Читать книгу Stadt Land Flucht - Renate Wullstein - Страница 3
Wildnis
ОглавлениеHaus und Hof und Garten waren verwildert. Um das Haus herum wuchs ein Meer von Brennnesseln. Die Scheune fiel fast ein und der Stall war voll mit rostigen Gerätschaften, vertrocknetem Mist und Stroh. Milchkannen, Bierflaschen mit Schnappverschlüssen, Futtertröge und Kaninchenkisten. Der Teich hinter dem Stall war vom Schilf fast zugewachsen. Im Keller stand das Wasser knöchelhoch. Das Haus war seit Jahren unbewohnt. Die Eltern der Besitzerin waren darin gestorben, und niemand hatte es ausgeräumt. Berge von Wäsche, Möbel aus den dreißiger oder vierziger oder fünfziger Jahren. Hausrat, Emaille-Schüsseln, Wäscheklammern, Kannen und Töpfe. Fünf kleine Zimmer und eine Küche mit einem Feuerherd. So fand ich es 1981 vor.
Das Bauerngehöft sah aus einiger Entfernung wirklich verloddert aus. Noch wohnte ich in Berlin, arbeitete im Friesenstadion als Schwimmeisterin, war fast 30 Jahre alt und alle Voraussetzungen waren erfüllt. Ich konnte schwanger werden, und mein Kind würde nicht auf einem Hinterhof im Prenzlauer Berg aufwachsen, sondern hier, in Paretz. Und 1982 war es soweit.
Ich wollte außer Aufräumen am Haus nichts ändern. Die Bücher, eine Essecke, ein Bett und ein Kinderzimmer, das würde genügen. Aber es kam anders.
Wolfgang machte sich ans Werk. Der Rasen im Hof war gemäht. Zwei große Oleander in Töpfen standen links und rechts der Steintreppe. Jeden Morgen hielt er sich im Garten auf. Ein großes Beet mit Astern, die noch nicht zu blühen begonnen hatten und noch nicht den herben Duft, den ich so liebte, verströmten. Der Rosenkohl würde in diesem Winter eine gute Ernte liefern. Wolfgang begutachtete die Gemüsebeete, zupfte hier und da Unkraut aus der Erde und erntete einige Sellerie-Knollen.
Ich lag noch im Bett, eiferte dem Vorbild der Königin Luise nach, von der es hieß, sie habe in der Regel bis elf Uhr vormittags geschlafen, und als Wolfgang hereinkam, warf ich einen kurzen, sehr missmutigen Blick auf den Sellerie, schloss jedoch die Augen wieder. Da war Hannes, unser Sohn, fast ein Jahr alt, stand in seinem Bett, die Händchen an die Gitterstäbe geheftet und sah aus dem Fenster. Auf dem Teppich lag meine aktuelle Lektüre: Die „Briefe der Königin Luise“.
Paretz, den 10. September 1799
An Friedrich Wilhelm III.
Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König und Herr!
Unter den vielen Bittschriften, die Ihre Königliche Majestät täglich bekommen, möge doch der Herr wollen, daß diese mit einem gnädigen Blick beleuchtet werde, damit meine alleruntertänigste, demütigste, wehmütigste Bitte nicht unbefriedigt bleibe. Hierbei liegende Strümpfe sollen als Probe meiner Geschicklichkeit in der Strickerkunst zum Beweise dienen und mir hoffentlich mein Gesuch zu erlangen helfen, es besteht nämlich darin: “Daß Ihro Majestäten die Gnade für mich hätten und mir zukünftig alle dero Strümpfe stricken ließen und mir dabei den Titel als wirkliche Hofstrickerin allergnädigst erteilen ließen.”
Diese hohe Gnade würde ich all mein Leben in tiefster Untertänigkeit erkennen und mit dankbarem Herzen ersterben. Ew Königl. Majestät als alleruntertänigste Magd und Untertanin.
Luise
Untertänigstes Postskriptum
Ist noch zu bemerken, daß jede Masche, so ich knütten würde, von Dankbarkeit durchdrungen wäre.
Voilà.