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Neuanfang

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Mit einer kurzen Toilettenpause hatte die Fahrt nach Weißenburg beinahe zwei Stunden gedauert! Bei ihrer Ankunft hatte sich die Sonne hinter einem Flaum aus weißen Wolken versteckt. Doch alle waren froh, dass der Umzug nicht durch dicke Regentropfen erschwert wurde. Mit vereinten Kräften ging der Umzug zügig voran. Auch wenn Johannas Tante und ihr Onkel halfen, die letzten Teile in die Wohnung zu bringen, kam keine freudige Stimmung auf. Da der kleine Lieferwagen zurück gebracht werden musste, war eine zeitnahe Verabschiedung nötig.

Nach einem tränenreichen Abschied stand Johanna mit einem dicken Kloß im Hals an Emma gelehnt zusammen mit gefühlten tausend Kisten auf dem letzten halben Quadratmeter des Flurs. Emma nahm Johannas Hand und versuchte einen aufmunternden Ton zustande zu bringen. Mit belegter Stimme sagte sie:

„So meine Kleine, eigentlich würde ich nun gerne sagen: Der Gipfel ist bestiegen. Aber wie du siehst stehen wir wohl am Fuß des Berges! Also ist die Frage, sollen wir erst Etwas essen, oder sollen wir gleich loslegen?“

Johanna griff sich eine der größeren Kisten mit der Aufschrift, Jo’s Room und murmelte:

„Was soll‘s, fangen wir an – Hunger hab ich eh keinen!“

Als sie in der Tür des Zimmers stand, stellte Sie die Kiste ab und schaute sich das erste Mal richtig um. Natürlich war sie bei der Besichtigung dabei gewesen, aber ihre Mutter hatte letztlich allein entschieden, weil ihr wohl klar war, dass Johanna sich niemals freiwillig für ein neues Zuhause entscheiden würde. Also hatte sie wie ein Opferlamm ohne Anteilnahme die Besichtigung über sich ergehen lassen. Jetzt musste sie jedoch zugeben, dass dies ein wirklich tolles Zimmer war. Direkt gegenüber der Tür befand sich ein riesiges Erkerfenster mit einer gepolsterten Fensterbank. Ideal um beim Lesen und Träumen darauf zu sitzen. Die Erkerfenster leiteten das Licht in alle Winkel des Zimmers. Links von der Türe befand sich ein Einbauschrank der im gleichen zarten Lindgrün wie der Rest des Zimmers gestrichen war. Rechts von der Türe hatte ihr Onkel bereits gestern ihr Bettgestell aufgebaut und heute die Matratze darauf gelegt. Am Fußende in der Ecke zwischen Bett und Erker stand wie für diesen Platz gebaut ihr alter Sekretär, den sie innig liebte, weil sie ihn von ihrem Pa bekommen hatte. Ebenso hatten auch ihr Schaukelstuhl und ihre Palmen einen schönen Platz in Fensternähe gefunden. Ein Gefühl von freudiger Erwartung durchflutete Johannas Herz und wurde sofort vom schlechten Gewissen niedergeschlagen.

‚Wie kann ich mich hier jetzt schon glücklich fühlen, obwohl Pa mein Zimmer so schön für mich hergerichtet hat‘, dachte Johanna entsetzt. Als sie merkte, wie ihre Augen feucht wurden, wischte sie sich hastig mit den Händen darüber und machte sich energisch an das Auspacken der ersten Kiste.

Am frühen Abend des ersten Tages standen beide wieder im Flur und blickten auf die letzten Kisten. Nun war schon der größte Teil ausgepackt. Alle Utensilien der Küche an ihrem Platz und auch der Wohnraum, der an den offenen Küchenbereich angrenzte, und das Badezimmer schauten schon erstaunlich bewohn- und benutzbar aus!

„So Johanna, für heute haben wir genug geschafft! Was hältst Du davon zur Feier des Tages in die kleine Pizzeria zu gehen, die wir bei unserer Ankunft zwei Straßen entfernt gesehen haben?“, schnaufte Emma, während sie sich auf der Garderobenbank niederlies.

„Okay Mam, aber ich geh als Erste zum Duschen!“ grinste Jo und lies sich neben ihre Mutter plumpsen.

Emma lachte: „Ja, schon klar, weil ich dann die Dusche sauber machen muss!“ Sie knuddelte ihre Tochter und gab ihr einen Klapps.

“Ey, nicht anfassen!“ jappste Jo, sprang auf und flüchtete ins Bad. Emma rief hinterher:

„Sorry, hab vergessen, dass du nicht mehr meine Kleine bist!“ Während sie etwas von „Teens und Pubertät“ vor sich hinmurmelte, ging sie schmunzelnd in ihr eigenes Schlafzimmer auf der Suche nach frischen Sachen zum Anziehen.

Eine dreiviertel Stunde später machten sich beide auf den Weg. Auf altem Kopfsteinpflaster führte sie ein kurzer Weg entlang an spätmittelalterlichen Fachwerkhäusern und barocken Bürgerhäusern . Während ihre Mutter überwiegend Bewunderung für die schönen Bepflanzungen in diversen Töpfen und Vorgärten hatte, konnte Jo sich kaum satt sehen an den vielen wunderschönen alten Gebäuden. Wieder einmal fragte sie sich, ob nicht doch Architektin der richtige Job für sie wäre. Weißenburg hatte in dieser Hinsicht wirklich viel zu bieten. Wie sie im Internet gelesen hatte, gab es an Türmen, Toren, Bögen, Bauten und dergleichen mehr als genug zu besichtigen. Ein schmales Bächlein begleitete ein kurzes Stück ihren Weg und verströmte den Duft der moosigen Uferböschung.

Die kleine Pizzeria lud schon von außen mit bunten Lampions und mediterranen Pflanzen zum Eintreten ein und hielt auch innen den versprochenen Flair südlicher Urlaubsländer. Kleine Holztische standen auf einem abgetretenen Terrakottaboden, gesäumt von Korb- oder alten Holzstühlen aus verwurzeltem Holz. In den niedrigen Fenstern des alten Fachwerkhäuschens standen kleine Zitronenbäumchen und ein riesiger Holzofen, der den Blick auf köstliche duftende Pizzen freigab, thronte in der Ecke des Raumes. Wie es so sein musste, begrüßte sie ein korpulenter Kellner mit perfekt gegeelten schwarzen Haaren und typisch italienischem Charme. Galant begleitete er sie an einen der Tische. Nachdem sie sich auf den bequemen Stühlen niedergelassen hatten, überreichte er ihnen in auslandender Bewegung die Speisekarte und nahm die Bestellung ihrer Getränke auf. Als er gegangen war flüsterte Emma hinter vorgehaltener Hand:

„ Jetzt muss nur noch das Essen so herrlich schmecken wie es riecht und ich würde mich nicht wundern, wenn im nächsten Moment Marlon Brando als Pate den Raum betritt!“ Beide fingen herzlich an zu lachen. Bei leckerer Pizza und Pasta, mit raffiniert angemachtem Salat, begann ein entspannter Abend. Emma erzählte ihrer Tochter vom jährlichen Bergwaldtheater, welches als Freilichtbühne schon in den zwanziger Jahren errichtet worden war und jedes Jahr Aufführungen von Juni bis August anbot. Leider waren sie dieses Jahr zu spät dran.

„Da haben wir Etwas, worauf wir uns im nächsten Jahr freuen können!“ Mit solchen Angeboten hoffte Emma ihre Tochter fröhlicher zu stimmen. Dann besprachen sie für den Rest des Abends die Abläufe der nächsten Tage.

Jo war im Gymnasium für die 11. Klasse angemeldet. Obwohl sie bisher eine ausgesprochen gute Schülerin gewesen war, hatte sie Sorgen wegen des versäumten Unterrichts, da für sie das vorherige Schuljahr bereits im Juni jäh ein Ende fand. Nun waren es nur noch 4 Tage, dann musste sie sich den neuen Mitschülern, den neuen Lehrern, kurzum der neuen Schule stellen! Sie waren heute am Werner-von-Siemens-Gymnasium vorbei gefahren. Das moderne Gebäude hatte dabei, wie die meisten dieser Glas-Beton-Bauten, einen ganz soliden Eindruck vermittelt. Dennoch war Jo bei ihrem Anblick von einer unterschwelligen Unruhe erfasst worden. Die Folge waren beunruhigende Gedanken die Johanna am Abend und die ganze Nacht malträtierten. Obwohl der vertraute Geruch nach frisch gewaschener Bettwäsche ihre Unruhe ein wenig besänftigte, brachte ihr der Schlaf nicht die nötige Erholung. Dementsprechend erschlagen stand sie am Vormittag des folgenden Tages zum Frühstück auf.

„Oje, wie siehst Du denn aus? Alles in Ordnung?“, fragte Emma beunruhigt und kam ihrer Tochter entgegen.

„Ja, hab nur schlecht geschlafen“, wich Johanna der Begegnung aus und bog ins Bad ab. Ratlos blieb Emma einen Moment vor der Türe stehen und fragte sich, ob es angebracht wäre, nachzubohren. Sie entschied sich dagegen und sagte stattdessen:

„Mach dich in Ruhe fertig, ich hol schnell frisches Brot und dann können wir gemeinsam unseren neuen Balkon zu einem Frühstück einweihen! Einverstanden?“ Außer einem gemurmelten „ok“ war es im Badezimmer völlig still. Also machte sich Emma auf den Weg, die Einkaufsmöglichkeiten in der näheren Umgebung zu erkunden. Johanna starrte in den Spiegel.

‚Kein Wunder, dass Mam mich so entsetzt angeschaut hat, ich sehe ja voll übel aus! ‘ Aus dem Spiegel sah ihr ein kreidebleiches Gesicht entgegen, mit dunklen Augenringen. Die Haare standen in alle Richtungen und die Augen wirkten klein und verschwollen.

‚Als hätte ich die ganze Nacht gefeiert und Drogen eingeschmissen! Hoffentlich sehe ich am Montag besser aus, sonst bekommen meine lieben Mitschüler gleich einen voll schlechten Eindruck von mir‘. Johanna seufzte, zog ihre Schlafsachen aus, steckte sich die Zahnbürste in den Mund und stieg unter die Dusche. Erfrischt und sichtlich belebter kam sie aus dem Bad, holte frische Klamotten aus dem Zimmer und machte sich auf den Weg in die Küche. Sie setzte frischen Kaffee auf und holte das Frühstücksgeschirr aus dem Schrank. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer zur Balkontür bemerkte sie, dass ihre Mutter wohl schon weiter ausgepackt hatte, weil bedeutend mehr Bücher im Regal standen als letzte Nacht. Neugierig trat sie auf den Balkon hinaus.

Wow, was für ein Ausblick! Der Balkon war bereits bestückt mit unterschiedlichen Pflanzkästen und Töpfen aus ihrem alten Garten. Neben verschiedenen Kräutern, vermittelten auch bunte Blumen und grüne Pflanzen einen vertraut gemütlichen Anblick. Die Sitzgruppe aus altem Holz tat ihr Übriges dazu. Doch den Blick über die Stadt fand Jo geradezu umwerfend. In dieser Gegend gab es zu ihrer Freude überwiegend alte Gebäude. In einem kleinen Winkel konnte man nicht nur ein Stück des Bächleins sehen, nein am Besten war der beinahe unverbaute Blick auf die obere Hälfe des Ellinger Tores. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss ihre Augen um sich ganz dem Moment, den Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und den Geräuschen in Ihrer Umgebung hinzugeben.

Kurz darauf stellte Johanna die Teller auf den Tisch und öffnete den Sonnenschirm. Die Morgensonne schien wunderbar warm und eine sanfte Brise erzeugte ein Kribbeln auf Ihrer Haut. Ihre Stimmung hatte sich bei diesem grandiosen Ausblick erheblich verbessert! So ging sie zurück in die Küche um auf extra Tellern kunstvoll verschiedene Käse- und Wurstscheiben zu drapieren. Für weitere Beilagen begann sie außerdem verschiedene Obst- und Gemüsesorten aufzuschneiden. Ihr Magen fing dabei an zu knurren. Die Vorfreude auf ein gemütliches Frühstück zusammen mit ihrer Mutter bei strahlendem Sonnenschein brachte sie dazu ein Lied zu summen. In diesem Moment kam ihre Mutter vom Einkauf zurück und blieb mit offenem Mund im Wohnraum stehen.

„Wer sind Sie und was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?“ Johanna schaute fragend von ihrer Arbeit auf. Emma begann zu lachen.

„Schön, dass du die schlechte Nacht so gut überwunden hast!“

Jo grinste: „…und ich hab einen Bärenhunger!“

So begann der zweite Tag im neuen Heim nun doch entspannt. Sie ließen sich ausgiebig Zeit und genossen die wundervolle Morgenstimmung. Für den Rest des Vormittags war die Anmeldung im Einwohnermeldeamt der Stadtverwaltung geplant. Dies war ja an sich keine besonders erfreuliche Aussicht. Aber nachdem Emma ihrer Tochter mitgeteilt hatte, dass das neue Rathaus ebenso wie das alte auch im Altstadtkern innerhalb der Stadtmauer lag, konnte Johanna es kaum mehr erwarten den Ämtergang zu erledigen und die Umgebung zu erkunden.

Der Besuch der Einwohnermeldestelle und auch die restlichen Besorgungsgänge ließen den Freitag wie im Flug vergehen. Weil außer Freitag auch beide Wochenendtage durch außerordentlich schönes Wetter erfreuten, konnte Johanna ihre Einräumarbeiten immer wieder für Ausflüge in die nähere Umgebung unterbrechen. Sie hatte schon in kurzer Zeit ein paar der Gassen zu ihren ganz persönlichen Lieblingswegen erkoren.

Durch einen Aushang in der Nähe ihrer Wohnung, hatten sie von einem Flohmarkt am Sonntag auf dem Marktplatz zwischen den beiden Rathäusern gelesen. Weil beide gerne über Flohmärkte schlenderten, waren sie früh aufgestanden. Erfreut über den sonnigen Morgen erreichten sie schon nach wenigen Minuten ihr Ziel. Sie hatten sich schon vor dem Frühstück auf den Weg gemacht, mit dem Vorsatz, sich in einem der ortsansässigen Cafés ein leckeres Frühstück zu gönnen. Mit schwungvollen Schritten waren Sie schon wenige Minuten später auf dem Rathausplatz angekommen. Auf vielen Tischen hatten diverse Anbieter ihre Angebote ausgebreitet und es herrschte ein reges Treiben. Das laute Stimmengewirr war durchsetzt mit Preisdiskussionen, Gelächter und allerlei fränkischem Geplapper, was der ganzen Veranstaltung eine eigene gemütliche Note gab. Auf der einen Seite des Marktplatzes führte ein Zauberer für Interessierte ein paar Kunststücke vor und setzte die Leute durch seine Fingerfertigkeit in Erstaunen. An einer Bank mit einem kleinen Tischchen boten Jugendliche an, die Kinder nach deren Wünschen zu bemalen. Da auch ein paar Essensstände aufgebaut waren, war die Luft durchzogen von Düften nach deftigen fränkischen Speisen. Auch ein Crépestand bot süße Verlockungen und ließ Johanna das Wasser im Mund zusammen laufen. So war es bald Zeit für das geplante Frühstück. Emma wollte nur noch einmal zurück zum Bücherstand, die zurückgelegten Bücher holen. Außerdem hatten beide aus der anderen Ecke des Marktplatzes Gitarrenklänge vernommen, denen Johanna noch nachgehen wollte. So vereinbarten sie, sich in 15 Minuten am Kaiser-Ludwig-Brunnen zu treffen. Johanna schlängelte sich durch das Gewirr der Menschen, den Klängen lateinamerikanischer Musik folgend. Auf einem Betonpfeiler in der Ecke des Marktplatzes fand sie den Ursprung der schönen Musik. Sie ging durch die Reihen der Zuhörer bis ganz nach vorne.

Man konnte sein Gesicht kaum sehen, weil er, völlig versunken in sein Spiel, den Blick auf seine Hände gerichtet hatte. Die goldbraunen Haare waren halblang und hingen in dieser Position vor seinem Gesicht. Er hatte eine schlanke, sportliche Figur. Unter dem verwaschenen T-Shirt konnte man einen trainierten Oberkörper erkennen. ‚Offensichtlich keiner der Jungs, die nur vor dem Computer sitzen‘, dachte Johanna mit Blick auf den samtigen Braunton seiner Haut. Er spielte die Gitarre mit einer solchen Geschwindigkeit und Leichtigkeit, dass eine Menge der Leute gespannt stehen geblieben waren, um seinem rhythmischen Spiel zu lauschen. Am Ende des Liedes entbrannte dann auch der zu erwartende tosende Applaus und viele Zuhörer warfen Münzen in seinen offenen Gitarrenkasten. Er fing an zu lächeln und hob sein Gesicht. Johanna zuckte zusammen. Das Gesicht hatte beinahe feminine Züge aber auch ein markantes Kinn. Seine Augen waren dunkelblau. Doch was Johanna so überrascht hatte war der Gesichtsausdruck, der das Gefühl vermittelte, man müsse ihn tröstend in die Arme nehmen. Obwohl er lächelte, verschwand die Sorgenfalte auf seiner Stirn nicht und ein trauriger Ausdruck lag in seinen Augen. Mit einem versteinerten Gesichtsausdruck starrte sie ihn an, bis sie merkte, dass er ihren Blick bemerkt hatte. Er sah sie fragend an. Peinlich berührt, drehte sich Johanna auf dem Absatz um und verlies mit energischen Schritten ihren Standplatz in Richtung Brunnen.

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