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Der Schicksalsschlag
ОглавлениеSamstagabend. Anstrengende Wochen mit wenig Schlaf lagen hinter Peter Etter. Dieser Raubmord an einer Taxifahrerin beschäftigte ihn schon länger als üblich. Weder ihm noch seinem Team war es bislang gelungen, den entscheidenden Hinweis zu finden, der den Täter dingfest machen würde. Als Hauptkommissar der Basler Polizei vermied er es, Fehler zu machen. Zu groß war die Angst, zu versagen. In den letzten 25 Jahren als Ermittler, löste er die meisten Fälle mit Links. Auf seinen Spürsinn und seine Geistesblitze konnte er sich stets verlassen. Doch war diese Glückssträhne nun vielleicht am Ende. Sackgasse!
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten. Berge von Papier mit Informationen, die er und seine Mitarbeiter in monatelanger Kleinarbeit zusammengetragen hatten. Fakten, die die Schlinge um den Täter immer enger zogen. An einer großen Pinnwand klebten unzählige Zettel mit kleinen Notizen. Etter überflog sie im Eiltempo. Seine müden Augen brannten und er kniff sie immer wieder zusammen, um klar sehen zu können. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, die vielen Hinweise, die wie Puzzleteile an der Wand klebten, in der richtigen Reihenfolge zusammenzuführen. Wenn es ihm gelänge, würde wieder ein Täter seine gerechte Strafe erhalten.
Die Zeit war knapp. Etter biss nervös auf seiner Unterlippe herum und las seine aktuellen Notizen leise vor sich hin: »Eintritt des Todes: 20:45 Uhr. Telefonanruf via Handy: 20:52 Uhr. Betreten des Tankstellenshops: 21:10 Uhr. Samstagabend, Musicalbesuch: 20:15 Uhr.«
Musicalbesuch! – Etter spürte, wie kalter Schweiß auf seine Stirn trat. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Zehn Uhr. Scheiße!«
Hastig griff er nach seiner Jacke, die über der Rücklehne seines Bürostuhls hing. Er tastete seine Hosentaschen nach dem Autoschlüssel ab – Gott sei Dank, gefunden – und eilte aus seinem Büro, ohne den Computer auszuschalten oder das Licht zu löschen.
An der Tür, die zu den Fahrstühlen führte, stand in großen, mahnenden Lettern: Lösch das Licht, wenn du gehst!
Ohne diesen Aufruf zu befolgen zischte Etter böse: »Ich geh ja nicht, ich renne!«
Er selbst hatte diesen Zettel an die Tür gehängt, denn er hasste es, wenn Strom verschwendet wurde. Heute war es ihm aber egal, denn es gab Wichtigeres. Er hatte tatsächlich den gemeinsamen Abend mit seiner Frau Helen und seiner Tochter Katrin vergessen.
Schon lange hatte sich seine Familie auf diesen Musicalbesuch gefreut. Selten fanden sie Zeit, etwas Gemeinsames zu unternehmen. Helen sagte oft, dass er den Beruf mehr liebe als seine Familie. Da tat sie ihm unrecht. Etter hätte gerne mehr Zeit mit ihr und Katrin verbrach, aber die Arbeit brauchte ihn – und er brauchte die Arbeit. Er war von ihr besessen.
Helen verstand das nicht. »Irgendwann begehe ich ein Verbrechen, damit du dich auch mal um mich kümmerst«, sagte sie im Zorn. Darum hatte Etter die Musicalkarten besorgt. König der Löwen. Ein beliebtes Musical als Gastspiel in Basel. Katrin wünschte sich schon lange, die Bühnenversion des Disneyfilms zu sehen. Ein gemeinsamer Kulturgenuss würde die allgemeine Stimmung heben, dachte Etter.
Seine Tochter freute sich sehr auf diesen Abend. Mit 13 Jahren hatte sie ihren Vater nötiger, als dieser sich vorstellen konnte. Dieser Musicalbesuch war mehr als nur Unterhaltung – er war für die Familie ein bedeutender Moment.
Bei seinem Wagen angekommen, kramte Etter sein Handy aus der Tasche und wählte. Das Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, stieg er ein und raste Richtung Kleinbasel los.
»Helen, nimm ab«, flehte er, ohne dabei auf irgendwelche Geschwindigkeitsbegrenzungen Rücksicht zu nehmen.
Helen ging nicht ran, aber ihre Mailbox meldete sich.
Etter nahm sich zusammen, um die Wut, die er auf sich selber hatte, nicht hörbar zu machen. »Hallo Schatz, ich bin’s. Es tut mir leid, ich habe die Zeit total vergessen. Aber ich komme euch abholen. Bitte wartet vor dem Theater auf mich und danach gehen wir noch etwas trinken, okay?«
Wütend warf er sein Handy auf den Beifahrersitz und trat das Gaspedal durch. Mit 80 Stundenkilometern jagte er über die Mittlere Brücke in die Falknerstraße. So was würde nur ein Krimineller auf der Flucht vor der Polizei tun – oder Etter.
Etter bog mit quietschenden Reifen in die Erlenstraße ein und stellte sein Auto gegenüber dem Theatereingang ab. Er stieg hastig aus. Weder Helen noch Katrin waren zu sehen. Im Foyer standen nur noch wenige Gäste herum, die entweder dabei waren ihre Mäntel anzuziehen oder noch zusammenstanden und etwas tranken. Ein Mitarbeiter war gerade damit beschäftigt, Programmhefte zu stapeln. Offensichtliche Vorbereitungsarbeiten für die nächste Vorstellung.
»Läuft das Stück noch?«, fragte Etter den Mann. Er hoffte, dass dieser sagen würde: Ja, wir hatten Verspätung und haben eben erst angefangen.
»Ja, es läuft noch …«, sagte dieser tatsächlich und Etter fiel ein Stein vom Herzen.
»… bis nächste Woche. Täglich um 20:15 Uhr. Es gibt noch ein paar Plätze, aber die Kasse ist erst wieder morgen geöffnet.«
»Was soll das heißen?« Etter musste sich beherrschen.
»Feierabend«, sagt der Mann ruhig und widmete sich wieder den Programmheften.
Das tat weh. Die Wut und die Schuldgefühle. Wieso musste er die, die er liebte, immer enttäuschen?
Als er Helen vor ein paar Wochen den geplanten Musicalbesuch angekündigt hatte, bemerkte er ihr Misstrauen. Sie glaubte nicht daran, dass die Familie Etter es wirklich schaffen würde, gemeinsam einen Abend zu verbringen. Etter wollte es Helen beweisen. Triumphierend wäre er mit seinen beiden Frauen in das Musicaltheater geschritten, als König der Familie den König der Löwen genießen. Sie hätten gemeinsam gelacht und geklatscht und wären dann nach Hause gefahren.
Stattdessen saß er nun alleine im Auto und fuhr zu dem kleinen Reihenhaus in der Eisenbahngasse in Riehen, in dem sie seit ein paar Jahren wohnten. Er parkte sein Auto in der blauen Zone gegenüber. Das Licht im Wohnzimmer schimmerte durch die Vorhänge und eine kribblige Angst kroch plötzlich in ihm hoch. Der Mann, der üble Verbrecher zur Strecke brachte, der mit den brutalsten Killern zu tun hatte, fürchtet sich nun, das eigene Haus zu betreten.
Da musst du durch, sagte er sich, öffnet das Zauntor und ging, schwer ein- und ausatmend, zur Wohnungstür.
Helen und Katrin waren gerade erst nach Hause gekommen. Etter versuchte so zu tun, als ob nichts geschehen wäre. Vielleicht hatten die beiden ihn gar nicht vermisst?
»Hallo. Wie war’s im Theater?«
Helen blickte ihren unzuverlässigen Mann mit versteinerter Mine an. Ihr Gesicht widerspiegelte Wut, Enttäuschung und Trauer. Sie ging wortlos an Etter vorbei und verschwand in der Küche.
Katrin saß auf dem Sofa und wischte sich eilig einige Tränen aus dem Gesicht. »Hallo Papi.« Es war ihr unangenehm, dass er sie so sah, denn sie wusste ja, dass ihr Vater den Musicalbesuch nicht mit Absicht vergessen hatte.
»Hallo Schatz. Es tut mir leid … ich … es war … es tut mir ja so leid« Reden war noch nie Etters Stärke, also nahm er seine Tochter tröstend in die Arme. »Ich verspreche dir, sobald ich diesen Fall abgeschlossen habe, nehme ich mir eine Woche frei und dann unternehmen wir jeden Tag etwas Tolles, einverstanden?«
Katrin nickte und ein Lächeln huschte über ihr makelloses Gesicht. Ein lautes Klirren aus der Küche beendete das traute Beisammensein von Vater und Tochter.
»Morgen kannst du ausschlafen. Lass uns doch jetzt gleich irgendwo noch ein Eis essen gehen. Hast du Lust?«
Katrin hatte Lust und ein Strahlen machte sich in ihrem Gesicht breit.
»Lachen steht dir gut! Ich will dich nur noch lachen sehen!« Etter strich seiner Tochter übers Haar.
Er stand auf und nähert sich langsam der Küchentür. Mit seiner Tochter war er nun versöhnt, doch der schwierigere Teil stand ihm noch bevor.
Etter betrat leise die Küche, wo Helen gerade damit beschäftigt war, irgendwelche Scherben vom Boden zu wischen. Etter versuchte ihr zu helfen.
»Lass mich in Ruhe«, fauchte Helen und entsorgte die Glassplitter achtlos im Abfalleimer. »Ist es so schwer, nur einmal ein Versprechen zu halten? Nur einmal?«
»Ich habe die Zeit vergessen. Dieser Fall bringt mich an die Grenzen. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich habe mir extra einen Notizzettel gemacht, aber ich habe ihn zu spät gesehen.
Etters Reue fand kein Gehör bei Helen. »Wenn du es nicht für mich tust«, sagte sie enttäuscht, »dann tue es bitte für Katrin. Sie hatte sich so auf heute Abend gefreut.«
Etter wusste nicht, was er sagen sollte. Es fiel ihm nichts ein, das plausibel klang. Eine Entschuldigung würde Helen sowieso nicht akzeptieren. »Ich habe Katrin versprochen, dass wir jetzt ein Eis essen gehen.«
»Um diese Zeit? Da hat doch alles geschlossen!«, fauchte Helen.
»Der Burger King in der Autobahnraststätte in Pratteln hat bis Mitternacht geöffnet.« Etter lächelte.
Helen lächelte nicht. Sie war von dieser Idee überhaupt nicht begeistert. Es war nicht fair, dass er auf diese Art versuchte, Geschehenes ungeschehen zu machen. Aber sie spürte seine ehrlichen Bemühungen und willigte schließlich ein – Katrin zuliebe.
Etter atmete durch. Er war froh, das große Donnerwetter abgewendet zu haben.
Kurze Zeit später stiegen Etter, Helen und Katrin ins Auto. Sie mussten noch gute 20 Minuten fahren, bis sie die Raststätte erreichten. Etter wählte den Weg via Friedhof Hörnli, über die Grenzacherstraße zur Autobahnauffahrt beim Tinguely-Museum. Von da würde es nicht mehr lange dauern bis zu ihrem Ziel.
Es war Samstagabend und sehr viele Fahrzeuge benutzen um diese Zeit die Autobahn. Wagen an Wagen reihten sich hintereinander in den Fahrspuren ein. Die grellen Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge wirken wie eine hell leuchtende Perlenkette, sie brannten in Etters müden und schmerzenden Augen.
Katrin saß auf der Rückbank und zählte die vorbeirauschenden Autos auf der Gegenfahrbahn. Helen saß auf dem Beifahrersitz und sagte die ganze Zeit kein Wort. Sie war noch nicht sicher, ob nicht gleich ein wichtiger Anruf kommen würde. Eine Dringlichkeit, die Etter unmöglich verschieben könnte. In Gedanken sah sie sich schon mit Katrin alleine dasitzen und Eis essen.
Etter starrte ohne zu blinzeln auf die Fahrbahn. Er war unkonzentriert und konnte sich kaum wachhalten. Die Anstrengungen der letzten Wochen machten ihm mehr zu schaffen, als er zuzugeben bereit war. Hätte er die Augen schließen können, er wäre auf der Stelle eingeschlafen. Hätte Helen einen Führerschein besessen, müsste sie nun fahren – aber sie hatte keinen.
Vorhin, zu Hause, da wäre er am liebsten gleich schlafen gegangen. Aber als er Katrin weinen sah, musste er sich etwas einfallen lassen. Katrins Tränen war er machtlos ausgeliefert. Helen konnte er enttäuschen, immer wieder. Als sie ihn vor 20 Jahren geheiratet hatte, da arbeitete er bereits bei der Basler Polizei. Helen wusste also, auf was sie sich mit Etter eingelassen hatte. Und wenn er schon kein guter Ehemann war, wollte er immerhin ein guter Vater sein. Dieser Restaurantbesuch war mehr als nur ein kleiner Ausflug.
Etter biss sich auf die Lippen. Schmerzen würden ihn wachhalten. Es war nicht mehr weit. Da vorne noch den Schweizerhalle-Tunnel passieren und dann wären sie schon fast da. Etters Augenlider wurden immer schwerer. Er musste jetzt an etwas denken, das ihn wachhalten würde. Er dachte an seinen Fall. In Gedanken suchte er angestrengt nach dem noch fehlenden Hinweis. Bei den Recherchen hatte er eine Kleinigkeit übersehen, da war er sich sicher. Wenn er das letzte Puzzleteil finden würde, wäre er wieder einmal am Ziel angekommen und ein weiterer Täter wäre überführt. Er sah die Szenerie schon vor sich: Die Polizei begleitete einen Mann in Handschellen aus einem Haus und brachte ihn zu einem Streifenwagen. In Etters Fantasie stand er bereits vor versammelter Presse und gab Auskunft über die Geschehnisse. Die Reporter bedrängten ihn. Viele Fragen. Die Fotoapparate klickten und ein Feuerwerk von Blitzen blendeten Etters Augen.
»Peter! Achtung!«
Helen und Katrin kreischten. Etter war am Steuer eingeschlafen, nur ein oder zwei Sekunden, aber das hatte genügt, um von der Spur abzukommen. Am Ende des Tunnels geriet das Auto aus der Spur. Etter riss am Steuer, doch er bekam den Wagen nicht wieder unter Kontrolle. Das Fahrzeug prallte von der Leitplanke ab und überquerte die ganze Fahrbahn. In Panik trat Etter statt auf die Bremse aufs Gaspedal und der Wagen beschleunigte. Unkontrolliert raste Etter in die Leitplanke gegenüber und der Wagen wurde wieder zurück in die Mitte der Fahrspur geschleudert, sie überschlugen sich. Etter kniff die Augen zusammen und schützte seinen Kopf mit beiden Händen. Auf dem Dach liegend rutsche das Auto noch ein paar Meter weiter. Autos hupten, Bremsen kreischten, Glas splitterte. Endlich war das Wrack zum Stehen gekommen. Stimmengewirr. Dann Dunkelheit. Stille.