Читать книгу Eine umwerfende Bescherung - Reinmund Anton Frommer - Страница 4
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ОглавлениеEndlich ist es Heiligabend, nach einem anstrengenden Jahr.
„Müssen wir wirklich bis an die See fahren, damit du an Weihnachten deine Seelenruhe findest?“
Johanna lässt nicht locker. Eben noch hat sie ihre Reisetasche auf den Rücksitz des Autos gezwängt, schaut durch das offene Fahrerfenster auf Markus herab.
Ihre Frage steht zwischen ihnen wie der alljährliche Rummel binnen Rathaus und Kirche. In Gedanken sieht Markus sich über den Weihnachtsmarkt laufen, eingepfercht in einem Pulk von Menschen, da er sich in letzter Minute entschließen würde, das Fest mit Johannas Familie zu verbringen. Seine Augen schmerzen im Anblick von endlosen Lichterketten, das Gedudel ewig gleicher Lieder nervt ihn wie die Sicherheitshinweise am Flughafen. Nein, er hat gegen Familientreffen prinzipiell nichts einzuwenden. Allein die Dauer des Festes im Kreise der Familie mahnt die eigene Vergänglichkeit wie ein Vorspiel auf die Ewigkeit an. So viel Rotwein zum Ausgleich kann selbst er nicht trinken.
Seine Hände krallen sich um das Lenkrad, der Verzweiflung nahe. Er hat den mokanten Unterton bemerkt, den Johanna in ihre Frage gelegt. Markus schnauft unüberhörbar, damit das Mädchen begreift, wie sehr ihn ihre Zweifel entrüsten. Er will jetzt für klare Verhältnisse zu sorgen, ein für alle Mal. Schließlich hält er sich jedes Jahr um diese Zeit in seinem alten Bungalow auf, lediglich umgeben von Kaminrauch, Glühwein und rauschender See. Und diesmal soll ihn seine neue Freundin Johanna begleiten.
„Mach das Garagentor auf!“, donnert er zum offenen Seitenfenster hinaus und erschrickt im nächsten Augenblick über den eigenen Ton. „Bitte“, setzt er kleinlaut nach, doch es scheint ihn niemand zu hören.
Wo ist Johanna überhaupt? Eben stand sie doch noch direkt neben ihm. Sein Blick huscht über Seiten- und Rückspiegel, erwischt er das Mädchen, wie sie gerade durch die Seitentür zurück in das Haus verschwindet.
Nun, gut. Wenn es denn ihrem gemeinsamen Fortkommen dient, wird er das Tor eben öffnen.
Entschlossen dreht Markus den Schlüssel im Zündschloss. Läuft das Auto erst einmal, wird Johanna schon ihre restlichen Utensilien beibringen. Allein, nichts passiert. Auch beim zweiten und dritten Versuch startet das Auto nicht. Das gibt’s doch nicht!
„Da siehst du es! Selbst Lotte hat keinen Bock auf Ostseesand!“, kommentiert Johanna ungerührt die Neuigkeit, als sie mit ihrem Friesennerz über dem Arm zurückkehrt.
Markus windet sich aus dem Auto.
„Was soll ich denn jetzt machen?"
Er fühlt sich so leer wie eine Autobatterie nach der Winterpause. Mit großen braunen Kinderaugen starrt er seine Freundin an, hofft, dass sie ihm den Weg weist.
Das Mädchen packt gleichmütig den Mantel zu ihrer Tasche auf den Rücksitz. Anschließend tätschelt sie ihm die Wange: „Den Fehler suchen.“
„Ich?“, fragt Markus entsetzt.
„Wer sonst?“ Und schon ist Johanna wieder entschwunden.
Lotte ist der in die Jahre gekommene Kleinwagen.
Ratlos wandert Markus in der Garage auf und ab, quetscht sich wieder und wieder hinter das Lenkrad, versucht zu starten. Vergeblich.
Er ist kein Mechaniker. Er ist überhaupt kein Handwerker. Er ist Literaturprofessor! Dennoch muss er den Motor zum Laufen bringen, irgendwie.
Vielleicht sollte er einmal die Motorhaube öffnen.
Mühsam, auch weil seine Körperfülle ihn hindert, tastet er nach dem Hebel unterhalb des Lenkrads. Beim Bücken rutschen ihm die langen grauen Strähnen ins Gesicht. Im Versuch sie beiseite zu schieben, verliert er das Gleichgewicht. Der Fahrersitz fängt ihn am Kinn auf.
Markus, das schmerzende Kinn streichend, flucht. Vielleicht sollte er dem vor langer Zeit von seiner Mutter geäußerten Rat, die Langhaarphase hinter sich zu lassen, endlich folgen. Aber sobald er die Haare entschlossen zusammenrafft und in den Spiegel schaut, begegnet Markus einem Fremden und davon hat er schon genug um sich.
Denn wo soll das alles noch hinführen?
Neues Geld, neue Medien. Ständig wechselnde Rektoren sowie jüngere Kollegen, die sich auf der Karriereleiter an ihm vorbei hangeln, indem sie in ihren Veröffentlichungen geschickter von Kollegen abkupfern oder Ungeheuerlichkeiten über die alten Klassiker verbreiten. Er mag den Namen nicht einmal denken, der das verbrochen hat, mutmaßlich aus Geltungssucht. Ja, selbst die Frauen wechseln bei Markus beständig, indem sie seinem intellektuellen Charme, zumindest für eine gewisse Zeit, erliegen und ihn dann später wieder verlassen.
Resigniert rutscht er auf den Fahrersitz, lehnt den überforderten Kopf gegen die Stütze. Auch Johanna wird wohl eines Tages zu den Verflossenen gehören. Wobei er bei ihr am wenigsten versteht, weshalb sie das Bett mit ihm teilt. Aber genau das lässt ihn hoffen, dass es mit ihr anders laufen könnte als mit ihren Vorgängerinnen. Er will keinen Wandel mehr. Nicht im Spiegel, nicht an Weihnachten, nicht im Bett. Und anderswo auch nicht.
Nun, an Weihnachten, da will er nur weg, zu seinem alten Bungalow. Es ist seine Form von Protest gegen Kirche, Kommerz und Konformgesellschaft. Der letzte übrigens.
Also sucht er weiter nach dem Hebel. Mit dem ersten, den er unterhalb des Lenkrads ertastet, wird es hell in der Garage. Das ist gewissermaßen einleuchtend, aber nicht das, was er will. Wo kann nur dieser Hebel sein?
Dann klackt es, die Haube macht einen kleinen Sprung und er innerlich vor Stolz ebenso. Fasziniert, beinahe demütig, tasten seine Finger Motorblock und Kühlaggregat ab, drücken einen verschmierten Schlauch auf den dazugehörigen Stopfen. Markus spürt den Schmutz, ein Gemisch aus Öl und feinen Sandkörnern, an den Händen, reibt die Kuppen von Daumen und Mittelfinger aneinander. Sein Blick fällt, über die Hand hinweg, auf den Ölbehälter.
Sollte hier etwa die Ursache des Übels zu finden sein?
Aber er hat das Auto doch regelmäßig zur Inspektion geschickt, selbst den von der Werkstatt angebotenen Wintercheck nicht ausgelassen, obwohl der Mechaniker nicht länger als eine Tasse Kaffee hierfür brauchte, wie Johanna verwundert berichtet hat.
Egal. Jetzt ist sowieso alles zu spät. Wer nicht wagt, gewinnt. Oder so ähnlich.
Zunächst aber wird er nach einem Tuch suchen. Zwar sind seine Hände bereits verschmutzt. Kann Johanna, wenn sie zurückkommt, sehen, wie er gekämpft, mit den Elementen gerungen hat. Jedoch das Öl an sich, an den Händen, ist ihm unangenehm.
Sein Blick schweift über die Regalwand, bleibt am Fensterleder hängen. Wenn er das jetzt kurzerhand missbraucht, so überlegt Markus, könnte es Ärger geben mit Johanna und den hat er sowieso schon wegen des streikenden Autos. Den muss er nicht noch steigern.
Er wühlt sich vorbei an den Kleiderkoffern der längst verstorbenen Mutter, stapelt unausgepackte Umzugskisten von Johanna übereinander, zerlegt leere Weinkartons auf der Suche nach einem autogerechten Stück Stoff. Kurz bevor er bereit ist aufzugeben, kommt ihm die rettende Idee. Unter den Polstern für die Gartenmöbel, die auf dem dazugehörigen Tisch lagern, so meint Markus sich plötzlich zu erinnern, lag früher ein schon oft benutztes Staubtuch, das zum Putzen der Gartenmöbel gedient hatte. Entschlossen stemmt er den Stapel Polster empor, wühlt sich mühsam Schicht für Schicht durch, entdeckt noch im verzweifelten Graben durch störrische Schaumstoffbarrieren einen neu entstandenen Fleck auf grünem Markisenstoff. Der kann jetzt aber wirklich nicht von ihm sein!
Natürlich taucht das gesuchte Staubtuch keinesfalls unter den Polstern auf. Dafür der zuletzt an Allerheiligen vermisste Schuhputzkarton, als er gemeinsam mit Johanna und deren Mutter das Grab des im Frühjahr verstorbenen Stiefvaters aufgesucht hatte.
Eva schien schlecht vorbereitet. Ihr war dabei durchaus bewusst gewesen, dass Johanna nicht allein zum Friedhof kam. Doch, doch, die Tochter hatte sie gewarnt. Hatte erwähnt, dass sie ihren neuen Freund mitbringen wird. Allein, sie schien nur nicht auf Markus eingestellt - den grauhaarigen, schmerbäuchigen, nicht gerade elegant gekleideten Professorenvater, welcher heute wie damals als Student, vor dreiundzwanzig Jahren, gern mal ein Glas Rotwein am Abend trinkt und schon jetzt älter ist, als Schiller jemals werden durfte.
Ihre Zurückhaltung seit diesem Tag könnte indes ebenso gut auf einer Kleinigkeit beruhen. Zum Beispiel den weißen Chucks, die er anstelle der verschmutzten Lederschuhe angezogen hatte zum grauen Anzug - an diesem kalten, feuchten Novembertag. Am Gewand jedenfalls kann es nicht gelegen haben. Er trägt es auch während seiner Vorlesungen, hat der Anzug Markus dort den Spitznamen Bukowski eingebracht.
Ausgerechnet Bukowski!
Er kann mit dessen Werk nichts anfangen. Und außerdem, weshalb haben sie, diese faulen, von klassischer Literatur gelangweilten Studenten, ihn, wenn sie schon allein sein Äußeres aufs Korn nehmen, nicht mit einem Autor aus der Zeit seines Fachgebiets, zum Beispiel Hölderlin oder Lenz, verglichen? Er ist ja keineswegs so vermessen, eine Brücke zu seinem Idol Goethe bauen zu wollen.
Aber Bukowski? Was hat der denn mit ihm gemein?
Konnte der denn wenigstens Autos reparieren?
Markus seufzt. Womit kann er nur den Deckel öffnen?
Bereitwillig entnimmt er dem Schuhkarton mit Lederfett getränkte Boxershorts, die er vor Jahren zum Schuhputzen degradiert, nachdem seine damalige Freundin bei deren Anblick einen Lachanfall erlitten hatte. Wie stolz war er zuvor auf dieses Kleidungsstück gewesen, hatte hierfür extra eine Modeboutique aufgesucht. Einzig, um einer Frau zu gefallen. Leider erwies es sich als aussichtsloses Unterfangen - wie so manches in seinem Leben.
Zuvorderst versteht Markus nicht, weshalb ein erfahrener Literaturwissenschaftler sich dazu hinreißen lässt, Goethe und Schiller zu diffamieren, indem…
Er hebt vorsichtig den Verschluss an.
Da ist ja ein Stab! Und welch verschiedene Farben diese träg abtropfende Flüssigkeit annehmen kann! Blau, gelb, rot. Alles scheint möglich, je länger er hinschaut.
Kann man altes Öl eigentlich riechen?
Während er seine Nase über den triefenden Verschluss kreisen lässt gleich dem Sommelier bei der allherbstlichen Weinverkostung mit der Fakultät, klappt plötzlich die seitliche Eingangstür, stürmt ein ihm unbekannter Mann in die Garage. Er ist mit einem blauen Overall bekleidet, der Werkzeugkasten in seiner Hand außen poliert und innen, wie Markus später anerkennt, wohlsortiert. Er entreißt ihm den Messstab, zwinkert dabei so aufmunternd, dass Markus sich wieder wie der kleine Junge fühlt, der zum ersten Mal staunend eine Miniatureisenbahn betrachtet, um sodann sein operatives Begleitwerkzeug, welches er zuvor elanvoll schwenkend beigebracht, abzustellen sowie den Stab ohne weitere Besichtigung zurück in die so genannte Ölwanne zu schieben, verbunden mit der Diagnose:
„Am Motor liegt es nicht.“
Markus ist tief beeindruckt. Der Monteur unternimmt alles um seriös zu wirken. Er tippt kurz an die Schläfe und stellt sich vor: „Grüß Gott! Ich bin der August. Sie haben ein Problem mit ihrem Auto? Ich bin hier um es zu lösen.“
„Das ist schön.“
Mehr weiß Markus hierauf nicht zu antworten. Ihm fehlen die Worte zu sagen, wie schön er es wirklich findet. Schade, dass Johanna nicht in der Nähe ist. Er hätte sie auf der Stelle aus Dankbarkeit geküsst.
Da die Garage nicht sehr groß und der Monteur offenbar instruiert, macht Markus ihm Platz und nutzt stattdessen die Zeit, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Er rutscht auf den Fahrersitz, schaltet die Leselampe ein und studiert die brisantesten Neuigkeiten der lokalen Presse.
Ein kleines Tief soll kurzfristig die Temperaturen über den Gefrierpunkt steigen lassen, Schneefälle wären allenfalls in den Bergen zu erwarten. Die örtliche Feuerwehr hätte ihre Streusandvorräte gegenüber dem letzten Jahr verdoppelt und die Preise für Feuerwerkskörper sich um fünf Prozent erhöht. In Jerusalem stünden sich Christen, Moslems und Juden in Lauerstellung gegenüber. Nichts Neues also auf dieser Welt. Auch nicht im Wissenschaftsteil.
Doch dann der Schock unter dem Titel "Verdiente Wissenschaftler". Diesen Namen kennt er: Matthias Matthäus.
Jetzt hat der es aus der Hauptstadt bis in die hiesige Lokalzeitung geschafft. Wo ihm doch dieser Platz gebührt!
„Geht es zu Ihrer Familie?“
Überrascht schaut Markus auf, erschreckt im Angesicht der unmittelbar vor seiner Nase ruhenden Arbeitshände. Der Monteur steht vor der Fahrertür, die Pranken lässig in das geöffnete Seitenfenster gelegt. Die Ärmel des Overalls sind bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, sodass die Tatoos, Schlange links, Drachen rechts, zu sehen sind. Sein Ton lässt vermuten, er hat die Frage nicht zum ersten Mal gestellt.
Gewöhnlich fühlt sich Markus von derlei privaten Fragen belästigt. Aber welche Hürden ihm das Schicksal auch heute entgegenstellt - hier, zu Hause, will er keinesfalls bleiben. Also antwortet er brav: „Wir fahren gen Norden.“
„Wie weit?“
„An die Küste. Aber warum fragen Sie eigentlich?“
Wäre August - ausgerechnet August, so wie Goethes einziger Sohn - einer seiner Studenten, hätte er spätestens jetzt ein leichtes Grollen vernommen in Markus’ Stimme. Doch er ist Handwerker, entlarvt mit Sicherheit das Stottern eines Dieselmotors aus einhundert Meter Entfernung. Allein für die seelischen Empfindlichkeiten eines Geisteswissenschaftlers beweist er wenig Gehör.
„Weil ich mich an Ihrer Stelle auf der heimischen Couch lang machen würde. Es ist zu gefährlich heute zu fahren.“
Markus' Augenbrauen schießen in die Höhe. „Es ist immer ein Wagnis sich fortzubewegen.“
Die verschmutzten Finger krallen sich in das Innenfutter des alten Ford. Obwohl August kaum älter als Johanna sein kann, wirkt er um vieles reifer als das Mädchen. Wahrscheinlich ist er bereits Familienvater. Hat zwei Kinder, eine Frau sowie ein Haus und ein Auto abzuzahlen. Wer sonst wäre bereit, an Heiligabend ein altes Auto zu reparieren?
„Es ist zu gefährlich, heute mit diesem Auto zu fahren. Weil ich nicht garantieren kann, dass Sie ans Ziel kommen!“Die Schlange windet sich unter nervösen Muskeln, während der Drache faucht.
Markus bleibt standhaft: „Das ist aber genau der Grund, weshalb wir Sie gerufen haben!“
Wieder hinter der Motorhaube verschwindend, brummelt August still vor sich hin.
Der Hausherr nimmt erneut die Zeitung zur Hand.
Soll er den Artikel lesen?
Matthias Matthäus hätte mit seinen sicher streitbaren Thesen über eine angebliche Liebesbeziehung zwischen Goethe und Schiller die deutsche Klassik in das Bewusstsein der Allgemeinheit zurückgeholt.
Ja, spinnen die denn total? Er hat sie denunziert! Missbraucht, in den Schmutz gezogen! Ja, das hat er, dieser feine Kollege!
Markus spürt, wie das Blut in den Kopf schießt, wie sein Blutdruck steigt.Um sich zu beruhigen, wechselt er in den Kulturteil. Gelangweilt, wie schon häufiger in den letzten Monaten, überfliegt er das Feuilleton mit seinen Tiraden über den schwindenden Einfluss des Christentums.
Geld regiert die Welt, und nichts anderes, konstatiert er verbittert. Ob diese Erkenntnis genügt, sein Auto ins Rollen zu bringen, aus eigener Kraft selbstverständlich, wagt Markus zu bezweifeln. Laut hört er August seufzen, zu gern würde er einstimmen.
Das Auto mit Namen Lotte gehört wie fast alles im gemeinsamen Haushalt zu jenen Dingen, die über Jahre treu ihre Dienste geleistet haben. Einige davon haben bereits früheren Generationen gedient, zuletzt seiner Mutter, nagt der Zahn der Zeit nunmehr erbarmungslos an ihnen.
Weshalb allerdings ein Backblech, das an den Ecken zwar die Emaille verloren, ansonsten aber noch recht ordentlich ausgesehen, auf den Müll hat wandern müssen, um einem neuen Platz zu machen, bleibt Markus schleierhaft. Johanna hat noch kein einziges Mal gebacken, bisher. Seitdem das Mädchen bei ihm eingezogen ist, vervielfachen sich derartige Ausgaben. Auch aus diesem Grund erscheint ihm ein zielgenauer Einsatz der noch vorhandenen finanziellen Mittel umso wichtiger.
Sein Ziel heute ist es, mit dem eigenen Fahrzeug an die See zu fahren. An einen Leihwagen mag er gar nicht denken, fuhr er nie ein anderes Auto als Lotte. Und die ganze Zeit Johanna hinter dem Lenkrad sitzen zu lassen, das will er ihr nun auch nicht zumuten. Überhaupt Johanna. Er müsste einmal nach ihr schauen. Sie fühlt sich so schnell vernachlässigt von ihm.
Markus will gerade seinen Sitzplatz verlassen, als der Mechaniker ihn auffordert: „Starten Sie bitte nochmals!“
Nichts lieber als das. Allein es hilft nichts.
„Besitzen Sie eine Betriebsanleitung für dieses Fahrzeug?“
August steht wiederum vor der Fahrzeugtür, dieses Mal die Arme hinter dem Körper verschränkend.
Betriebsanleitung?
Markus muss nun doch einen Moment überlegen, was der gute Mann im blauen Overall meinen könnte. Dann aber reißt er eilfertig das Handschuhfach auf. Außer Zigaretten, diverse Sonnenbrillen und leere Schokoriegelverpackungen fällt ihm freilich nichts Prozessförderndes entgegen.
Er zuckt mit den Schultern. Der Monteur tut ihm leid. Aus eigener, schmerzlicher Erfahrung weiß Markus, wie es ist, wenn man vergeblich versucht, Dingen auf den Grund zu kommen. Zum Beispiel, warum jemand wie Matthäus Goethe und Schiller ein Liebesverhältnis andichtet, wo doch beide Kinder gezeugt haben. Welch Scharlatan, welch Illusionist.
Mindestens genauso würde es ihm aber leidtun, wenn Johanna und er gezwungen wären an Weihnachten zu Hause zu bleiben.
„Ich komme sofort wieder!“ Markus eilt aus der Garage über den Hof in das Haus.
Wo ist nur Johanna?
Er findet sie im Arbeitszimmer sitzend, den Telefonhörer noch in der Hand, das Gespräch scheint soeben beendet worden zu sein. Ihr Gesicht gleicht dem seiner Studenten, wenn er sie beim Abschreiben erwischt. Er schwankt, was er zuerst fragen soll. Dann platzt er heraus: „Haben wir eine Betriebsanleitung für das Auto?“
„Im Kofferraum. Beim Werkzeug.“
Er spürt ihre Erleichterung, eilt zurück in die Garage. Die andere Frage verschiebt er auf später. Ein Mann muss schließlich Prioritäten setzen.
Als Markus den Kofferraum öffnet, glaubt er sich erklären zu müssen: „Wir bleiben mehrere Tage.“
Die Zweifel im Angesicht des Monteurs schwinden davon nicht. Markus hebt, während er nach einer überzeugenderen Erklärung sucht, zwei Kisten Wein, eine Kiste Champagner und einen Koffer aus dem Kofferraum.
Vielleicht ist es doch zu viel für die paar Tage und der Benzinverbrauch erhöht sich ebenso mit der ganzen Last.
Er misst erneut den Stapel neben sich auf dem Betonboden.
Allerdings, gesetzt den Fall, es bricht ein Schneesturm los und beide würden eingeschneit werden. Sie wären somit abgesichert. Lediglich Johanna müsste noch ihren Vorrat beisteuern.
Er wühlt weiter, kommt über eine Klappe an das Reserverad, findet endlich die Betriebsanleitung. Stolz überreicht er das Papier: „Außerdem, Essen finden sie überall. Gute Getränke hingegen sind rar. Können Sie das verstehen?“
August nickt vorsichtshalber, schaut stumm auf das mit den Jahren gelb gewordene Papier.
Ist noch etwas?
Halb wendet der Monteur sich zum Gehen, hält sodann ein, fragt über die Schulter hinweg: „Sind Sie eigentlich Johannas Vater?“
Markus' Oberkörper, soeben eingetaucht im Kofferraum, schießt empor. Die Flaschen in der Kiste, die er darüber vergessen hat abzustellen, klirren aufgeregt:
„Was hat das mit Ihrer Arbeit zu tun?“
„Nichts“, bestätigt August vorsorglich.
"Und weshalb sollte ich ihr Vater sein?", schnaubt Markus.
„Nun“, der junge Mann hebt an, beißt sich auf die Lippen, schmunzelt letztlich und argumentiert: „Weil Sie sich mit diesem Auto nicht auskennen.“
Für einen Moment starrt Markus den Monteur sprachlos an.
Das ist schon ein starkes Stück!
Die Kiste in seinen Armen wird schwer. Markus stellt sie zurück in den Kofferraum, auch um Zeit zu gewinnen. Schließlich berichtigt er: „Trotzdem, es ist mein Auto.“
August hebt die Hände um sich zu entschuldigen.
Sie könnten es schaffen. Diese Giganten würden Johannas Brüste wohl umschließen. Vielleicht haben sie es ja bereits, in der Vergangenheit. Immerhin kennt der Monteur das Mädchen beim Namen. Kümmert sie sich um Werkstatttermine und ähnliches, da Markus weder Zeit noch Muße für diese Dinge des Alltags zu haben glaubt.
Diese Kraft, die Augusts Hände verkörpern, Ehrfurcht einfordern. Verstohlen betrachtet er die eigenen. Markus weiß durchaus mit ihnen umzugehen und sie sind auch nicht hässlich. Er kann zum Beispiel ein winziges Stück Kreide noch zwischen seinen Fingern halten, ohne dass es ihm entwischt beim Schreiben an der Tafel. Oder den Atem so dosieren, dass er allein mit einem Pusten eine Bücherseite umblättert. Das hat er schon als Junge geübt, weil die Mutter ihn mahnte, Bücher weder an den Ecken zu knicken noch mit den Fingern zu verschmutzen.
Freilich, im Vergleich mit Augusts Handwerkerpranken fehlt ihnen die Macht, der Elan des Zupackens. Seine Hände streicheln lieber über Bücherrücken, zeichnen die Linien nach von Weinflaschen oder Frauenkörpern, als das sie den Garten umgraben, eine Maurerkelle schwingen oder den Reifen am Auto wechseln.
Nimm deine Kreidetücher von meiner Werkbank, hat einmal jemand zu ihm gesagt.
Markus glaubt sich zu erinnern, es war der Vater jener Freundin, welche sich über die Boxershorts amüsierte.
Sie hatten nicht zueinander gepasst, diese Frau und er. Aber welche Menschen passen schon zueinander? Von vorn herein und jeden Tag immer neu, wenn man sich nicht täglich justiert, aneinander. Wo der Mensch sich doch angeblich fort entwickelt. Aber wohin eigentlich?
„Kennen Sie Johanna schon länger?“, versucht Markus möglichst beiläufig zu fragen.
August schaut mit hochrotem Kopf hinter der Haube hervor: „Seit der Schule.“
Ob die Gesichtsfarbe von der Frage oder vom Festziehen einer Schraube herrührt, wagt Markus nicht zu beurteilen.
„Sie hat allen Jungs den Kopf verdreht. Mit ihren langen blonden Haaren, ihrer zarten Erscheinung.“
„Zarte Erscheinung?“
Markus attestiert seiner jungen Freundin vieles, vorrangig positives. Gleichwohl als zarte Erscheinung würde er sie ehrlicherweise nie bezeichnen. Ihr Körper, so wenig es Markus stört, verliert sich zunehmend in weicher Fülle. Andere würden es vielleicht Üppigkeit nennen. Bis zum „runden Nichts“, einer Verleumdung, wie sie einst Christiane, Goethes Lebensgefährtin, von den Weimarer Hofdamen hatte erleiden müssen, ist es allerdings noch ein weiter Weg. Johanna ist jung, eigentlich viel zu jung für ihn. Aber das ist ein anderes Kapitel.
„Klar, eine zarte Erscheinung ist sie jetzt nicht mehr.“
August scheint keineswegs verwundert. Er nimmt den Schraubenschlüssel, welchen er zuvor allein in der rechten hielt, in beide Hände. So als wolle er sich an ihm festhalten. „Früher war Johanna eine Gazelle, wirklich. Und sehr zielstrebig. Manche in der Klasse nannten sie Streberliese. Ich glaube, sie empfand es als Antrieb. Deshalb wundere ich mich umso mehr…“
Er versinkt in seinen Gedanken. So, als krame er in den tiefen Kellern seines Gedächtnisses nach alten Bildern.
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht: „Letzten Sommer musste sie für eine Prüfung büffeln. Ich vermisste ihre Lehrbücher, die sie sonst immer mit sich herumgeschleppt hatte. Sie sagte, sie sei schlauer geworden. Sie würde jetzt mit ihnen schlafen.“
Offensichtlich amüsiert August die Doppeldeutigkeit dieser Aussage so sehr, dass er unterbrechen muss.
Markus schluckt. Hat er sie zu diesem Zeitpunkt schon gekannt? Nein, nein. Das war später. Und überhaupt. Er glaubt dem Mechaniker nicht. Nein, derartige Äußerungen passen nicht zu Johanna. Nicht zu der, die er bisher kennengelernt hat. Ihn beschäftigt eine andere Frage. Ihm fällt partout nicht ein, welche Fächer sie vormals studiert hatte. Oder hatten sie nie darüber geredet?
„Sie hat mir versichert“, unterbricht August seine Gedanken, „seitdem sie sich bei einer Prüfungsvorbereitung im Freibad das Heck verbrannt habe…“
„Was, bitte?“
Der Monteur weist mit dem Werkzeug auf seinen Rücken.
Endlich versteht Markus ihn, sieht er möglichst unverbindlich auf die Uhr.
„…seitdem lerne sie nur noch abends“, vollendet August ungerührt und schielt ebenfalls auf die Uhr. Er erkennt keine Eile, fährt gelassen fort: „Eine Zeit lang sahen wir uns überhaupt nicht, erst im Spätsommer wieder. Johanna schien ziemlich geknickt. Zunächst hatte ich keine Ahnung, warum. Wir quatschten über dies und jenes. Sie wirkte ungewohnt abwesend. Plötzlich, mitten im Gespräch, fragte sie mich, ob ich zufrieden wäre. Womit, fragte ich völlig verblüfft zurück. Ich hatte nicht den blassesten Dunst, worauf sie aus war. Mit deinem Leben, deiner Arbeit, mit allem, stotterte sie. Ich muss ziemlich dumm dreingeschaut haben. Sie winkte ab. Meinte, ich soll ihre Frage vergessen und stattdessen ihr einen Job besorgen. Über die Ferien oder länger? Ich wollte ihr helfen, wirklich. Ich helfe immer gern. Deshalb bin ich auch heute gekommen, aber sie hat einfach nur mit den Schultern gezuckt. Ich habe sie noch nie so im Keller erlebt. Schlimm.“
August wühlt in seiner Hosentasche. Holt ein Taschentuch hervor, putzt sich lautstark die Nase.
Markus will die Pause nutzen, ihn an seinen eigentlichen Auftrag erinnern - zu spät.
„Gott sei Dank war sie dann Ende Oktober beim Weinfest besser drauf, erklärte mir, dass sie jetzt…“
Markus beißt vor Wut in die Unterlippe. Er hat endgültig genug, überlegt, wie er den Redefluss unterbrechen kann, ohne Weihnachten an der See zu gefährden. Sein ärgerliches Gesicht interpretiert August jedoch anders.
„Nein, nein“, beteuert der, „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir haben nichts miteinander.“
Er hebt beschwichtigend die Hände. Der Schlüssel schwebt gefährlich nah an Markus’ Kopf vorbei.
„Da war auch nie etwas!“
Der Mechaniker beugt sich zu seinem Werkzeugkoffer hinab, legt den Schraubenschlüssel ab und nimmt stattdessen einen Ringschlüssel in die Hand.
Markus ist verblüfft. Spürt, wie die Wunde zu brennen anfängt.Was treibt Johanna eigentlich in der Zeit, in der er sich von gelangweilten Studenten in der Universität quälen lässt?Er hat sich das noch nie gefragt, seitdem sie bei ihm eingezogen ist.
„Ich bin nur ein kleiner Automechaniker“, bemüht sich August derweil jeglichen Argwohn zu entkräften. „Johanna strebt nach Höherem… Wie die meisten Frauen.“
Erstaunlich, was junge Männer heutzutage alles über das andere Geschlecht wissen. Markus beobachtet erleichtert, wie August neben seiner Weisheit eine Zündkerze herausschraubt. Der Mechaniker prüft sie, schüttelt mehrmals den Kopf. Sein Blick schweift durch die Garage, bleibt an den Boxershorts hängen, schweift weiter, um letztlich zu dem Stofffetzen zurückzukehren und mit der alten Hose zu versuchen, Lottes Funkenschlag zu erwecken.
Nebenan im Haus klappt indessen eine Tür. Hastige, schwere Schritte hallen über den Hof. Kurz darauf betritt Johanna die Garage, eine Sportjacke locker über die Schultern gelegt, die Arme vor der Brust verschränkt.
Eleganz, oder das, was Hochglanzmagazine darunter verstehen, ist wahrlich nicht ihr Geschäft. Nie mehr wird sich auch Markus mit einer Frau begnügen, die die Fersen gleich einer Elfe hochzieht, um nirgendwo in der Welt anzuecken; Aussehen und Meinung nach der jeweiligen Mode ausrichtet, um auf jeder Welle, die über sie schwappt, oben zu schwimmen. Nein, Johanna ist das Gegenteil. Und das kommt an. Auch bei anderen Männern.
August sieht auf und strahlt: „Schön, dich zu sehen.“
Sie strahlt ebenso: „Danke, dass du gekommen bist.“
Johanna steht vor dem Monteur, sieht zu ihm auf. Das Mädchen ist keineswegs klein, doch hätte August gut und gerne als Volleyballspieler Karriere machen können. Markus repräsentiert den Durchschnitt beider Körpergröße. Und bleibt zudem Zuschauer.
„Gibt es heute keinen Kuss?“, fragt sie keck.
August läuft vor Scham rot an.
„Wegen Markus?“
Beide drehen sich zu ihm um.
„Keine Sorge. Er steht darüber.“
Der so Beschriebene glaubt in den Augen des jungen Mannes Bewunderung zu lesen.
„Markus steht über allen Dingen. Ihn interessieren allein seine Bücher. Er liebt insbesondere Herrn Goethe.“
Warum spricht sie so über ihn? Er hat dergleichen nie zuvor von ihr gehört.
Johanna, welche in seiner Anwesenheit mit einem anderen Mann kokettiert, ist gewiss schön, aber keine Schönheit. Sicher, sie strahlt etwas aus. Sie strahlt sogar sehr viel aus. Doch durchschaut er immer noch nicht, was. Irgendetwas zwischen Vamp und Mauerblümchen. Allein, was besagt das schon.
Markus beißt die Zähne zusammen. Fest steht, dass jeder Zentimeter an ihr echt ist. Keine Begradigungen, kein Aufpumpen, kein Absaugen oder was es sonst noch heutzutage gibt - auch kein Piercing und kein Tatoo nach alter Seemannsmanier. Unverfälscht nennt er so etwas und schätzt es sehr an ihr. Ohnehin will er sie nicht mehr missen. Ihre leuchtend blauen Augen, die stolze, gerade Nase. Auch die Grübchen, wenn sie lacht. Er hat sich schneller an sie gewöhnt als sein Verstand es zulassen möchte.
„Ach, übrigens“, sie wendet sich endlich an Markus, „ich habe vorhin mit meiner Mutter telefoniert.“
Der Angesprochene stutzt. Richtig, das heimliche Telefonat.
“Ich soll dich schön grüßen.“
Er bezweifelt, dass Eva ihm schöne Grüße gewidmet hat.
„Und dich auch!“
August zeigt mehr Freude als Markus, der ob dieser Bande einen gewissen Neid nicht verhehlen kann.
Ist es das, was ihr fehlt? Mit ihm? Das Ausgehen, die Gesellschaft anderer Menschen, der gemeinsame Umgang mit Freunden?
Er bemerkt, dass er überhaupt zum ersten Mal bemerkt, ihr könnte etwas fehlen bei ihm. Oder macht er sich schlichtweg zu viele Sorgen, auch dank des unvermutet aufgetauchten Gegenspielers im blauen Overall?
Liegt es am Datum, an der Hysterie des Tages? An Weihnachten, diesem perfektionierten Fest am Ende eines möglichst perfekten Jahres? Der einträchtigen Schaumkrone auf dem Badewasser der Erfolgsverwöhnten wie auch derer, denen der Erfolg verweigert worden ist.
In seinen Augen ist Weihnachten lediglich ein bunter Seifenblasenteppich, zu überdecken das Brackwasser aus Neid, übler Nachrede und Missgunst; mühsam abgespült zum Fest, doch nicht immer gründlich.
Oder hat er die Warnzeichen, wie so oft schon, überhört?
„Meinst du, du könntest Lotte reparieren?“
Johanna streichelt dem Monteur über den muskulösen Oberarm. Sein Körper spannt sich. Markus vergleicht ihn insgeheim mit einem Kater, dem das Fell gekrault wird.
„Lotte?“ August ist irritiert, schielt flüchtig zu Markus hinüber. „Ihr gebt diesem Auto einen Namen?“
„Ja“, bestätigt Johanna unbefangen, „an und für sich ist sie nämlich eine treue Seele. So wie du.“
Erneut nähert sich ihre Hand seinem Oberarm. August bückt sich bereits zum Werkzeugkasten, greift sie ins Leere.
„Es könnte an der Zündung liegen.“
Endlich geht es voran, schöpft Markus Hoffnung.
„Ist das schlimm?“, fragt sie kindlich naiv, Markus nebenbei zuzwinkernd.
„Im Allgemeinen lässt sich so etwas beheben, a…“
„Prima!“ Johanna klatscht überschwänglich in die Hände, als sei ihr das größte Geschenk präsentiert worden. Dabei wollte sie noch vor zwei Wochen unbedingt mit ihm und ihrer Mutter Weihnachten bei der Schwester feiern.
Apropos Weihnachten, apropos Geschenk. Es wird keins von ihm geben. Markus hofft, dass auch Johanna sich an die gemeinsame Abmachung hält, nichts zu schenken. Er beobachtet, wie ihr die Jacke von den Schultern rutscht. Reflexartig springt er bei, hält das Kleidungsstück fest, bevor es auf den schmutzigen Betonboden gleitet. Das Mädchen lächelt, bis zu dem Moment, da sie seine verschmierten Finger auf dem hellen Innenfutter entdeckt.
Markus würde vor Scham am liebsten im Boden versinken.
Wortlos entreißt sie ihm das Oberteil, wendet sich an August: „Und du sagst nachher, was du bekommst. Für deinen Einsatz. Egal ob das Fahrzeug läuft oder nicht. Aber es wird laufen. Ich weiß es.“
Warum tut sie das?
Vielleicht hat das Mädchen ja tatsächlich begriffen, wie wichtig Markus die Flucht in die Einsamkeit an Weihnachten ist. Dass es für ihn keinen anderen Ort gibt während dieser Zeit, er sich nur deshalb stur widersetzt hat, die Tage bei der Schwester mit ihrer Mutter zu verbringen.
Indem sie entlang des Weges zurück zum Haus den offenen Kofferraum sieht, hält Johanna ein. Sie überlegt einen Moment, um sodann erstaunt zu fragen: „Müssen wir denn etwas zu essen einpacken?“
Jetzt starrt Markus sie entsetzt an.
Ja, hat sie denn nichts eingekauft oder vorbereitet?
Ihre Augen werden im Angesicht seiner Erschütterung kleiner, die Lippen noch dünner. Ohne ein weiteres Wort läuft sie schließlich fort, von August unbemerkt.
Erst, als jener aufschaut und sieht, wie das Mädchen soeben verschwindet, merkt er, dass sie wieder unter sich sind. Anlass genug, das Männergespräch wiederaufzunehmen.
„Sie muss Sie aber sehr lieben!“
Markus, noch ihr wütendes Gesicht vor Augen, schaut ihn verwundert an.
„Meine Frau und ich haben mehrmals versucht“, erläutert August, „Johanna zum Skiurlaub an Weihnachten zu überreden. Keine Chance. Sie bestand darauf, bei ihrer Mutter, ihrer Familie zu bleiben.“
Vielleicht hatte sie einfach keinen Bock auf Skifahren, denkt Markus, bei ihrem allgemein geringen Interesse an Sport. Was ihm durchaus recht ist. Aber er denkt es nur. Schließlich soll August mit der Reparatur vorankommen und nicht mit ihm über Johannas Befindlichkeiten referieren.
Und so schaut er dem Monteur einige Minuten schweigend über die Schulter, ohne zu verstehen, was der bastelt. Bis ihm einfällt, was er die ganze Zeit schon erledigen will: Markus geht sich die Hände waschen.
Auf dem Flur verharrt er kurz, um zu hören, wo Johanna sich gerade aufhält.
Kein Laut, Totenstille. Als wäre sie weg.
Er widersteht dem Impuls, nach ihr zu suchen. Erst die Hände waschen.
Vergeblich bemüht sich Markus am Spiegel vorbeizuschauen. Wie auch, dessen Fläche ist einfach zu groß. Eine weitere, dieser vermeintlich notwendigen Neuerwerbungen. Ihm genügt es, den Kopf zu sehen beim Rasieren. Der neue Spiegel dagegen ist so groß, dass der Bauch ins Blickfeld tritt. Ein Anblick, der Markus in seiner Fülle betrübt. Oder diese dürren Arme. Geschaffen, Bücher zu halten, maximal eine Kiste Wein zu heben. Wenn er dagegen an Augusts Arme denkt…Er fühlt mit der Hand seinen Bauchnabel.
Komisch, irgendeine Verflossene hat ihm einmal einreden wollen, dass dieser nicht ganz richtig sei. Aber warum?
Nein, die mit den Boxershorts war es ausnahmsweise nicht. Er will gerecht bleiben. Irgendjemand anders. Eine, die es ganz genau wusste.
Sicher, dieser Anspruch ist kein Privileg von Frauen. Aber zuweilen…
Er bückt sich, um im Schrank die Handbürste zu suchen.
Es hätte ebenso sein Anspruch sein sollen. Sein müssen, als Forscher. Aber es hat sich längst ausgeforscht. Die deutsche Klassik ist erkundet. In unzähligen Aufsätzen, Diplom- und Doktorarbeiten verortet. Sie ist selbst literarisch durchforstet worden, bis zur letzten Kiefernadel. Hatte er jedenfalls geglaubt.
Bis Matthäus mit seinem Artikel, mit unvorstellbaren, an den Haaren herbeigezogenen Behauptungen über Goethe und Schiller hauptsächlich Markus’ literaturgeschichtliche Welt aus den Angeln gehoben hat.
Schamlos, auf Kosten beider Protagonisten profiliert er sich. Und niemand, wirklich niemand außer Markus scheint die Wahrheit unter Matthäus’ neuen Kleidern entdeckt zu haben. Alle jubeln ihm zu. Er heimst Preise ein, wird zu Symposien, Kongressen und Festreden geladen. Fehlt nur noch, dass Weimar ihn zum Ehrenbürger ernennt. Dann wäre die Blasphemie vollkommen.
Markus schrubbt mit der Bürste seine Hände. Die Fingerkuppen, den Handrücken, unter den Nägeln. Die Seife spritzt bis zum Spiegel hinauf, trägt das Ebenbild plötzlich Seifensprossen an Gesicht und Körper.
Was ihn am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, mit welcher Wucht der Artikel ihn aus der Bahn geworfen hat. Er hat schlichtweg resigniert.
Heroischer wäre es gewesen, das Pamphlet als das zu entlarven, was es in seinen Augen ist: eine Farce!
Zeitweilig hatte Markus geradezu den Spaß am Lesen verloren, den Lebensinhalt auf das Trinken von Rotwein reduziert. Die Prüfungsroutine hat ihn letztlich zurück in den Alltag geholt. Zum Glück. Es war ihm nie zuvor so bewusst geworden, wie wenig seine Studenten tatsächlich über die deutsche Klassik wissen.
Den anfänglich gefassten Plan, die Vorlesungen neu zu strukturieren, hat Johanna durchkreuzt. Sie trat unverhofft in sein Leben und die Arbeit, zumindest für einige Wochen, in den Hintergrund. Mit einer Kraft, die er ihr niemals zugetraut, hat sie sich Platz verschafft in seinem Alltag. Seine Gedanken erobert, Lustschlösser erbaut. Sie hat die gemeinsame Wohnung umgekrempelt, selbst lang gehegte Gewohnheiten in Frage gestellt.
Je länger diese unverhoffte Revolution sein Leben aus den oxidierten Angeln hebt, umso schwindliger wird ihm dabei. In der Angst sich selbst zu verlieren, tritt Markus allmählich verstohlen auf die Bremse, um letztlich mit voller Kraft, indem er auf seine weihnachtliche Flucht an die See besteht, auf dem Pedal zu stehen. Doch was würde er zurückgewinnen, wenn er Johanna verliert?
Ein einsames Leben unter alten Büchern. Ist es das wert?
Er trocknet sich sorgfältig die Hände ab, greift nach einem Tuch, die Seifenspritzer vom Spiegel zu entfernen. So weit ist es also gekommen. Doch bevor sein Gegenüber sich lustig machen kann über die frisch erworbenen Putzkenntnisse, hört Markus ein unstetes Motorengeräusch.
Lotte? Das Tuch wegwerfen und die Tür aufreißen ist nahezu eins. Beinahe stößt er Johanna um, welche auf dem Flur steht, den Staubsauger in der Hand.
Ach, der Staubsauger. Enttäuscht atmet Markus aus. Er rumpelt etwas, seitdem ein weiterer Freund von Johanna, ein Hobbybastler, ihn repariert hat.
Indes mustert das Mädchen ihren Körper im Spiegel des Garderobenschranks. Was sie sieht, scheint sie wenig zufrieden zu stellen. Zudem bemerkt sie seine Enttäuschung. Wie aber kann er ihr erklären, dass jene überhaupt nichts mit ihr, ihrem Aussehen zu tun hat?
Er sollte einfach netter zu ihr sein.
„Danke, übrigens.“
Etwas Besseres ist ihm spontan nicht eingefallen.
„Wofür?“
„Dass du August gerufen hast.“
Sie nickt teilnahmslos, zieht den Staubsauger an sich, beginnt das Kabel mit der Hand aufzuwickeln. Bereits seine Mutter hatte von einem Bodengerät mit automatischer Aufwicklung geträumt, aber eben nur geträumt.
„Kannst du ihm nachher das Geld geben?“
„Sicher“, antwortet Markus eilfertig. Um dann jedoch, nachdem er kurz überlegt, nachzusetzen: „Wäre es nicht besser, wenn du…? …Vielleicht wird es dann…“
Er bricht ab in seiner Kalkulation. Ihr Blick sagt alles. Nun, gut. Den Preis wird er wohl zahlen müssen.
Während sie den Staubsauger zurück in die Kammer trägt, geht er in die Küche, sucht sein Portemonnaie.
Komisch, bei Geld hört jegliche Sicherheit auf. Einzig, da man keins mehr hat, weiß man, woran man ist.
Viel erwartet Markus nicht von seinem Geldbeutel, hofft dennoch auf eine positive Überraschung.Aber auch dieses Wunder geht achtlos an ihm vorüber.
Er öffnet den obersten Kragenknopf. Die Hitze in diesem Raum droht ihm die Luft abzudrehen. Warum friert Johanna eigentlich immer so, trotz Babyspeck?
Vielleicht hat sie ja noch ein paar Scheine in Reserve. Doch bevor er sie fragt, was ihm unendlich peinlich wäre, schaut er lieber heimlich in ihrer Tasche nach.
Auf dem Stuhl neben der Spüle steht eine Reisetasche mit Wasser und fertigen Käsebroten für unterwegs. Doch, sie ist eine Zauberin.
Aber was ist das?
Entsetzt entnimmt Markus der Tasche ein Geschenkpaket.
Sie haben sich doch geschworen, dass…? Oder hatte er sich missverständlich ausgedrückt? Sollte sie ihn so hintergehen wollen?
Egal. Das Ergebnis bleibt dasselbe.
Markus muss damit rechnen, dass dieses Präsent, ein Weihnachtsgeschenk ohne Zweifel aufgrund des bunten Papiers drum herum, für ihn sein könnte, sein muss. Denn wer beschenkt sich schon selbst?
Währenddessen er nichts Gleichwertiges in der Hand haben würde. Da hilft es dann auch nicht auf die Abmachung zu pochen. Er würde blöd dastehen. In jedem Fall.
Aber was kann er jetzt noch tun?
Wie soll er sich unbemerkt davonschleichen?
In einer Stunde spätestens schließen die Geschäfte. Und selbst wenn er es schaffen würde, unbemerkt das Haus zu verlassen: mit welchem Ziel soll er wohin gehen und bitte was kaufen? Ihm fehlt jegliche Idee!
Schon Adam scheiterte an dieser Frage. Stattdessen schenkte ihm Eva einen Apfel mit den bekannten Folgen.
Immerhin hat er noch den Erbschmuck seiner Mutter in petto. Aber soll er Johanna bereits im ersten gemeinsamen Jahr mit Schmuck überwältigen?
Und wie soll das später weitergehen?
Ach, Schatz! Schon wieder ein Diamantring. Früher warst du aber einfallsreicher!
Und wenn er klein anfängt, mit einem Buch zum Beispiel?
Ach, wie aufregend! Ein Buch. Vom Professorchen. Mit persönlicher Widmung!
Nur, Johanna ist keine Studentin, die sich davon geschmeichelt fühlt. Nicht mehr.
Ein schmerzlich vermisstes Geräusch reißt Markus aus seinen Überlegungen.
Das Auto! Lotte! Sie läuft!
Er stürzt aus der Küche, über den Flur, in die Garage. August erwartet ihn bereits. Stolz lehnt er am Kotflügel, die Motorhaube noch offen. Johanna ist auch bereits da.
„Sie wissen gar nicht, was für ein schönes Geschenk Sie uns da bereiten!“
Markus schüttelt dem Mechaniker eifrig die Hand. Der versucht sich schmunzelnd zu entwinden. Natürlich durchschaut er seinen Kunden, nimmt die billige Finte gleichwohl gelassen und erwidert: „Früher oder später, singt jeder Übeltäter.“
Auch Johanna strahlt: „Ich habe gewusst, du schaffst es!“
Sie fällt ihm um den Hals. Markus tritt stumm beiseite.
„Hol das Geld!“, zischt sie ihm so diskret wie möglich zu.
Hilflos zuckt jener mit den Schultern: „Ich muss erst einmal mein Portemonnaie suchen.“
„Oh, nein!“, stöhnt sie auf. „Bleib hier!“
August packt verlegen sein Werkzeug ein, während Markus nichts Besseres einfällt, als die Zeitung im Fond zusammenzulegen. Kaum hat er alle Blätter beieinander, den Wissenschaftsteil zu den Todesnachrichten gelegt - es ist schließlich die Lokalzeitung - kehrt Johanna zurück, einen grünen Schein in der Hand. Sie nimmt den überraschten August beim Handgelenk und steckt ihm das Papier in die zögerlich sich öffnende Hand. Dann folgt ein Kuss links und rechts auf die Wange, um schließlich, gewissermaßen in Vollendung von Markus’ Strafe, den Mechaniker nochmals zu umarmen, ohne Rücksicht auf Schmierrückstände an dessen Körper oder Kleidung. Fehlt nur noch, dass sie einen Ölfleck auf der Wange davonträgt und zum Zeichen seiner Erniedrigung dort mehrere Tage hegt, kultiviert der Hausherr seinen unterdrückten Zorn. Doch es soll noch schlimmer kommen.
„Tja, und was macht Ihr nun an Weihnachten?“, fragt August etwas außer Atem, nachdem Johanna ihn losgelassen hat.
Markus wartet, seine Freundin schweigt.
„Ich würde gern fahren, wie geplant“, offenbart Markus schließlich.
Der Mechaniker seufzt: „Ich kann leider nicht versprechen, dass das Auto…“, er räuspert sich, wirft ein nachsichtiges Schmunzeln in die Runde, „…dass Lotte durchhält.“
Der Eigentümer nickt ergeben.
„Ich denke, es ist besser, du fährst allein.“
Johannas Vorschlag droht Markus den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Er selbst spürt es zunächst kaum. Doch die jungen Leute starren ihn plötzlich höchst sorgenvoll an, zwischendurch tauschen sie verstohlene Blicke.
"Setz dich doch kurz!"
Er folgt ihrem Vorschlag bereitwillig, kriecht auf den Fahrersitz. Langsam weicht der Schock aus seinen Gliedern, küsst Markus in einer Eingebung das Lenkrad.
Lotte, du bist die einzig treue Seele in meinem Leben!
Sie verreisen. Sie werden in jedem Fall zusammen verreisen. Und wenn es ihre letzte gemeinsame Fahrt wäre!
"Ich denke, du bleibst besser zu Hause!", drängtJohanna.
"Nein, ich fahre! Es geht mir gut." Markus bleibt stur.
August schüttelt den Kopf. Die jungen Leute wachen neben der Fahrertür, schauen auf Markus herab.
Was wissen sie denn, wie wichtig ihm diese Flucht ist? Den ganzen Ärger, den ganzen Frust seiner beruflichen Sackgasse für ein paar Tage vergessen. Einfach nur den Seewind um die Nase spüren. Frei sein!
"Du bleibst dabei?"
Johanna schaut auf ihn herab wie seine Mutter, wenn sie ihn als Knirps zu Bett schickte und er sich gewehrt hat.Woher kommt nur diese Ähnlichkeit? Sie waren sich doch nie begegnet. Sie konnten es gar nicht, weil die Mutter starb, als Johanna noch mit Barbie-Puppen spielte.
Markus umschlingt das Lenkrad. Im Kampf mit der Mutter hatte er oft die Arme vor der Brust verschränkt, manchmal ein Tischbein dabei umklammert. Bis sie ihn eines Abends kurzerhand mit einem Seil wie ein Paket zusammengeschnürt ins Bett legte und ihn so liegen ließ bis zum nächsten Morgen, trotz aller Bitten.
"Gut, ich komme mit."
Sein Herz macht einen Freudensprung.
"Unter einer Bedingung!"
Markus ist bereit hundert Bedingungen zu akzeptieren.
"Ich will endlich spüren, dass du mich begehrst. Dass du weißt, warum wir zusammen sind.“
Er schluckt.
„Dass du alles tust, damit wir gemeinsam ein frohes, glückliches Weihnachtsfest erleben werden."
Das sollte doch zu schaffen sein, denkt Markus.
Er steigt bedächtig aus, sieht wie August hinter Johannas Rücken vorsichtig den Werkzeugkoffer aufnimmt und davonschleicht. Er winkt ihm zum Dank hinterher.
Das Mädchen schmiegt sich derweil an ihn.
„Was ich möchte, ist…“, sie streicht mit der Hand über seine Brust, schlüpft mit einem Finger in die Knopfleiste seines Hemdes unter der Strickjacke, „…die Zeit mit dir gemeinsam verbringen. An einem schönen Ort… Wo immer der sein mag. Vielleicht, mit sehr viel Überredungskunst, ist es ja auch die Hütte am Strand, aber sie muss es nicht sein. Wirklich nicht!"
Hatte er es sich doch gedacht!
Markus schaut betrübt auf den grauen Betonboden unter seinen Füßen. Er will weder sie noch seine geliebten Gewohnheiten aufgeben. Aber wie soll das gehen?
„Das möchte ich auch.“
Es klingt halbherzig. Er hört es selbst.
"Solltest du jedoch nicht verstanden haben, was mir wichtig ist, weiß ich nicht, wie es mit uns noch weiter gehen kann!“
Markus nickt zum Zeichen seines Einverständnisses.
„Dann gehen wir spätestens ab Neujahr getrennte Wege!“
Johanna ist es ernst, wie Markus feststellen muss. Also nickt er nochmals. Er ahnt nicht, welchen Pakt er in Wirklichkeit geschlossen hat.