Читать книгу Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit - Reinhard J. Wabnitz - Страница 10
Оглавление2Grundsätze und Strukturprinzipien des Kinder- und Jugendhilferechts II
2.1Anwendungsbereich des SGB VIII (§§ 7, 6, 10)
2.1.1Begriffsbestimmungen (§ 7)
§ 7 enthält wichtige Begriffsbestimmungen, die teilweise mit dem übrigen öffentlichen Recht bzw. mit dem BGB übereinstimmen, teilweise jedoch auch nicht (dazu: Wabnitz 2017a und 2017b). Kind ist gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, und Jugendlicher ist gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Diese Begriffe sind identisch mit denen des Strafrechts, des Jugendstrafrechts und des Jugendschutzgesetzes, nicht jedoch mit denen des GG und des BGB: Dort wird jede(r) Minderjährige(r) unter 18 Jahren als „Kind“ bezeichnet (vgl. § 7 Abs. 2).
Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 ist junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist, und gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 4 ist (als Sammelbegriff für das gesamte SGB VIII) junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist. Diese Begriffe gibt es so nur im SGB VIII. Im Jugendstrafrecht spricht man von „Heranwachsenden“ im Alter von 18 bis unter 21 Jahren. § 7 Abs. 2 beinhaltet eine Definition junger Menschen mit Behinderungen.
Der Begriff „Personensorgeberechtigter“ in § 7 Abs. 1 Nr. 5 entspricht dem des BGB in den §§ 1626 ff. BGB: Inhaber des Personensorgerechts sind ggf. die Eltern des Kindes bzw. ein Elternteil oder ein Vormund (§§ 1773 ff. BGB) bzw. (teilweise) ein Pfleger (§§ 1909 ff. BGB). „Erziehungsberechtigter“ gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 6 sind Personensorgeberechtigte oder andere erwachsene Personen, die Erziehungsrechte aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit den Personensorgeberechtigten wahrnehmen, z. B. in Kindertageseinrichtungen oder in Heimen der Kinder- und Jugendhilfe.
2.1.2Geltungsbereich (§ 6)
§ 6 legt den Geltungsbereich des SGB VIII fest, regelt also, für welche jungen Menschen und Personensorgeberechtigten das SGB VIII überhaupt gilt. Verkürzt formuliert kann man § 6 wie folgt zusammenfassen: Andere Aufgaben sind immer wahrzunehmen, Deutsche können (abgesehen von § 6 Abs. 3) immer und Ausländer/innen können fast immer Leistungen nach dem SGB VIII beanspruchen.
Vertiefung: Die komplizierten Regelungen des § 6 betreffen Leistungen (§ 2 Abs. 2, § 3 Abs. 2), andere Aufgaben (§ 2 Abs. 3, § 3 Abs. 3) sowie die Ausübung des Umgangsrechts (§§ 1684 ff. BGB), und zwar differenziert mit Blick auf Deutsche und Ausländer (siehe Übersicht 9).
Übersicht 9
Geltungsbereich des SGB VIII (§ 6)
IBei Leistungen:
1.für Deutsche
1.1gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 bei tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland oder
1.2gemäß § 6 Abs. 3 (nachrangig) im Ausland, soweit sie nicht dort Hilfe erhalten;
2.für Ausländer
2.1gemäß § 6 Abs. 2, wenn sie
2.1.1in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und
2.1.2sich in Deutschland aufhalten
■rechtmäßig (insbesondere: aufgrund einer Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis nach §§ 7 und 9 Aufenthaltsgesetz)
■oder aufgrund einer Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz,
2.2falls nicht bereits nach 2.1: ggf. gemäß § 6 Abs. 4
2.2.1aufgrund überstaatlichen Rechts (z. B. Haager Kinderschutzabkommen, Europäisches Fürsorgeabkommen) oder
2.2.2aufgrund zwischenstaatlichen Rechts.
IIBei anderen Aufgaben gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 und bei tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland:
1.für alle Deutschen
2.und für alle Ausländer.
IIIBeim Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts bei gewöhnlichem Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen in Deutschland haben gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3:
1.für alle Deutschen
2.für und alle Ausländer.
2.1.3Verhältnis zu anderen Leistungen und Verpflichtungen (§ 10)
Das Verhältnis von Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII zu anderen Leistungsbereichen und Verpflichtungen regelt § 10 differenziert, aber präzise im Sinne des in Übersicht 10 gezeigten „Dreischrittes“: 1. vor 2. (SGB VIII) und 2. (SGB VIII) vor 3.
Übersicht 10
Verhältnis des SGB VIII zu anderen Leistungs-bereichen und Verpflichtungen (§ 10)
1. Vorrang vor dem SGB VIII haben:
■Verpflichtungen anderer, insbesondere anderer Sozialleistungs-träger (z. B. nach SGB III/Arbeitsförderung oder SGB V/Gesetzliche Krankenversicherung), § 10 Abs. 1,
■Schule, § 10 Abs. 1,
■private Unterhaltsverpflichtete (nach dem BGB), § 10 Abs. 2,
■bestimmte Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende sowie für Bildung und Teilhabe), § 10 Abs. 3 Satz 2,
■Leistungen der Eingliederungshilfe für körperlich und/oder geistig behinderte junge Menschen nach § 10 Abs. 4 Satz 2 (ggf. Landesrecht, § 10 Abs. 4 Satz 3).
2.SGB VIII/Kinder- und Jugendhilfe.
3.Nachrangig gegenüber dem SGB VIII sind
■Leistungen nach dem SGB II/Grundsicherung für Arbeitssuchende, § 10 Abs. 3 Satz 1 (außer: § 10 Abs. 3 Satz 2; vgl. 1.),
■Leistungen nach dem SGB IX/Rehabilitation und Teilnahme und dem SGB XII/Sozialhilfe, § 10 Abs. 4 Satz 1 (außer: § 10 Abs. 4 Sätze 2 und 3; vgl. 1.).
Leistungen anderer Sozialleistungsträger sind neben den in Übersicht 10 genannten auch solche der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung, der Ausbildungsförderung, Erziehungsgeld, Wohngeld, Versorgungsleistungen bei Gesundheitsschäden u. a. Der Vorrang der Schule gilt auch mit Blick auf Fördermaßnahmen zur Beseitigung von Lernschwierigkeiten wie Legasthenie, Dyskalkulie. Ein ausschließlich schulischer Hilfebedarf begründet keinen sozialpädagogischen Bedarf an Hilfe zur Erziehung, auch wenn die Schule kein ausreichendes Angebot zur Aufarbeitung von Schwächen eines Schülers vorhält (OVG Nordrhein-Westfalen, JAmt 2009, 201). Kompliziert sind insbesondere im Bereich der Jugendsozialarbeit das Verhältnis von SGB II/Grundsicherung für Arbeitsuchende und SGB VIII gemäß § 10 Abs. 3 sowie bei behinderten jungen Menschen das Verhältnis von Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII (vorrangig zuständig für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung nach § 35a) und von Eingliederungshilfe nach dem SGB IX/Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (vorrangig zuständig für Menschen mit körperlicher oder/und geistiger Behinderung) gemäß § 10 Abs. 4. (Vorrangige) private Unterhaltsverpflichtungen sind insbesondere solche nach §§ 1601 ff. BGB.
2.2Wunsch- und Wahlrecht, Beteiligungsrechte (§§ 5, 8)
2.2.1Wunsch- und Wahlrecht (§ 5)
Mit der (objektiven) Vielfalt von unterschiedlichen Trägern der freien und öffentlichen Jugendhilfe (vgl. § 3 Abs. 1) korrespondiert – gleichsam auf der subjektiven Seite – ein Recht der Leistungsberechtigten nach § 5 Abs. 1 Satz 1, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern (dazu: Pfadenhauer 2011). Dieses Wunsch- und Wahlrecht trägt zugleich dem Gebot der Mitwirkung der Betroffenen Rechnung, konkretisiert Grundrechte (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) und entspricht dem fachlichen Gebot, sozialpädagogische Prozesse partizipativ zu gestalten (Wabnitz in GK-SGB VIII, § 5, Rz. 2 ). Es besteht nach allgemeiner Auffassung allerdings nur mit Blick auf das Spektrum der bereits vorhandenen Leistungen (Schindler/Elmauer in Kunkel et al. 2018, § 5 Rz. 5; Wiesner 2015, § 5 Rz. 9) und richtet sich (nur) an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die die Leistungsberechtigten auf dieses Recht gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 hinzuweisen haben. Wer im Einzelfall „Leistungsberechtigte“ sind, ein Kind, ein Jugendlicher, ein junger Volljähriger oder ein Personensorgeberechtigter, ist nicht in § 5 (siehe Übersicht 11), sondern ist in den §§ 11 ff. geregelt.
Übersicht 11
Das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten (§ 5) bedeutet:
■Recht, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger (aber auch desselben Trägers) zu wählen,
■und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe(n) zu äußern, dies jedoch nur:
1.im Rahmen der vorhandenen Einrichtungen und Dienste,
2.soweit dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist und
3.bei teilstationären und stationären Einrichtungen gemäß § 78a grundsätzlich nur, sofern Vereinbarungen nach § 78b existieren.
Wegen näherer Einzelheiten wird auf Fall 2 verwiesen.
2.2.2Beteiligungsrechte, Beratung (§§ 8, 9a, 10a)
§ 8 enthält generelle Regelungen über die Rechtsstellung von Kindern und Jugendlichen bei der Wahrnehmung der Aufgaben nach dem SGB VIII.
Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 sind Kinder und Jugendliche entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen (!) sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie haben nach Abs. 2 das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das JA zu wenden. § 8 Abs. 3 beinhaltet einen expliziten Anspruch auf Beratung von Kindern und Jugendlichen durch das JA auch ohne Kenntnis der Personensorgeberechtigten, im Regelfall also der Eltern. Auf die Beteiligungsrechte sind Kinder und Jugendliche gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 in geeigneter Weise hinzuweisen (Wabnitz in GK-SGB VIII, § 8, Rz. 6 ff.). Gemäß § 9a bestehen in den Ländern Ombudsstellen. Zu weiteren Beratungsaufgaben siehe § 10a.
Die genannten Rechte von Kindern und Jugendlichen (siehe Übersicht 12) stehen allerdings in einem Spannungsverhältnis zu den verfassungsrechtlich geschützten Elternrechten nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, auch wenn diese wiederum durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG begrenzt sind (siehe Kap. 1.2).
Übersicht 12
Elternrechte/Kinderrechte
1. Elternrechte haben nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG grund-sätzlich Vorrang vor staatlichen Aktivitäten auch bei der Erziehung der Kinder.
2. Deshalb gibt es nach der Konzeption des SGB VIII keine Rechtsansprüche von Kindern oder Jugendlichen auf Leistungen nach dem SGB VIII, deren Inhalt der elterlichen Erziehungsverantwortung entspricht. Und deshalb sind nur die Personensorgeberechtigten (und nicht die Kinder oder Jugendlichen; was allerdings in der Literatur vielfach – und zurecht – kritisiert wird!) ggf. Inhaber von Rechtsansprüchen auf Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff., ergänzt durch Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen u. a. gemäß § 8 Abs. 1 und 2 sowie § 36.
3. Allerdings werden Elternrechte ggf. durch die Rechte von Kindern und Jugendlichen auf Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) begrenzt, und zwar
■bei Gefährdung des Kindeswohls durch Eingriffe in das elterliche Sorgerecht durch das Familiengericht (§§ 1666 ff. BGB)
■bzw. durch die Berechtigung und Verpflichtung zur (vorläufigen) Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen durch das JA (§ 42). Dementsprechend haben Kinder und Jugendliche in Not- und Konfliktlagen gemäß § 8 Abs. 3 einen Anspruch auf Beratung auch ohne Kenntnis der Personensorgeberechtigten.
4.Schließlich kennt das SGB VIII Rechtsansprüche bzw. Leistungsverpflichtungen zugunsten von Kindern oder Jugendlichen (selbst), soweit Elternrechte (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) überhaupt nicht tangiert sind, z. B.
■Rechtsansprüche nach §§ 8 Abs. 3, 18 Abs. 3, 24 Abs. 2, 24 Abs. 3 Satz 1 oder 35a Abs. 1
■oder Leistungsverpflichtungen z. B. nach § 11, 13, 14 oder § 24 Abs. 1 und 4.
2.3Verpflichtungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
2.3.1Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§§ 8a, 8b)
Vor dem Hintergrund spektakulärer Fälle von Kindesvernachlässigung und -missbrauch (vgl. z. B. zu „Kevins Tod“ Hoppensack 2007) hat der Gesetzgeber den aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG abgeleiteten und in § 1 Abs. 3 Nr. 3 statuierten Schutzauftrag des JA wiederholt und zuletzt durch das am 01.01.2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) u. a. in den §§ 8a und 8b konkretisiert (siehe Übersicht 13).
Übersicht 13
Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§§ 8a, 8b)
1.„Vorfeldarbeit“ des JA (§ 8a Abs. 1)
1.1Einschätzung des Gefährdungsrisikos
1.2Einbeziehung der/des Personensorgeberechtigten/Kindes/Jugendlichen, erforderlichenfalls „Hausbesuch“
1.3Anbieten von Hilfen
2.Anrufen des Familiengerichts durch das JA (§ 8a Abs. 2 Satz 1),
2.1falls dies mit Blick auf Sorgerechtseingriffe erforderlich erscheint oder
2.2bei mangelnder Mitwirkungsbereitschaft.
3.Verpflichtung des JA zur Inobhutnahme (§ 8a Abs. 2 Satz 2)
3.1bei dringender Gefahr für das Kindeswohl (vgl. auch § 42!),
3.2und wenn Entscheidung des Familiengerichts (nach §§ 1666 ff. BGB) nicht abgewartet werden kann.
4.Zusammenarbeit JA mit anderen zuständigen Stellen (§ 8a Abs. 3):
4.1mit anderen Leistungsträgern
4.2mit Einrichtungen der Gesundheitshilfe
4.3mit der Polizei
4.4und anderen Stellen
5.Vereinbarungen mit Trägern von Einrichtungen und Diensten (§ 8a Abs. 4 und 5) zwecks Sicherstellung
5.1der Vornahme einer Gefährdungseinschätzung durch deren Fachkräfte,
5.2Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft,
5.3Einbeziehung der Erziehungsberechtigten sowie des Kindes oder Jugendlichen.
6.Mitteilung von Daten zur Wahrnehmung des Schutzauftrages zwischen örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe (§ 8a Abs. 6)
7.Ansprüche auf fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (§ 8b)
7.1von Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, gegenüber dem örtlichen Träger durch eine insoweit erfahrene Fachkraft;
7.2von Trägern von Einrichtungen und zuständigen Leistungsträgern gegenüber dem überörtlichen Träger mit Blick auf Handlungsleitlinien.
Gemäß § 8a Abs. 1 wird das JA bereits zu einer „Vorfeldarbeit“ ermächtigt und verpflichtet, auch wenn noch nicht feststeht, dass eine Kindeswohlgefährdung besteht. Das JA hat deshalb bei „gewichtigen“ Anhaltspunkten für eine solche im Zusammenwirken mit mehreren Fachkräften das Gefährdungsrisiko einzuschätzen (Satz 1), die Personensorgeberechtigten sowie das Kind/den Jugendlichen einzubeziehen und ggf. einen Hausbesuch durchzuführen (Satz 2) sowie ggf. geeignete Hilfen anzubieten (Satz 3). Dies entspricht den in der Fachpraxis entwickelten Empfehlungen bei einschlägigen Verdachtssituationen (vgl. z. B. Deutscher Städtetag et al. 2009; Deutscher Verein 2006). In diese „Vorfeldarbeit“ sind ausdrücklich auch die Träger von Einrichtungen und Diensten einzubeziehen: Gemäß § 8a Abs. 4 ist in Vereinbarungen mit diesen sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag ebenfalls in entsprechender Weise wahrnehmen (dazu: Münder 2007).
Hält das JA des Weiteren ein Tätigwerden des Familiengerichts – mit dem Ziel des (Teil-)Entzugs von elterlichen Sorgerechten und in der Regel der Einleitung von Hilfen zur Erziehung außerhalb der Herkunftsfamilie nach §§ 27, 33 ff. – für erforderlich, so hat es das Familiengericht gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 anzurufen. Besteht darüber hinaus eine dringende Gefahr für das Kindeswohl und kann eine familiengerichtliche Entscheidung nicht abgewartet werden, so ist das JA gemäß § 8a Abs. 2 Satz 2 verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. Weitere Einzelheiten dazu sind in § 42 geregelt. Gegebenenfalls hat das JA zur Abwendung der Gefahr nach § 8a Abs. 3 auch mit anderen Leistungsträgern, Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei zusammenzuarbeiten bzw. diese einzuschalten. Gemäß § 8a Abs. 6 ist zwecks Wahrnehmung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung ein Datenaustausch zwischen den örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe vorgeschrieben, und § 8b beinhaltet explizite Ansprüche auf fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen.
Vertiefung: Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 8a Abs. 1 Satz 1 können z. B. sein (vgl. Münder et al. 2019, § 8a Rz. 12 ff.; Wiesner 2015, § 8a Rdnr. 13a ff.):
■massive Verletzung des Kindes
■Unterernährung
■Suchterkrankung
■starke Verängstigung, Apathie
■massive Schulverweigerung
■ernst zu nehmende Äußerungen über Misshandlungen/Vernachlässigungen
■unzureichende Hygiene
■körperliche Gewalt
■fehlende oder verweigerte Beziehungs- und Bindungsangebote
■übermäßige Einschränkung der Autonomie
■problematische familiäre Situation
■extrem beengter Wohnraum, Vermüllung, Obdachlosigkeit
■problematische persönliche Situation der Erziehungspersonen
2.3.2Garantenstellung
Vertiefung: Fälle des Verdachts bzw. des Auftretens von Kindesmissbrauch oder -vernachlässigung stellen zugleich eine „Gefahr geneigte“ Tätigkeit insbesondere für die fallzuständigen Sozialarbeiterinnen dar, die sich in „Extremfällen“ sogar (durch Unterlassen nach § 13 StGB) strafbar machen können, wenn sie im Falle einer Garantenstellung nicht oder nicht rechtzeitig gehandelt haben (Näheres dazu bei Wabnitz 2020; Kap. 14.2).
2.3.3Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) und Landeskinderschutzgesetze
Vertiefung: Gemäß § 2 KKG (als Artikel 1 BKiSchG) sollen Eltern sowie werdende Mütter und Väter über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung, in der Regel in Form eines persönlichen Gespräches, informiert werden. Des Weiteren sind nach § 3 KKG im Bereich der Jugendämter verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz aufzubauen und weiterzuentwickeln. Die in § 4 KKG bezeichneten so genannten „Geheimnisträger“ (u. a. Ärzte, psychologisches und sozialpädagogisches Fachpersonal, Lehrer) haben gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe einen Anspruch auf Beratung durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“. § 5 KKG betrifft Mitteilungen an das JA in Strafverfahren. Zusätzliche Regelungen zum Kinderschutz sind in den Landeskinderschutzgesetzen enthalten (dazu Wabnitz 2010a).
2.4Historische Entwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts
Übersicht 14
Vertiefung: Vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz zum SGB VIII. Zur Geschichte der (Kinder- und) Jugendhilfegesetzgebung
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG)
■Verkündung am 9.7.1922
■erste einheitliche deutsche Regelung
■Zusammenführung von Jugendpflege und -fürsorge
■Konzentration der örtlichen Jugendhilfe im JA
■Regelung des Verhältnisses von öffentlicher und freier Jugendhilfe
■Kritik: kein Leistungs-, sondern Organisationsgesetz
■Notverordnung vom Februar 1924: Suspendierung zahlreicher Neuregelungen
Nationalsozialistische Diktatur
■Bildung eigener Organisationen (z. B. Hitlerjugend)
■„Gleichschaltung“ aller öffentlichen Stellen
Novelle des RJWG von 1953
Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) 1961
Mehrere (gescheiterte) Reformversuche seit den 1970er Jahren
Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und SGB VIII
■Inkrafttreten: neue Bundesländer am 3.10.1990, alte Bundesländer am 1.1.1991
■Perspektivenwechsel („Prävention vor Intervention“)
■teilweise neue Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
■Einbeziehung von seelisch behinderten sowie ausländischen jungen Menschen und jungen Volljährigen in das SGB VIII
■Konzentration der Aufgaben im Wesentlichen bei Jugendämtern
■Neuregelungen im Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz
Weitere Reformansätze und zahlreiche Änderungsgesetze seit 1992, u. a.:
■1992 Kindergartenrechtsanspruch (Übergangsregelungen bis 1998)
■1999 Neuregelung der Entgeltfinanzierung (§§ 78a ff. SGB VIII)
■2005 Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG)
■2005 Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK)
■2008 Kinderförderungsgesetz (KiföG)
■2012 Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG)
■2013 Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz
■2015 Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Betreuung und Versorgung ausländischer Kinder und
■2021 Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG)
Literatur
Bringewat, P. (2006): Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§ 8aSGB VIII) und strafrechtliche Garantenhaftung in der Kinder- und Jugendhilfe
Deutscher Städtetag et al. (2009): Empfehlungen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei Gefährdung des Kindeswohls. NDV 263
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2006): Empfehlungen zur Umsetzung des § 8a SGB VIII. NDV 494
Hasenclever, C. (1978): Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900
Hoppensack, H.-C. (2007): Kevins Tod – ein Beispiel für missratene Kindeswohlsicherung. UJ. 290
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.) (2011a): Der allgemeine Soziale Dienst. 2. Aufl.
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.) (2012): Vernachlässigte Kinder besser schützen. 2. Aufl.
Jordan, E. (Hrsg.) (2006): Kindeswohlgefährdung
Kindler, H. et al. (2006): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)
Kunkel, P.-C. (2006): Schnittstellen zwischen Jugendhilfe (SGB VIII), Grundsicherung (SGB II) und Arbeitsförderung (SGB III)
Meysen, T./Eschelbach, D. (2012): Das neue Bundeskinderschutzgesetz
Münder, J. (2007): Untersuchungen zu den Vereinbarungen zwischen den Jugendämtern und den Trägern von Einrichtungen und Diensten nach § 8a Abs. 2 SGB VIII
Pfadenhauer, B. (2011): Das Wunsch- und Wahlrecht der Kinder- und Jugendhilfe
Sachße, C. (2018): Die Erziehung und ihr Recht
Wabnitz, R. J. (2010b): Landeskinderschutzgesetze. Ein Überblick
Wabnitz, R. J. (2015a): 25 Jahre SGB VIII. Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1990 bis 2015
Wabnitz, R. J. (2015c): Rückblick auf 25 Jahre SGB VIII: Die Diskussionen und die Reformen
Wabnitz, R. J. (2015d): 25 Jahre SGB VIII – Resümee und Ausblick
Wabnitz, R. J. (2017a): Rechtliche Rahmung von Jugend
Wabnitz, R. J. (2017b): Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im deutschen Recht – in der historischen Entwicklung und heute
Wabnitz, R. J. (2021c): Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
Fall 2: Wunsch- und Wahlrechte
Die allein sorgeberechtigte Mutter (M) lebt im Landkreis L. Sie hat drei Kinder: den vierjährigen Sohn Stefan (St), die geistig behinderte 13-jährige Tochter Tina (T) und den 17-jährigen Sohn Siegfried (S).
1. M möchte St in einem Kindergarten unterbringen. In der Kleinstadt, in der M und ihre Kinder leben, gibt es in erreichbarer Nähe vier Kindergärten, und zwar zwei in evangelischer und zwei in kommunaler Trägerschaft. Da M streng katholisch ist, beantragt sie beim JA des Landkreises L, dafür zu sorgen, dass St einen Platz in einem Kindergarten in katholischer Trägerschaft erhält.
2. T ist seit mehreren Jahren in einem Heim für geistig behinderte Kinder untergebracht. Die Unterbringung ist seitens des Landkreises L als Träger der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX in die Wege geleitet worden, dessen Bedienstete sich nach Auffassung von M aber nicht ausreichend um T kümmern. M beantragt deshalb beim JA, dass sich dieses „mit seinen vielen tüchtigen Sozialarbeiterinnen“ T´s annehmen und T in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe unterbringen möge. Wie ist die Rechtslage?
3. S ist Auszubildender in einer 50 km von Ms Wohnort entfernten Stadt desselben Landkreises. Dort gibt es zwei Heime für Auszubildende. S möchte unbedingt in das komfortablere Heim eines privaten Trägers; dort ist die Unterbringung jedoch um 50 % teurer als im Heim der Arbeiterwohlfahrt. Was nun?