Читать книгу Hochsensibilität und Depression - Reinhold Ruthe - Страница 9
Was verstehen wir unter einer depressiven Gemütsverfassung?
ОглавлениеWissenschaft und Forschung sprechen von affektiven Störungen, unter denen folgende Bereiche zusammengefasst sind:
Die Major Depression
Sie beinhaltet
– eine etwa zweiwöchige depressive Stimmung,
– den Verlust des Interesses oder der Freude an fast allen Aktivitäten,
– eine reizbare und traurige Grundstimmung,
– das Erfülltsein von mindestens vier der folgenden Symptome:
Veränderung in Appetit und Gewicht,
Veränderungen im Schlaf, Energiemangel und Müdigkeit,
Gefühle von Wertlosigkeit oder Schuld, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe,
Schwierigkeiten beim Denken, bei der Konzentration und der Entscheidungsfindung,
Gedanken an den Tod, Selbstmordabsichten, Selbstmordpläne und Selbstmordversuche.
Bei der Major Depression sind vier der genannten Störungen mehr oder weniger stark vorhanden.
Dysthyme Störung
Der Begriff ist aus der griechischen Sprache abgeleitet (gr. dys= übel, schlecht, miss …). Es geht hier um eine depressive Verstimmung, die mindestens zwei Jahre anhält. Damit verbunden sind: schlechte Laune, Missstimmung und Verstimmtsein.
Die Symptome sind insgesamt nicht so schwer, aber sie dauern länger.
Experten gehen davon aus, dass etwa drei Prozent aller an einer Depression Erkrankten unter Dysthymie leiden. Die Krankheit tritt oft im frühen Erwachsenenalter auf. Frauen sind etwa zweimal häufiger betroffen als Männer. Auch Unverheiratete und Menschen mit einem geringen Einkommen leiden häufiger unter Dysthymie.
Die Zyklothymie oder Bipolare Störung
Es geht um den Wechsel von manischen und depressiven Phasen. Die „Major Depression“ und die „Dysthyme Störung“ sind die beiden Störfelder, die in diesem Buch eine große Rolle spielen. Die manische Störebene bzw. die „Zyklothyme Störung“ lasse ich außen vor.
Zunahme depressiver Störungen
Depressive Störungen gehören heutzutage zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Depression ist in der Tat eine Volkskrankheit. Alle können befallen werden: Junge und Alte, Reiche und Arme, Manager, Schüler und Angestellte. Schwerwiegende Belastungen mit weitreichenden sozialen Folgen kommen hinzu. Diese Erkrankung betrifft das Zentrum des Wohlbefindens und der Lebensqualität. Sie geht mit einem hohen Leidensdruck einher.
Wie kommt es zur Zunahme von depressiven Störungen? Mehr als die Hälfte der Deutschen empfindet laut Umfrage den Alltag als stressig. Schuld daran sei in erster Linie die Arbeit. Der Doppeldruck, das Einhalten von Terminen und der Leistungsdruck, sei vorwiegend dafür verantwortlich. Nur 15 Prozent der Menschen, die mit ihrem Lebensweg und den eigenen Entscheidungen zufrieden sind, geben an, häufig negativ gestresst zu sein.
Die Depression hat viele Gesichter. Mal versteckt sie sich hinter Rückenschmerzen, dann tritt sie in Form von Müdigkeit auf. Immer wieder spielen Angst und Unruhe eine Rolle. Auch kritische Lebensereignisse wie Tod und Scheidung, Arbeitslosigkeit und der Eintritt in den Ruhestand können die Krankheit auslösen.
Im Buch „Depression – Familie und Arbeit“ heißt es: „Neben der hohen individuellen Belastung zeigt sich die große gesundheitsökonomische Belastung depressiver Störungen insbesondere in einer zunehmenden Nachfrage nach Diagnostik und Therapie. Dies dokumentiert sich beispielsweise in der Zunahme von stationären Behandlungsfällen wegen psychischer Verhaltensstörungen von 1994 bis 2008 um fast 50 %.“ 4
Die Behandlungskosten für die wichtigsten Störungen Depression und Demenz sind um 32 % gestiegen. Ca. 50 % der Menschen mit Depressionen erhalten laut WHO keinerlei Form der Behandlung. In erster Linie vermutet man ein Vermeidungsverhalten:
– aufgrund von Scham,
– aufgrund von Leugnung,
– aufgrund von fehlenden Angeboten,
– aufgrund der Unfähigkeit der Behandelnden, die Erkrankung richtig einzuschätzen.
Depression und Psychosomatik
Was ist der Unterschied zwischen Trauer und Depression?
Erholt sich der Mensch rasch, nachdem der Grund für die Trauer wegfällt?
Der Depressive erlebt keine Symptombefreiung nach kurzer Zeit. Auch Lustlosigkeit kann ein wichtiger Hinweis sein. Oft kommen noch andere Symptome hinzu:
– ständige Müdigkeit
– Appetitverlust
– fehlende wichtige Nährstoffe
Andere Nebensymptome sind:
– vermindertes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl
– Selbstmordgedanken und -absichten
– Konzentrationsschwierigkeiten,
– Schlafstörungen
– Appetitverlust oder gesteigerter Appetit
Depressionen werden heute als häufigster Grund für lange Fehlzeiten und für Gesundheitsprobleme genannt. Die Depression ist ein Problem des ganzen Menschen.
Alle Krankheiten sind auch organischer Natur.
Das Geschehen ist ein multidimensionales.
Diese Ganzheitlichkeit muss bei der Behandlung im Blick bleiben.
Nicht nur die Seele ist betroffen, sondern auch der Leib und der Geist. Die Antidepressiva bringen kurzfristig nur eine Unterdrückung der Symptome. Sie bringen keine Heilung. Mehrere Dimensionen müssen berücksichtigt werden:
– die körperliche,
– die seelische,
– die soziale,
– die räumliche,
– die zeitliche und
– für Christen die geistliche Dimension.
Immer geht es um Vitalität, um Beweglichkeit, um Körperempfindungen, um energetische Ausstrahlung, um Beziehungen zu sich, zu anderen, um Gefühle und um die Glaubensbeziehung. Depressionen können zu Bluthochdruck, zum Herzinfarkt, zum Schlaganfall und vermutlich auch zu Krebs führen, wie einige Fachleute behaupten. Der Schlaganfall gehört zu jenen körperlichen Krankheiten, die durch die Depression verschlimmert werden können.
Arteriosklerose fördert den Schlaganfall. Es handelt sich um Cholesterinablagerungen in den Arterien. Diese „Plaques“ führen schließlich zum Verstopfen der Arterien. Warum ist das so? Die im Blutstrom zirkulierenden Thrombozyten (Blutplättchen) werden durch die Depression zur Überaktivität aufgerufen. Der Verschluss wird gefördert. Außerdem wird die Ausschüttung von Stresshormonen gesteigert.
Die Herzerkrankung, die zweite durch Depression beeinflusste Krankheit, ist die Todesursache Nummer eins in den USA und der gesamten Welt. Herzpatienten, die eine typische Depression durchmachten, haben ein um 150 % höheres Risiko als ihre nicht depressiven Leidensgenossen, in den folgenden zwei Jahren zu sterben.5
Auch der Blutdruck (Hypertonie) wird durch Depression beeinflusst. Einer von sechs Amerikanern soll unter Bluthochdruck leiden. Warum? Viele Depressive erleiden Stress durch Angstzustände. Bei Frauen ist das Depressionsrisiko höher als bei Männern, und sie unternehmen viermal so häufig einen Selbstmordversuch.6
Viele schwer Depressive sind selbstmordgefährdet. Sie sehen ihr Leben als sinnlos an. Sie bringen nichts mehr auf die Reihe. Sie kennen sich selbst nicht mehr. Sie fühlen sich leer und haben zu nichts mehr Lust.
Die Psychosomatik spiegelt sich auch im Gehirn des Depressiven wider. Die geschätzte Zahl von Nervenzellen im Gehirn beläuft sich auf eine Billion. Viele kleine Fasern (Dendriten) umgeben die Nervenzelle. Über sie werden durch Botenstoffe (Neurotransmitter) Informationen an weitere Zellen vermittelt. Unzählige chemische Prozesse finden statt. In dem Zusammenhang wird auch der Stress gesehen, der eine große Wirkung auf die Zellen ausübt. Das Stresshormon Cortisol spielt eine große Rolle, bei Betroffenen wurden erhöhte Werte im Blut festgestellt. Für bestimmte Hirnspezialisten ist die Depression darum eine Hormonstörung im Gehirn. Bei Depressiven sind einige Hirnreaktionsmuster übererregt, andere untererregt. Der Neurologe Matthias Schwab sagt: „Stress während der Schwangerschaft ist deshalb ein wesentlicher Risikofaktor für spätere Depressionen und andere Krankheiten.“
Niedrige Testosteronwerte sind ein Zeichen für Depression bei Männern.
Das berichtet ein Forscher der Washington University. Er hat 200 Männer mit Hormonwerten an der Schwelle zum Mangel untersucht. Das Ergebnis: Etwa 56 % berichteten über depressive Symptome. Jeder Vierte nahm Antidepressiva. Viele waren übergewichtig. Sie klagten über Erektionsstörungen, über Mattigkeit und Schlafstörungen.
Auch die Kommunikation und der Umgang mit anderen Menschen wird physikalisch-biologisch erklärt. Denn die Depressiven erleben sich selbst
– als blockiert,
– können nicht reagieren,
– fühlen sich betroffen,
– ziehen sich zurück oder
– nörgeln, kritisieren und werten ab.
Nahrung und Depression
Sogar die Nahrung spielt für Depressive eine große Rolle. Bei den meisten wird dieser Gesichtspunkt gar nicht gesehen und bewertet. Wissenschaftler sagen, dass Depressive über zu geringe Depots von Omega 3-Fettsäuren verfügen. Ein regelmäßiger Fischverzehr würde das Depressionsrisiko verringern.
Schon im Mittelalter war es Hildegard von Bingen, die den Gebrauch von bestimmten Speisen und die Benutzung von Heilkräutern gegen viele Krankheiten empfahl. Bei schwermütigen Menschen empfahl sie das Auflegen der Schlüsselblume. Schlüsselblumenwasser wird auch heute noch als Mittel gegen Traurigkeit eingesetzt. Was Hildegard von Bingen über die Anwendung von Fenchelkraut schrieb, ist geradezu revolutionär. Sie empfahl, man solle bei der Melancholie zerstoßenen Fenchelsaft nehmen und damit Stirn, Brust, Schläfe und Magen einreiben. Die Melancholie würde weichen.
Es leuchtet ohne Weiteres ein, dass eine gesunde Ernährung das Wohlbefinden des Menschen verbessern kann. Neurobiologisch wurde festgestellt, dass bei Depressiven ein Mangel an etlichen Neurotransmittern vorliegt. Dazu gehören:
Serotonin,
Dopamin,
Noradrenalin und
die Y-Aminobuttersäure.
Der Psychotherapeut und Diplomheilpädagoge Dr. Peter Dold empfiehlt als Nahrungsergänzungsmittel bei Depressionen: „Nachfolgend angeführte wissenschaftliche Untersuchungen kommen zur gemeinsamen Nahrungsempfehlung:
– Verwenden Sie ausschließlich hochwertige, kaltgepresste und biologische Öle.
– Achten Sie auf ausreichende Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren.
– Nahrungsergänzungsmittel wie Krillöl oder Inka Gold unterstützen das psychische Gleichgewicht.
– Kurkuma mit dem Wirkstoff Curcumin weist antidepressive Eigenschaften auf – das belegt eine chinesische Studie aus dem Jahr 2008.
– Safran wird in Persien traditionell als Heilmittel gegen Depression eingesetzt.
– Die Nachtkerze gilt als einer der besten Lieferanten des natürlichen Antidepressivums Tryptophan.“7
„Mangelnde Ernährung beinhaltet einen Mangel fürs Leben.“ So beschreibt ein Wissenschaftler die Ergebnisse von Studien an Babys, die nicht ausreichend ernährt wurden. Sie seien im Alter oft ängstlich und depressiv. Klaus Wilhelm schreibt wörtlich: „Der Effekt ist erstaunlich: Menschen, die im ersten Lebensjahr nicht ausreichend ernährt wurden, leiden 40 Jahre später häufig unter einer problematischen Persönlichkeit […] Rund ein Drittel der 77 Mangelernährten zeigte demnach Merkmale von erhöhter Ängstlichkeit und Stressanfälligkeit, dagegen nicht mal sieben Prozent in der Kontrollgruppe. Deutlich mehr Mangelernährte waren außerdem depressiv, feindselig, misstrauisch und aggressiv.“8
Emotionales Essen
Ein Begriff, der in der Seelenkunde heute eine Rolle spielt. Jeder hat es gehört und kennt es: Stress, Frust, Traurigkeit, Enttäuschungen, Verluste und Verzweiflung können uns verleiten, durch Süßigkeiten und Essen unsere Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Nicht umsonst sagen wir:
Essen hält Leib und Seele zusammen.
Essen und Süßigkeiten sollen den Kummer verkleinern.
Wer es gewohnt ist, wer es gelernt hat, wer es als Lösung eintrainiert hat, versucht durch Essen seinen Kummer zu verringern. Die Sache hat nur einen Haken: Das Trostpflaster beschert uns eine neue Belastung. Wir sprechen nicht umsonst von „Kummerspeck“. Die Fehlernährung führt zum Übergewicht, das sich zum schlechten Gewissen gesellt. Es stimmt, dass Kohlenhydrate, eiweißreiche Kost den Tryptophanspiegel ansteigen lassen. Das Serotoninsystem im Gehirn verbessert die Stimmung. Endorphine werden freigesetzt. Aber eine wirksame und verändernde Stimmungsaufhellung findet nicht statt.
Was hilft aus dieser Sackgasse heraus?
Die Hintergrundprobleme werden verdrängt.
Die eigentlichen Ursachen werden überspielt.
Der Teufelskreis wird nicht durchbrochen, weil die Essbefriedigung den Ärger, die Einsamkeit oder die Anspannung nur betäubt, und eine neue Essattacke ist fällig.
Die Betroffenen müssen sich fragen:
„Was sind die Umstände und die Zusammenhänge, dass ich in diese Stimmung hineingeraten bin?“
„Was habe ich unterlassen, dass die Verzweiflung anhält?“
„Wenn ich mich hilflos fühle, wem kann ich mich anvertrauen?“
„Was will ich mit dem Essen bezwecken?“
„Bin ich wirklich hungrig, oder will ich mich ablenken?“
Der Christ wartet nicht, dass Gott schon alles regeln wird. Er fragt Gott, was er tun kann. Und er geht – in Gottes Namen – zu einem Seelsorger oder einem Arzt, die Gottes Werkzeuge sind.
Die Depression ist ein Dauerbrenner. Das wird auch an der Verschreibung von Antidepressiva in Europa deutlich. Um 40 Prozent ist die Verschreibungsrate in den Jahren von 2000 bis 2014 gestiegen.
Depressionen sind mit einem Mangel von vier verschiedenen Neurotransmittern in Verbindung gebracht worden. Sie heißen: Serotonin, Noradrenalin, Dopamin und Adrenalin.
Die tägliche Informationsflut macht uns zu schaffen. Wer alles sehen, alles wissen, alles verarbeiten will, überfordert sich. Die Erschöpfung steht vor der Tür. Wir alle brauchen dringend die Fähigkeit, Nein zu sagen.
Zusammengefasst:
Menschen mit Depressionen sind Betroffene,
– die ihr Leben lang mehr oder weniger geleitet sind, das zu machen, was andere von ihnen erwarten, die immer auf die anderen ausgerichtet sind;
– die sich zurückstellen, sich übergehen, sich nicht spüren und sich nicht ernst nehmen;
– die ständig das Gefühl haben, etwas zu müssen, und sich deshalb zunehmend verpflichtet fühlen;
– die ständig in einen Zustand der Überforderung hineingeraten.