Читать книгу www.Herzgeflimmer.de - Rene Urbasik - Страница 10
ОглавлениеProlog
„Wenigstens regnet es nicht“, dachte die Frau an der Bordsteinkante, die bei jedem sich nähernden Fahrzeug energisch den rechten Daumen ausstreckte.
Schlimm genug, dass der kalte Herbstwind ihrer Frisur bei jeder Böe zusetzte. Die 125 Euronen bei ihrem gestrigen Besuch im “Haar-Genau“ hätte sie sich wirklich sparen können. Nur einen Tag später sah sie bereits wieder aus wie vor dem Friseurbesuch. Na ja, nicht ganz, eigentlich stimmte das noch nicht einmal zur Hälfte. Immerhin war ihre Lockenpracht gestern in einer zweistündigen Session zum ersten Mal in ihrem Leben geglättet worden. Nicht zu vergessen – ebenfalls erstmals in ihrem Dasein war sie jetzt keine Blondine mehr, sondern eine Brünette. An beide Hair-Updates würde sie sich erst noch gewöhnen müssen. Genau wie an den Besuch in einem richtigen Friseursalon. Das Getue und Gemache in solch einem Beauty-Salon war ihr schon nach kurzer Zeit zuwider gewesen. Die Hairstylisten mit ihren pseudowitzigen, ewig gleichen doppeldeutigen Geschäftsnamen gingen ihr sowieso mächtig auf den Zeiger.
Was sollte denn an “Hair-oin“, “Hair-einspaziert“ oder “Pony und Clyde“ lustig sein?
Warum hatte sie ihre wunderbaren Locken nicht wie immer ihrer besten Freundin Anne und deren Schneide-Talent anvertraut? Das für die Autoreparatur vorgesehene Geld war futsch und Anne schmollte jetzt auch, weil die beste Freundin sie plötzlich mit einem Hairstylisten betrog. Also nicht körperlich betrog. Wobei eigentlich schon, weil die Haare nun einmal zu ihrem Körper gehörten. Dazu noch der Vertrauensverlust. Nach über zehn Jahren voller Harmonie legte sie ihren Wuschelkopf jetzt in die Haare eines schwulen Haartrimmers. Das war haar-sträubend, geradezu Haar-akiri.
Und wofür das alles? Genau - für einen Typen, den sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Mit dem sie noch nicht ein einziges Mal telefoniert hatte. Einen Mann, mit dem sie sich bisher lediglich schriftlich über die “Plattform“ ausgetauscht hatte.
Solche übereifrigen Aktionen waren typisch für sie. Erst handeln, dann denken. So war es schon immer gewesen.
Aber darüber wollte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Im Augenblick steckte sie schon mittendrin in ihrem neuesten Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang. Wozu nun noch abbrechen?
Jetzt also stand die Frau in dem grünen Nebulus-Parka mit weißem Fellkragen am Straßenrand und versuchte seit einer halben Stunde einen Autofahrer zum Halten zu bewegen.
Ihr eigener Pkw schmollte auf dem Parkplatz der Stadthalle von Osnabrück. Schon seit drei Wochen hatte es Probleme beim Anlassen des Vehikels gegeben und seit drei Wochen hatte sie die Sache tapfer ignoriert. Dafür hatte sie sich fest vorgenommen, gleich nach ihrem Trip eine Werkstatt aufzusuchen. Der Skoda gab außer einigen ungesund klingenden Lauten beim Starten des Motors keinen Mucks mehr von sich. An die 100 Male hatte sie versucht, die Maschine zu starten, – erfolglos. Immerhin, die Tankanzeige funktionierte noch und zeigte einen drei Viertel vollen Benzintank. Das wäre aber auch zu peinlich gewesen …
Also tat sie, was Autofahrer in Nöten für gewöhnlich tun und wählte die Nummer des ADAC. Die Gewissheit, das jetzt schon bald alles gut werden würde, war knapp 5 Minuten später bereits wieder von einer Welle der Ernüchterung überrollt worden.
Die humorlose Dame von der Pannenhilfe erklärte ihr nämlich nach kurzer Recherche in deren Dienstcomputer, dass von Seiten des ADAC keine Problembewältigung zu erwarten sei. Sie verwies vehement auf die letzten drei Mitgliedsbeiträge, welche von der Halterin des defekten Skoda nicht bezahlt worden seien.
Alle Beteuerungen, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handele und der fällige Beitrag sofort bei Eintreffen eines KFZ-Sachverständigen in bar getilgt werden würde, zerschellten am kalten Herzen der Telefonistin.
Aufgeben aber war so gar nicht nach Ingeborgs Geschmack. „Jetzt erst recht“ hieß von je her ihre Devise.
Um den Wagen würde sie sich später kümmern. Zunächst einmal hatte sie eine Mission. So kam es, dass aus einer selbstbewussten Autofahrerin mit chronischem Drang zur Geschwindigkeitsübertretung innerhalb kürzester Zeit eine Anhalterin wurde. Eine seit einer halben Stunde erfolglosen Anhalterin - sollte man ergänzen.
Überhaupt – getrampt war die Frau am Straßenrand zuletzt Anfang des neuen Millenniums. Damals war sie gerade Zuhause ausgezogen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Über eine Zeitungsannonce war sie in einer WG am Stadtrand von Hildesheim gelandet, die dringend eine Mitbewohnerin suchte. So war sie auf die Damen Pia und Frauke gestoßen, beide leidenschaftliche Heavymetal-Fans. Irgendwann war sie ebenfalls in den Sog der Schwermetaller-Freunde geraten und von dort aus war es nur ein kleiner Schritt gewesen zum Besuch ihres ersten Metal-Festivals. Der Ferrari unter den Metal-Festivals war früher wie auch heute noch das berühmt berüchtigte Wacken Open Air in Schleswig Holstein.
Zu der Zeit hatte es bereits einen Bruch in der WG – Beziehung zwischen den drei Frauen gegeben. Pia und Frauke hatten sich mehrfach dahingehend geäußert, dass sie ihre neue Mitbewohnerin „irgendwie schräg“ fanden. Was genau sie damit meinten, behielten sie für sich.
Trotzdem war es ausgemachte Sache, dass sie als Trio das berüchtigte Headbanger-Festival besuchen wollten.
Zu ihrer Verwunderung waren die zwei Damen kurz vor der gemeinsamen Abfahrt plötzlich abgesprungen. Zufällig waren synchron die Mütter von Pia und Frauke schwer erkrankt und benötigten dringend fachliche Hilfe der beiden angehenden Bierbrauerinnen. Also war Ingeborg gezwungen, alleine zu fahren. Dass sie später zufällig doch die beiden WG-Mitbewohnerinnen traf, war wohl so etwas wie ein Wunder. Welche bessere Erklärung gibt es dafür, dass beide Mütter zeitgleich eine Blitzheilung erlebt hatten?
Seinerzeit war das Trampen noch eine weitverbreitete Art gewesen, um von A nach B zu kommen, wenn man selbst keinen fahrbaren Untersatz besaß. Die wenigsten Jugendlichen konnten sich damals einen Pkw leisten. Schon als stolzer Besitzer eines gebrauchten Motorrades wurde man von seiner Umgebung beneidet.
Alle Teenager trampten damals. An den Wochenenden, um in die Diskotheken und zurück nach Hause zu gelangen und in den Ferien, weil man mit Freunden Urlaub im Süden machen wollte. Die Leute waren aufgeschlossen und neugierig. Manch einer schloss bereits Freundschaft für das ganze Leben mit seiner Mitfahrgelegenheit.
Ingeborg stieg damals zu einem LKW-Fahrer ins Cockpit, der Kühe von norddeutschen Bauern in städtische Schlachthöfe transportierte. Der ältere Herr war ein großer Schweiger, erinnerte sich Ingeborg noch. Ganze fünf Sätze waren zwischen ihnen während der rund vierstündigen Fahrt gefallen. Die Ruhe war irgendwie unangenehm gewesen, etwas bedrohlich wohl auch. Als noch störender allerdings hatte sich der Musikgeschmack des Truckers herausgestellt.
Es wäre in Ordnung gewesen, wenn die ganze Zeit über ein Oldie-Sender im Radio gedudelt hätte. Auch wäre es verzeihbar, hätte sich der Lkw-Lenker als großer Country-Supporter geoutet. Das wäre sogar noch irgendwie naheliegend gewesen, wenn man mit solch einem Riesen-Vehikel voller Nutzvieh unterwegs war.
Der mürrische Fahrer jedoch schien nur eine einzige Musikkassette zu besitzen. Auf dieser lief tatsächlich in einer Endlosschleife immer derselbe Titel: „Wind of Change“ von den Scorpions. Anfang der 90er war der Song über den Fall der Mauer ein Riesenhit.
Ingeborg hatte den zunächst auch ganz okay gefunden und beim ersten Abspielen des Bandes noch leise mitgesungen: „Follow the Moskva, down to Gorky Park, listening to the Wind of Change…“ Beim zweiten Mal hatte sie irgendwie das Pfeifen von Sänger Klaus Meine gestört, beim dritten Hören der gesamte Text und schließlich wurde ihr immer übler. Irgendwann sehnte sie nur noch das Ende der Fahrt herbei.
Völlig fertig mit der Welt und bis auf den heutigen Tag schwerstens traumatisiert war sie damals aus dem LKW-Cockpit geklettert. Wann immer sie im Radio das Pfeifen von Klaus Meine hört und die ersten Takte von „Wind of Change“ erklingen, denkt Ingeborg an Freitod oder Schlimmeres.
Jetzt stand die junge Dame am Straßenrand, in einer Hand eine blaue Reisetasche und in der anderen ein klobiges, rechteckiges Etwas, welches mit einer braunen Decke verhüllt war.
In der Mitte war der braune Überwurf aufgeschnitten worden. Ein metallener Griff lugte heraus, den Ingeborg fest zwischen den Fingern hielt.
Die Reisetasche hatte sie mittlerweile abgestellt, um eine Hand frei zu haben. Nach alter Sitte und Tradition der Anhalter auf der ganzen Welt, hielt sie den rechten Arm gerade ausgestreckt und streckte den Daumen gen Himmel.
Mittlerweile schmerzte ihr der Tramperarm von diesem Manöver bereits empfindlich. Ihr Gesicht hatte sich nicht nur aufgrund des kalten Windes zu einer Grimasse verformt.
„So langsam könnte sich ruhig mal ein Autofahrer zum Anhalten bequemen“, dachte die junge Dame am Straßenrand.
Damals war das Trampen weiß Gott einfacher gewesen. Nie hatte sie länger als 10 Minuten warten müssen, ehe irgendwer anhielt.
Warum waren die Autofahrer heutzutage so schrecklich verbiestert? Vielleicht hatten die es einfach eiliger, ans Ziel zu gelangen oder waren in Sorge, dass ihre tollen neuen Wagen Schaden nehmen könnten durch den Anhalter. Eventuell waren auch die omnipräsenten Medien Schuld am Verhalten der Fahrzeug-Führer. Horrormeldungen über potenzielle Serienkiller auf dem Beifahrersitz, Psychos und Axt-Mörder. Wer brauchte so jemanden schon in seinem Wagen?
Ingeborg sah an sich herunter und überprüfte ihr Äußeres. Beige Cowboystiefel, eine eng anliegende Bluejeans der Marke Levis und darüber einen grünen Parka von Nebulus.
Um ihre Figur beneidete sie so manche Geschlechtsgenossin, dazu hatte ihr der liebe Gott ein hübsches Gesicht und glatte Haut geschenkt. Auch der neue Hair-Style sah nicht übel aus. Alles in allem konnte sie sehr zufrieden sein mit ihrem Aussehen.
Wie ein Waldschrat oder irgendein Tunichtgut, der Böses im Sinn hatte, sah sie auf alle Fälle schon mal gar nicht aus. Wenn sie einer der Autofahrer wäre, die an ihr vorbeisausten, keine Sekunde hätte sie gezögert und wäre augenblicklich stehen geblieben.
Die Fahrzeuglenker, welche mit stoischer Miene an ihr vorbei fuhren, waren wohl aus anderem Schrot und Korn. Entweder waren die zu sehr mit eigenen Dingen beschäftigt oder nahmen die junge Dame am Straßenrand noch nicht einmal wahr.
Selbst alleinfahrende jugendliche Männer machten keinerlei Anstalten, anzuhalten. Dabei war doch gerade diese Spezies dafür bekannt, augenblicklich auf die Bremsen zu steigen, sobald ein knackiger Damenhintern um die Ecke bog. Gut, von ihrem recht ansehnlichen Hinterteil war aufgrund der Länge der Jacke so viel nicht zu sehen, aber trotzdem – unerhört war das. Nicht ein Pkw hielt.
Langsam machte sich Verzweiflung in ihrem Kopf breit. Was war, wenn sie hier überhaupt nicht mehr wegkam heute?
Natürlich war es nicht weit bis zu ihrem Auto. Sie konnte sich auch ein Taxi rufen und zum nächsten Bahnhof kutschieren lassen.
Möglichkeiten, ihre Reise fortzusetzen, gab es zur Genüge, wenn da nicht der Zeitfaktor wäre.
Immerhin war sie um 17 Uhr mit dem Mann verabredet. Jetzt war es bereits 14:30 Uhr. Gute 1,5 Stunden plante sie für die Fahrt nach Bremen ein. Das könnte eng werden.
Wenn sich gegen 14:50 Uhr immer noch kein einziger Fahrer erbarmt haben sollte, sie aufzulesen, würde sie eine SMS absetzen müssen, dass es etwas später werden würde.
Ingeborg hoffte jedoch, dass es nicht so weit kommen würde. Sie wusste durch den Chat mit dem Herrn, dass dieser großen Wert auf Pünktlichkeit legte.
In der Vergangenheit war sie oft genug durch ihre chronische Unpünktlichkeit von einem Fettnäpfchen ins nächste gestolpert. Der Mann schien so etwas wie ein Neubeginn zu sein. Damit verbunden war auch die Möglichkeit mit alten Gewohnheiten zu brechen und eigene Schwächen zu beheben.
Mittlerweile war sie in ihrer Selbstachtung so tief gesunken, dass sie selbst eine 2.0 Version des mürrischen Viehtransporters von damals akzeptieren würde. Auch eine Neuauflage von „Wind of Change“ als Nonstop-Version schien irgendwie akzeptabel.
Es war ihr völlig egal, wer derjenige Fahrer war, der sie aus ihrem Straßenrand-Schicksal befreien würde. Ein Neandertaler, mit verfilzter Haarmatte, ein Höhlengnom mit Sprachfehler – eine hysterische Dampfplauderin mit Sehschwäche – unwichtig. Hauptsache sie kam endlich vom Fleck.
Auch der Wagen des oder der Fahrzeug-Lenkerin waren wurscht. Rostlaube, Benzinschleuder, von Kleinkindern vollgekotzter Rücksitz … Egal, egal, egal.
Wenn man mit den niedersten Varianten der potenziellen Helfer in der Not rechnet, kann es passieren, dass der Allmächtige einen Ritter in besonders funkelnder Rüstung vorbeischickt. So war es auch an diesem Tag.
Verzweifelt hatte Ingeborg gerade den Tramp-Arm gesenkt und wollte die Decke über dem rechteckigen Karton lüften, um zu schauen ob alles in Ordnung sei, als sie plötzlich das Geräusch von quietschenden Bremsen vernahm.
Das heißt, die Bremsen ihres Skoda quietschten – das Gefährt, welches jetzt kurz vor ihr stehen blieb, gab beim Halten ein sanftes, dezentes Brummen von sich.
Sie blickte auf und vor ihr stand ein silberfarbenes Auto, das sie als Cabrio einordnete. Natürlich war das Verdeck wegen des schlechten Wetters geschlossen, aber dennoch sah das Gefährt edel und teuer aus.
Vom Fahrer oder der Fahrerin konnte sie zunächst nur den Rücken erkennen.
Sollte sie tatsächlich Glück haben und der oder die Lenker/in des Luxuswagens würde sie ein Stückchen mitnehmen? Was, wenn der einfach nur ein Päuschen einlegen oder sie nach dem Weg fragen wollte? Vielleicht war der oder die Fahrer/in auch zu einer ganz anderen Destination unterwegs und ihr Ziel Bremen lag nicht wirklich auf der Strecke.
Die Fahrertür öffnete sich und ein Herr im grauen Anzug kletterte aus dem Wagen. Mitte 30, schätzte Ingeborg, rötliches, kurzes Haar und einen irgendwie unpassenden Schnauzbart a la Magnum, Tom Selleck. Größe: etwa 1,75, normale Statur.
Nicht unsympathisch – auf dem ersten Blick - und durchaus vertrauenserweckend.
Der Fahrer des soeben angehaltenen Autos begann zu sprechen: „Hallöle, kann i di a Schdügg midnehma?“ (Hallo, kann ich dich ein Stück mitnehmen?)
Ingeborg trug jetzt ein großes unsichtbares Fragezeichen auf ihrer Stirn spazieren. Wie war das gerade?
„Ähem sorry, i don´t speak english nicht so gut, because i was lange Zeit krank in the school“.
Das musste fürs Erste reichen als Erklärung.
Jetzt schaute der junge Mann im Anzug verdutzt drein.
„I wollde wissa wo du hin musschd. Vielleicht kann i di midnehma.“ (Ich wollte wissen, wo du hinmusst. Vielleicht kann ich dich mitnehmen)
In Ingeborgs Kleinhirn lief das Laufwerk auch weiterhin nur auf Sparflamme. Was wollte der Typ da von ihr?
„Kommen Sie aus der Schweiz? Sie sind leider sehr schwer zu verstehen.“
Der Fahrer runzelte die Stirn.
„Kam die Tante vom Dorf und hatte sich in ihrem gesamten Leben lediglich im Umkreis von 30 Kilometern bewegt. Unglaublich diese Frage!“
Am liebsten wäre er gleich wieder eingestiegen und davongebraust. Andererseits hatte er nun mal ein Herz für Menschen in Not im Allgemeinen und für Frauen in der Bredouille im Besonderen. Also was solls? „Noi, i komm aus Nürdinga im schöna Schwaba. Sagsch mir jedzd, wohin die Reise gohd?“ (Nein, ich komme aus Nürtingen im schönen Schwaben. Sagst du mir jetzt wohin die Reisegeht?)
Unverkennbar war der Fahrer des hübschen Automobils sehr stolz auf seine Herkunft.
Allmählich dämmerte es der Anhalterin.
„Oh Gott“ dachte sie, „jetzt habe ich den Typen doch glatt für einen Schweizer gehalten. Hoffentlich war der nun nicht beleidigt. Nicht mal im Vollrausch sollte man irgendwen für einen Schweizer halten. Und einen potenziellen Retter in der Not schon gleich gar nicht.“
Also versuchte sie trotz des scheußlichen Wetters zu lächeln. Das was natürlich unschwer als Schauspieleinlage zu durchschauen.
„Ach so. Tut mir leid. Ich konnte deinen Dialekt gerade wegen des Windes nicht einordnen. Ich war auch schon bei euch in Sachsen. Bei meiner Freundin in Zwickau. Ist ganz nett bei euch im Osten. Für meinen Geschmack vielleicht zu viele Rechte aber das kennt man ja aus der DDR.“
Der freundliche Anhalter war jetzt komplett von den Socken. Hatte er sich gerade verhört oder hatte diese junge Dame ihn tatsächlich soeben als Ossi abgestempelt? Das war ja fast ein noch größerer Fauxpas als die Nummer mit dem Schweizer.
Ob die irgendwie einen leichten Dachschaden hatte oder einfach nur Spaß an der Konfrontation hatte? Mit psychischen Krankheiten kannte er sich nicht so gut aus. Ob die Tante wohl schwere Psychopharmaka einwarf oder sonstige Nervenpillen? Dann könnte die Nummer hier ganz böse enden.
Warum nur hatte er angehalten? War es jetzt schon zu spät sich noch irgendwie aus der Gute Samariter Nummer rauszuwinden? Natürlich konnte er auch behaupten, dass er in eine ganz andere Richtung unterwegs wäre, wenn das Mädchen ihr Ziel bekannt gab. Genau, das war die Lösung. Also dann…
„Du kommst bestimmt an Bremen vorbei, oder? Immerhin bist du Richtung Autobahnzubringer zur A1 unterwegs. Da liegt der Verdacht nahe. Also Danke schon mal. Kann ich meine Kiste auf dem Rücksitz abstellen? Viel Stauraum hat deine Karre ja nicht gerade. Na ja, wird schon irgendwie gehen. Meine Reisetasche kann ich zur Not auch auf den Schoß nehmen.“
Ehe der Fahrer einen Einwand vorbringen konnte, hatte die Tramperin die Beifahrertür des Cabriolets geöffnet und die Kiste auf den Rücksitz gehievt. Eine Minute später saß sie angeschnallt auf dem Sitz des Pkw.
Der junge Mann im Designeranzug stand mit offenem Mund am Straßenrand und war sprachlos über so viel Dreistigkeit. „Die komische Tante bekomme ich nicht mehr aus dem Wagen, ohne, dass die einen erstklassigen Auftritt hinlegt“ dachte er.
Wenn seine Theorie von der gemeingefährlichen Irren stimmte und davon war zum derzeitigen Stand auszugehen, bewegte er sich gerade auf extrem dünnen Eis. Ob die eine Waffe dabei hatte? Vielleicht war die auch aus der geschlossenen Abteilung der Klaus-Kinski-Psychiatrie ausgebrochen.
Er zögerte, einzusteigen.
„Hey Companero, willst du hier Wurzeln schlagen oder fahren wir endlich los? Apropos fahren, meinst du ich kann nachher auch mal ein kleines Stück fahren? Gefällt mir, deine Karre.“ Die junge Dame auf dem Beifahrersitz grinste ihn schelmisch an.
Was blieb ihn weiter übrig, als das Spiel mitzuspielen? Immerhin hatte er noch einen Job zu erledigen.
Der graue Designeranzug mit dem verängstigten jungen Mann darin, stieg in seinen Wagen und startete den Motor. Argwöhnisch schielte er zu der Tramperin herüber. Die machte einen zufriedenen Eindruck. Gut so.
Die Anhalterin hatte recht gehabt mit ihrer Einschätzung seiner Fahrtroute. Er kam tatsächlich an der Hansestadt Bremen vorbei. Die 1,5 Stunden mit der Verrückten würde er schon aushalten.
Als er den unwiderstehlichen Klang seines Auto-Motors vernahm, wurde er gleich ruhiger. Was für ein Wahnsinnsgeräusch!
„Wo in Brema soll i di noh raus lassa?“ (Wo in Bremen soll ich dich denn raus lassen? ) Mit ganz viel Konzentration schaffte es Ingeborg, die Frage ihres Fahrers in ihrem Kopf zu übersetzen.
„Ach, ich denke Hauptbahnhof wäre perfekt. Ich hoffe, dass macht dir keine Umstände. Ich bin übrigens die Ingeborg.“
„Auch das noch“ dachte der Schwabe „dass die Verrückten auch immer solch ausgefallene Namen haben mussten. Wie sagten doch gleich die Lateiner – nomen est omen.“ Er bemühte sich ein freundliches Gesicht zu machen.
„I bin der Dobias.“ (Ich bin der Tobias)
„Oh, das ist aber ein ausgefallener Name. Tobias kenne ich wohl aber Dobias. Hm, die Ossis hatten schon immer einen Fimmel für exotisch klingenden Namen. Mandy, Sandy, Chantal.“
Der junge Mann biss sich auf die Unterlippe, bis es schmerzte. 1,5 Stunden konnten verdammt lang werden.
„Hör mol – in Geografie haschd du ned wirklich ufgebasschd gell? Nürdinga liegd bei Schduddgard. Des isch Bada Würddemberg ond ned die Zone.“ ( Hör mal, in Geografie hast du nicht wirklich aufgepasst oder? Das ist Baden-Württemberg und nicht die Zone)
Ingeborg schaute unschuldig drein und flötete: „Oops, dann entschuldige. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ach, einen schönen Schlitten hast du da. Was ist das denn für einer?“
Der Schwabe war jetzt einigermaßen besänftigt. Außerdem gefiel es ihn, dass die Dame neben ihn Interesse an seinem Wagen zeigte. Da konnte er sein Fachwissen mal so richtig ausspielen und glänzen.
„Was glaubsch noh, was des für a Modell isch?“ (Was glaubst du denn, was das für ein Modell ist?)
Ingeborg schien angestrengt nachzudenken, was man an den Falten auf ihrer Stirn erkennen konnte. „Hm, ich weiß nicht recht. Vielleicht ein Japaner. Hyundai oder Audi.“ Wieder biss sich der junge Mann die Unterlippe blutig.
„Grrr, Hyundai isch a Koreaner ond Audi kommd aus Deischländle. Noi, des isch a Bendley. Der Condinendal GDC um gnaur zu sai.“ (Grrr, Hyundai ist ein Koreaner und Audi kommt aus Deutschland. Nein, das ist ein Bentley. Der Continental GTC, um genauer zu sein).
„Ah okay, dachte ich es mir doch, das dies ein Italiener ist. Die Spaghettis verstehen echt was von Autos oder?“
Der Schwabe sah jetzt aus, als hätte er auf eine saure Zitrone gebissen.
„Bendley kommd aus Großbridannia. Die sind weldberühmd. Allerhöschde Ingenierskunschd. 12-Zylindr, 635 BS bei 5000 U/min, 8-Gang Dobbelkubblungsgedrieb, 900 Nm bei 1350 U/min“ (Bentley kommt aus Großbritannien. Die sind weltberühmt. Allerhöchste Ingenieurskunst. 12-Zylinder, 635 PS bei 5000 U/min, 8-Gang Doppelkupplungsgetriebe, 900 Nm bei 1350 U/min)
Er kochte fast über vor Stolz.
Ingeborg blieb ungerührt.
„Cool, ungefähr wie mein Skoda. Nur meiner hat wenigstens 4 Türen. Und ein Duftbäumchen.“
Der Junge schwieg ein paar Minuten und versuchte es mit Autohypnose zur Beruhigung seiner gereizten Nerven.
Währenddessen stellte Ingeborg fest, dass ihr Atem schal geworden war. Kein Wunder, immerhin mahlte sie schon geschlagene drei Stunden auf ein und demselben Kaugummi herum. Ob dem Typen am Lenkrad ihr Odem störte, war ihr herzlich egal. Wichtig war alleine der erste Eindruck, den sie auf den Mann von der Plattform machte.
Aber wohin mit dem ausgelutschten Kaugummi? Dieses unpraktische Automobil besaß noch nicht einmal eine klassische Kurbel zum herunterschrauben der Beifahrerscheibe. Somit war sie nicht in der Lage, den auf die Autobahn zu bugsieren.
Ihren Fahrer wollte sie auch nicht fragen, ob der wohl kurz das Fenster herunterlassen könnte. Das war ihr dann doch etwas peinlich, den vor seinen Augen aus dem geöffneten Fenster zu spucken. Irgendwie nicht ladylike oder uncharmant, unhöflich… Irgendetwas mit der Vorsilbe „un“.
Wenn sie wenigstens ein Stück Papier gehabt hätte, um das durchgekaute Ding darin einzuwickeln und dezent in ihre Tasche zu stecken. Den einfach in die Jackentasche zu schieben kam auch nicht infrage.
Was also tun? Verstohlen schaute sie dem Schwaben beim Fahren zu. Der wirkte gerade höchst konzentriert und immun für die Reize seiner Umwelt.
Also tat Ingeborg so, als würde sie ihre vom Wind zerzausten Haare in Form bringen, ließ aber in der Bewegung Richtung Kopf den Kaugummi in ihre rechte Hand fallen. Einen weiteren prüfenden Blick später klebte sie den Jetgum aus dem Lidl-Markt unter den Beifahrersitz. Puh, das war geschafft und der Schwabe hatte überhaupt nichts gemerkt.
Zeit für ein wenig Small Talk. Das war sie ihrem Retter schließlich schuldig.
„Ist das eigentlich dein Auto und was kostet so was?“ fragte sie freundlich.
Dobias schien kurz zu überlegen, ob diese Frage irgendwie als verbalen Angriff gegen seine Person gedacht war. Bei der Verrückten, mit dem komischen Namen, war er sich nicht so sicher. Dann aber gewann seine angeborene Prahlsucht die Oberhand.
„Noi, des isch leidr ned mai Karra. I überführe des nur vo einem Karrahaus in Schduagard no Kil. Dord wird’s uf oi Fähre glada ond no Norwega gbrachd. Du errädschd net, wer diesa Wägele kaufd had. Koi gringerr als Pal Waakdaar-Savoy.“ (Nein, das ist leider nicht mein Auto. Ich überführe dennur von einem Autohaus in Stuttgart nach Kiel. Dort wird er auf eine Fähre geladen und nach Norwegen gebracht. Du errätst nicht, wer diesen Wagen gekauft hat. Kein Geringerer als Pal Waaktaar-Savoy.)
Er sah die Tramperin triumphierend an. Jetzt musste sie aber wenigstens ein klein wenig beeindruckt sein.
Doch weit gefehlt. Völlig unbekümmert entgegnete Ingeborg: „Ach der französische Mode-Designer? Cool. Von dem habe ich mir vor ein paar Jahren mal bei H & M einen Schal gekauft. Puh, der war ganz schön teuer. Schon klar, dass der sich solch ein Auto leisten kann. Was hast du noch mal gesagt, was so einer kostet? 30 000 Euronen oder?“
Der Schwabe ging unbewusst in einen Selbstverteidigungsmodus. Er bremste zwei Mal aus Versehen und der Wagen schlingerte über die Mittellinie der Autobahn. Ein Mercedes-Fahrer, der soeben zum Überholen angesetzt hatte, hupte genervt. Gleich darauf hatte der junge Mann den Wagen wieder unter Kontrolle.
„I han no gar nix gsagd übr die Koschda vom Karras. 30 000 Euro. Dzzz, lächerlich. Dafür bkommsch grad mol des Dach. 229 000 isch der Wägele wert. Und Pal Waaktar-Savoy isch koi Mode-Fudzi, sondern Midglied der norwegischen Band a-ha. Die kensch do bschimmd no aus den 80ern. Die macha bis heud zsamma Musik.“ (Ich habe noch gar nichts über die Kosten des Autos gesagt. 30 000 Euro. Tzzz, lächerlich. Dafür bekommst du gerade mal das Dach. 229 000 ist der Wagen wert. Und Pal Waaktaar-Savoy ist auch kein Modefutzi, sondern Mitglied der norwegischen Band a-ha. Die kennst du bestimmt noch aus den 80ern. Die machen bis heute zusammen Musik)
Das Mädchen pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Wow, das ist ja Wahnsinn. A-ha, natürlich kenne ich die noch aus meiner Jugend. You can win if you want, if you want it, you will win, on your way you will see that life is more than fantasy… Boah ey, so viel Asche für ein Auto mit nur 2 Türen und so wenig Platz für meine Koffer. Was ist denn an der Kiste so teuer?“
Der Schwabe sackte auf seinem Fahrersitz zusammen und stammelte:“Des isch jedzd ned dai Ernschd gell? Schau dir do bloß mol die Ausschdaddung an. Des sind Massagesidze. Des ist eschdes gerbdes Ledr, des vo 2,8 Kilometer edelschdem Zwirn zsammahalda wird, mit 310 000 gstanzda Löchr. Ein 12,3 Zoll großer Infodainmend-Bildschirm, analoges Kombass, Schdobbuhr, uf Hochglanz bolierdes Edelholz.“ (Das ist jetzt nicht dein Ernst oder? Schau dir doch bloß mal die Ausstattung an. Das sind Massagesitze. Das ist echtes, gegerbtes Leder, das von 2,8 Kilometer edelsten Zwirn zusammen gehalten wird, mit 310 000 gestanzten Löchern. Ein 12,3 Zoll großer Infotainment-Bildschirm, analoger Kompass, Stoppuhr, auf Hochglanz poliertes Edelholz). Ingeborg zuckte nur mit den Schultern: „Aber noch nicht einmal eine simple Kurbel zum Fenster runterdrehen.“
Sie biss sich schnell auf die Zunge, um sich und ihr kleines Kaugummi-Geheimnis nicht zu verraten.
„Audomadisch“ krächzte der Schwabe mit weit hängenden Schultern. Dann richtete er sich wieder etwas auf und sprach: „Komm, lass uns des Thema wechseln. I glaub übr. Karras könna mir zwoi ned so guad schwädze…Was haschd du eigendlich in der Kischde da ufm Rüggsidz?“ (Automatisch.Komm lass uns das Thema wechseln. Ich glaube von Autos hast du nicht so viel Ahnung. Was hast du denn da für eine Kiste auf dem Rücksitz? )
Ingeborg sah den jungen Mann noch einmal vorsichtig von der Seite an. Sollte sie ihm das tatsächlich anvertrauen? Andererseits war es auch egal. In weniger als 45 Minuten würden sie Bremen erreicht haben und dann würde sie den Typen nie wieder sehen.
„Das ist so eine Art Aquarium. Aber nicht für Fische sondern für Tiere, die an Land leben …“
„Terrarium“ fiel ihr der Schwabe ins Wort „ond was isch da drin? Doch hoffendlich nix gfährliches gell?“ (Und was ist da drin? Doch hoffentlich nichts Gefährliches oder?)
Die Tramperin auf dem Beifahrersitz grinste nur: „Ach was. Nicht im Geringsten. Ich komme gerade von einer Reptilien-Ausstellung in der Stadthalle Osnabrück und habe dort eine Spinne für meinen Freund erstanden.“
„Für meinen Freund?" dachte Ingeborg. Wie selbstverständlich war ihr diese kleine Flunkerei über die Lippen gekommen. Andererseits, so weit entfernt war sie von der ultimativen Wahrheit jetzt auch wieder nicht. Über kurz oder lang, davon war sie überzeugt, würde der Mann ihr neuer, fester Freund sein.
„Ähem,, oi Schbinne? Was isch des noh für eine? Abr koi große gell? Da han i noh scho ebbes Angschd vor.“(Ähemm. Eine Spinne? Was ist das denn für eine? Aber keine Große, oder? Da habe ich schon etwas Angst vor)
Ingeborg hob beschwichtigend beide Arme: „Das brauchst du echt nicht. Okay, die ist schon etwas größer, aber eigentlich total harmlos, hat der Verkäufer gesagt. Ich habe mir sogar den lateinischen Namen gemerkt, obwohl ich da sonst immer so meine Probleme habe. Poecilotheria regalis, die Tigervogelspinne. Wie gesagt, der Verkäufer meinte, die sei eigentlich ganz harmlos, solange man sie nicht berührt oder erschreckt.“
Der Fahrer des Bentley Continental GTC, im Wert von 229 000 Euro, war inzwischen kreidebleich geworden.
„Du willschd mir jedzd ned ernsthafd erzähla, des da hinda in der Kischde oi echde, lebendige Vogelschbinne sidzd. Was haschd du noh damid vor?“ (Du willst mir jetzt nicht wirklich erzählen, das da hinten in der Kiste eine echte, lebendige Vogelspinne sitzt. Was hast du denn damit vor?) So wie ihr Fahrer diese Tatsache gerade beschrieb, erschien ihr das Ganze schon etwas unglaubwürdig, aber sei es drum. So war es nun einmal, daran gab es nichts zu deuteln.
„Ich habe die für meinen Freund gekauft als Überraschungsgeschenk. Der mag Spinnen halt total gerne. Mein Fall ist das zwar auch nicht, aber immerhin besser als ein Tiger.“
Der Tiger-Spruch war als Scherz gedacht, zündete allerdings nicht.
Dem Schwaben stand jetzt der Schweiß auf der Stirn. Auch dessen Schnauzbart zitterte ein wenig. „Da isch abr scho a Deggl druff gell? Die kann ned irgendwie da raus krabbeln gell?“ (Ist aber schon ein Deckel drauf, oder? Die kann nicht raus krabbeln, oder?)
Ingeborg grinste in sich hinein. Der Typ im Anzug war schon putzig in seiner Panik.
„Natürlich ist da ein Deckel drauf. Ich bin nicht wahnsinnig. So billig war die Spinne jetzt auch nicht gerade, als dass ich da nicht ein wenig Obacht gebe.“
„Na wenigschdens des“ grummelte der Fahrer, beschleunigte das Luxusauto trotzdem noch ein Mal merklich.
Mit 210 Kmh flogen sie über die Autobahn und erreichten die Hansestadt Bremen schneller als erwartet.
Dobias hatte es unheimlich eilig, die Tramperin loszuwerden. Zum Glück hatte er auf der Rückseite des Hauptbahnhofes geparkt, der nur für Kurzzeitparker zugelassen war. So konnte er sich eine längere Abschiedszeremonie sparen.
Das mit der braunen Decke umwickelte Terrarium traute er sich nicht anzufassen. Er zog nur den Beifahrersitz etwas zurück, sodass Ingeborg die Kiste selbst vom Rücksitz bugsieren konnte.
Mit kritischem Blick erkannte er, dass die Anhalterin nicht besonders zögerlich beim Einladen des Terrariums vorgegangen war. Die Verrückte hatte es doch tatsächlich geschafft, ihr Mitbringsel auf sein Mittagessen abzuladen. Die mit Wurst und Käse belegten Baguettes waren zerquetscht, ebenso die zwei Tomaten. Das Schlimmste allerdings waren die 2 Joghurtbecher, die durch das Gewicht des Terrariums so eingedrückt waren, dass einer geplatzt war. Der Sahnejoghurt mit Erdbeergeschmack war zum Teil auf das Leder vom Rücksitz gespritzt. Auch das noch. Da durfte er vor dem Aufladen des Autos auf die Fähre mit Sicherheit erst einmal schön putzen.
"Wie konnte ich nur so dumm sein, diese völlig ausgeflippte Anhalterin mitzunehmen?", dachte der junge Mann. Kurz darauf fragte er sich, weshalb er beim Denken nicht genauso schwäbelte wie beim Sprechen.
„Oh das mit dem Joghurt tut mir echt leid“ bekundete Ingeborg ihr durchaus echtes Mitgefühl.
„Wenn du magst, besorge ich fix ein Taschentuch und putze das weg. Das ist doch hoffentlich kein Echtleder.“
Der junge Mann mit dem Tom Selleck-Gedächtnis-Schnauzer fauchte nur böse zurück: „Glaubsch für den Breis hedd des Karra irgendoi billiges Lederimidad? Also noh, uf Wiederseha ond älles Gudde no.“ (Glaubst du, für den Preis hat der Wagen irgendein billiges Lederimitat? Also dann, auf Wiedersehen und alles Gute noch)
„Ja, dir auch noch eine gute Reise und grüß Morton Harket von mir. Hat der eigentlich immer noch die ganzen Freundschaftsbändchen am Arm?“
Den letzten Satz hörte der Schwabe schon gar nicht mehr, so schnell war er eingestiegen und hatte den Motor angelassen. Jetzt brauchte er auch nicht zu korrigieren, dass er das Auto zu Pal von a-ha lieferte und nicht zu Sänger Morton. Er wollte nur noch ganz schnell weg von dieser furchtbaren Dame.
Pal Waaktaar-Savoy würde im Übrigen ein paar Tage später den Bentley zurückgehen lassen, nachdem sich seine Frau Lauren bei der Probefahrt das nagelneue Abendkleid an einem Kaugummi verklebt hatte. Außerdem würden er und seine Anwälte die Autofirma in Stuttgart verklagen, weil diese scheinbar einen Gebrauchtwagen geliefert hatten und nicht wie bestellt ein neues Modell. Die Joghurtflecken auf dem Rücksitz waren für diese Annahme Beweis genug.
Der Schwabe war erst drei Straßen vom Hauptbahnhof entfernt, als er in den Rückspiegel schaute und einen Gegenstand auf der Kopfstütze des Rücksitzes entdeckte, den er nicht zuordnen konnte. Etwas Pelziges, Haariges – was konnte das nur sein? Hatte seine Tramperin etwas vergessen oder war das vorher schon im Wagen gewesen und er hatte es völlig übersehen bei seiner Abreise heute Morgen?
Moment, bewegte sich das Ding etwa? Ging gerade die Fantasie mit ihm durch? War er jetzt schon genau so übergeschnappt wie seine Anhalterin?
Ingeborg dagegen war frohen Mutes. Der schlecht gelaunte Schwabe mit seiner Protzkarre waren nur noch eine Randnotiz.
Der Typ hatte es doch tatsächlich geschafft, sie innerhalb von 70 Minuten in Bremen abzuliefern. Keine Ahnung, was den bewogen hatte so zu heizen. Am Anfang ihrer Begegnung hatte der noch einen ganz relaxten Eindruck gemacht.
Jetzt war sie sogar knapp eine Stunde zu früh dran.
Sei es drum, besser so als zu spät zu kommen. Jetzt konnte sie noch in Ruhe einen Kaffee trinken und sich in irgendeiner Restaurant-Toilette etwas aufbrezeln. Nichts zählte mehr als der berühmte erste Eindruck.
Also nahm sie ihre beiden Gepäckstücke auf und begab sich in das Restaurant Übersee, unweit vom Hauptbahnhof. Das war ihr Treffpunkt. Der Mann vom Portal hatte ihn vorgeschlagen und sie hatte sofort zugestimmt. Leicht zu finden, uriges Ambiente und gedämpfte Akustik. Perfekt für das 1. Date.
Sie orderte einen laktosefreien Cappuccino und ein Schokoladencroissant.
Eigentlich hatte sie einen ziemlichen Hunger, traute sich aber nicht mehr zu bestellen. Womöglich würde sie hier mit dem Mann vom Portal den ganzen Abend versacken und ein gemeinsames Abendessen war mehr als wahrscheinlich. Da wollte sie nicht von vorneherein die Spaßbremse geben. Vielleicht plante ihr Date auch lediglich einen Kaffee mit ihr ein und alsbald würde er sie mit zu sich nach Hause nehmen. Eventuell würde er sie gleich zu Beginn ihrer Romanze mit einem wunderbaren, selbst zubereiteten Menü überraschen. Aus dem Chatverlauf wusste sie bereits, dass er es liebte andere Menschen zu bekochen und zu verwöhnen.
Vielleicht hatte er sich auch etwas Besonderes einfallen lassen. Kerzenlicht, edles Geschirr, gedämpfte Musik (Klassik mit ganz vielen Violinen) und natürlich ein teurer Champagner, dessen Namen sie nicht aussprechen konnte. Er jedoch, belesen und weltgewandt, war der französischen Sprache mächtig, würde ihr den Namen der Blubberbrause sanft ins Ohr flüstern und seine Stimme würde wie das Meeresrauschen in der Karibik sein…
„Schoko-Croissant ist schon aus. Soll es was anderes sein?“
Jäh wurde Ingeborg durch die brummige Stimme des Kellners aus ihren Tagträumen gerissen. Dabei hätte sie doch zu gerne noch erfahren, was nach dem Schaumwein und dem Meeresrauschen in ihrem Ohr passierte. Ihre Zahnbürste und ein sexy Nachthemd hatte sie für alle Fälle eingepackt.
„Ähem nein, dann nur den Kaffee.“
„Aber sie haben doch Cappuccino bestellt“, brummte die ältere Bedienung mit dem lichten Haupthaar und der schlecht sitzenden Kellner-Uniform.
„Ja ich weiß. Ich dachte, Kaffee wäre der Oberbegriff und Cappuccino die genaue Klassifizierung. So wie bei Obst, wo man erst den Sammelbegriff nennt und dann die exakte Sorte erwähnt. Etwa Apfel oder Birne.“
Der Kellner schaute Ingeborg jetzt an wie ein Wesen von einem anderen Planeten. Ob er hier gerade Mal wieder von einem überheblichen Gast auf den Arm genommen wurde?
„Entschuldigung, was genau wollen Sie jetzt – einen Kaffee oder einen Cappuccino?“
„Na einen Cappuccino. Habe ich doch schon deutlich gesagt.“
Die Bedienung schrieb sich die umfangreiche Bestellung seines Gastes auf einen Notizblock. Dazu benutzte er nicht wie alle anderen Kellner und Kellnerinnen einen Kugelschreiber, sondern etwas extravagant einen Bleistift. Zwei Mal brach ihm die Bleistiftmine ab und er zauberte aus seiner Uniform einen Anspitzer, um das Schreibgerät wieder flottzubekommen.
„Cappuccino“ sprach er zu sich selbst und schrieb fein säuberlich in seinen Kellnerblock. Dann wandte er sich wieder Ingeborg zu.
"Dazu wollten sie einen Apfel und eine Birne, oder? Birne muss ich erst schauen, ob wir die da haben. Ist gerade nicht die Zeit dafür!“
Ingeborg schnaubte jetzt leicht gereizt: „Ich wollte keinen Apfel und keine Birne. Nur den Cappuccino.“
Die ältere Bedienung kramte wieder den Bleistift aus der Westentasche hervor und strich die Notizen.
„Keinen Apfel“ sprach er zu sich selbst.
„Und auch keine Birne“, beeilte sich Ingeborg zu ergänzen.
„Da muss ich erst schauen, ob wir die da haben. Ist gerade nicht die Zeit dafür.“ Ingeborg wurde zusehend gereizter.
„Aber Sie brauchen doch nicht extra nachschauen, ob Sie eine Birne finden, wenn ich sowieso keine möchte.“
Der Servierer sah Ingeborg jetzt völlig überfordert an.
„Wie Sie wünschen.“
Er verschwand in die Küche.
Ingeborg versuchte sich wieder auf den Mann vom Portal zu konzentrieren. Wie es dem wohl gerade ging? Ob der schon genau so aufgeregt war wie sie? Er hatte in seiner letzten Nachricht erwähnt, dass er an diesem Tag noch arbeiten wusste. Frühschicht, die um ca. 15 Uhr endete. Danach wollte er sich auf der Arbeit duschen und zu ihr in das Übersee-Restaurant eilen.
Gut, dann hatte er womöglich gar nicht so viel Zeit, für Nervosität. Das könnte von Vorteil sein.
Wäre ja auch noch schlimmer – zwei Nervenbündel auf einen Haufen. Sie musste bei diesem Gedanken lächeln.
„Ihr Cappuccino.“
Der Kellner stellte das gewünschte Getränk auf den Tisch.
„Der ist aber schon mit laktosefreier Milch zubereitet, oder?“ wagte Ingeborg zu fragen.
Ohne ein weiteres Wort sammelte die Bedienung Tasse und Untertasse noch mal ein und trug sie unter leisem Fluchen zurück in die Küche.
Ingeborg versuchte wieder einzutauchen in ihre Gedankenwelt. Wie er wohl gekleidet war, der Mann vom Portal? Ob er sich extra für sie eine neue Bluejeans zugelegt hatte? Vielleicht legte er auch gar nicht so viel Wert auf Klamotten und begriff den Fashion-Wahn als oberflächliche Maskerade.
"Total verrückt, was ich hier mache", dachte Ingeborg, "ich kenne den Mann keine 3 Wochen und schon spukt der mir im Kopf herum wie kein anderer vor ihm. Dabei habe ich bisher nicht einmal ein richtiges Foto gesehen von ihm, auch nicht seine Stimme gehört. Gibt es tatsächlich so etwas wie Bestimmung?
Schicksalsgemeinschaft? Den Auserwählten? Der eine, der einen mitreißt wie ein Herbststurm? Man lässt es geschehen, weil man fühlt, dass es der Richtige ist. Nach all den Niederschlägen der letzten Monate endlich ankommen?" Vielleicht bürdete sie dem Date-Partner auch eine zu große Last auf. Was, wenn er ihren überbordenden Erwartungen nicht standhalten konnte? Die Möglichkeit, dass sich dieser als untauglich für einen gemeinsamen Weg entpuppte, hatte sie bislang nicht in Betracht gezogen.
Ingeborg wusste noch nicht einmal den Namen ihres Dates. Verrückt, völlig verrückt. Welche Frau, die sie kannte, hätte sich auf solch eine seltsame Aktion eingelassen? Ein Date mit einem Mann ohne Namen und Gesicht, nur mit wunderschönen Worten auf dem Portal, in die sie sich verliebt hatte.
Gegen das, was sie hier gegenwärtig machte, waren sämtliche andere Geschichten in ihrer Vergangenheit geradezu langweilig. Dabei war ihre Vita nicht gerade arm an kuriosen Begebenheiten.
Sie schaute auf ihre Swatch Keith Haring Mouse. 17:10 Uhr. Durch ihre Träumereien hatte sie ganz die Zeit vergessen. Was der Mann vom Portal nur mit ihr machte.
Sie waren für 17 Uhr im Restaurant Übersee verabredet. Jetzt war ihr Date schon 10 Minuten über der Zeit. Das sah ihm nicht gerade ähnlich. Eigentlich hatte sie ihn für einen Pünktlichkeitsfanatiker gehalten. Im Normalfall war sie die notorische Zu Spät-Kommerin. Verkehrte Welt. Immerhin war sie 45 Minuten zu früh dran gewesen. 17:15 Uhr. Noch immer nichts. Sie schaute auf ihr Smartphone. Keine neue Mitteilung in ihrem WhatsApp-Chat. Seine letzte und einzige Nachricht war von heute Morgen. 5:49 Uhr. „Bin auf dem Weg zur Arbeit. Wir sehen uns heute Nachmittag. Ich freue mich sehr, dich endlich persönlich kennenzulernen.“ 17:20 Uhr. Immer noch kein Date-Partner in Sicht. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Sie ging in Gedanken die Checkliste durch. Datum: korrekt. Ort: korrekt. Treffpunkt: korrekt.
Ihren Tisch im Speiselokal hatte sie absichtlich so gewählt, dass sie die Eingangstür im Blick hatte.
Keiner der Gäste, die das Restaurant betraten und verließen, entging ihrem wachsamen Auge. Im Übersee-Restaurant war trotz der Nähe zum Bahnhof nicht viel los. Das könnte auch an der unprofessionellen Bedienung liegen.
Auf alle Fälle waren fast nur irgendwelche Gäste-Duos aufgetaucht, nicht ein einziger Mann auf Solopfaden.
Moment, jetzt aber. Ein etwa 30-jähriger Gast, männlichen Geschlechts trat durch die Eingangstür. Dunkelgrüne Cord-Hose, schwarzes Hemd und darüber eine graue Übergangsjacke. Blonder Seitenscheitel, markantes Kinn. Das wäre der Hauptgewinn. Ingeborg bekam sofort weiche Knie.
Der gut aussehende Typ ging an ihr vorüber und begrüßte ein paar Tische weiter eine ebenso hübsche Blondine mit einem Kuss auf die Wange. Die zwei schienen sich schon lange zu kennen und plauderten sofort vertraulich miteinander. 17:30 Uhr. Noch immer nichts. Ingeborg schaute ein weiteres Mal auf ihr Handy. Keine Nachricht. Was hatte das nur zu bedeuten?
Dann tat sie etwas, was eigentlich nicht vorgesehen war in ihrer knapp dreiwöchigen Interaktion. Es war Teil einer stillen Übereinkunft beider Parteien, dass keiner den anderen vor dem ersten Date anruft.
Ingeborg hatte dieses etwas spleenige, aber dennoch interessante Theater bereitwillig mitgemacht. Genau wie den Nichtaustausch von Bildern oder Namen. Sie war sich ein wenig vorgekommen wie Jeanne in „Der letzte Tango in Paris“ mit Marlon Brando. Es war aufregend gewesen, dieses geheimnisvolle Spiel. So ganz anderes als mit den anderen Typen von der Plattform.
Sie nahm ihr Samsung Galaxy in die Hand und wählte die Nummer des Teilnehmers, den sie unter dem Namen „der Unbekannte“ gespeichert hatte.
3 x klingelte es, dann meldete sich die nur allzu vertraute Stimme einer Dame, die verkündete, dass der Gesprächsteilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei.
Um 18:30 Uhr stand Ingeborg auf, nahm ihre beiden Gepäckstücke in die Hand und begab sich zur Theke, um zu zahlen.
Die junge, Kaugummi kauende Bedienung erklärte ihr, dass sie doch gar nichts konsumiert hätte.
„Doch ich hatte einen laktosefreien Cappuccino“, beharrte Ingeborg.
Dann fiel ihr ein, dass die ältere Bedienung nie wieder aufgetaucht war. Das passte so richtig zu diesem seltsamen Tag. Erst das kaputte Auto und dann war ihr Date einfach nicht erschienen. Noch nicht einmal einen Cappuccino hatte sie bekommen und der Hunger war auch nicht kleiner geworden.
Die junge Bedienung musterte sie abfällig von oben bis unten und knurrte dann: „Im Übrigen sind wir hier ein seriöses Restaurant und keine Wartehalle. Es wäre schön, wenn Sie das nächste Mal wenigstens etwas bestellen, wenn Sie schon einen Tisch blockieren.“
Ingeborg stand nicht der Sinn nach einer unfruchtbaren Diskussion mit der jungen Serviererin. Ihre Laune war auch so schon in den Keller gerutscht. Sie winkte lediglich ab und verließ mit raschen Schritten das Lokal.
Sie konnte sich nicht erinnern jemals so enttäuscht gewesen zu sein. Das war schon ein starkes Stück. Einfach nicht auftauchen am Treffpunkt, noch nicht einmal abzusagen. Es ist okay, wenn jemand plötzlich kalte Füße bekam, aber wenigstens hätte er sie benachrichtigten können.
Und wie jetzt weiter? War es das schon mit ihrer großen, vielversprechenden Romanze? War der Zug der Liebe bereits entgleist, ehe er richtig Fahrt aufgenommen hatte?
Würde sich der Mann vom Portal noch melden und erklären, was schiefgelaufen war? Würde sie nie wieder etwas von ihm lesen? War alles nur eine große Verarsche gewesen?
Was wurde jetzt aus Poecilotheria regalis? Ingeborg hatte die Tigervogelspinne extra für ihr Date gekauft. Sollte sie die jetzt behalten oder zurückgeben? Gab es ein Umtausch- oder Rückgaberecht für Vogelspinnen?
Als sie am Bahnhof Bremen den Fahrplan studierte, um den nächsten Zug nach Hildesheim zu finden, fiel ihr ein, dass sie ihre Spinne noch nicht einmal gefüttert hatte, seit sie diese in Osnabrück erstanden hatte. Wie oft speiste man diese Tiere eigentlich und was nehmen die so zu sich? Irgendwelche kostspieligen Insekten oder ging auch Currywurst mit Pommes Frites?
Sie stellte das Terrarium ab und lüftete die braune Decke. Mit einem Mal lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken und ihre Augen weiteten sich vor Schreck – das Tier war verschwunden!
2,5 Stunden zuvor. Ort des Geschehens: das St. Joseph Stift – Krankenhaus in der Schwachhauser Heerstraße 54, Bremen.
Rainer saß auf der schmalen Bank vor seinem Spind und ließ die Beine in die nagelneue G-Star 3301 gleiten. Laut der freundlichen Karstadt-Verkäuferin nannte sich die Farbe seines Beinkleides „Worker Blue Faded“. Ob sich das irgendjemand merken konnte? Für welchen Käufer von Herrenhosen war dieses Detail wichtig?
Der etwa 38-jährige Mann zog sich jetzt das „Germens Hemd No. 15 – Paradies“ über und betrachtete sein neues Outfit argwöhnisch im Spiegel.
Mit der Hose konnte er sich gerade noch anfreunden, auch wenn er nicht wirklich ein Freund von Jeanshosen war. Aus einem unbekannten Grund machten die Träger solcher Kleidungsstücke auf ihn immer einen prolligen Eindruck. Jetzt war er selbst Teil dieser Gruppe, wenn auch nur optisch. Mit dem Hemd allerdings hatte er ein völlig neues Level in seinem persönlichen Fashion-Kosmos erreicht. Nicht dass er sich dieses kunterbunte, vogelwilde Etwas selbst ausgesucht hätte – um Gottes willen. Noch nicht einmal im Vollrausch oder als Einlösung einer verlorenen Wette.
Für diese extrem spezielle Herren-Oberbekleidung war seine fünf Jahre jüngere Schwester Evelyn zuständig. Die hatte anno dazumal vier Semester Grafikdesign studiert und fühlte sich jetzt auserkoren, der Welt ihren sehr eigenwilligen Geschmack aufzudrängen.
Als ihr Bruder etwas unsicher angefragt hatte, ob sie ihm bei einer optischen Verjüngungskur beratend zur Seite stehen könnte, hatte sie sofort „aber sicher doch“ gerufen und sich an die Arbeit gemacht. Herausgekommen war ein modischer Kurzhaarschnitt mit frech, nach oben gegelten Spitzen und ein Kleidungsensemble, an das er sich nur schwer gewöhnen konnte.
Wann hatte Rainer jemals Cowboy-Stiefel getragen oder eine Bluejeans? Vielleicht als 6-Jähriger zur Karnevalszeit. Da hing dann wahrscheinlich auch noch ein Lederhalfter mit einem Plastik-Colt darin um seine Hüfte und auf dem Kopf saß ein Cowboy-Hut aus Krepppapier.
Tja, und dann war da noch seine sehr ungewöhnliche Oberbekleidung.
Evelyn hatte es für eine geniale Idee gehalten, irgendwo in den Weiten des World Wide Web für ihren Bruder ein Designer-Hemd zu bestellen. „Germens Hemd No. 15 – Paradies“, so nannte sich das Kleidungsstück, welches nun seinen Oberkörper umhüllte. Das exklusive Stück hatte dann auch gleich schlappe 168 Euro gekostet. Den gleichen Betrag hatte der Designer des Hemdes wahrscheinlich an seinen Dealer abgedrückt, bevor er im Drogen-Rausch diese eigenwillige Kreation ersonnen hatte.
Rainer fühlte sich komplett unsicher in seinem neuen Look.
Warum hatte er sich nur so rigoros von einer ihm unbekannten Frau in seine Persönlichkeit eingreifen lassen? Damit war nicht Evelyn gemeint. Die war letztlich lediglich für die Umsetzung zuständig gewesen. Die Impulsgeberin in diesem Fall war eine Dame aus dem Internet, der er noch nicht einmal begegnet war. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.
Jetzt wollte er sich ihr auch noch in diesem Aufzug zum ersten Mal präsentieren? Es blieben nur 1,5 Stunden bis zu ihrem Treffen. Kein Wunder, dass ihm etwas flau war im Magen.
War er aufgeregt? Selbstverständlich. Nicht das dies sein 1. Date war, seit er sich auf die Plattform begeben hatte. Trotzdem war dieses Mal alles anders. Bei den anderen Damen war er schon im Vorfeld überzeugt gewesen, dass sich der Aufwand nicht lohnte. Die innere Überzeugung war einfach nicht vorhanden. Wenn er ehrlich mit sich ins Gericht ging, so wusste er genau, dass er die anderen Frauen lediglich getroffen hatte, um eine Bestätigung seiner These zu erhalten.
An diesem Tag fühlte sich das anvisierte Treffen „richtig“ an. Anders konnte es der junge Mann nicht beschreiben. „Schon verrückt, was ich hier mache“ dachte Rainer, „ich kenne die Frau keine 3 Wochen und schon spukt sie mir im Kopf herum, wie keine andere vor ihr. Gibt es tatsächlich so etwas wie Bestimmung? Schicksalsgemeinschaft? Die Auserwählte? Die eine, die einen mitreißt wie ein Herbststurm? Man lässt es geschehen, weil man fühlt, dass es die Richtige ist. Nach all den Niederschlägen der letzten Monate endlich ankommen?“
Rainer trat noch mal vor den Spiegel im Gemeinschaftsumkleideraum und begutachtete sein Äußeres. „Das bin nicht ich, aber was soll’s?“
Dann holte er das noch eingewickelte Geschenk aus seinem Spind und befreite es vom Geschenkpapier. Er gönnte sich einen letzten prüfenden Blick auf sein Mitbringsel.
Da würde die Frau von der Plattform aber große Augen machen, wenn er ihr das Präsent überreichte.
Zugleich würde sie erkennen, dass er ein besonders aufmerksamer Leser ihrer Zeilen war. Sie hatte sich als Pflanzen-Liebhaberin beschrieben, deren besondere Leidenschaft die Orchideen waren. Was hatte Rainer also im Internet erstanden? Richtig, eine Grand Magnifique – praktisch die Königin unter den Orchideen. Ein 50 cm hoher Traum in Violett. Dazu passend zur Farbe der Blüten, ein hochwertiger Design-Übertopf in Lila.
Rainer sah sich seine Pflanze noch einmal wohlwollend an und stellte sie kurz auf den kleinen Hocker neben der Eingangstür. Die Blume in dem edlen Topf war schon ein echter Hingucker.
In diesem Moment wurde die Tür zum Umkleideraum aufgerissen und ein korpulenter, älterer Herr kam hereingestürzt.
„Hey Neuer, mach dich sofort bereit. Wir haben einen Noteinsatz.“
Rainer war es in diesem Moment nicht wichtig, dass sich die meisten seiner Kollegen immer noch nicht seinen Namen gemerkt hatten, sondern ständig mit „Neuer“ oder „Hey du“ ansprachen. „Ähem, ich bin eigentlich schon fertig mit meiner Schicht“ beeilte er sich dem Dicken zu entgegnen.
Der fuchtelte wütend mit den Armen: „Nix da, fertig mit der Schicht. Und überhaupt – mit solch einer Einstellung wirst du es bestimmt nicht sehr weit bringen. Wir haben einen Notfall. Die anderen Kollegen sind alle am Osterdeich im Einsatz. Da hat es eine Massenschlägerei nach dem Werder-Spiel gegen den HSV gegeben, mit vielen Verletzten. Also, auf gehts. Wir benötigen einen Fahrer.“
„Kann ich mich wenigstens noch umziehen?“, fragte Rainer kleinlaut und musterte seinen Aufzug.
Der Dicke sah ihn abschätzig von oben bis unten an: „Willst du in den Zirkus oder was ist das für ein komisches Hemd da? Nee du, keine Zeit zum Umziehen. Beeil dich.“
Schon preschte er von dannen. Die Tür warf er so energisch zu, dass die lilafarbene Design-Vase bedrohlich wackelte und dann vom Hocker fiel, wo sie schellend zerbrach.
„Auch das noch“, dachte der junge Mann, „aber jetzt ist keine Zeit, sich um die Pflanze zu kümmern.“
Nur etwas später saß er hinter dem Steuer eines Rettungswagens. Neben ihn döste der korpulente Rettungssanitäter. Auf der Rückbank saß ein noch sehr junger Rettungsassistent, welcher wohl gerade seine Prüfung absolviert hatte.
„Wo soll ich denn hin?“, fragte Rainer den Dicken.
„In die Franz-Schütte-Allee. Der Funk meldet, dass da irgendwo ein Typ im Auto zusammengebrochen ist. Ursache unbekannt. Komm, tritt mal ein wenig aufs Gas, hier geht es schließlich um ein Menschenleben.“
Rainer trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, das Martinshorn erklang und das Blaulicht leuchtete.
Den ganzen Tag über war es ruhig gewesen, ausgerechnet jetzt zum Feierabend hin, oder bereits nach Dienstschluss begann der Stress.
Nach drei Monaten als Auszubildender im neuen Job, war dies sein erster, richtiger Noteinsatz. Ausgerechnet heute, wo er das vielversprechendste Date seit Langem hatte. In der Eile hatte er natürlich noch nicht einmal eine Entschuldigung-Nachricht an seine Date-Partnerin absetzen können. Das Handy hatte er zu allem Übel im Spind des Umkleideraums vergessen.
„Was die junge Dame wohl jetzt von ihm dachte? Die saß nun wahrscheinlich schon ganz aufgeregt im Übersee-Restaurant und wartete auf ihn. Wahrscheinlich würde sie annehmen, dass er aus Angst gekniffen hätte und deshalb nicht zur Verabredung gekommen sei. Das zweite Treffen, das geplatzt war, nach dem Fiasko in Walsrode. Verdammt, wie sollte er das nur erklären?“
„Halt, nicht so schnell – da vorne ist das wohl“, rief der Rettungssanitäter und deutete auf eine Menschenansammlung am Straßenrand.
Das Auto kam zum Stehen und die dreiköpfige Besatzung des Rettungswagens heraus. Rainers Job war jetzt eigentlich getan. Er war nur der Fahrer und nach drei Monaten im Einsatz noch nicht reif für irgendwelche Rettungsmaßnahmen. Das war Sache seiner beiden Kollegen.
„Wow, schau mal, ist das der Bentley GTC Continentale?“ hörte er den jugendlichen Assistenten beim Aussteigen rufen. Der starrte mit offenem Mund auf ein Cabriolet, welches am Straßenrand stand und von mehreren Menschen umringt wurde.
„Platz da, hier kommen die Rettungssanitäter“, rief der Dicke energisch und schob die Schaulustigen zur Seite.
Am Steuer der Luxus-Karre saß ein zitternder, kreidebleicher Herr im grauen Anzug.
Der korpulente Helfer begann routiniert mit der Arbeit. Gemeinsam mit seinem Assistenten hievte er den Bewusstlosen aus dem Fahrersitz und betteten ihn neben den Wagen auf den Boden. Dann befreiten sie den Patienten von seinem Jackett und legten um den rechten Oberarm eine Manschette, um den Blutdruck zu überprüfen. Um den Finger kam ein „Fingerhut“, eine elektronische Vorrichtung, um den Sättigungsgehalt des Sauerstoffs im Blut zu kontrollieren. „Was ist mit dem los?“, fragte der Jüngere seinen Kollegen.
„Keine Ahnung“, antworte dieser, „Puls läuft relativ rund. Vielleicht Drogen.“
Der Jüngere zuckte mit den Schultern: „Wahrscheinlich. Wer solch eine Protzkarre fährt gehört wohl zur Unterwelt.“
„Können Sie mich verstehen? Wissen Sie wo Sie sich befinden?“ fragte der korpulente Rettungssanitäter den am Boden liegenden Autofahrer. Der röchelte nur schwer und begann zu krampfen.
Rainer, der den beiden über die Schulter geschaut hatte, wandte sich jetzt an den Dicken: „Könnt ihr den Mann noch mal kurz anheben, damit ich einen Blick auf seinen Hals werfen kann?“
Der Mops sah ihn halb irritiert und zur Hälfte herausfordernd an: „Bist du jetzt hier der Oberarzt oder was? Nach drei Monaten im Einsatz?“
Rainer hob beschwichtigend die Hände: „Nein, ich will jetzt nicht den Klugscheißer mimen, aber macht bitte einfach mal.“
Der Dicke nickte seinem Assistenten zu und die brachten den Patienten in eine halbhohe Position. „Seht ihr – die rote Stelle da am Hals“, rief Rainer augenblicklich, „das könnte ein Spinnenbiss sein. Die übrigen Symptome passen auch dazu. Die massive Schwellung, seine Schmerzen und der Schüttelfrost.“
„Und das weißt du alles, weil du 7 Jahre lang Medizin studiert hast, oder?“ frotzelte der Dicke. „Wahrscheinlich weißt du auch genau, welche Spinne unseren Patienten gebissen hat, hm?“ Rainer blieb sachlich und kühl: „Etwas Exotisches würde ich sagen. Vielleicht eine Tigervogelspinne.“
Der Dicke lachte jetzt trocken: „Wo soll die denn plötzlich hergekommen sein? Die kommen doch nur in Afrika vor.“
„Südindien“ verbesserte ihn Rainer „wie auch immer – der Patient muss sofort in ein Krankenhaus. Wahrscheinlich hat er einen allergischen Schock bekommen.“
Der Rettungshelfer und sein junger Assistent brachten keinen weiteren Einwand hervor und machten den Patienten für den Abtransport bereit.
Erst viele Stunden später kam Rainer dazu auf sein Handy zu schauen. Keine WhatsApp-Nachricht, dafür ein Anruf mit unbekannter Nummer. Das konnte die junge Dame gewesen sein, mit der er sich am Nachmittag hätte treffen wollen. Eigentlich hatten sie ausgemacht, nicht miteinander zu telefonieren vor dem Treffen, aber bei diesem Anruf hatte es sich wohl um einen Notfall gehandelt. Mittlerweile war es 21:15 Uhr, also mehr als vier Stunden nach ihrem Date-Termin.
Er wusste, dass er der jungen Frau eine Erklärung schuldete. Mittlerweile waren ihm die gemeinsam aufgestellten Regeln egal.
Also wählte er die Nummer der Dame per WhatsApp. Es klingelte exakt ein Mal, dann verkündete eine Frauenstimme, dass die gewählten Ziffern nicht erreichbar sei und er doch bitte auf Band sprechen sollte.
Rainer wusste, dass dies ein untrügliches Zeichen war, dass die Dame seine Nummer blockiert hatte.
Was er ihr auch nicht verübeln konnte, nachdem er nicht zum Treffen erschienen war. Jetzt gab es nur noch einen Ausweg aus dem Schlamassel, in welches er unschuldig hineingeraten war.
Er musste ihr eine lange Nachricht auf dem Portal hinterlassen. Vielleicht war sie selbst noch online und wartete bereits ungeduldig auf eine Erklärung von ihm.
Rainer wusste, länger hinhalten konnte und wollte er diese Frau nicht. Er würde sie bitten, die Telefonblockade aufzuheben, damit er sich rechtfertigen konnte.
Also öffnete er das MacBook und lockte sich mit seiner E-Mail-Adresse und dem Kennwort auf dem Portal ein. Das vertraute „Hallo Quesillo, schön Sie wiederzusehen“ ertönte. Dann ploppten die Tagesnews auf. „Honey 88 hat Ihnen zugelächelt, Rosi interessiert sich für Sie“.
Der junge Mann öffnete unverzüglich sein Postfach und fand es leer. Ganz klar, dass seine Date-Partnerin auf ein Zeichen von ihm wartete. Warum auch sollte sie als Erstes reagieren?
Er wollte den Chatverlauf mit der jungen Dame öffnen und erstarrte fast bei den Worten, die er daraufhin lesen musste: „Curley Sue hat sich von dieser Seite verabschiedet“.