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Abstecher in die Vergangenheit

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Die Jalousien im Besprechungsraum waren heruntergelassen. Vereinzelt schossen Lichtstrahlen durch die seitlichen Öffnungen der Rollos. Störende Geräusche von draußen gab es im 48. Stockwerk nicht. Hin und wieder war das Summen von Flugzeugen am Airport zu hören.

Über ein Dutzend Personen saßen um den länglichen Tisch mit den bauchigen Ausladungen an den Längsseiten. Eine Sonderanfertigung aus Mahagoni. Der Wunsch vom Firmenchef. Geschäftiges Gemurmel der Anwesenden. Der Sitzungsleiter saß mit verkrampftem Gesichtsausdruck am Stirnende des Tisches. Die Blätter der Loseblatt-Sammlung flogen hektisch nach links, gleich darauf erneut zurück. Nur die beiden Damen der Presseabteilung sahen dem Treiben gespannt zu. Von den Anwesenden waren sie die mit den geringsten Vorab-Informationen. Für alle anderen war das heutige Treffen eine Routine-Veranstaltung. In den Tagen zuvor gab es Vier-Augen-Gespräche oder Zusammenkünfte im engsten Kreis. In diesen Besprechungen wurde die zukünftige Aufstellung der Firma festgelegt. Heute war der Tag, an dem die Neuausrichtung des Unternehmens bekanntgegeben wurde. Aufgabe der Presseabteilung war es, dies den Medien mitzuteilen. Und die daraufhin einsetzenden Rückfragen zu beantworten. Mit einem Mal hielt der Sitzungsleiter beim Umlegen der Blätter inne. Seine Mundwinkel schoben sich in die Höhe. Die beiden Damen der Presseabteilung rutschten beruhigt in ihre Sitzposition.

»Es geht los«, sprach Maximilian Sellner. Der schlanke Mittdreißiger mit den kantigen Gesichtszügen und blauen Augen, sah seinen Sitznachbarn aufatmend an. Die schwarzen strähnigen Haare schossen teilweise Richtung Decke. Sein Gesichtsausdruck war aufgeschlossen.

Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Die Sitzungsteilnehmer sahen zum Gesprächsleiter hinüber. Der räusperte sich und fing mit den Ausführungen an. Das Zeichen für die anderen, die Aufmerksamkeit herunterzufahren.

Max Sellner warf einen unauffälligen Blick zur Uhr. In drei Stunden würde sein Flieger abheben. Vorher galt es den Ausführungen des Vorsitzenden zu lauschen. Nach all den Jahren der aufopfernden Arbeit erfolgte heute der Dank für sein emsiges Streben. In den Vorbesprechungen wurde ihm die Beförderung zum Hauptabteilungsleiter mitgeteilt. Endlich. Schluss mit der ewigen Fliegerei zwischen seinem Heimatland und dem Firmensitz. Heute flog er zum letzten Mal Richtung Heimat. Dort die nötigen Papiere zusammentragen und dann wieder zurück hierher, – für immer.

Das Trommeln mit den Fingerknöcheln auf dem Tisch, riss ihn aus seinen Träumen. Lange hat die Erläuterung nicht gedauert, fand er. Dafür brauchte er nun nicht zum Flughafen hetzen. Das Taxi würde ihn in aller Ruhe dort hinbringen.

»Sehen wir uns nächste Woche wieder, Max?«

»Nein. – Ich werde mir ein paar Tage mehr Zeit nehmen. Mein Leben wird sich zukünftig hier abspielen. Dazu muss ich drüben die Weichen stellen. Papierkram.«

»Ach so, du wirst nur noch im Urlaub in deine Heimat fahren.«

»Wahrscheinlich auch dann nicht.« Seine Augen sahen gedankenversunken in die Ferne. »Es gibt keine Verbindung mehr dort hin.«

»Vor einigen Jahren hast du vollkommen anders darüber gesprochen.«

»Das stimmt. Aber seitdem hat sich Verschiedenes geändert. – Man sieht sich. Tschüss.« Ein letzter Gruß in die Runde und Max verschwand im Highspeed-Aufzug Richtung Erdgeschoss.

Die Wege auf dem Flughafengelände beschritt er wie im Traum. Einen entscheidenden Teil seiner Tätigkeit verbrachte er im Flugzeug. Während des Fluges verinnerlichte er sich nochmals die Vertragsunterlagen. Die Kunden verlangten Perfektion. Sie sollten sie bekommen. Einchecken und Platzsuche waren gewohnte Routine. Mit einem knappen Gruß, an seinem Sitznachbarn, ließ er sich in das Polster sinken. Diesmal ohne den Blätterwald an Vertragsunterlagen. Heute konnte er sich vollkommen auf die Ankunft in der Heimat konzentrieren. Wäre da bloß nicht diese innere Unruhe gewesen. Seit dem Klingeln des Weckers heute Morgen, spielten die Gefühle bei ihm verrückt. Er hatte keine Erklärung hierfür. Zumindest glaubte er es. Lediglich in der Besprechungsrunde fühlte er sich pudelwohl. Da wurde allerdings auch seine Beförderung bekanntgegeben. Dieses angenehme Gefühl hielt jedoch nicht lange an.

»Darf es etwas zu trinken sein?«

Max Sellner sah in die weit geöffneten Augen der fragenden Flugbegleiterin. Diese lang gewölbten Wimpern. Die schwarzen kurz geschnittenen Haare, mit dem frechen Etwas. Ihr unnachgiebiges Lächeln, das auf eine Antwort wartete. Der Blick traf und lähmte ihn. Seine Augen wurden feucht.

»Tee oder Kaffee?«, hakte sie nach.

»Nein, nein, Danke! Eine Bloody Mary vielleicht. – Ja, eine Bloody Mary, bitte.«

Die Flugbegleiterin blickte Max schmunzelnd an. Kurz darauf gab sie ihm das gewünschte Getränk. Wahrscheinlich vermutete sie Flugangst bei ihm.

Nun war klar, was ihn belastete. Die Erinnerungen an Rosemarie waren es. Seine ewige Liebe, mit der er eine Familie gründen wollte. Sie, die so zauberhaft betörend anzusehen war. Und die Flugbegleiterin, die ihr verdammt ähnelte. So oft er mit dieser Linie flog, aber sie sah er zum ersten Mal. Eine neue Mitarbeiterin, nahm er an. Ansonsten wäre sie ihm bei früheren Flügen bereits aufgefallen.

Max nippte am Old-Fashioned-Glas. Gleich darauf ließ er den Kopf nach hinten in das Polster sinken. Die Gesichtszüge der Stewardess erschienen vor seinen verschlossenen Augen. Deren lächelnde Fältchen verschwammen. Sie wandelten sich in das Traumbild von Rosemaries Gesicht. Die Atmung von Max wurde heftiger, ehe der Oberkörper sich wieder in einem entspannten Rhythmus bewegte. All die Gedanken kreisten um das, was er damals so fürchterlich liebte. Seine Seele bäumt sich immer noch auf, wenn diese Zeit erneut in ihm erwacht. Nichts auf der Welt sollte sie auseinanderbringen. Und doch kam alles anders. Viele Jahre liegt das zurück. Es kommt ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen.

Mit geschlossenen Augen atmete Max kräftig durch, um sich noch gelöster der Gedankenwelt hinzugeben. Es hätte ihm gefallen, seinerzeit mehr in ihrer Nähe gewesen zu sein. Ihre Haut zu spüren, sobald sich der Kopf an seine Schulter schmiegte. Den Duft ihrer Hand zu erahnen, wenn sie ihm über das Gesicht strich. Ihn mit fragenden Augen ansah, wann sie endlich eine Familie gründen konnten. Erneut durchzuckte ein kräftiger Atemzug den Körper.

»Beinah!«, ertönte mit einem Mal die besorgte Stimme der Flugbegleiterin.

Max riss voller Schrecken die Augen auf und bemerkte den mütterlichen Blick der Stewardess auf seine Bloody Mary.

»Ist noch mal gut gegangen«, schmunzelte sie zu ihm herunter.

Er griff das Glas und trank zügig einen kräftigen Schluck. Danach schloss er erneut die Augen und ließ den Kopf wieder in das Polster sinken. Das Haus der Familie van Barken erschien in seinen Gedanken. Der Hausherr sprach von herausragenden Vorhaben, die er mit der Firma umsetzen wollte. Das Unternehmen, für das Max tätig war, legte entscheidenden Wert auf vorteilhafte Kontakte zum Firmeninhaber. Aus diesem Grund stimmte er der Einladung zum Kaffee am Sonntagnachmittag zu. Für ihn gehörte die Zusammenkunft des Kaffeekränzchens zum Arbeitsablauf. Gewohnte Routine, mit einem antwortenden Lächeln hin und wieder. Wahrscheinlich wäre das gesellige Zusammenkommen, mit Gustav van Barken, genauso unspektakulär verlaufen, wie er es vorher annahm. Doch plötzlich öffnete sich die Tür vom Zimmer und ein Engel trat ein. Dieser Himmelsbote sah zu Max hinüber und erstarrte mit einem Mal in seinen Bewegungen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis Rosemarie ihren Vater ansprach. Von diesem Augenblick an bedankte er sich so zügellos für die Einladung, dass der Firmeninhaber nicht anders konnte, als ihn weitere Male zum Kaffee zu bitten. Oftmals bejahte Max danach die Aufforderung zum nächsten Besuch, bevor sie ausgesprochen wurde. Das war der Anfang von der Liebe zu Rosi.

Ein krachender Lärm riss ihn aus seinen Gedanken. Der Oberkörper schoss nach vorn. Der Rest der Bloody Mary schwappte gefährlich im Glas hin und her. Dieses stumpfe Rattern konnte nur von einer defekten Turbine stammen, mutmaßte er. Erstaunt stellte er jedoch fest, dass sein Sitznachbar es ausgezeichnet verstand diese Geräusche im Schlaf nachzuahmen. Der Blick fiel auf das Old-Fashioned-Glas. Ohne lange nachzudenken, leerte er den restlichen Inhalt mit einem Schluck. Gleich darauf versank der Kopf erneut in die bekannte Ruheposition. Ein genussvolles Räkeln und er befand sich wieder im Landhaus von Rosis Eltern.

Für Max war es jedes Mal das Eintauchen in eine ungewohnte Welt, wenn er die Familie van Barken in Heininken besuchte. Per Flieger von der weltoffenen Stadt auf einem anderen Kontinent, in das verschlafene Dorf, in dem seine Herzallerliebste lebte. Der Landsitz der Familie war ein aufregender Gegensatz zu dem, wo er ansonsten die Zeit verbrachte. Oft spazierten sie im Wald umher. Eine Pause am Bienenhaus gehörte so gut wie immer dazu. Ein verwittertes abgelegenes Blockhäuschen, fernab aller Trampelpfade. Woher die Hütte den Namen hatte, konnte ihm niemand sagen. Das sirrende Geräusch von Bienen haben sie hier jedoch nie vernommen. Glücklicherweise, fand er. Für ihn war dieser Ort geheimnisumwittert und friedlich zugleich. Hier hatte er Rosi zum ersten Mal geküsst. Hier gestand er ihr, dass er sie liebte. Ewige Treue sollte beide für immer verbinden.

»Hallo, Sie!« Eine weibliche Person beugte sich über Max und zog ihn am Arm.

Verblüfft schlug der Angesprochene blinzelnd die Augen auf. »Meinen Sie mich?«

»Ich habe mal eine Bitte …«

»Ja?!«

»Würden Sie den Platz mit mir tauschen?« Auf seinem fragenden Blick fuhr sie fort. »Ihr Sitznachbar ist mein Gatte.«

Max sah erst die Fragestellerin an und gleich darauf den neben ihm Sitzenden. »Aber der schläft doch, klar ersichtlich und hörbar.«

Im selben Augenblick kam die Flugbegleiterin hinzu. »Bitte nehmen Sie wieder Ihren Platz ein und schnallen sich an«, sprach sie zu der Ehefrau. »Wir rechnen mit merklichen Turbulenzen.«

»Sehen Sie«, hob Max mahnend den Zeigefinger, »was man mit Schnarchen alles anrichten kann.« Gleich, nachdem das letzte Wort die Lippen verlassen hatte, versank er erneut in die vertraute Ruheposition. Jedoch nicht ohne zuvor einen mürrischen Blick zum Nachbarn hinüberzuwerfen.

Bei seinen Besuchen in der Heimat wohnte er stets im Excelsior. Ein Viersternehotel, zwanzig Autominuten von Heininken entfernt. Hier hatte er, wie er es nannte, sein Basis-Lager aufgeschlagen. Sicherlich hätte er ebenso im Landsknecht, im Ort selber unterkommen können. Auf dem Präsentierteller den Einheimischen serviert zu werden, das mochten beide nicht. Allerdings loslösen von den Dorfbewohnern wollten sie sich ebenfalls nicht. Manchmal tauchten sie deshalb auf einem der Tanzabende im Landsknecht auf. Das kam jedoch nicht oft vor. Rosemarie war zwar öfter mit den weiblichen Personen im Ort zusammen, Max konnte dies aber nicht. Er befand sich viele Flugstunden von dort entfernt. Die kurzen Besuchszeiten im Ort reichten nicht, um mit den anderen Kerlen freundschaftliche Kontakte aufzubauen. Über einen flüchtigen Gruß hinaus gab es keine erkennbaren Gemeinsamkeiten. Im Gegenteil. Die Begrüßung wurde mit immer zornigerer Miene beantwortet. Irgendwann hatte sich dieser schleichende Prozess der Abneigung in ein Hassgefühl gewandelt. Maximilian Sellner hatte in Heininken keinerlei Freunde. Das konnte niemand bezweifeln. Er musste damit leben. Allzu viel machte es ihm nichts aus. Schließlich wollte er später mit Rosi eine Familie gründen. Und das sollte nicht in Heininken passieren. Beide hatten sich dies vorgenommen.

Und dann kam alles anders. Ganz anders. Er konnte sich noch daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Sein Flug hatte Verspätung. Er betrat die Eingangshalle vom Excelsior. In der hinteren Ecke der Lobby saß Rosi, mit dem Rücken zu ihm. Mit einem Mal stand er vor ihr. Max wurde aschfahl, als er ihr ins Gesicht sah. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Sie musste über längere Zeit geweint haben. Was war passiert? – wollte er hektisch wissen. Doch Rosi brachte kein Wort hervor. Später auf dem Hotelzimmer beichtete sie ihm, dass sie schwanger war. Minutenlang schwiegen sie. Beide sahen sich nicht an. Schließlich war es Max, der die ersten Worte sprach. Die halbe Nacht unterhielten sie sich, bis sie todmüde einschliefen.

Er erinnerte sich genau an dieses Beisammensein. So offenherzig hatten sie sich noch nie unterhalten. Seine Worte von damals gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Es waren die letzten Tage, die er mit Rosi zusammen war, bis sie kurz darauf starb. Warum quälten ihn diese Gedanken ständig? Weil er nicht in ihrer Nähe war, als sie aus dem Leben gerissen wurde? Und nun flog er auf die Schnelle in die Heimat, um alle Formalitäten für die Auswanderung zu erledigen. Informationen über das Bundesmeldegesetz, Internationaler Führerschein und Abmeldebescheinigung hatte er bereits verinnerlicht. Heininken war danach aus seinem Gedächtnis gelöscht. Konnte er das so problemlos machen? Rosemarie war dort begraben. Seit über zehn Jahren. Musste er sich nicht verabschieden von den … na ja, nicht Freunden, aber Bekannten? Wussten die überhaupt noch, wer er war? War es korrekt, heimlich zu verschwinden? – Nein, das war es nicht. Es war ihm klar. Max hasste Filme mit einem zweifelhaften Ende. Er würde sich nicht hasenfüßig auf und davon machen. Mit Sicherheit nicht. Das war nicht sein Stil. Es galt zu handeln.

Mit einem Mal wurde er in seinem Sitz hin und her geschüttelt. Turbulenzen brachten den Flieger aus dem Gleichgewicht. Dem schlafenden Sitznachbarn erging es nicht anders. Dieser saß, starr vor Schreck, mit aufgerissenen Augen besorgt da.

»Waren Sie das mit Ihrem Schnarchen?«, wollte Max wissen.

Der Angesprochene sah ihn, mit verkniffenem Lächeln, kurz an. Für eine Antwort reichte der Mut nicht.

Während das Flugzeug den Naturgewalten ausgesetzt war, verzichtete Max auf die gewohnte Ruheposition. Er griff nach vorn und holte sein Mobiltelefon hervor. Mal sehen, was unter dem Begriff Heininken im Netz zu finden war. Kurz darauf sah er erstaunt auf das Display des Telefons. Was dieser verschlafene Ort alles zu bieten hatte, war bemerkenswert. Die uralten Gemäuer und Häuser wurden als Reste einer alteingesessenen Gruppe von Bauern und Viehhirten dargestellt. Interessierte sollten sich diese frühzeitliche Dorfgemeinschaft näher ansehen. Für eine mehrtägige Besichtigung, mit Kennenlernen der Umgebung, bestand die Möglichkeit, im Landsknecht zu übernachten. Mit einem sanften Druck des Zeigefingers, auf das Display, öffnete Max den Terminkalender der Pension. Grübelnd schauten seine Augen geradeaus ins Nichts. Der Flieger taumelte unterdessen in einem fort. Mal nach links, dann rechts, nein doch wieder links und schließlich der freie Fall in die Tiefe. So kam es ihm zumindest vor. Das Gesicht des Sitznachbarn war in einer Tüte verschwunden. Gurgelnde Geräusche verrieten seine Beschäftigung.

Gleich darauf huschte der Finger nochmals über die Handy-Oberfläche. »Gebucht«, murmelte er halblaut vor sich hin. Ein kurzer Besuch in Heininken, mit einer Übernachtung im Landsknecht. Das genügt, war er der Meinung. Ich muss mich unbedingt von ihr verabschieden. Ohne ihre Grabstelle gesehen zu haben, werde ich dieses Land nicht verlassen. – »Niemals!«

»Sprechen Sie mit mir?«, kam es mit gedämpfter Stimme aus der Tüte.

»Nein, nein. Sie haben im Augenblick andere Sorgen«, entgegnete Max.

Zum Entspannen war es momentan zu turbulent in der Maschine. Auf den anderen Plätzen machte sich ebenfalls Unruhe breit. Die Profi-Flieger erkannte er an deren Gelassenheit in der gegenwärtigen Lage. Auch er versuchte sich abzulenken. Das letzte Zusammensein mit Rosi lebte nochmals in seinen Erinnerungen auf. Karl Söhnges feindseliges Gesicht ebenso. Dem Jäger und Forstarbeiter der einen grundsätzlichen Hass auf ihn hatte. Max glaubte, ihm dafür nie einen Grund geliefert zu haben. Wahrscheinlich konnte er nicht anders. Und die Kumpels um Karl herum genossen den Zwist der beiden, mit einem breiten Grinsen. An einem Tanzabend, im Saal im Landsknecht, stand Max ihm plötzlich gegenüber. Vernichtend blickten die Augen des Jägers ihn an. Möglicherweise meinte Karl, dass er von ihm beim Tanzen angerempelt wurde. Ob er wirklich einen Grund benötigte, um Streit zu suchen, davon ging Max nicht aus. Rosi war es, die im letzten Augenblick die beiden Streithähne auseinander schob. Dieser Abend war für ihn ein Grund mehr, die gemeinsame Zeit mit Rosi nicht bedingungslos in Heininken zu verbringen.

Mit einem Mal dröhnte ein impulsartiger Krach durch die Maschine. Selbst Max war für einen Augenblick eingeschüchtert. Sein Sitznachbar so geschockt, dass er alle Geräusche des Würgens schlagartig einstellte. Auch von den anderen Sitzen drangen keine Laute zu ihm hinüber. Gleich darauf war allen jedoch klar, dass nichts Schreckliches geschah. Der Rest der Reise verlief bequem. Grund, sich einer Frage zu widmen, die ihn von Anfang an beschäftigte: Konnte das Ungeborene, das Rosi in sich trug, gerettet werden? Nachdem er erfahren hatte, dass seine Freundin schwanger war, bat er sie um eine Auszeit. Er musste in sich gehen. Es galt zu klären, wie er sich zukünftig verhalten sollte. Ja, die erste Reaktion von ihm war, dass er das Kind nicht haben wollte. Schwangerschaftsabbruch verlangte er von ihr. Hektisch, unüberlegt wischte er ihre Vorschläge beiseite. Diese überfallartige Mitteilung hatte ihn kopflos gemacht. Er musste auf andere Gedanken kommen. Das konnte er am besten, wenn er sich den Problemen am Arbeitsplatz widmete. Nachdem er sich schließlich eine Meinung zurechtgelegt hatte, kam kurz darauf die Benachrichtigung vom Tod Rosis. Diese Nachricht erreichte ihn, als sie bereits unter der Erde lag. Nähere Informationen über ihren Tod erhielt er nicht. Ihre Eltern waren sicherlich nicht gut auf Max zu sprechen. Niemand hielt es für notwendig ihn zu informieren. Die Idee, dass möglicherweise das Ungeborene gerettet wurde, kam ihm erst viel später. Er musste das bei seinem Besuch in Heininken klären. Ihm fröstelte. Sollte das Kind leben, wäre es heute über zehn Jahre alt.

»Bitte schnallen Sie sich an. Der Landeanflug ist eingeleitet.«

Max schmunzelte. Die Stimme von Rosis Zwillingsschwester, durch den Bordlautsprecher, klang ihr erschreckend ähnlich. Diesmal vermied er den Hinweis, das Mobiltelefon auszuschalten.

Eine halbe Stunde später rollte das Flugzeug in die Parkposition. Er war einer der ersten am Gepäckband, wie so oft. Und sein Koffer war einer der letzten, der in die Endlos-Schleife des Transportbandes gelangte, wie so oft. Sein Blick fiel zuerst auf die Anzeigetafel der Start- und Landeanzeige. Die reizte ihn aber nicht. Es war der lichtdurchtränkte Aushang daneben. Hinter der spiegelnden Abdeckung des Plakats erschien die Werbung für das neueste Modell der Mobiltelefone. Auch die erzeugte bei ihm nur kurze Aufmerksamkeit. Nach dem Urlaub würde er das Gerät erwerben. Die spiegelnde Abdeckung vor der Werbung störte ihn. Das Spiegelbild einer weiblichen Person sah er dort. Natürlich ebenfalls die anderen Gegenstände und Menschen, die auf der spiegelnden Fläche auszumachen waren. Aber die menschliche Gestalt stach ihm sofort ins Auge. Sie starrte bewegungslos in seine Richtung. Und er konnte das auf dem Spiegelbild erkennen. Oder täuschte er sich? Max drehte sich um und suchte die Beobachterin. Gleich darauf fiel der Blick auf diese Person. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich an. Schulterlange braune, vielleicht auch dunkelblonde Haare. So genau erkannte er das nicht. Sie hatte einen weißen kurzen Kittel an. Wie viele Bruchteile einer Sekunde sie sich ansahen, wusste er nicht. Schlagartig drehte sich diese Unbekannte um und verschwand durch eine Tür neben ihr. Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen. Ihm war nicht klar, wie lange er so dastand. Mit einem Mal nahm er ein sanftes Tippen auf der Schulter wahr.

»Das muss ihr Koffer sein, Mister. Dies ist das einzige Gepäckstück auf dem Band. Und Sie sind der letzte Fluggast.«

Max sah in ein umgänglich lächelndes Gesicht. »Ja, Danke«, kam es von ihm knapp zurück.

Er schnappte sich den Koffer und eilte zu der Tür, hinter der die Beobachtende soeben verschwand. Ein kurzer Augenblick des Zögerns. Schließlich riss er die Tür auf. Dahinter befand sich ein Treppenhaus. Ein flüchtiger Blick zur oberen Etage und ein gleicher hinunter. Max stellte den Koffer neben der Tür ab und hetzte die Treppe hinab. Die letzte Stufe hinter sich gelassen, drückte er die schwergängige Metalltür auf. Vor ihm lag das Parkdeck. Ein Auto stand neben dem anderen. Er sah sich um. Außer der Halde mit den Blechkarossen war dort nichts zu sehen. Keine weibliche Person, mit oder ohne weißen Kittel, konnte er ausmachen. Sekunden blieb er so stehen. Dann stapfte er die Stufen wieder hinauf. Behäbig und grübelnd. Wer war diese Person? Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er hatte niemand darüber informiert, dass er in seine Heimat zurückkommt. Oder etwa doch?! Und wenn schon. Er hatte nichts zu verheimlichen. Die Übernachtung im Landsknecht buchte er unter einem anderen Namen. »Komisch«, murmelte er halblaut vor sich hin. Kurz darauf öffnete er die Tür, die er Augenblicke zuvor hektisch aufriss.

»Das glaube ich nicht!«, kamen die Worte klar und deutlich über seine Lippen. Starr vor Schrecken blieb er stehen. Alles Umschauen half nichts. Jemand hatte den Koffer mitgenommen.

Von einem zufällig vorbeikommenden Polizeibeamten ließ er sich den Weg zur Dienststelle erklären. Auf dem Marsch dorthin grübelte er bereits über den entstandenen Schaden nach. Der Koffer war schon etwas älter. Überwiegend mit Kleidung gepackt. Reisepapiere und persönliche Dokumente trug er im Jackett. Die Tasche mit dem Laptop hing über der Schulter. Also gut, der Schaden war unerfreulich, aber überschaubar.

Auf dem schlichten Polizeirevier des Flughafens angekommen, blinzelte Max erstaunt in die Runde. Eine größere Zahl von Personen trippelte aufregend hektisch oder angespannt abwartend umher. Zumindest vor dem Tresen. Das alle etwas zu beklagen hatten, war ihm klar. Klar war ihm auch, dass es länger dauern würde, als erhofft.

Knappe zwei Stunden später betrat er das Geschäft der Autovermietung am Flughafen. Er hatte im Voraus gebucht. Deshalb konnte er es sich schon kurz darauf im Leihwagen bequem machen. Das Navi benötigte er nicht. Die Route zum Excelsior kannte er im Schlaf.

Max lenkte den Wagen, aus der Parkbucht der Leihwagenfirma, Richtung Innenstadt. Er war dabei sich in den fließenden Verkehr einzuordnen. Mit einem Mal bremste er scharf ab. Konnte das wahr sein, schoss es ihm durch den Kopf. Ist das nicht die Person gewesen, die ihn beobachtete? Verdutzt sah er dem Fahrzeug hinterher, in dem er sich einbildete, die Beobachterin erkannt zu haben. »Quatsch!«, stellte er beherzt fest. Er musste sich täuschen. Einen weißen Kittel hatte sie nicht an. Wozu auch? »Nein, nein, nein!«, drang es diesmal vernehmlicher aus ihm heraus. »Alles Blödsinn! Ich bilde mir das nur ein.« Keiner kann wissen, dass ich heute hier ankomme. Niemand! Er war sich darüber vollkommen im Klaren. Das war einzig und allein ein blöder Zufall, fand er. Ebenfalls die weibliche Person in dem blauen Auto. War das Fahrzeug wirklich blau, oder ... es war blau! So ein komisch schillerndes Blau. Na egal. Er musste jetzt unbedingt die Vorstellung von Beobachtung, oder so etwas Ähnlichem, loswerden. Lächerlich, was er sich da für einen Blödsinn ausdachte! Sein starrer Blick auf die Fahrbahn beendete die Gedankensprünge.

Der Mitarbeiter, am Empfang im Excelsior, begrüßte Max mit einem willkommenen Lächeln. »Wieder in der Heimat, Herr Sellner?! – Ich lasse Ihr Gepäck aus dem Auto holen.« Den letzten Satz sprach er, nachdem ihm auffiel, dass Max keinen Koffer bei sich trug.

»Mir wurden am Flughafen meine Habseligkeiten gestohlen. Da bin ich jedoch nicht ganz schuldlos dran. Morgen, gleich nach dem Frühstück, gehe ich auf Einkaufstour.« Er griff die Karte für die Zimmertür und wollte sich auf den Weg zum Aufzug machen. Mit einem Mal blieb er stehen und sprach: »Ach so, die übernächste Nacht verbringe ich nicht hier im Hotel. Wenn irgendetwas sein sollte, Sie haben ja meine Handy-Nummer.«

Den nächsten Morgen, am Frühstückstisch, rutschte Max auf dem Stuhl ständig hin und her. Er fühlte sich ungepflegt. Die Kleidung hatte er bereits auf dem Flug hierher angehabt. Das Duschen vorhin brachte nicht die gewünschte Entspannung. Höchste Zeit, dass er sich neu einkleidete. Den Kaffee trank er nicht aus. Er hatte derzeit nur ein Ziel vor Augen: sich schnellstmöglich neue Kleidung zu besorgen. Und einen Koffer.

Eine Stunde später war er schon etwas abgeklärter. Einen Großteil der notwendigen Garderobe schleppte er in Tragetaschen mit sich herum. Ein Trainingsanzug fehlte ihm noch. Schließlich wollte er sich in den paar Tagen hier fit halten. Im Sportgeschäft fand er nicht das, was er suchte.

»Tut mir leid, den haben wir nur in dieser Farbe«, trällerte die Verkäuferin im lächelnd zu.

Eine Zeit lang sah Max sie grübelnd an. Dann wollte er etwas antworten, wurde jedoch abgelenkt. Sein Blick glitt am Gesicht der vor ihm Stehenden vorbei. Im hinteren Teil des Verkaufsraumes entdeckte er die weibliche Person von gestern. Heute jedoch ohne Kittel. Wie erstarrt hingen seine Augen an dieser Unbekannten.

Fragend beobachtete ihn die Verkäuferin. Sie drehte sich um und sah ebenfalls in die Richtung, in die Max blickte. »Das ist meine Freundin, hinten in der Ecke. Kennen Sie sich?«

»Äh – nein, nein. Im ersten Augenblick nahm ich an, es wäre eine Bekannte von mir. Ich habe mich geirrt«, erwiderte er hastig.

Die Verkäuferin wartete kurz und wollte wieder über den Trainingsanzug am Kleiderständer sprechen. Sie atmete hörbar ein, kam aber nicht dazu, Weiteres zu erklären.

»Die Trainingssachen gefallen mir«, sprach er. »Packen Sie die bitte ein.«

Die Augenbrauen der anderen schoben sich erstaunt in die Höhe. »Ein lohnender Kauf«, kommentierte sie mit kurzer Verzögerung die Entscheidung.

Die Augen von Max blickten flüchtig zur Armbanduhr. Er verdrängte die Vorstellung, dass die Freundin der Verkäuferin mit der Beobachterin vom Flughafen identisch sein könnte.

Mit dem Wagen parkte er, in kürzer als einer halben Stunde, direkt auf dem Einstellplatz vom Bürgeramt. Ein Blick in die Runde. Allerhand viel leere Stellplätze, staunte er. Hat vielleicht was mit der Urlaubszeit zu tun, nahm er an. Gleich darauf eilte er die Stufen zu dem altertümlichen Gebäude empor.

Alles erledigt, atmete er eine Stunde später gelöst auf. Die sind mit ihrer Technik fortschrittlicher, als er vermutete. Gut, er hatte emsig Vorarbeit geleistet. Somit waren die Auflagen für das Bundesmeldegesetz und dem Internationalen Führerschein rasch geregelt. Lächelnd schlenderte er zum Mietwagen. Plötzlich blieb er abrupt stehen. Was war das? Ein Polizeibeamter klemmte einen Zettel unter das Wischerblatt. Ein zweiter begutachtete den Wagen, mit krauser Stirn, von hinten. Sein gelockerter Gang veränderte sich schlagartig in flinkes Laufen.

»Sind Sie der Fahrer des Wagens?« Der Beamte blickte ihn freudlos an.

»Ja, aber …«

»Sie haben Ihr Fahrzeug auf einer Stellfläche geparkt, die nur von Mitarbeitern der Behörde benutzt werden darf. In der Zufahrt befindet sich ein großflächiges Schild, das darauf hinweist.«

»Wer hat sie gerufen?«

»Niemand. Wir sind regelmäßig hier. Sie sind nicht der Halter des Fahrzeugs.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, staunte Max.

»Das Kennzeichen«, lautete die knappe Antwort. »Das Fahrzeug ist in der Stadt registriert, in der alle anderen sich hier befindlichen Mietwagen angemeldet sind.«

»Ein Grund mehr, meinen Wagen näher unter die Lupe zu nehmen?« Max Sellner merkte wie Wut in ihm aufstieg.

»Aber nein«, antwortete der Beamte. »Nur, dass was wir wissen, sind Kenntnisse, die andere ebenfalls haben.«

»Aha! Und wer sind die Anderen?« Max verschränkte die Arme vor dem Oberkörper.

»Böswillige Buben, vielleicht auch unartige Mädels, die derartige Autos ausrauben.«

»In diesem Kraftfahrzeug gibt es nichts zu stehlen.«

Der Polizeibeamte, der bisher hinter dem Wagen stand, winkte ihn zu sich. Mit einem angedeuteten Kopfnicken wies er Max auf die nicht eingerastete Heckklappe hin.

Entgeistert sah er auf die nicht verschlossene Klappe. Beschädigt war der Verschluss nicht. Hastig griff er die Heckklappe und öffnete sie. Ausgeräumt! Der Kofferraum war ohne Inhalt. Seine kompletten Einkäufe hatten sich in Luft aufgelöst. »Ach, herrje! Habe ich jetzt die Fingerabdrücke verwischt?«

Der Beamte winkte unaufgeregt ab. »Die benutzen Handschuhe. Da ist nichts mit Abdruck. – Auch wenn kein Schaden entstanden ist, sollten Sie Anzeige erstatten. Das ist ein Mietwagen.«

»Das heißt, stundenlanges Warten auf dem Revier?«

»Oder Sie erstatten im Internet Anzeige. Ihr Bußgeld für das Falschparken können Sie hier bezahlen, wenn Sie möchten.«

Max griff zur Brieftasche und beglich die Forderung mit verdrießlichem Gesichtsausdruck. Nachdem er sich verabschiedet hatte, galt es die Einkaufstour zu wiederholen. Auf die erstaunten Gesichter freute er sich jetzt schon. Die Verkäuferin, die ihm den Trainingsanzug verkaufte, hoffte er, ohne ihre Freundin anzutreffen. Schließlich musste er die Wahnvorstellung, mit der vermeintlichen Beobachterin, irgendwann loswerden.

Nachdem er eine Reihe von Geschäftsinhabern vergnügt gestimmt hatte, traf er wieder im Excelsior ein. Ins Restaurant mochte er heute nicht gehen. Am Empfang gab er eine Bestellung auf, ihm das Essen aufs Zimmer zu bringen. Danach konnte er sich auf den morgigen Tag in Heininken vorbereiten. Er hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend. Schließlich wusste er nicht, was auf ihn zukam. Wir werden sehen, entschied er kurz.

Elf Jahre und elf Monate

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