Читать книгу Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung - Reinhard Mohr - Страница 7
VORWORT
ОглавлениеDie Suche der Deutschen nach sich selbst, nach ihrer Identität, nach dem Woher und Wohin ist notorisch, geradezu sprichwörtlich.
In seinem Buch »Lauter letzte Tage« stellte der Autor Friedrich Sieburg, einst selbst vor extremistischen Anfechtungen nicht gefeit, 1961 fest, Deutschland schwanke stets »zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Not und Überfluss, zwischen Übermut und Reue« – »Hochmut und Zerknirschung« –, »oft beiden Extremen zur gleichen Zeit hingegeben«. So lebe »es seit eh und je, niemals zu einer natürlichen Klarheit über sich selbst gelangend …«
Englands legendärer Premierminister Winston Churchill sah die Deutschen entweder »an der Gurgel« ihrer Feinde oder zu ihren Füßen. Unterwürfigkeit und Heldenmut, Kleingeistigkeit und Großmachtstreben, philosophische Grübelei und mörderische Effizienz – es gibt viele Aspekte jener deutschen Zerrissenheit, unter der schon Heinrich Heine und Kurt Tucholsky litten. »Deutschland, aber wo liegt es?«, fragte Friedrich Schiller 1796 in seinen »Xenien«. »Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.« Damals bestand das, was man im weitesten Sinne Deutschland nennen konnte, aus etwa 300 Königreichen, Fürstentümern, Kleinstaaten und Grafschaften, die lose miteinander verbunden waren, aber jeweils eigene Zölle erhoben und teils eigene Währungen hatten. Ein irrer Flickenteppich.
Die faustische Frage, was die Deutschen im Innersten zusammenhält, ist weltberühmt, aber bis heute unbeantwortet. Berüchtigt jene »Innerlichkeit«, für die es keine Übersetzung in andere Sprachen gibt. Begriffe wie Gemüt, wahre Empfindung und innere Natur gehören ebenso zu ihr wie der Luther’sche Protestantismus der einsamen Gewissenserforschung, der deutsche Idealismus, der mit seinem freien Ich eine ganze Welt erschaffen wollte, und das In-sich-gekehrt-Sein des romantischen Wanderers durch den dunklen Wald. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«, dichtete Heine, der doch eigentlich längst zum Pariser Weltbürger geworden war.
Immer noch und immer wieder kommt es zum letztlich ergebnislosen Streit über Begriffe wie Nation, Heimat und Leitkultur. Allenfalls dienen sie zur politischen Denunziation: Wer von Heimatgefühlen und deutscher Kulturgeschichte spricht, landet stracks im rechten Abseits. Und wer den Amtseid im Bundestag – »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde« – auch auf die Beschaffung möglichst vieler Impfdosen bezieht, ist rasch ein »Impf-Nationalist«, wenn nicht gleich ein »Impf-Nazi«.
Es ist ein Phänomen: Trotz aller historischen Veränderungen, nach zwei Weltkriegen, deutscher Teilung, Europäischer Union, Mauerfall und Wiedervereinigung ist das Selbstbewusstsein der Deutschen, unter denen inzwischen ein gutes Viertel nichtdeutscher Herkunft lebt, immer noch von Extremen geprägt: einerseits diffus und unsicher, andererseits radikal und ideologisch. Die Corona-Krise hat diese Ausprägungen noch deutlicher hervortreten lassen. Die Talkshowgestützte Daueraufgeregtheit ist pandemisch geworden. Eine einigermaßen realistische Selbstwahrnehmung im globalen Kontext hat es erst recht umso schwerer in Zeiten, da die Skandalisierungs- und Empörungskultur des Internets und der Sozialen Medien, verstärkt durch »Cancel Culture«, »safe spaces« und politische Korrektheit, einseitige, vermeintlich einzig wahre Sichtweisen bis hin zu Verschwörungstheorien zu bestätigen scheinen. Vor lauter Rassismus, Sexismus, Rechtsextremismus und Nationalismus, inmitten all der »Lügenpresse«-Rufe und »Volkstod«-Prophezeiungen erkennt manch braver Bürger sein eigenes Land nicht wieder, die gute alte Bundesrepublik.
Linksaußen warnt die »Nie-wieder-Deutschland«-Fraktion vor dem ewigen Faschismus, rechtsaußen kämpfen »Reichsbürger« und Neonazis gegen »Volksverräter«, während die grüne Moralisten-Vereinigung überzeugt ist, dass »gerade wir« als geläuterte Deutsche berufen seien, die Welt zu retten. Motto: Nur ein schlechtes Gewissen ist ein gutes Gewissen.
Dazwischen treiben lose versprengte Zeitgenossen, denen entweder alles egal ist oder gar verachtenswert erscheint, Hauptsache, das WLAN funktioniert, und einzelne Individuen, die sich in ihre offenkundig anachronistisch gewordene spätbürgerliche Liberalität zurückziehen wie auf einen alten Fauteuil.
Die klassisch-bürgerliche Mitte, von mitterechts bis mittelinks, wirkt merkwürdig verloren, blass, konturlos und kraftlos, auch ohne Ausstrahlungskraft und Selbstbewusstsein – und das, obwohl sie seit 1945 für das erfolgreiche, weltweit gefeierte »Modell Deutschland« steht, die Mischung aus freiheitlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Selbst Helmut Kohl erscheint im Rückblick wie ein Leuchtturm des liberalen Konservativismus, an dem man sich wenigstens abarbeiten konnte.
Auch die Spitzenkandidaten für die bevorstehende Bundestagswahl verkörpern kaum noch glaubwürdig den politischen Kern jenes bundesdeutschen Erfolgsmodells, dessen zeitgemäße Fortschreibung sie mit Optimismus in Angriff nehmen könnten. Der linksgrün-postnationale Zeitgeist zwischen Weltrettungs-Idealismus, inklusiver »Diversity« und Gender-Mainstreaming, sorgsam eingebettet in einen Live-Ticker-Katastrophismus, sorgt dafür, dass kritisch-pragmatische Vernunft und politischer Realismus immer mehr in eine Minderheitenposition geraten. Selbst die Kunst muss nun »inklusiv« sein, wie die progressive Berliner »Kulturjournalistin« Jenni Zylka jüngst dem ebenso progressiven Radio 1 vom ARD-Sender rbb in gender-gerechter Sprache anvertraute. Alles andere sei elitär.
Welche seltsamen Blüten dieser neue, politisch korrekte Wahn vor allem in der akademisch-kulturellen Sphäre treibt, zeigt ein Beispiel von vielen, hier: ein offener Brief von »Kulturschaffenden« zur Ernennung eines neuen Kölner Schauspiel-Intendanten im Jahre 2023:
»Die Repräsentation von nicht-weiß positionierten Menschen, von mixed-abled Menschen, von Frauen*, trans*, inter* und queeren Akteur*innen of Color ist, sowohl in Auswahlgremien wie diesem als auch in den städtischen Kulturinstitutionen, sehr wichtig. Eine weltoffene und tolerante Stadt, wie Köln es ist, sollte ihrem Stadttheater eine multiperspektivische Findungskommission mit Diversitätskompetenz bieten.«
Um fachliche Qualitäten scheint es in diesem grotesken Kauderwelsch überhaupt nicht mehr zu gehen. Kündigt sich hier ein neuer Jakobinismus an, ein revolutionärer »Wohlfahrtsausschuss«, der am Ende Köpfe rollen lässt, wenn auch nur mit der virtuellen Guillotine eines totalitären Ungeistes? Sind wir auf dem Weg zur Gaga-Republik?
Ob links-grün-queer oder querfront-esoterisch-rechtsradikal – die korrekte Aussprache des Gender-Sternchens bei der geschlechtergerechten Berufsbezeichnung »Schornsteinfeger* Pause*Innen« in der Talkshow von Anne Will oder die Frage, ob die Corona-Impfung eine »Gen-Spritze« sei, mit der Bill Gates die Weltbevölkerung per Bio-Chip steuern wolle, scheint wichtiger als unser Verhältnis zu den totalitären Weltmächten China und Russland, eine wirklich effiziente Klimastrategie oder eine vernünftige und nachhaltige (!) Flüchtlingspolitik, die die Interessen und die Integrationsfähigkeit unseres Landes mitbedenkt.
Für die bundesdeutsche Demokratie sind das alles durchaus bedrohliche Entwicklungen, denn ohne eine vernunftgeleitete Wahrnehmung der Wirklichkeit, ohne den rationalen gesellschaftlichen Diskurs »transsubjektiver Geltungsansprüche«, wie das Jürgen Habermas einst unnachahmlich formulierte, verliert sie ihr Fundament. Das berühmte Wort des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde aus dem Jahre 1967 – »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« – ist hochaktuell, denn zu den wichtigsten Voraussetzungen einer gefestigten Demokratie gehört das Bewusstsein ihrer Kostbarkeit und die Bereitschaft, sie im Großen wie im Kleinen zu verteidigen. Es muss ja nicht gleich die »Wiedererfindung der Nation« sein, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann vorschlägt. Ein republikanisches Selbstbewusstsein, zu dem auch Stolz gehört, wäre schon sehr erstrebenswert.
Warum es daran offensichtlich immer noch mangelt, und das nach 75 Jahren insgesamt erfolgreicher demokratischer Entwicklung, soll Gegenstand dieses Buches sein. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl ist die Frage nach der Zukunft der politischen Mitte dringlicher denn je.
Im Mai 2021
Reinhard Mohr