bau mir die Räuberleiter!“
„Du hast mir gar nichts zu befehlen!“, erwiderte der Junge gereizt. „Du warst gestern dran. Heute bin ich der Chef. Mauer Power! Einen Tag ich, einen Tag du. So haben wir’s ausgemacht.“ „Und wenn ich größer bin, darf ich auch“, ergänzte Boris.
„Tu’s mir zuliebe“, baggerte das Mädchen Anton an, ohne sich um den Einwurf des Kleinen zu kümmern. „Es ist ja nur eine Bitte. Du weißt doch, Big Boss, dass wir Frauen von Natur aus ein bisschen neugierig sind.“
„Sagtest du Frauen?“
„Hallo?“
„Ich kann keine sehen.“
„Du kriegst gleich eine geklebt!“
„Na schön“, lenkte der Junge ein, „klettere auf meine Schultern, wenn es unbedingt sein muss. Aber klopf dir vorher die Stiefel ab und trample mir nicht auf den Kopf.“
Eine halbe Minute später blickte Willem, der von dem Big-Boss- und Mauer-Power-Gerede kein Wort verstanden hatte, in zwei grüne Augen, die unter einer roten Mähne hervorlugten. Ein weißes Stirnband hielt die Pracht zusammen, geziert von einem in ein „M“ verschlungenes „P“.
„Tach, Grünfrosch.“
„Grüß dich, Feuerlocke.“
„Ich bin Jasmin. – Jasmin Shiva Neumann aus Charlottenburg.“
„Ich heiße Willem und wohne in Prenzlauer Berg.“
„Angenehm“, behauptete Jasmin.
„Danke, gleichfalls.“
„Was soll der Scheiß?“, presste Anton mit gequetschter Stimme hervor. „Kannst du mal auf den Punkt kommen, Jasmin, oder willst du warten, bis mir das Rückgrat durch die Kimme rutscht?“
„Du wirst doch nicht jetzt schon schlappmachen?!“
„Sag dem Ossi, er soll uns den Meißel geben. Wir müssen noch was reißen, bevor es dunkel wird.“
„Du hast gehört, was Toni gesagt hat?“, fragte Jasmin und schnalzte respektvoll mit der Zunge. „Er kann ganz schön wütend werden, wenn einer nicht spurt.“
„Da mache ich mir ja gleich vor Angst in die Hose.“
Jasmin grinste Willem an. Es schien ihr zu gefallen, dass er sich nicht einschüchtern ließ. „Sei fair und rück das Eisen raus.“
„Das Teil hätte mich um ein Haar erschlagen“, beschwerte sich Willem, lupfte seine Wollmütze und zeigte dem Mädchen die Beule.
„Sieht nach Körperverletzung aus.“
„Du sagst es.“
„Das tut mir leid, ehrlich! Toni stellt sich manchmal ziemlich blöd an. Aber den Meißel müssen wir trotzdem wieder haben. Wir brauchen ihn dringend. Wir haben nur den einen.“
„Dann will ich mal nicht so sein.“ Willem wog das ramponierte Werkzeug prüfend in der Hand. „Unter einer Bedingung: Ich schmeiße das Ding nur über die Mauer, wenn du mir verrätst, was ihr da drüben treibt.“
„Der Typ kriegt gleich was auf die Zwölf!“, mischte sich Anton keuchend in das Gespräch ein.
„Halt die Klappe und steh still!“, befahl Jasmin. „Sonst kann ich nicht nachdenken.“
„Hauen ist fies“, meldete sich der kleine Warkentin zu Wort. „Außerdem habe ich Hunger. Bruder Boris will nach Hause.“
„Okay“, entschied Jasmin, „ich steck dir, was läuft.“
„Das lässt du schön bleiben!“, fuhr Anton dazwischen. „Das fehlt gerade noch, dass wir unsere Idee jedem Zonendödel auf die Nase schnallen. – Sagt man so?“
„Man sagt:, Auf die Nase binden‘“, verbesserte Willem, dem schon klar war, dass die Frage nicht ihm gegolten hatte. Den Zonendödel schluckte er tapfer hinunter.
„Das ist verdammt noch mal ein Geschäftsgeheimnis!“
Tonis Einwand zeigte Wirkung, Jasmin rieb sich abwägend die Stirn und bedachte Willem durch den Spalt hindurch mit einem Röntgenblick. „Kannst du schweigen?“
„Wie ein Grab.“
„Kann man dir trauen?“
„Deine Sache, Feuerlocke!“ Willem blickte gleichmütig zu Jasmin auf. Mit dem Werkzeug in der Hand und der Mauer vor Augen hatte er in jedem Fall die besseren Karten. „Riskier es oder lass es bleiben!“
„Tu’s nicht!“, wütete der große Warkentin.
„Wir sind Mauerspechte“, erklärte Jasmin halblaut, als könnte jemand ihre Mitteilung belauschen. „Wir hämmern Steine aus der Wand und verkaufen sie am Brandenburger Tor.“
„Aha.“
„Die Touristen sind ganz heiß drauf. Wichtig ist, dass die Teile schön bunt sind. Deshalb holen wir sie uns aus der zweiten Etage. Da, wo jeder rankommt, ist schon alles weggeklopft.“
„Und was kommt dabei rum?“
„Der Preis richtet sich nach der Größe. Die kleinen bringen einen Fünfziger, die größeren eine Mark.“
„Nächstes Jahr um die Zeit“, behauptete Bruder Boris, „sind wir alle Millionäre.“
„Genug gelabert!“, stöhnte Anton. „Mir geht die Puste aus. Hör zu, Ossikowski, wir haben uns an die Verabredung gehalten. Jetzt bist du dran. Den Meißel her, aber ’n bisschen dalli!“
„Nicht dalli – bitte“, korrigierte Jasmin.
Sie hatte längst erfasst, dass mit markigen Worten bei Willem kein Blumentopf zu gewinnen war. „Nun gib dir schon ’nen Ruck!“ Ihr Kopf verschwand. Nach Lage der Dinge ging Anton auf der anderen Seite der Mauer in die Knie. „Wenn du nichts Besseres zu tun hast, kannst du uns ja mal am Tor besuchen. Nächstes Wochenende wird wieder verkauft.“
„Bist du wahnsinnig?!“, ätzte Anton.
„Ich rede, wann es mir passt!“, fauchte sie ihn trotzig an. „Oder meinst du, ich frag dich vorher um Erlaubnis?“
„Immerhin bin ich der Boss!“
Die Empörung bewirkte, dass Antons Körper sich straffte. Das hatte zur Folge, dass Jasmins Gesicht noch einmal im Mauerspalt erschien. Sie zwinkerte Willem verschwörerisch zu.
„Okay, ich werfe das Teil jetzt rüber“, sagte Willem und zwinkerte zurück. „Dann bring mal dein Team in Sicherheit, Häuptling Taucherbrille. Volle Deckung, wenn ich bitten darf.“
„Mit Karacho!“, forderte Jasmin. „Dann kann nichts passieren. Wir stehen alle drei mit dem Rücken zur Wand.“
„Und tschüss!“ Willem holte aus und schleuderte das Werkzeug im hohen Bogen über den Beton. Kurz darauf vernahm er abermals das vertraute Klickern, übertönt von Jasmins heller Stimme: „Na dann bis dann, Willem. Man sieht sich am Brandenburger Tor.“