Читать книгу Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit - Reinhard J. Wabnitz - Страница 11

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3 Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe

3.1 Leistungen und andere Aufgaben (§§ 2, 9)

Aufgaben der Jugendhilfe sind gemäß § 2 Abs. 1 zum einen „Leistungen“ und zum anderen „andere Aufgaben“ zugunsten junger Menschen und ihrer Familien. (Näheres bei Wabnitz in GK-SGB VIII, Erläuterungen zu § 2). Der Gesetzgeber hat es dem Rechtsanwender sehr einfach gemacht: Er hat in § 2 Abs. 2 und 3 alle Leistungen und anderen Aufgaben der Jugendhilfe präzise aufgelistet und zugleich in Klammerzusätzen die jeweils relevanten Paragrafen (§§ 11 bis 41 bzw. 42 bis 60) benannt. Ein Blick in § 2 bietet sich deshalb für alle an, die sich zunächst einen Überblick über die eventuell relevanten Leistungen oder anderen Aufgaben verschaffen wollen, um dann „gezielt“ auf die im Einzelfall in Betracht kommenden Rechtsvorschriften zugehen zu können.

3.1.1 Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe

Leistungen der (Kinder- und) Jugendhilfe sind die in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 stichwortartig benannten Angebote und Hilfen nach dem zweiten Kapitel des SGB VIII, dem „Leistungskapitel“. Die einzelnen Vorschriften der §§ 11 bis 41 werden in den folgenden Kapiteln 4 bis 9 dargestellt.

Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII sind Sozialleistungen im Sinne vom § 11 SGB I. Insbesondere handelt es sich um Dienstleistungen, bei denen persönliche und erzieherische Hilfen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit im Vordergrund stehen, sowie Geldleistungen, z. B. für den Unterhalt nach § 39. Man kann Leistungen aus Sicht der Familie und des Elternrechts (vgl. Kap. 1.2) untergliedern in

■ Familien unterstützende Leistungen (insbesondere nach §§ 16 bis 21),

■ Familien ergänzende Leistungen (§§ 22 bis 26, 11 bis 15, 27 bis 32) sowie

■ Familien ersetzende Leistungen (§§ 33 bis 35).

Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe werden gemäß § 3 Abs. 1 von Trägern der freien und der öffentlichen Jugendhilfe nach den in Kapitel 1.3 erläuterten Rechtsprinzipien erbracht.

3.1.2 Andere Aufgaben der Jugendhilfe

Andere Aufgaben der (Kinder- und) Jugendhilfe sind die in § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis 13 bezeichneten Aufgaben. Auch diese Auflistung ist sehr übersichtlich gestaltet und wiederum mit Paragrafenangaben versehen (§§ 42 bis 60). Die „anderen Aufgaben“ nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 bis 13 folgen nicht ein und denselben Strukturprinzipien wie die Leistungen; sie stellen gewissermaßen eine „wenig homogene Restkategorie“ dar (Wiesner 2015, § 2 Rdnr. 13). Sie umfassen im Wesentlichen

■ hoheitliche Aufgaben zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (insbesondere §§ 42 bis 49),

■ die Mitwirkung der Jugendhilfe in gerichtlichen Verfahren (§§ 50 bis 52) einschließlich der Aufgaben Beistandschaft, Pflegschaft und Vormundschaft (§§ 52a bis 58a) sowie

■ rein administrative öffentliche Aufgaben wie Beurkundung, Beglaubigungen, vollstreckbare Urkunden (§§ 59, 60).

Anders als bei den Leistungen besteht hier eine umfassende Wahrnehmungsverpflichtung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, ggf. mit Beteiligungsmöglichkeit der Träger der freien Jugendhilfe in Teilbereichen (vgl. §§ 4 Abs. 3, 76 sowie Kap. 1.3.3 und 10.1).

3.1.3 Weitere gesetzliche Verpflichtungen

Daneben bestehen innerhalb und außerhalb des SGB VIII zahlreiche weitere gesetzliche Verpflichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der Jugendämter. Zu verweisen ist insbesondere auf die §§ 69 ff., §§ 74 ff., §§ 79 ff., §§ 89 ff., §§ 90 ff. Außerdem gibt es Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe u. a. nach dem AdVermiG, dem Ju-SchG, dem KKG und aufgrund Landesrechts. Eine wichtige Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe besteht auch darin, ihre Angebote schrittweise in „inklusiver Zielrichtung“ umzugestalten (dazu Wabnitz, 2013b).

3.1.4 Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen

Gemäß § 9 sind bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der anderen Aufgaben auch die folgenden, sehr allgemein formulierten Aspekte zu beachten:

■ Grundrichtung der Erziehung (§ 9 Nr. 1),

■ selbstständiges Handeln junger Menschen, Berücksichtigung sozialer Verhältnisse (§ 9 Nr. 2),

■ Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenslagen von Mädchen und Jungen (§ 9 Nr. 3).

3.2 Objektive Rechtsverpflichtungen und subjektive Rechtsansprüche

Die folgende Unterscheidung zwischen objektiven Rechtsverpflichtungen (der Träger der öffentlichen Jugendhilfe) und subjektiven Rechtsansprüchen (junger Menschen oder Personensorgeberechtigter, ggf. auch von Trägern der freien Jugendhilfe) ist für das SGB VIII von grundlegender Bedeutung (umfassend zum Ganzen: Wabnitz 2005). Objektive Rechtsverpflichtungen stellen gleichsam staatsinterne Verpflichtungen („Perspektive des Staates“) dar – zumeist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die jedoch von Seiten des Bürgers grundsätzlich nicht eingeklagt werden können. Demgegenüber kann der Bürger subjektive Rechtsansprüche, etwa auf eine Leistung nach dem SGB VIII, einklagen („Perspektive des Bürgers“) und damit ggf. vor den Verwaltungsgerichten gegenüber den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe durchsetzen (vgl. im Einzelnen auch: Münder et al. 2013, VorKap 2, Rz. 4 ff., 7 ff.; Schellhorn et al. 2015, Einführung, Rz. 42 ff.; Wiesner 2015, Vor §§ 11 ff., Rz. 6 ff.).

Dort, wo Rechtsansprüche bestehen, richten sich die Träger der öffentlichen Jugendhilfe in der Regel darauf ein und schaffen die erforderlichen finanziellen und infrastrukturellen Voraussetzungen dafür, dass entsprechende Leistungen erbracht werden (können), etwa im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege (siehe Kap. 6) oder der Hilfe zur Erziehung (siehe Kap. 7 bis 9). Wo lediglich objektive Rechtsverpflichtungen bestehen, insbesondere im Bereich der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes (Kap. 5) oder teilweise der Familienförderung (Kap. 4), wie früher auch im Bereich der Tageseinrichtungen, stagnier(t)en demgegenüber die Angebote, sind prozentual – bezogen auf die Gesamtausgaben der Kinder- und Jugendhilfe – sogar rückläufig oder jedenfallsnicht ausreichend. Deshalb zum Ganzen die folgende Übersicht 15:

Übersicht 15

Objektive Rechtsverpflichtungen und subjektive Rechtsansprüche nach dem SGB VIII

1. Es gibt einerseits objektive Rechtsverpflichtungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe („Perspektive des Staates“) in Form von

1.1 Mussbestimmungen („muss“, „hat“, „ist“, „sind“), z. B. § 11 Abs. 1,

1.2 Sollbestimmungen („soll“ = in der Regel „muss“), z. B. § 13 Abs. 1,

1.3 Kannbestimmungen („kann“, „können“), z. B. § 13 Abs. 3.

2. Es gibt andererseits subjektive, einklagbare Rechtsansprüche von jungen Menschen/Personensorgeberechtigten („Perspektive des Bürgers“), die mit objektiven Rechtsverpflichtungen korrespondieren können, aber nicht korrespondieren müssen, ggf. in Form von

2.1 unbedingten Rechtsansprüchen, z. B. § 24 Abs. 2 Satz 1,

2.2 Regel-Rechtsansprüchen, z. B. § 41 Abs. 1,

2.3 Rechtsansprüchen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, z. B. § 75 Abs. 1.

Mit Rechtsansprüchen korrespondieren immer objektive Rechtsverpflichtungen des jeweiligen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Andererseits beinhalten objektive Rechtsverpflichtungen keinesfalls immer Rechtsansprüche. In Übersicht 16 wird erläutert (ausführlicher Wabnitz 2005, 119 ff., sowie Wabnitz in GK-SGB VIII, § 2, Rz. 19 f.; vgl. auch Luthe in jurisPK-SGB VIII 2014, § 2, Rz. 23 ff.), in welcher Form Rechtsansprüche bestehen können, nämlich:

■ entweder als explizite Rechtsansprüche, wenn im Gesetzestext das „Zauberwort: Anspruch“ steht,

■ oder als Rechtsansprüche aufgrund einer Interpretation einer rein objektiv-rechtlich formulierten Norm des SGB VIII, sofern diese insoweit nicht eindeutig ist.

Übersicht 16

Rechtsansprüche nach dem SGB VIII ergeben sich:

1. entweder explizit aus dem Text der jeweiligen Norm des SGB VIII („hat/haben Anspruch“)

2. oder ggf. aufgrund einer Interpretation (Auslegung) der jeweiligen Norm, sofern der Gesetzgeber nicht klar entschieden hat, wo Ansprüche bestehen und wo nicht! (wie z.B. in §24), und sofern die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

2.1 Die jeweilige Norm muss eine objektive Rechtsverpflichtung eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe enthalten. (Dies ist bei über 200 Vorschriften des SGB VIII der Fall, nicht zum Beispiel jedoch bei reinen Definitionen wie in den §§ 2 oder 7).

2.2 Der Tatbestand dieser Norm muss hinreichend präzise bestimmt sein (wie z. B. bei § 20 oder § 42 Abs. 1 Satz 1, nicht jedoch bei § 11 Abs. 1 oder § 16 Abs. 1 und 3).

2.3 Die Norm soll nicht nur öffentlichen Interessen, sondern zumindest auch den Interessen von jungen Menschen und/oder Personensorgeberechtigten zu dienen bestimmt sein. (Dies dürfte zumeist der Fall sein, nicht jedoch etwa bei den §§ 79 oder 80).

2.4 Die Normadressaten müssen schließlich individualisierbar oder zumindest als „kleine Gruppe abgrenzbar“ sein (z. B. bei § 41). Die jeweilige Norm darf sich also z. B. nicht (nur) an „alle jungen Menschen“ richten (wie in § 11 Abs. 1).

Bei der Auslegung der jeweiligen – sofern nicht eindeutigen – Rechtsnormen des SGB VIII (siehe Übersicht 16) sind u. a. zugrunde zu legen bzw. zu berücksichtigen: die in der Rechtswissenschaft üblichen Auslegungsmethoden (nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Ziel/Zweck oder Systematik der Norm) sowie die Grundrechte und Wertentscheidungen des Grundgesetzes.

3.3 Fachaufsicht und Rechtsaufsicht

Die (kommunalen) Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe unterliegen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach dem SGB VIII einer Rechtsaufsicht, jedoch keiner Fachaufsicht (siehe dazu Übersicht 17 sowie Wabnitz in GK-SGB VIII, § 69, Rz. 32 ff.; Wiesner 2015, Vor §§ 11 ff., Rz. 25 f.; § 82, Rz. 2a)

Übersicht 17

Fachaufsicht und Rechtsaufsicht

1. Fachaufsicht bedeutet: sachlich-inhaltliche Kontrolle (auch unter reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten) des Verwaltungshandelns einer Behörde durch Verwaltungsvorschriften oder Einzelweisungen einer höheren Behörde, typischerweise im Bereich der Landesverwaltung mit mehrstufigem Behördenaufbau, z.B. Polizei- oder Schulverwaltung.

2. Rechtsaufsicht bedeutet: Kontrolle des Verwaltungshandelns einer Behörde allein unter rechtlichen Gesichtspunkten, zumeist durch die so genannte Rechtsaufsichts- oder Kommunalaufsichtsbehörde.

Da die kommunalen Träger der öffentlichen Jugendhilfe bzw. die JÄer das SGB VIII als Selbstverwaltungsangelegenheit (dazu Wabnitz 2018a, Kap. 9.3) ausführen, unterstehen sie insoweit keiner höheren Behörde (des Landes) und unterliegen deshalb keiner Fachaufsicht, insbesondere auch nicht einer Aufsicht durch das LJA!

Sie unterliegen als Träger „mittelbarer Staatsverwaltung“ aber einer Rechtsaufsicht durch den Staat, d. h. durch die Kommunalaufsichtsbehörden (in der Regel sind dies die Regierungspräsidien). Diese könnendas Verwaltungshandeln der JÄer bei der Ausführung des SGB VIII kontrollieren, allerdings nur mit Blick darauf, ob diese gegen gesetzliche Regelungen des SGB VIII verstoßen oder dieses nicht angewendet haben (siehe dazu Fall 3).

3.4 Dreiecksverhältnis

Im Verhältnis zwischen jungen Menschen und Personensorgeberechtigten, den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und den Trägern der freien Jugendhilfe besteht häufig das so genannte sozial- oder jugendhilferechtliche „Dreiecksverhältnis“. Dabei bestehen drei unterschiedliche, sorgfältig voneinander zu unterscheidende Rechtsbeziehungen (siehe auch Abbildung 1 sowie im Einzelnen: Münder et al. 2013, VorKap. 5, Rz. 6 ff.; Wabnitz in GK-SGB VIII, § 2, Rz. 39 f.), nämlich:

■ eine solche nach dem öffentlichen Recht zwischen dem jungen Menschen/Personensorgeberechtigten und dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe,

■ eine weitere nach dem öffentlichen Recht zwischen dem Träger der öffentlichen und dem Träger der freien Jugendhilfe

■ sowie schließlich eine zivilrechtliche Rechtsbeziehung (zumeist in Form eines zivilrechtlichen Vertrages) zwischen dem jungen Menschen/Personensorgeberechtigten und dem Träger der freien Jugendhilfe.


Abb. 1: Das sozial- oder jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis

Literatur

Wabnitz, R. J. (2005): Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII)

Wabnitz, R. J. (2013b): (Gesetzliche) Inklusionsbarrieren – was behindert in Inklusion?

Wabnitz, R. J. (2015a): 25 Jahre SGB VIII. Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1990 bis 2015, Drittes Kapitel

Fall 3: Das untätige Jugendamt

Im Bereich des JA der Stadt X wird überhaupt keine öffentlich geförderte Jugendarbeit mehr durchgeführt, weil sich Jugendarbeit nach Auffassung des JA und des Sozialdezernenten nicht bewährt habe, „nichts bringe“ oder sie „kriminelle Verhaltensweisen“ von Jugendlichen fördere. Die beiden 17-jährigen A und B sind empört und beraten mit ihren Eltern darüber, an wen sie sich mit Aussicht auf Erfolg wenden könnten.

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