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WARTEN

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Inhaltsverzeichnis


Vor dem Landes-Greisenasyl wimmelt schwatzend eine kleine farblose Menschenschar in Erwartung der „Alten“, die heute ihren Ausgang haben. Glücklich haben sie es nicht getroffen; denn eine schneidende Brise bläst vom Norden her, und bleierne Wolken ziehen zuhauf. Es ist einer jener traurigen Tage, wo die Lider doppelt so schwer über den Blicken zu lasten scheinen. Sogleich beginnt das Gesindel sein Gebalge bei dem Kleinkrämer, der am Straßenrand violetten Wein ausschenkt und gebratene, aufreizend riechende Würste verkauft. Zerlumpte, erschreckend blasse Kinder jagen einander im schwarzen Kot, und eine unabwendbare Trauer hängt vom verstürmten Himmel über die Ebene herab, in der kein Baum, kein Vogel lebt. Eine Glocke ertönt. Der kleine Menschenhaufe an der Tür drängt sich zusammen, Hände fassen die Stäbe der Gittertür. Aus den entfernten Höfen schart sich ein blaues Völkchen: die Pfleglinge des Asyls. Alle wenden sich mit stummen und verschlossenen Mienen dem Ausgang zu. Freudlos tragen sie die Bekleidung der öffentlichen Gastfreundschaft. Der erste erreicht nun die Tür. Sein blasses Gesicht hebt sich wie ein weißes Gebrest von dem schmutzigen Pflaster ab. Er sieht nach rechts und links, hält den Atem an, um die Gesichter, die sich vor ihm drängen, zu überprüfen. Es ist niemand da, ihn zu erwarten. Ein anderer kommt vorbei; er stellt sein Gleichgewicht mittels eines Krückstockes her. Mißtrauisch und starr wirft er auf mich seinen Vogelblick. Eine kleine Alte mit roten Bäckchen murmelt vor sich hin. Der Lärm der Holzschuhe auf dem Pflaster der Höfe erinnert an das Getöse von Wasser, das Steine mit sich rollt.

Die alten Männer und Frauen kommen jetzt in kleinen Gruppen heraus. Die Wartenden vor dem Gitter fangen von Zeit zu Zeit einen der Pfründner ab und führen ihn mit sich fort. Reichliche Umarmungen erfolgen, lärmendes Hin- und Herrufen, vertrauliches Auf-die-Schulter-Klopfen.

Sogleich beginnt das Gejammer!

„Ach das Elend, da drinnen leben zu müssen! Alles könnte man noch hinnehmen, wenn nicht das Verbot des Rauchens und die Gicht wäre! Den Vater Julius, den man im Klosett beim Rauchen ertappte, haben sie heute zurückbehalten. Ist das nicht zum Erbarmen, mit siebzig Jahren wie ein Gassenjunge bestraft zu werden!“

Da sind auch einige, die sich umwenden und die Faust gegen das riesige Gebäude ballen.

„Und dann, Sie wissen ja, was alles über die Suppe gesagt wird! Nun, meiner Seele, es ist nicht gelogen. — Letzthin . . .“

Er sieht mich, betrachtet mich mißtrauisch und hält plötzlich inne.

Immer noch kommen neue heraus. Da erscheint die Alte mit der Nase, die nach allen Weltrichtungen Auswüchse hat. Und dann jene andere, der auf der Stirn eine riesige Beule steht, rot von allen Röten des Zornes und der Schande. Ich erkenne sie alle wieder. Das ist Vater Chauffour! Jetzt hat er mich gesehen! Hurtig wird er mir wieder alle seine Unglücksfälle erzählen und seinen Kindern fluchen.

„‚Schau, daß du abfährst, alter Tagedieb‘, haben sie zu mir gesagt. ‚Laß dich dort füttern anstatt hier an uns zu zehren, bist schon weißhaarig genug dazu. Schämst du dich nicht?‘ Was ist mir da übriggeblieben? Der Sohn ist nicht schlecht, Herr, der ließe mich niemals ohne mein Päckchen Tabak weggehen, die Schwiegertochter hat schuld, diese Kreatur!“

Da ist die „Tabaret“, die Alte, die sich immer verfolgt fühlt und an der der Zorn wie Sauerteig gärt. Sie hat es satt; die Wärterin ist immer hinter ihr her. Diese Ungerechtigkeit! Alle schmutzige Arbeit muß sie leisten, auskehren, ausreiben, die Spucknäpfe reinigen und noch Ärgeres. Was hat sie denn dieser Schlampe, dieser Dirne, die man nur selten nachts in ihrem Zimmer antreffen würde, getan?

„Aber versuchen Sie nur, sich einmal zu beklagen! Der Unterdirektor sieht alles nur mit ihren Augen, und der Direktor, das ist der liebe Gott in seinem Himmel. O Elend, sich so viel in seinem Leben geplagt zu haben, um so weit zu kommen! Das ist nicht recht!“ Und die Alte zieht weinend ab.

Allmählich werden die Ausgänger seltener. Nachzügler beeilen sich, fürchtend, daß man ihnen die Tür vor der Nase schließt. Nun tritt noch ein Alter als letzter heraus. Er sieht sich nach allen Leuten um, ängstlich und verschämt. Die hohen grauen Mauern, die feuchten Höfe, das Geräusch seiner Holzschuhe auf den hohlen Pflastersteinen, der Weg über die langen Gänge, die mit Verordnungen und „Verboten“ tapeziert sind, all das scheint ihn einzuschüchtern, ja zu erschrecken. Er hat abgewartet, bis alle gegangen waren, um seinerseits allein hinaus zu kommen, so sehr leidet er unter dem Gedanken, mit diesen Leuten, die fast alle heruntergekommen und widerlich sind, verwechselt zu werden.

„Vorwärts! Sputen Sie sich, oder ich schließe die Tür“, schimpft ihm der Torwart mit den runden Spüraugen nach. Der Alte tummelt sich und senkt den Kopf tiefer. Um ihn wird alles noch feindlicher. Er geht hinaus, hebt die Augen zum Himmel empor, der geballtes Dunkel aus sich hervorwälzt; und als er dann wenige Schritte vor sich zwei Pfründner erblickt, bleibt er stehen und kehrt um. Er tut so, als suche er etwas in seinen Taschen, um ihnen einen Vorsprung zu lassen. Drei Worte mit ihnen zu wechseln, ist ihm schon zuviel. Es gelingt ihm, ohne gesehen zu werden, feldwärts in einen kleinen Pfad einzubiegen. Eine Fabrikesse, die die ganze Ebene beherrscht, speit unaufhaltsam dicken schwarzen Rauch aus. Der Alte zieht einen Brief aus der Tasche, faltet ihn auseinander und liest ihn nochmals. Sein Sohn, den er fünf Jahre lang nicht gesehen und der ihn vor zwei Monaten im Asyl überrascht hat, sein wiedergefundener Sohn hat ihn für heute nochmals zu einer Zusammenkunft eingeladen.

Diese zwei Monate ungeduldigen Wartens sind ihm länger erschienen als die vorhergegangenen fünf Jahre. Er liest abermals den Brief: „In der kleinen Buschenschenke, wo wir das letztemal zu Mittag gegessen haben . . . Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert . . . Dein Sohn, der Deiner nicht vergißt.“ Er faltet das kostbare Papier wieder zusammen und geht weiter, so rasch es seine schweren Holzschuhe und die Hindernisse des schmutzigen Weges erlauben. Dieser Sohn war das einzige Wesen auf Erden, das sich für ihn interessierte. Seine Frau hatte ihn vor mehr als fünfzehn Jahren verlassen, Johanna, seine sanfte, hübsche kleine Tochter, war in ihrer frühen Jugend hingestorben. Eine Reihe von Unglücksfällen waren dann gefolgt. Er hatte den Ozean zweimal überquert und sich auf beiden Weltteilen umhergetrieben. Die Jahre hatten sich während dieser Zeit gemehrt, und eines Tages war er mit seinem Gelde auf dem Trockenen. Wer hätte ihn da mit achtundsechzig Jahren in Dienst genommen?

Das gab ein Murmeln der Verwunderung im Eßsaal, als man hörte, wie ein wirklicher „Herr“ den „alten Bären“ Vater nannte. Geweint hatte der Alte und abermals geweint, seinen Sohn heftig umarmt und sich an ihn gehangen, als gelte es, ihn endgültig fremden, beängstigenden Gewalten zu entreißen. Er nährte jetzt die heimliche Hoffnung, daß sein Sohn ihn aus dem verhaßten Hause herausnehmen würde. Beim ersten Wiedersehen hatte er noch nicht gewagt, ihn darum zu bitten, aber heute war er dazu fest entschlossen. Wie könnte er ihm das verweigern? Er brauchte ja so wenig, ein kleines Zimmer, die notwendigsten Möbel und etwas über dreißig Franken im Monat. Das Taschengeld zu verdienen würde er schon eine Möglichkeit finden, indem er irgendwo arbeitete. Diese Hoffnung nahm er zu der Begegnung mit.

In starker Gemütsbewegung stößt er eine Tür auf und tritt in das Gärtchen der Schenke. Ob er schon da ist!? Er blickt die Lauben entlang. Noch niemand! Er empfindet eine kleine Enttäuschung, beruhigt sich aber mit dem Gedanken, daß es noch zeitig sei. Er setzt sich an einen Tisch unter einer Laube. Man hat ihn nicht eintreten gesehen, und in seine Gedanken vertieft, denkt er gar nicht daran, die Kellnerin zu rufen. Wahrscheinlich hat er die Straßenbahn benützt und wird von dieser Seite kommen, in diesem Augenblick denkt er an mich. Wenn er nur nicht gar zu spät kommt! Der Alte beugt sich vor, um auszuschauen, er nimmt seinen Brief heraus und liest ihn abermals. Ja, es stimmt: für diesen Tag. Nun meint er das Warten leichter ertragen zu können, wenn er etwas inzwischen trinkt, und er klopft auf den Tisch, um auf sich aufmerksam zu machen. Man hört ihn nicht, und er wiederholt mehrmals seinen Ruf. Die Magd erscheint endlich, und ihre Züge verhärten sich, als sie in ihm einen Pfründner erkennt. Diese Schelme haben keinen guten Ruf, sie gelten als Trunkenbolde und schlechte Zahler. Aber sie spürt doch, daß dieser da sich von den anderen vorteilhaft unterscheidet, und sagt fast besorgt:

„Im Saal werden Sie besser dran sein, es wird gleich zu regnen beginnen.“

Da er aber hier warten will, um dann später mit seinem Sohn allein zu sein, lehnt er, ein Lächeln sich abringend, sanft ab. Er wäre ja, wenn es regnete, durch die Blätter geschützt. Man müsse ja auch Luft schöpfen. Er hat sich einen Schoppen bestellt. Es bleiben ihm noch acht Sous von den zehn Franken, die ihm sein Sohn anläßlich seines ersten Besuches gegeben hat. Er hatte einige Kleinigkeiten gekauft, auch ein wenig Wäsche. Der Rest reicht gerade noch für diesen Schoppen. Sein Sohn würde ihm wohl noch etwas geben, und schon stellt er ein genaues Inventar seiner Bedürfnisse auf, um die paar Franken, die er bekommen wird, richtig zu verwenden. Er hat oft Leibschmerzen; eine flanellene Bauchbinde wird er sich anschaffen.

Der Schoppen wurde ihm gebracht. Er schenkt sich den dicken Wein ein und trinkt langsam. Es regnet immer noch nicht. Der Wind entführt die Wolken ins Weite. Die dürftigen Sträuche und Büsche winden sich unter seinen Stößen. Lärmend fährt ein Karren vorbei. Der Kutscher läßt zur Zerstreuung die Peitsche knallen. In diesem Erdenwinkel ist das Leben ja so eintönig. Regelmäßig zur selben Stunde verschlingen und speien drei große Fabriken ein freudloses Volk in farblosen Gewändern aus. In der Ferne schlägt eine Turmuhr. Nicht weit dampft ein Düngerhaufen.

Der Alte wird schließlich unruhig. Wieder zieht er den Brief hervor. Es war darin keine Stunde bestimmt. Zweimal schon ist die Kellnerin gekommen. Das erstemal hatte sie gesagt: „Ich dachte, Sie hätten mich gerufen.“ Das zweitemal verhehlte sie ihr Mißtrauen gar nicht mehr. Er verstand sie und bezahlte.

Er läßt den Blick nicht von der Straße. Wenn er jemanden in der Ferne sieht, beugt er sich vor und legt die Hand über die Augen. Doch bald wendet er, enttäuscht von unbekannten Schritten, den Kopf. Die Zeit wird immer schwerer lastend fühlbar.

Er bemerkt, daß der grüne Anstrich des Tisches, der an manchen Stellen abgeschabt ist, eine merkwürdige Zeichnung bildet. Der Singsang eines Händlers, der Hasenhäute feilbietet, entführt ihn weit weg, dann findet er sich wieder auf die Erde zurück an den Tisch und in die gleiche peinvolle Beunruhigung. Von Zeit zu Zeit trinkt er einen kleinen Schluck, um sich das Warten zu erleichtern, macht längere Zwischenpausen. Um den Wein zu sparen, sagt er sich: Ich werde immer erst trinken, sobald ich bis hundert gezählt habe, und schlürfend trinkt er dann nur einen ganz kleinen Schluck. Aber seine Gedanken nehmen ihn wieder gefangen, und er trinkt und trinkt und vergißt dabei seinen Vorsatz. Erschrocken bemerkt er, daß ihm nur noch ein kleiner Schluck bleibt, und seine Traurigkeit steigert sich. Dieser Wein hatte bisher seine Erwartung begleitet und die Zeit sein Aroma angenommen. Er fühlt, daß er viel verlassener sein wird, sobald diese Hilfe erschöpft ist. Neben einem leeren Glas wird jede Sekunde sich unendlich dehnen.


So gelobt er sich, den Rest erst zu trinken, wenn sein Sohn kommt.

Er fröstelt. „Gehen Sie hinein, um sich ein bißchen zu erwärmen“, ruft ihm der Wirt zu, der eben durch den Garten geht.

„Es geht schon an, mir ist nicht kalt“, antwortet er.

Die Worte dieses Mannes, der ihn in seinem Warten stört, verursachen ihm ein wirkliches Schmerzgefühl. Er kann es sich nicht erklären, aber es ist ihm, als betrafen sie irgendwie seinen Sohn. Mit all seiner Kraft will er ihn erwarten, ohne durch irgend etwas gehindert zu sein.

Die Zeit fließt hin, im Glase hat sich der Wein noch vermindert. Der Wirt kommt vorbei und fragt dringend: „Noch ein Schoppen gefällig?“

Peinlich berührt, wie es eben einer ist, der ein leeres Portemonnaie in der Tasche hat, antwortet er. Eine große Angst ist über ihn gekommen. Lange schon sitzt er so; der Rest des Weines genügt nicht mehr, seine Gegenwart in der Laube zu rechtfertigen. Er spürte, daß der ausgedehnte Schoppen dieses wunderlichen Alten aus dem Bürgerspital dem Wirt Beunruhigung einzuflößen beginnt.

Verlangte er ein neues Glas, so würde dieser sich besänftigen und ihm Aufschub gewähren. Ach Gott! Soll er sich eines bestellen, das sein Sohn bezahlen müßte? Nein! Etwas in ihm lehnt diese Möglichkeit ab. Zitternde Ungeduld erfüllt ihn.

Der Schank, ganz nahe hinter ihm, wird zu einem Ort voll Feindlichkeit. Und die verdammte Straße, die ihm eigensinnig seinen geliebten Wanderer vorenthält! Als wollte er einen Widerstand besiegen, bohrt er seinen Blick ins Weite, als wollte er die teure Erscheinung, die ohne Zweifel weitab hinter dem Horizont auf dem Wege ist, zu sich herreißen. Er gibt sich nicht mehr geruhsam der Zeit hin. Er lehnt sich gegen jede einzelne Minute auf. Seinen Willen möchte er ihr aufdrücken, ihren Lauf hemmen oder beschleunigen. Mit der einen Hand möchte er gegen den Schank hin ein Zeichen machen: Wartet es nur ab, beunruhigt euch nicht, mein Sohn wird kommen; und mit der anderen möchte er eine große Gebärde gegen den Horizont vollführen: So tummle dich doch, siehst du denn nicht, daß ich dein Kommen nicht mehr werde abwarten können!?

Immer noch nichts. Der Wind bläst und fegt eine schmutzige Zeitung auf die Straße hinaus.

Zwei Kutscher, die aus der Schenke kommen, werfen einen schiefen Blick zu ihm herüber in die Laube. Er schließt daraus, daß man in der Gaststube über ihn bereits schwätzt. Die Kellnerin geht zweimal sichtlich ohne Vorwand durch den Garten. Sie will ja gewiß diesen armen Alten nicht stören, den sie nur ganz harmlos bedrängt, da er ja schließlich doch hier Gast ist; aber sie ist so auffällig bemüht, ihn nicht zu bemerken, um ihn nicht zu verletzen, daß sie auf diese Art ihre heimliche Befürchtung verrät. Da endlich entschließt sich der Alte zur Auskunft:

„Ich erwarte meinen Sohn, der sich mit mir hier verabredet hat.“

„Ach so“, erwidert die Kellnerin.

„Wir haben ja hier schon einmal zu Mittag gegessen. Vor zwei Monaten, erinnern Sie sich, Sie hatten uns in den kleinen Saal gewiesen.“

Nun ist alles Mißtrauen geschwunden. Das Mädchen entsinnt sich.

„Ja natürlich, ich sagte mir ja gleich, dieses Gesicht kenne ich. Sie warten also auf Ihren Sohn. Da sollten Sie sich aber an den Ofen setzen, es ist nicht warm hier draußen.“

„Mir ist nicht kalt“, sagt der Alte, von Frost geschüttelt.

Nun hat er einen neuen Aufschub, kann dableiben, ohne daß man sich um ihn kümmert. Aus einer alten abgebrauchten Brieftasche, in der sich einige Reliquien von unschätzbarem Wert befinden, nimmt er eine Photographie, dann eine andere . . . seine Augen beginnen zu tränen. Er verschließt seine Tasche und steckt sie wieder zu sich. Rasch fällt die Nacht nieder, der Schatten unter den Büschen wird dichter, die Luft eisig. Wie schwarzes Gewässer breitet sich die Traurigkeit um den Alten. Sie durchdringt ihn manchmal so sehr, daß sie bis an sein Herz steigt und es einen Augenblick überwältigt. Er preßt seine Weste zusammen und richtet sich auf, als müßte er etwas Feindliches abwehren. Jemand eilt dort auf der Straße hin, aber er weiß wohl, es ist nicht für ihn . . . die Schritte gehen vorbei, ohne anzuhalten. Er faltet die Hände am Tisch. Auswendig sagt er den Brief wieder her, und das Fragment eines Satzes: „Falls nicht Unvorhergesehenes eintritt . . .“ läßt ihn innehalten und bleibt ihm vor Augen. Nun zweifelt er nicht mehr. Seit langem ist er da, vielleicht schon seit Stunden, aber sein Sohn wird nicht kommen. Er wird nicht kommen.

Schon ziehen die Pfründner heimwärts. Immer zahlreicher kommen sie an dem Gitter vorbei. Einige haben ihn sogar bemerkt, ohne ihn, der sich durch seine gewohnte Stumpfheit den Titel „alter Bär“ eingetragen hat, anzureden!

Er wird nicht mehr kommen! . . . Es ist gewiß kein Vergnügen für einen jungen Mann, seinen Vater im Greisenasyl zu besuchen, einen Vater, der ihm viel Übles angetan und den Namen, den auch er trägt, befleckt hat. Aus Mitleid hatte er seinen Widerwillen bezwungen und war einmal gekommen, ein armseliges einziges Mal. Er hat seine Großmut so weit getrieben, einen zweiten Besuch in Aussicht zu stellen. Aber nun weiß der Alte, daß es niemals dazu kommen wird, und mit einem Schlag wird ihm das ganze Elend seines Lebens gegenwärtig. Er fühlt in der Brust eine plötzliche Aufwallung, die sein Herz erschüttert und bis zum Halse aufsteigt und sein Gesicht verzerrt, über das mit einemmal Tränen hinrieseln.

Das kalte Naß auf seinen Wangen versiegt, und mit geschlossenen Augen sieht er die vergangenen Tage. In seinem Gedächtnis drängen sich mühelos und wirr die Erinnerungen, und er überläßt sich ihnen mit einer Art schmerzlicher Wollust.

. . . Da stehen an einem Flußrand schöne Pappeln, die all ihre Blätter im Winde regen, dann ist da plötzlich ein kleines blasses Mädchen in einem Bett hingestreckt, die Hände über der Brust gefaltet. Und flüchtige Erinnerungen: Ein Fleck an einer Wand, das Bruchstück eines einst vernommenen Gespräches, ein Keller, in dem man Gartengeräte einordnet, das schöne Antlitz einer Frau, die still in einem Fenster weint. Nun verdoppeln sich seine Tränen. In die Hände verbirgt er sein Antlitz und schluchzt laut in die Dämmerung, lange, lange. Allmählich besänftigt sich das Schluchzen. Seine Hände sinken herab. Er öffnet die Augen und erwacht in eine Welt, die alle Trauer auf sich genommen hat, in eine Welt, die still ist wie die Entsagung. Er sieht ein Zimmer wieder, mit seinen Möbeln, den glänzenden Parketten und den vom Mond bespülten Fensterscheiben, ein Zimmer, in dem er sich als Kind nachts so sehr fürchtete. Er hört in blassen Nächten die Hähne krähen, und das Weltall ist nur mehr Traum. In seinem kleinen Strohfauteuil sieht er sich wieder, zur Stunde, da der Sonnenuntergang den ganzen Garten belebte, sieht sich vor einem Fleckchen Sonne, das sich im Hintergrund des Hühnerstalles verspätet und das wehmütig in ihm Ritter und Könige aus dem Orient und ganz versunkene Epochen wachruft. Verzweiflungsvolle Visionen bedrücken ihn nun. Seine Tränen fließen von neuem. Er denkt an den Rock, den er seinerzeit getragen — — — im Krieg. Verzweiflung läßt ihn erbeben, wie er sich in Uniform sieht. Glückliche Zeit, wo die Stunde des Niederganges noch nicht geschlagen hatte. Heute ist er von aller Welt verlassen, selbst dieser Sohn, den er so sehr liebte, ist, kaum wiedergefunden, aufs neue verloren. Käme er doch! Wie würde er ihn umarmen! Wie würde er an seiner Schulter schluchzen! Ein Bild seines Kummers malte er ihm und fände so erschütternde Worte, daß sein Kind ihm in die Arme fallen würde, um mit ihm zu weinen. Komm, mein Kleiner, o komm doch! Er weiß es ja, daß er zu dieser Stunde nicht mehr kommen wird, daß er nicht mehr kommen kann. Er widersteht dieser grausamen Wirklichkeit mit der erbitterten Leidenschaft eines Menschen, der eine letzte Hoffnung hegt. Die unbeugsame Wirklichkeit wird immer fühlbarer. Er besinnt sich auch, daß er in den nächsten Tagen auf die bescheidenen Vorteile verzichten muß, die ihm die zehn Franken seines Sohnes gestattet hatten. Keinen Sous mehr in der Tasche! Verloren die Hoffnung, dies düstere Haus jemals zu verlassen. Das Weltall zieht sich um ihn zusammen, unerreichbar scheint ihm alles. Die Wesen strömen hin und her, ohne einander zu kennen. Er errät, bis zur Verzweiflung getrieben, wie unendlich fremd die Erde den Gestirnen ist. Er mag rufen, seinen Schmerz hinausschreien, niemand wird ihn hören. Auf der einen Seite des Lebens sind die Familien, die Freunde, die glücklichen Gefährten, das ganze frohlebige Dasein . . . auf der anderen Seite ist er allein: die Kälte, das dunkelste Elend, das Andenken seiner Mutter, die sanft war, lebhaft stehen sie vor seinem Geist. Er hängt sich mit aller Kraft daran. Stotternd murmelte er: Mutter, Mütterchen. Seine Kappe ist herabgefallen, seine Haare verdecken die Augen. Er möchte in der süßen Erinnerung versinken oder ihr so viel Wirklichkeit einflößen, daß er ihr ein heißes Leben erweckte, das dem seinen gliche. Er denkt an zwei kleine Flammen, die auf dem frisch entzündeten Dochte der Lampe hin und her schießen, um einander zu erreichen und sich zu vereinen. Doch dem Bemühen hingegeben, dies kostbare Bild zu verwirklichen, hat er die Vorstellung, daß die ferne Nacht mit Absicht schwiege und daß seine Gedanken in einen Trichter rinnen, der sie gänzlich aufsaugt. Die Vorstellung an Tod und Einsamkeit übermannt ihn so sehr, daß er in angstvoller Trauer schauert.

Unwillkürlich streckt er die Arme aus.

Die Glocke des Asyls beginnt zu läuten. Dreimal wird sie schlagen, dann wird das Tor geschlossen werden. Die Nachzügler werden ausgesperrt sein. Auf! Es muß wohl sein, daß er geht. Er erhebt sich, zögert aber, seinen Körper so geradeaus in die Verzweiflung zu tragen. Flüchtig und scheu verläßt er den abscheulichen Garten, den die Nacht schon erfüllt, und biegt in den kleinen Pfad, der längs der Baracken der Hadernsammler hinführt. Die Nebelpfeife einer Fabrik zeigt an, daß die Arbeiter die Werkstätten verlassen. Armselige Lichter leuchten da und dort längs der Ebene. Der Alte schreitet aus. Kaum, daß er sich auf den Weg gemacht hat, spürt er wieder den Schmerz im Bein, den er vergessen hatte. So geht er in die Nacht hin, und seine Holzschuhe schleifen den dicken Kot mit sich. Der Wind hat nachgelassen. Mit dumpfem Aufklang fallen große Regentropfen nieder. Er stößt im Vorwärtsgehen an Steine und schluchzt. Jedesmal, wenn er stolpert, richtet er Beschimpfungen gegen sich: „Krepier, alter Dummkopf, wer wird nach dir fragen? Krepiere, deine Geschichte ist zu Ende, alter Lumpensack. Hast dein Leben lang nichts als Böses vollbracht. Jetzt krepier, daß man dich in dein Loch scharrt, einsam, ohne Singsang. Ein Haufen Erde auf deinen Leib, das ist das Beste, was du von nun an erhoffen darfst.“ Doch sein heftiges Schluchzen straft seine Worte Lügen. Viele Fehler hat er zweifellos in seinem Leben begangen, aber die Strafe nun empfindet er dennoch als zu hart, ihr Ausmaß erdrückt ihn, und sein Kummer löst sich in neuerliches Schluchzen, das ihn tief erschüttert.

Nun hört er den zweiten Ruf der Glocke. Eilt er jetzt nicht, so wird er ausgesperrt, und er muß nun laufend das Haus erreichen, in das er, ach so gerne, nie wieder zurückgekehrt wäre.

„Tod, heiliger Tod, willst du mich nicht erlösen?“

Das Gemeinsame

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