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Kapitel 1 - Von den Wurzeln

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Madame Dumont-Dufour und Madame Blok unterhalten sich über ihr Mißgeschick, natürlich also über ihre Gatten.

Madame Dumont-Dufour — wäre sie als Mann zur Welt gekommen, sie wäre gewiß Jurist geworden wie ihr verstorbener Vater, der Präsident Dufour — schweift schon vom einzelnen ins allgemeine, von der Aufzählung persönlicher Schandtaten zu weitgehendster Anklage gegen die Gesellschaft und die Gesetze.

Ja ja, die Gesetze! Ist ihr Stumpfsinn nicht allzu groß? Wie toll auch Herr Dumont es getrieben hat, seine arme Frau hat noch heute nicht das Recht zur Scheidung.

In Ermangelung des Himmels schlägt sie die Blicke hilfeflehend zur Zimmerdecke empor und gestikuliert so gewaltig mit den Händen, daß Madame Blok sich im stillen denkt, Madame Dumont-Dufour gehöre doch eigentlich in einen Salon mit fünfundsiebzig Kerzenleuchtern und ebensoviel Konzertflügeln.

Aber was Madame Dumont herauf beschwört, ist mehr als nur ein Salon, ist ein Land, ein ganzer Kontinent, ja größer noch: ist das Reich ihrer Erinnerungen. Ein Meer ist es, durch das eine versunkene Stadt aufschimmert und auf dessen Grund tief unten Madame Dumont-Dufours Träume schlummern.

Und was blieb ihr denn eigentlich? — Klagen. Sonst nichts. Gehörte sie zu den Verblendeten‚ die von Einbildungen leben können, vielleicht würde sie dann den ganzen Tag lang imaginäre Rachepläne schmieden. Sie, die Prunkliebende, die von Visitenkarten mit Wappen und Titeln träumt, von Leichengespannen mit Wallenden Federbüschen und Lilien ohne Blütenstaub, wird sie jemals all ihre hochfliegenden Wünsche und Hoffnungen erfüllen können? Gäbe es eine irdische Gerechtigkeit, sie dürfte noch auf Erden an ihrem Lebensabend die Honneurs machen in einem Reiche von Erinnerungen, so vornehm wie das Versailles der Maintenon.

Stattdessen muß sie sich ihrer Hinterzimmer schämen und ständig darunter leiden, daß sie nichts besitzt, den Neid der Madame Blok zu erwecken. Das Reich ihrer Erinnerungen! Eine ärmliche Dachkammer ist’s, aus der sie nicht einmal die Trümmer ihrer Ehe forträumen darf, weil ja das Gesetz — ach ja, das Gesetz — ihr die Scheidung untersagt.

Weiß Madame Blok weswegen?

Madame Blok weiß nicht weswegen.

Sie möchte es gern wissen, aber andererseits fürchtet sie auch wieder für indiskret zu gelten.

Indiskret?

Eine königliche Handbewegung beschwichtigt Zweifel.

Indiskret?

Haben sie denn Geheimnisse, die eine vor der andern? Da sie gelitten haben, eine wie die andere, warum in ihren heimlichen Gesprächen die Männer schonen, diese Henkersknechte? Sind sie nicht, wie sie hier beisammensitzen — zwei Frauen in einem Salon in Auteuil —, sind sie nicht Schwestern im Leid?!

Ha, Schwestern im Leid. Dies Wort muß sich einbürgern. Madame Dumont-Dufour schwingt es wie eine Standarte und wird gewiß ähnliche Wirkungen damit erzielen wie Lamartine mit der Trikolore Frankreichs. Wie eine Ägis trägt sie’s, wie ein Feldzeichen. Lamartine am Fenster des Rathauses war nur ein Stümper gegen sie. Besitzt sie doch noch weit seltenere Eigenschaften als Beredsamkeit, und Madame Blok, die ihre französische Geschichte kennt, fühlt sich an Henry IV. erinnert. Zwar sieht man keinen weißen Helmbusch im Winde wehen, aber man weiß doch, daß man dem Führer nur zu folgen braucht. Man bedenke: Schwestern im Leid.

Schweigen. Zwei reglose Körper scheinen ausgehöhlt. Madame Dumont-Dufour selbst spürt das Unendliche durch die Leere, und fast fühlt sie sich, als hätte man ihr die Seele mit einem Vakuumreiniger ausgesogen.

Jetzt benetzen sich die Augenlider der Madame Blok. Aber nicht die traurigen Erinnerungen, auch nicht all die Zärtlichkeit, die man ihr zusammen mit Tee und Toast auftischte, noch auch die verzweifelten Ausblicke, die Madame Dumont-Dufour mit jedem Absatz ihrer Reden panoramaartig zu eröffnen verstand, bedingten diese feuchten Wimpern, diese zitternden Nasenflügel. Nein, diesmal lag die Wahrheit woanders. Madame Blok war einfach hungrig — hungrig nach Wissen.

Madame Blok wohnte mit ihrer einzigen Tochter Diana zusammen. Diana ist immer und überall zu sehen — im Kino, im Theater, bei Freunden und Gott weiß wo sonst noch ein modernes junges Mädchen sich herumtreiben mag —‚ Diana, die viel aufgeklärter ist als ihre Mutter, die tanzt und malt und Cocktails trinkt und nur mit Künstlern verkehrt, Diana spricht nicht. Wenn sie heimkommt, schlingt sie nur eins, zwei, drei ihre Mahlzeiten herunter; ihr Mund öffnet sich überhaupt nur um zu essen. Und daher kommt's, daß ihre arme Mutter gar nichts von der Welt erfährt, von der ihr Unglück sie getrennt hat.

Freilich ist da noch Vetter Bricoulet — Honoré Bricoulet. Regelmäßig erscheint er morgens gegen zehn Uhr, küßt Madame Blok auf beide Wangen und gibt ihr zu verstehen, daß ein Witwer — Madame Bricoulet wurde vor bald zehn Jahren der Zärtlichkeit ihres geliebten Honoré entrissen — und eine Witib — Monsieur Blok hatte sich vor mehr als zwei Lustren selbst den Tod gegeben — ein prächtiges Paar abgeben könnten. Madame Blok wird gerührt. Vetter Bricoulet erkundigt sich nach ihrem Vermögensstand, fragt jedesmal nach neuen Einzelheiten über den Selbstmord des Herrn Blok und entschließt sich erst den Belagerungszustand in dem Augenblick aufzugeben, wo Diana nach Hause kommt und dem Vetter, den sie nicht leiden kann, statt eines Grußes irgendeine Unverschämtheit zuruft.

Kaum ist Bricoulet fort, so faßt sich Madame Blok ein Herz und weist ihre Tochter zurecht.

„Du warst wieder recht unliebenswürdig zu Vetter Honoré.“

„Ach dieser häßliche Enterich.“ (Bricoulet spricht nämlich etwas durch die Nase.)

„Diana, wie ungerecht du bist.“

„Gewiß hat er dir wieder Liebeserklärungen oder einen Heiratsantrag gemacht. Arme Mutter, auf unsere paar Groschen hat er es abgesehen. Ein ganz geriebener Fuchs. Eine Laus würde er noch rupfen.“

Diana trällert vor sich hin:

„Bricoulet, Bricoucou,

Eine Laus

Rupftest du.

Eine Laus, eine Laus

Nähmest du,

Bricoucou,

Noch aus.“

Und dann: „Hütet Euch vor Bricoulet, Mutter.“

„Diana, dein Haß macht dich blind.“

„Er interessiert sich gar nicht für dich, sondern nur für dein Unglück. Das Traurige reizt ihn. Einen komischen Geschmack hat dein Honore. Ich hörte, Kalbszunge ist sein Lieblingsgericht. Er hat den gleichen Geschmack wie seine Katze.“

Diana läßt nicht nach. Bricoulet interessiert sie. Und das schlimmste ist, daß Bricoulet diese Feindseligkeiten schon bemerkt hat und seine Konsequenzen daraus zieht. Seine Besuche werden schon seltener. Und das gerade jetzt, wo Madame Blok sich bei ihm nach Madame Dumont-Dufour erkundigen wollte, nach deren unsichtbarem Gatten, der Honorés Schulfreund war, und auch nach ihrem Sohn Pierre Dumont, der, als nächster Freund und Malkollege Dianas, vielleicht sogar als Schwiegersohn in Betracht käme. Bricoulet aber rächte sich an der Mutter für die Feindschaft der Tochter, und so konnte sie nichts über Madame Dumont-Dufour erfahren, bis zu diesem Herbstnachmittag in dem düsteren Salon von Auteuil, an dem sie einander nach den eigenen Worten der Madame Dumont-Dufour als „Schwestern im Leid“ entdeckten.

Da Madame Blok unvorsichtigerweise zugegeben hatte, daß sie sich das ganze Jahr lang von Neujahr bis Silvester gleichmäßig langweile, ohne andere Zerstreuung als das Konzert Colonne einmal wöchentlich Samstag nachmittags, häuft Madame Dumont-Dufour förmlich die Klatschgeschichten, so daß ihrer Schwester im Unglück die Tränen in die Augen steigen, sowie einem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammenläuft bei dem Geruch einer köstlichen Speise.

Und Madame Dumont-Dufour, die ihre Leute mit einem Blick durchschauen kann, erkennt diesen Appetit und weiß deshalb, ihn, geschickt abwartend, bis zum Hauptgericht zu steigern. Zunächst also einige kleine Offenheiten als Hors d’œuvres. Madame Blok beißt sich auf die Lippen, während Madame Dumont-Dufour sich kühn über Menschen, Taten und Dinge erhebt.

Nichts kann diesem Aufschwung widerstehen.

Das Wort „Mitleid“ fällt in einem Satz, und gleich entsteht daraus eine Dissertation.

Mitleid, ja, liebe Freundin, Mitleid. Mitleid hin, Mitleid her. Gewiß hat Madame Dumont-Dufour das immer beachtet. Denn ohne Mitleid könnte man ja nicht leben. Aber man weiß ja auch nie, woran man sich eigentlich zu halten hat. Es kommt ja doch so viel hinzu, Unglück, Vererbung, böse Triebe. Arme Madame Dumont-Dufour‚ trotz ihres klaren Verstandes und ihres tugendhaften Herzens ist ihr nichts geglückt. So ist Pierre, ihr Sohn, dessen Amme eine notorische Säuferin war (Unglück! Unglück!), ein geborener Choleriker. Das hat er übrigens von seinem Vater (Vererbung! Vererbung!), der immer gewalttätig war. Aber das wäre alles nicht schlimm, hätte besagter Pierre nicht so seltsame Neigungen (die bösen Triebe!), über die seine Mutter mit Recht entsetzt ist. Zwar ist seine Neigung für Diana nur erfreulich, aber das Äußerste ist zu befürchten aus seinen Freundschaften für hergelaufene Metöken.

Jawohl, Metöken. Frankreich, Paris und, was das schlimmste ist, Pierre Dumont be?nden sich in ihren Händen. Die Jugend ist von Sinnen. Madame Blok mag auf Diana aufpassen können, Madame Dumont-Dufour muß Pierre aber seinen Weg gehen lassen, und es kostet ihr so manche schlaflose Nacht. Die jungen Leute des zwanzigsten Jahrhunderts sind wirklich zu vielen Versuchungen des modernen Babylon ausgesetzt. Als Madame Blok und Madame Dumont-Dufour jung waren, da verliebten sich die jungen Leute in die Damen von Maxim, und die jungen Mädchen träumten allenfalls von Zigeunern mit schönen Schnurrbärten. Heute treten an die Stelle der Damen von Maxim abenteuerliche Individuen aller Länder und Geschlechter, und an die Stelle der schnurrbärtigen Zigeuner im besten Fall saxophonblasende Neger. Man hat sich Laster und tückische Tränke und Rauschgifte ausgedacht, und wohin soll das alles noch führen? Madame Dumont-Dufour weiß ganz genau, weshalb sie das Wort Mitleid gebraucht hat. Ach Gott, was das Leben doch alles für traurige Erfahrungen mit sich bringt —

Madame Blok in ihrem Aubussonsessel neben dem Klavier platzt förmlich vor Ungeduld, während Madame Dumont-Dufour, in die heute wahrlich die Seele eines Gerichtspräsidenten gefahren ist, eine schier ungeahnte Beredsamkeit entwickelt. Ihre Stimme gleitet mit der Majestät eines dunklen Schwanes über das Unglück. Soll sie wohl zwischen diesen Möbeln, die Zeugen ihres ganzen Leidens waren, angesichts einer Besucherin sterben, die ihrem Flug nicht folgen kann? Fast hält sie schon ihre eigene Leichenrede, drückt auf einzelne Silben, zieht sie künstlich in die Länge, wirft sie wie Bälle in die Luft, fängt sie wieder und streichelt sie mit der Zunge, als trügen sie die Verkündigung eines ewig befreienden Schlafes in sich. Einen Augenblick lang will sie Waffen aus ihnen machen, sich gegen Pierres Bosheit zu verteidigen, und schon ist’s, als winde sie Blumen zu Kränzen, und die Kränze werden zu Stoffen und Schleiern‚ in die sie sich einhüllt als Monument ehelichen Unglücks. So stellt sie sich vor Madame Blok dar, die immer ärgerlicher wird und sich bald versucht fühlt, sie ganz ultimativ zu fragen: werden Sie mir nun auf der Stelle erzählen, warum Sie sich nicht scheiden lassen können, oder —?

Madame Blok will ein Ende machen, um jeden Preis. Deshalb sagt sie in fast heiterem Ton: Man muß eben nicht allzu streng sein! „Richtig, richtig, aber auch das hat seine Grenzen“, legt Madame Dumont-Dufour, die Unermüdliche, aufs neue los. Hat nicht Herr Dumont sich so‚ unanständig aufgeführt, daß sie, die schon in den Flitterwochen sich ihm fremd fühlte, von vornherein ihrem ehelichen Namen den so viel wohlklingenderen ihres verstorbenen Vaters, des Präsidenten Dufour, beigefügt hat.

Und so wurde aus Madame Edgar Dumont eine Madame Dumont-Dufour!

Tatsächlich sind die beiden Zwillingsnamen rechts und links vom Bindestrich etwas wie ein Trost für sie, aber andererseits verschmäht sie so leichten Erfolg und will gar nicht zeigen, daß sie stolz darauf ist, in Gegenwart von Madame Blok, die sie für eine Jüdin hält, sich Madame Dumont-Dufour zu nennen.

Solch ein Doppelname in all seiner Schlichtheit und Einfachheit, ist er nicht ein Symbol dafür, was ein Adel der dritten Republik bedeuten könnte? Verstünde man doch noch, den Mittelstand in Frankreich richtig zu ehren! Ein Stand, teuerste Freundin, der der Nation seit je ihre vortrefflichsten Diener stellte.

So ist Madame Dumont-Dufour zum Beispiel die Tochter eines Richters, und ihr Gatte, der Unwürdige, war doch immerhin Oberst.

Pause.

„Nanu, das hat ja aber Vetter Bricoulet der Madame Blok niemals erzählt, daß Herr Dumont Oberst war! Damit erklärt sich ja manches.“ Und Madame Blok füllt den Salon in Auteuil mit einem „Ah!“, dem Ausruf ähnlich, den Christoph Kolumbus ausgestoßen haben mag, als er zum erstenmal die Küste Amerikas sah.

„Aber nein, Verehrteste“ — Madame Dumont-Dufour muß dies Triumphgeschrei unterbrechen —, „glauben Sie ja nicht, daß ich mich scheiden ließe, weil Herr Dumont Oberst ist, o nein! Und auch nicht, daß ich Visitenkarten ohne Vornamen habe. Das ist doch das Allertraurigste, nicht wahr?“

Madame Blok bewegt langsam ihren Kopf von oben nach unten, und dann von rechts nach links.

Die andere aber fährt unermüdlich fort: „Ich bin noch keine vierundvierzig Jahre alt, und kein Mensch ruft mich mehr Louisa, so wie mich einst meine Patentante taufte —“

Nach all dem Unglück auch noch die Patentante!

Nein, alles kann sich Madame Blok denn doch nicht gefallen lassen.

„Ihre Patentante hat ganz recht gehabt, Sie Louisa zu taufen. Kein Grund, sich zu beklagen. Louisa Dufour, wie reizend! Zu schade, daß Ihnen die Scheidung nicht erlaubt ist, daß Sie Ihr Leben nicht neu beginnen können.“

Wie rote Zünglein auf einem Froschteich, so springen die Worte „Scheidung“ und „Leben wieder neu beginnen“ von Madame Bloks Lippen, und Madame Dumont-Dufour wiederholt, auf jeder Silbe ein wenig ausruhend: „Leben wieder neu beginnen!“

Madame Blok aber erneuert ihren heimlichen Schwur, nicht zu ruhen noch zu rasten, bevor sie nicht weiß, weshalb die andere nicht geschieden wurde.

„Und wie ist Ihr Vorname, teuerste Freundin?“ wird dieser Gedankengang unterbrochen.

„Hermine!“

Nun geht es los.

„Hermine, wie süß!“

„Louisa, wie energisch!“

„Hermine, wie unschuldsvoll!“

„Louisa, wie spirituell!“

„Hermine, ein Name für eine Blondine!“ (Madame Blok ist nämlich blond.)

„Louisa‚ ein Name für eine Brünette!“ (Madame Dumont-Dufour ist schwarz wie Tinte.)

„Hermine, der richtige Name für eine liebende Frau!“

„Louisa“ (Madame Blok läßt sich nicht lumpen)‚ „der richtige Name für eine Kaiserin!“

„Wirklich, gefällt Ihnen Louisa?“

„Das will ich meinen!“

Und listig, ohne es sich anmerken zu lassen, kehrt Madame Blok wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück.

„Louisa Dufour, wie das klingt! Zu schade, daß Sie sich nicht scheiden lassen können!“

„Zu schade, jawohl. Aber Sie glauben nicht, wie mich das freut, daß Sie den Namen Louisa so hübsch finden. Mein Sohn Pierre ärgert mich immer damit. Er behauptet — die Kinder heutzutage haben ja jeden Respekt verloren —, Louisa sei ein Name für ein Soldatenliebchen. Kürzlich wagte er das sogar vor Ihrem Vetter Bricoulet zu sagen. Ich hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Als ob mein Vater mich wie ein Soldatenliebchen hätte taufen lassen!“

Madame Bloks Stiefelabsätze treten fast den Teppich durch.

„Teuerste Freundin, Sie sagten doch, daß Sie sich nicht scheiden lassen dürfen. Warum denn nicht?“

Das Opfer der Gesetze reißt sich zusammen: „Oberst Dumont ist nämlich — —“

Bei so vertraulichen Mitteilungen pflegt die Stimme am Ende des Satzes zu versagen, und Madame Blok hat nichts verstanden. Sie jammert laut: „Wie? Was ?“

Da — als letzte Steigerung — ruft man aus (und jetzt mit triumphierender Stimme):

„Dumont ist verrückt, verrückt, verrückt!“

Das klingt in Madame Bloks Ohren wie der Gesang von Pan und Phöbe im gestrigen Konzert Colonne.

„Verrückt! Verrückt! Verrückt! Sein Verstand ist verwirrt!“

Nun aber ist es ein Duett zu Ehren eines Obersten der dritten Republik: „Verrückt! Verrückt! Verrückt!“

Madame Dumont-Dufour ist die kurzatmigere von beiden, sie schweigt zuerst. Madame Blok folgt ihrem Beispiel.

Erneute Pause. Madame Blok stellt sich rasch im Geiste den Oberst vor: hoher Militär, gewiß trägt er einen Schnurrbart, der das halbe Gesicht verdeckt nach der Mode von Anno dazumal.

Der Schnurrbart des Obersten! Madame Blok, obschon tugendhaft, trägt schwer an ihrem Witwentum. Diana rät ihr zwar oft, zu heiraten —nur nicht Herrn Bricoulet —, doch im Grunde bleibt Madame Blok aus Furcht vor ihrer Tochter ihrem Dimitri treu. Und diese Tugend wird ihr nicht leicht. Die arme Hermine wird ganz aufgeregt, wenn sie nur an den Schnurrbart des Obersten denkt. Sie reibt sich an den Lehnen ihres Sessels und stellt sich dabei vor, wie der Schnurrbart wohl stechen muß, wenn man küßt. O Gott, wüßte Diana von diesen Gedanken ihrer Mutter! Diana — die Pflicht ! Aber vor der Pflicht war Dimitri da — die Liebe! Und jetzt, da Bricoulet nicht in Betracht kommen soll, ist nichts mehr da! Ach, wäre doch wenigstens der Oberst da!

In ihrer guten Zeit hatte Familie Blok ein Landhaus in La Baule. Da war einer ihrer Nachbarn ein Kommandeur mit goldenen Litzen am Kragen, der ausgezehrt vom gelben Fieber aus Madagaskar heimgekehrt war und immer von sich selbst sagte: „Ich bin dürr wie eine Latte!“ Madame Blok schwärmt für magere Männer, hohlleibig wie die frühen Christusbilder. „Dürr wie eine Latte“ war gewiß auch der Oberst Dumont. Eine Latte! Mein Gott, Madame Blok wird rot, denn sie denkt an den Doppelsinn, den sie einmal aus einer zweideutigen Revue kennenlernte, in die Blok sie wenige Tage nach ihrer Hochzeit führte. Latte. Sie wird purpur-rot, violett. Gott sei Dank ist Madame Dumont-Dufour gerade ganz in die Betrachtung einer Teeserviette vertieft. Ja, ja, der Oberst muß mager gewesen sein. Vielleicht war er in Afrika, und der Tropenkoller hat ihn ausgezehrt. Gewiß hat er auch viel Sport getrieben. Jedenfalls hatte er keinen Bauch gehabt. So sieht sie ihn vor sich. Dürr wie eine — Was? Schon wieder diese sündigen Gedanken. Der Oberst war mager. Punkt. Schluß damit. Und außerdem tragen die Offiziere ja oft Korsetts, wenn sie anfangen ihre Taille zu verlieren. Herr Dumont war ein schöner Mann. Warum, zum Teufel, ist er nur verrückt geworden?

Madame Blok sieht einen Mordskerl in roten Hosen und mit goldenen Tressen vor sich, der tagaus, tagein in einem Anstaltshof hin und her spaziert, die Augen grün im braungebrannten Gesicht, der Schnurrbart endlos. Welch martialische Gestalt. Ein echter Mann. Etwas anders als das Söhnchen, der blonde Pierre, von dem Diana so schwärmt. Freilich hat er auch die grünen Augen. Aber die des Obersten scheinen weiter und heller, weil das Gesicht so braun ist. Die Augen. Vor einem Nichts erschrecken sie und verdunkeln sich. Angstträume ziehen über sie hin und verändern sie wie Wolkenschatten den Spiegel des Sees.

Ein Wahnsinniger.

„Ist der Oberst wirklich ganz richtig verrückt?“

„Und ob“, antwortet seine Frau, „das will ich meinen. Man hat ja nicht einmal das Recht sich von ihm scheiden zu lassen, so verrückt ist er. Eingesperrt, in einer geschlossenen Anstalt.“

Und sie faßt die Besucherin bei den Händen: „Hermine, arme Hermine!“

„Louisa, ärmste Louisa“, echot es in dem Salon von Auteuil. Zwei Sessel rücken zusammen. Ein Kopf lehnt sich an eine Schulter und weint. Ein Pelz gleitet von der Schulter herunter. Ein Klirren. Und Scherben liegen am Boden. Eine der feinen Porzellantässchen, die Madame Blok hatte bewundern müssen, ehe man ihr daraus zu trinken gab. Madame Blok sucht verlegen nach Entschuldigungen.

„Aber, Hermine, machen Sie nur kein Aufhebens davon. Was bedeutet ein zerbrochenes Tässchen — selbst von so teurem Porzellan —, wenn man eine liebe Freundin gefunden hat. Denn das sind Sie doch, nicht wahr, Hermine?“

„Ach ja, Louisa, wir verstehen uns gut, denn wir haben beide gelitten. Ich bin zwar nicht so klug und so taktvoll wie Sie —“

„Klugheit wird auch nicht immer belohnt. Sie sehen, ich bin ganz normal, und trotzdem ist mein Mann verrückt.“ Und wieder, als spräche der Gott der Rache selbst aus ihr: „In einer geschlossenen Anstalt ist er. Ein Opfer seiner Ausschweifungen.“

Und nun beginnt Madame Blok zu erzählen, daß sie aus den Berichten Bricoulets, der mit dem Direktor einer Irrenanstalt befreundet sei, mancherlei über die seltsamen Ursachen des Wahnsinns wüßte. Bricoulet bestreitet seine ganze Konversation mit solchen Geschichten. Bei der Suppe fängt er damit an und hört nicht auf, bis er sich verabschiedet. Die Chronik der Irrenanstalten ist sein Lieblingsthema.

„Aber die Verrücktheiten, von denen Ihr Bricoulet berichtet, sind ein Kinderspiel gegen den Wahnsinn des Obersten.“

„Kinderspiel? Bricoulet weiß von allen Arten des Wahnsinns zu berichten.“

„Kinderspiel sage ich Ihnen. Denken Sie sich zum Beispiel, meine Liebe, seit vier Jahren schreibt der Oberst jeden Morgen denselben Brief. Natürlich nicht an mich —“

Und Madame Dumont-Dufour, die so viel Begabung zur Sphinx hat wie zum Juristen, fängt nun an zu rätseln.

„Raten Sie, Wem der Oberst Dumont diese Briefe schreibt! Denken Sie, jeden Tag genau die gleichen Redensarten, die gleichen Interpunktionen, Kommata, i-Tüpfelchen! Raten Sie. Ich wette zehn gegen eins, hundert gegen eins, tausend gegen eins, zehntausend gegen eins, Sie erraten es nicht.“

Madame Blok will die Wahrheit nicht unterbieten und entschuldigt sich: „Ich habe keine Phantasie.“

Da legt Madame Dumont-Dufour los: „Jeden Morgen schreibt der Oberst Dumont einen Brief an die Marquise von Pompadour!“

„Die Pompadour?“

„Die Pompadour.“

„Die Geliebte Ludwig XV.? Wie seltsam.“

„Mehr als seltsam. Unerhört! Und das allerseltsamste ist, daß die Briefe einer dem andern zum Verwechseln ähnlich sind wie Abdrücke des gleichen Klischees. Momentbilder des Unterbewußten, sagte mir der Arzt.“

Madame Blok hat sich noch nicht wieder gefaßt.

„Momentbilder des Unterbewußten“, wiederholt Madame Dumont-Dufour. „Stolz bin ich nicht gerade darauf. Was ich davon schon habe — von Momentbildern des Unterbewußten. Als ob so eine gelehrte Phrase etwas daran änderte, daß mein armer Pierrot der Sohn eines Wahnsinnigen ist und ich seine Frau.“ Sie weint. „Ein Wahnsinniger.“

„Wahnsinniger“, antwortet das Echo.

„Denken Sie, in zwei Monaten wird der Oberst eintausendfünfhundert Briefe an die Marquise von Pompadour geschrieben haben. Man hat schon einen Vortrag an der Akademie über ihn gehalten. Aber das ist ja auch der bare Unsinn.“

Und dann ist es, als ob sie die Honneurs dieses Wahnsinns machte, so wie sie noch eben in ihrer Wohnung die Honneurs gemacht hat.

„Wünschen Sie einen der Briefe zu sehen? Man bewahrt sie natürlich nicht alle in der Anstalt auf, sonst müßte man ja eigens einen Flügel anbauen mit einem Archiv für die Geistesergüsse des Obersten. Ich habe dort einige in meinem Schreibtisch. Gleich Werde ich Ihnen einen holen — —“

Madame Dumont-Dufour holt zwei der Briefe. „Sehen Sie, meine Teuerste, vergleichen Sie nur. Das Komma auf der dritten Zeile des einen Blattes steht genau an derselben Stelle wie das Komma auf der dritten Zeile des anderen. Sehen Sie sich das nur an.“

Madame Blok greift zur Lorgnette, vergleicht und liest:

An die Marquise von Pompadour

den Abstand von Raum und Zeit überspringend

Madame

Seien Sie gegrüßt!

Glauben Sie nicht, ich schriebe Ihnen aus diesem Hause nur ein einfaches Guten Tag. Ich, ein Leib mit hohlen Augen, dessen Seele ich dennoch sein muß.

Ich bin Gefangener in Ratapoilopolis, gnädige Frau.

Die Verfolgung begann schon in Saint-Cyr, wo meine Kameraden mich Ratapoil getauft haben. Sie nahm ihren Fortgang, und heute, als Oberst und Erfinder, bin ich dazu verdammt, in einem großen Käfig zu verfaulen, ein Leib mit hohlen Augen, dessen Seele ich dennoch sein muß.

Gnädigste Marquise von Pompadour, wenn ein Oberst der dritten Republik es wagt, sich an Sie zu wenden, so weiß er ganz genau — zweifeln Sie nicht daran —, welch häßlichen Deutungen diese Korrespondenz ausgesetzt sein wird.

Der Oberst Dumont schreibt an die Pompadour!

Ich sehe schon die Gesichter vor mir, die die Freimaurer, meine Frau, der Minister, die Admirale und das gesamte Marineoffizierskorps machen werden. Für wahnsinnig wird man mich erklären, wie damals, als ich in Algier das Mittel erfand, Kriegsschiffe abzuschaffen, indem ich Palmblätter unter die Räder der Kanonen anbrachte. So konnte jedes Geschütz rasch und kostenlos in einen schießenden Fisch verwandelt werden.

Der schießende Fisch. Meine Erfindung mißfiel dem Minister, der Admiralität und dem Offizierskorps, weil sie dadurch überflüssig wurden. Deshalb verschworen sie sich mit meiner Frau und sperrten mich in Ratapoilopolis als Wahnsinnigen ein. Da bin ich nun zwischen all den Unglücklichen, ich, der geniale Erfinder.

Ein alter Brummbär wie ich, gnädige Frau, kann keine schönen Redensarten machen. Wenn ich einfach an ihr gutes Herz appelliere, so tue ich es, offen gestanden, weil Sie keine pflichttreue Frau sind. Von pflichttreuen Frauen habe ich genug. Die Frau Oberst Dumont ist eine solche, und für mich ist sie deshalb von vorn und von hinten besehen ein Stück Sch.....

Ein Stück Sch..... Verzeihen Sie das harte Wort, Marquise. Ich gebe zu, daß es hart ist, aber es ist die einzig richtige Bezeichnung für diese Person; wäre ich nicht wahnsinnig, die Tochter des Präsidenten Dufour, meine Gattin, würde mich gewiss wahnsinnig machen. ,Wozu dieser schwere Portwein noch vor dem Abendessen? Wenn du ihn noch einmal trinkst, verstecke ich dir die Flasche, gerade wie den Kognak. Man sah dich aus einem Freudenhaus herauskommen! Schämst du dich den gar nicht? Ein Oberst der dritten Republik? Noblesse oblige!‘ Und so ging es tagaus, tagein.

Madame Dumont — sie nennt sich übrigens Madame Dumont-Dufour, als schäme sie sich einen der größten Erfindernamen des XX. Jahrhunderts zu tragen —, Madame Dumont ist übrigens nicht der einzige Gegenstand meines Zornes. Die Republik ärgert mich genau so.

Um so schlimmer, wenn dieser Brief in die Hände meiner Frau, des Ministers, der Admiralität oder der Freimaurer fällt. Ich behaupte, daß die Republik mit ihrem Leib von Stein, ihrem Busen aus Erz und ihrer Köchinnenschürze ein Ungetüm ist, ein Ungetüm, das nackten Fußes über die gefurchte Erde schreitet.

Und gewiß, gnädige Frau, wird sie niemals die zierlichen Schuhe tragen, deren Absätze den Ruhm der Herrschaft Ihres Königs ausmachten, die Louis-Quinze-Absätze. Eine pflichtgetreue Gattin, wie Madame Dumont-Dufour, wird darin niemals gehen können.

Ich flehe Sie an, gnädige Frau, Sie und Ihre Absätze. Aus Ratapoilopolis.

Kompliment, gnädige Frau.

Oberst Dumont


„Nun, und was sagen Sie dazu?“ fragt Madame Dumont-Dufour.

Madame Blok deutet mit einer Handbewegung an, daß sie zwar gar nichts sagt, aber sich um so mehr denkt.

Da wird Madame Dumont-Dufour gemütvoll:

„Armer Oberst, im Grunde tut er mir leid.

Wenn nur sein Sohn sich ein warnendes Beispiel daran nähme. jedesmal wenn Pierre spät in der Nacht betrunken nach Hause kommt, erinnere ich ihn an seinen Vater. Aber dann — seltsame Jugend von heute — verteidigt er ihn noch und äußert dabei so merkwürdige Ansichten

über Menschen und Dinge, daß ich mich manchmal frage, 0b er nicht auch in Ratapoilopolis enden wird.“

„Ratapoilopolis. Dieser Name! Nur ein Verrückter konnte ihn erfinden. Polis — Stadt. Ratapoilopolis — die Stadt des Ratapoil. Und Ratapoil nannte man den Oberst in Saint-Cyr, weil er ganz behaart war.“

Madarne Blok denkt an die Behaarung des Obersten und schließt dabei die Augen. Es kribbelt ihr in den Fingerspitzen, und sie erinnert sich, wie gerne sie Bloks Haut gestreichelt hat, trotzdem diese weiß war und unbehaart und langweilig.

Aber die Haare des Obersten! Ein Urwald auf seiner Brust in zwei Alleen sich bis zu den schmalen Hüften erstreckend. Madarne Blok schließt die Augen fest. Wie traurig, eine Witwe zu sein. Nun denkt sie daran, wie ihr Dimitri, der im Bett nicht unbegabt war, sie immer „meine süße, kleine Hure“ genannt hat. Und nun stellt sie sich vor, wie ihre eigene Hand, diese kleine, fleischige, behandschuhte Hand, die harmlos auf der Lehne des Sessels ruht, in den Brusthaaren des Obersten wühlt. Der selige Blok gebrauchte Parfüm. Aber der Oberst, der duftet sicher aufregender als Nelken und Lavendelwasser. Mit weitgeöffneten Nüstern saugt sie alle Düfte Afrikas, der Löwen, der wilden Tiere, kurz, des Mannes in sich.

Und Madame Blok wird jetzt immer kühner:

„Er ist gewiß in Ratapoilopolis sehr mager geworden.“

„Ja, und er war schon so dürr, so dürr — -—“

„Wie eine Latte“, haucht Madame Blok.

„Ganz genau so. Hart wie eine Latte und brutal.“

„Meiner, der war sanft, und das trieb ihn zur Sünde. An den Obersten müssen Sie doch wenigstens wie an etwas sehr Männliches zurückdenken.“

„Bin ich denn ein lüsternes Weibchen? Derlei Dinge haben mich nie interessiert.“

Und wie um Madame Blok zu beschämen:

„Die Liebe, Madame Blok, das heißt die körperliche Liebe, die einzige, deren Männer vom Schlage meines Mannes fähig sind, ist etwas ziemlich Ekelhaftes. Erstens gibt es Flecken in die Bettwäsche, wenn man nicht sehr aufpaßt, und außerdem riecht es übel.“

„Riecht übel? Wie können Sie das behaupten? Ich verstehe mich zwar nicht auf Kunst und Wissenschaft, aber auf Gerüche verstehe ich mich! Und wenn Sie eine scharfe Nase hätten, so wüßten Sie, daß schließlich alle Gerüche, wenn man sie ganz aus der Nähe und aufmerksam einatmet, riechen, als ob — — ja, genau so.“

„Der Oberst stank einfach wie ein Bock. Und seine Beinhaare piekten mich. Darum haben wir auch sofort nach Pierres Geburt unsere Schlafzimmer getrennt. Und außerdem hat sich der Oberst sogar schon auf unserer Hochzeitsreise ständig mit Weibern herumgetrieben.“

„Ach, ich verzieh Blok jeden Abend. Und in der ersten Zeit unserer Ehe, wenn es ihn überkam (Madame Blok wird schrecklich verlegen), ja, wenn es ihn überkam, auch nachmittags.“

„Nachmittags. Hermine, Sie schwache Frau.“

„Liebebedürftig, Louisa.“

„Liebe nennen Sie die Begierde eines geilen Mannes? Diese widerlichen Bewegungen alle? Ich schäme mich schon, wenn ich nur daran denke. Obgleich ich eigentlich gar keine Muckerin bin. Regen Liebkosungen Sie denn derart auf, Hermine?“

. „Mir wurde warm, wenn ich mich an Dimitris Brust lehnte; und wenn er seinen Arm um meine Hüften legte, dann genoß ich schon.“

„Dann hatten Sie also Herrn Blok im Blut.“

„Ja, wenn Sie so wollen?“

„Sie haben geliebt. Arme Freundin. Ich niemals. Daher kommt meine Stärke.“

„Ich bewundere Sie, Louisa, ich beneide Sie.“

„Mein Vater, der Präsident Dufour, hatte mich zu einer pflichttreuen Frau erzogen, und eine pflichttreue Frau bin ich geblieben.“

„Ich hingegen habe mich schon mit zehn Jahren gefragt, wie wohl die Liebe täte. Stundenlang saß ich in einer Ecke und dachte darüber nach. Meine Eltern lobten meine Artigkeit, und ich schämte mich dieses Lobes.“

„Mit Recht schämten Sie sich. Ich hätte Sie an Stelle Ihrer Mutter unter eine kalte Dusche gehalten.“

„Aber sie ahnte doch nicht, woran ich dachte.“

„Vermutlich nicht!“

Madame Blok überläßt sich ihrem Kummer:

„Jetzt bin ich eine alte Frau, bin Witwe. Ich habe eine erwachsene Tochter. Mein Vetter Bricoulet würde mich vielleicht heiraten, aber Diana mag ihn nicht. So bin ich zur Einsamkeit verurteilt seit dem Tag, da Blok mich verlassen hat. Er liebte mich so sehr, und trotzdem hat er mich freiwillig verlassen. Er hat sich das Leben genommen.“

„O Gott! Vielleicht wegen schlechter Geschäfte?“

„Nein.“

„Oder wegen eines natürlichen Kindes?“

„Nicht daß ich wüßte.“

„Oder sollte er sich durch einen Zufall eine unaussprechliche Krankheit zugezogen haben? Ohne Grund nimmt man sich doch nicht das Leben, teuerste Freundin.“

„Aber Blok hat weder schlechte Geschäfte gemacht, noch ein natürliches Kind gehabt, noch eine unaussprechliche Krankheit.“

„Ach?“

„Und er hat sich trotzdem das Leben genommen.“

„Ja aber warum denn nur? Wenn er sich wirklich getötet hat, so müßten Sie mir doch erklären können, warum?“

Madame Dumont-Dufour nimmt einen drohenden Ton an. Gewiß verheimlicht man ihr die Wahrheit. Und sie hat einen klaren Geist. Noch auf der Folter würde sie bis in alle Ewigkeit wiederholen, daß es einen wirklichen Grund haben müßte, wenn Herr Blok sich getötet hat, und nicht nur einen imaginären. Sonst sei er eben einfach nicht tot.

Und schon beginnt sie den Tod des Herrn Blok in Abrede zu stellen. Dessen Witwe protestiert. Aber die Einwendungen der Rechthaberischen sind so intensiv, daß, wenn die Tür sich plötzlich öffnete und Dimitri zu den Lebendigen zurückgekehrt hereinträte, Hermine sich gar nicht mehr darüber wundern würde.

„Sie behaupten, Herr Blok sei gar nicht tot, Louisa? Er habe sich gar nicht getötet?“

„Wenn er sich wirklich getötet hat, so müssen Sie mir doch die Gründe angeben können.“

„Gründe, Gründe?“ Daran fehlt es Madame Blok nicht, aber ob sie auch derart sind, daß Madame Dumont-Dufour sie anerkennen wird?

„Reden Sie nur.“

„Also erstens“, beginnt Madame Blok so schüchtern und unsicher, als machte sie eine Schulprüfung und würde nach den rechten Neben?üssen des Mississippi gefragt. „Erstens sind Selbstmorde in der Familie Blok nicht selten. Ich war schon vor der Hochzeit gewarnt worden, und meine Großmutter aus der Rue de Grenelle-Saint-Germain, die einen rothaarigen Mann geheiratet und fast lauter rothaarige Kinder bekommen hat, sagte mir immer: ‚Weißt du, Kleine, mit dem Selbstmord ist es genau wie mit Sommersprossen und rotem Haar. Der reinste Zufall! Die einen entgehen ihm, die anderen nicht.‘ “

„Gewiß jüdische Vererbung . . .“, argwöhnt Madame Dumont-Dufour.

„Liebe Freundin, Blok war kein Jude‚ Er war Russe.“

„Jude oder Russe, das kommt auf eins heraus. Im Namen des Himmels, Hermine, wie konnten Sie sich zu einer solchen Unvorsichtigkeit hinreißen lassen! Einen Russen zu heiraten!“

„Dimitri war aber naturalisiert.“

„Konnte er damit auch das Blut in seinen Adern naturalisieren?“

„Gewiß nicht.“

„Und Sie wurden also das Opfer seines slawischen Charmes, Hermine?“

„Ich muß es zugeben, Louisa.“

„Bereuen Sie es?“

Madame Dumont-Dufour sitzt stolz und kerzengrade in ihrem Sessel, wie die Königin von

England und Kaiserin von Indien, deren Schultern niemals so schwach waren, eine Sitzlehne zu berühren. Ihre Züge versteinern sich. Sie wird die Gerechtigkeit in Person. Wie der Großinquisitor-Kardinal wird sie Madame Blok auf den Scheiterhaufen verbannen, wenn diese nicht sofort reuig bekennt, daß sie tatsächlich das Opfer des slawischen Charmes gewesen, und ihm abschwört.

„Verteidigen Sie sich?“

„Es gibt ein Schicksal.“

„Worte, Worte.“

„Sie haben gut reden. Sie haben keine Liebesheirat gemacht, sind nicht das Opfer irgendeines Charmes geworden und waren doch nicht glücklich.“

„Aber mein Gewissen habe ich mir bewahrt.“

„Und ich einige schöne Erinnerungen. Mein Verlobungsabend, meinen Hochzeitstag, meine Brautnacht.“

Verlobungsabend, Hochzeitstag, Brautnacht! Wahrhaft unmöglich ist sie, diese Madame Blok.

Brautnacht. Madame Dumont-Dufour platzt los. Sie lacht gelb, lacht rot, lacht mit Hals, Nase, Mund und Augen, lacht mit all ihren Runzeln, den vorhandenen und den zukünftigen, mit ihrem ganzen Körper, so daß die Knochen sich unter der schwarzen Seide förmlich verrenken. Madame Dumont-Dufour lacht und läßt sich nichts anmerken. Brautnacht! Madame Blok, das ist unmöglich, Sie machen sich lustig über mich. Brautnacht! Reden wir ein wenig von Brautnächten.

Madame Dumont-Dufour hat die eigene noch wohl im Gedächtnis: Herr Dumont war damals

Hauptmann. Ohne daß er sich auch nur die Zeit nahm, seine Stiefel auszuziehen (er hatte Wert darauf gelegt, in Offiziersuniform zu heiraten), biß er sie in die Schulter. Küßte? Nein, biß sie in die rechte Schulter in der Nähe des Schulterblattes, während die junge Frau sich in dem gemeinsamen Toilettenzimmer auskleidete. Herr Dumont hatte Lippen wie aus Glaspapier und einen stachligen Schnurrbart. Madame Dumont-Dufour spürte sofort, daß sie unglücklich werden würde und nichts als eine pflichttreue Gattin, schloß die Augen und ließ sich zum Bett schleppen, wo der Hauptmann, immer noch in Stiefeln, ihr Gatte wurde. Das Ganze spielte sich auf der Bettdecke ab, die sie selbst während ihrer Verlobungszeit gestickt hatte. Denn Dumont, ebenso nachlässig wie roh, hatte nicht einmal die Bettdecke zurückgeschlagen. Und das Opfer ertrug den geilen Mann, ohne auch nur zu erwägen, ob der Schmerz nicht eines Tages zur Lust werden könnte. Nach gestillter Wollust ließ der Hauptmann sie liegen, um seine Stiefel auszuziehen, seine Hose und sein Hemd, und als die junge Frau endlich die Augen wieder aufschlug, sah sie einen großen nackten ganz behaarten Körper, rötlich schimmernd gleich einem Teufel, der plötzlich in der Jungvermählten die Vorstellung einer riesigen Kaffeekanne aus Haut und Knochen erweckte.

Das war die Brautnacht der Madame Dumont. Wenn Madame Blok Entzückungen gekannt hat, die ihre arme Freundin sich unmöglich vorstellen kann, warum, in Gottes Namen, beklagt sich Madame Blok dann?

„Ich beklage mich nicht.“

„Nicht? Ich nehme das zur Kenntnis.“

Das Urteil ist gesprochen. Madame Blok ist dazu verurteilt, nicht bedauert zu werden. Aber da sie behauptet, Herr Blok habe Selbstmord begangen, soll sie Gründe anführen, diesen Tod glaubhaft zu machen.

Die schüchterne Antwort lautet: Erstens sei ja eben Selbstmord in der Familie Blok häufig, und zweitens sei Herr Blok vielleicht neugierig gewesen, das Gefühl des Sterbens kennenzulernen.

„Er war ein Russe!“ erklärt Madame Dumont-Dufour.

„Und noch dazu ein Mystiker: ‚Liebe Frau, mein irdisches Glück genügt mir nicht‘, sagte er oft, wenn er betrunken war. ‚Du und die Kleine, ihr seid nur irdische Zufälle, und Dimitri Ossipowitschs Schicksal kennt keine Grenzen.‘

‚Zufälle, Dimitri ?‘

Und er verharrte: ‚Die Wolgaschiffer haben blutige Hände, vom Tauwerk zerquetscht, haben Gesichter, vom Hunger gemeißelt. Aber ihre Lieder sind sich immer gleich wie der Himmel, sind trauriger als der Fluß und so süß wie die Heimat! Wann werde ich wieder die Wolgaschiffer hören, Hermine. . ‚?‘

‚Wenn du gern singen hörst, können wir ja morgen in die Oper gehen; Traviata wird gespielt.‘

‚Ach was — Traviata. Nicht Lieder will ich hören, sondern nur den Wind, der über unsere Steppen bläst, unseren Flüssen folgt und überall dort in Europa sich wiederfindet, wo die Verbannten an das heilige Rußland denken.‘

Und nach einer kleinen Weile: ‚Meine Frau, meine Tochter? Alles Zufälle. Diana wird heiraten und Kinder bekommen. Um so besser für sie. Ich sterbe für Rußland. Schon mein Vater und mein Großvater haben sich getötet, um dem traurigsten Schicksal zu entgehen. Ich sehe, wie ihre Seelen uns umschweben. Ich grüße dich, Vater Ossip Alexandrowitsch! Ich grüße dich, Ahnherr Alexander Fedorowitsch! Bald wird Dimitri Ossipowitsch bei euch sein. Hermine, du bist ja nur eine Europäerin.‘

‚Und du ?‘

‚Ein Russe. Ein Russe, der den Zufall verachtet. Ich habe Mitleid mit dir und der kleinen Diana . . . Gib mir noch ein Glas Wodka.‘

‚Trinkst du nicht zuviel, Dimitri ?‘

‚Und wenn ich dich und die kleine Diana mit mir tötete?‘

‚Um Gottes willen, Dimitri!‘

‚Gut, ich lasse euch am Leben.‘ Und dann schlief er ein.“

Madame Dumont-Dufour ist entsetzt: Ja, Hermine ist Europäerin. Aber dieser Mann war scheinbar ein Wilder. Russen, Juden und diese Nachkriegserfindungen, diese Amerikaner, das ist alles das gleiche Kaliber.

Pierres bester Freund ist ja auch solch ein Amerikaner. Madame Dumont-Dufour hat Madame Blok schon oft von diesem Arthur Bruggle erzählt, der als Tellerwäscher nach Europa kam. Und Pierre mit seinem bizarren Geschmack bestaunt Bruggles Reise ebenso wie den Wahnsinn seines Vaters. Dazu kommt, daß dieser Bruggle ein Jüngling mit schmalen Händen ist, der sich in Tanzschritten bewegt wie ein Panther und Tieraugen hat. Ein Phänomen, nicht wahr? Und mit einem Namen wie dem seinen müßte er eigentlich rote Backen haben und ein Optimist sein. Dann hätte freilich Pierre mit seinem bizarren Geschmack ihn kaum zu seinem Freund gemacht. Aber lassen wir Bruggle, die Amerikaner, die Juden, und kehren wir wieder zu unseren Russen und zu Herrn Blok zurück, dessen Frau wirklich zu nachsichtig war. Warum hat sie sich so schlecht von ihm behandeln lassen? Was hat sie eigentlich von einem solchen Mann erwartet?

„Nichts, Louisa.“

Nichts. Denn nur die Liebe verband Hermines Schicksal mit dem des Russen, und eine gebeichtete Sünde ist schon halb vergeben. Madame Blok soll also nicht weiter bedrängt werden, aber ihre Geschichte muß sie weitererzählen. Der Selbstmord also . . ? Der Selbstmord?

. . . Ja, der schwebt ihr noch in allen Einzelheiten vor, als wäre es gestern geschehen.

„Na also“, lehnt sich Madame Dumont-Dufour behaglich in ihren Sessel zurück, als wollte sie damit sagen: „Beginnen wir.“

Und man beginnt.

Anfang Juli 1914 war es. An einem Samstagabend. Die Bloks wollten Paris verlassen, und der Schneider von Herrn Blok hatte im Laufe des Tages einen großkarierten Anzug abgeliefert. Noch jetzt nach mehr als elf Jahren sieht Madame Blok ihren armen Dimitri vor sich in Hemdsärmeln und Kniehosen, wie er Purzelbäume schoß, um die kleine Diana zu belustigen, denn er war trotz seiner vierzig Jahre noch so gelenkig. Am Abend freilich mußte er damit aufhören, denn die Bloks hatten Gäste zum Essen, und Madame Blok unterbrach die Belustigungen ihres Gatten gegen viertel nach sieben, damit er seinen Smoking anzöge.

Er, in bester Laune, läutete nach dem Hausmädchen und bat darum, ihm seine Garderobe zurechtzulegen. Während er das Hemd anziehen will, fragt Madame Blok ihn aus dem Nebenzimmer, wo sie ihr Nachmittagskleid gegen eine neue Abendtoilette vertauscht — ein wahres Wunder aus elfenbeinfarbenem und rosa Satin: „Dimitri, hast du den Likör herausgestellt?“

„Ich habe es vergessen, Liebste. Ich gehe sogleich.“

Und er verschwindet in sein Arbeitszimmer, wo die Liköre stehen.

Acht Uhr. Madame Blok strahlt inmitten ihrer Gäste ganz in rosa- und elfenbeinfarbenem Satin.

Viertel vor neun. Der Diener meldet dem Herrn, daß man ihn zu Tisch erwartet.

Zehn Minuten vor neun. Der Diener kommt unverrichteter Sache zurück. Der Herr ist weder im Arbeits- noch im Toilettezimmer.

Fünf Minuten vor neun. Madame Blok kann den Mund nicht mehr öffnen. Sie glaubt, aus jeder Fingerspitze breche ein Vulkan. Sie zittert am ganzen Körper. Sie möchte die Uhr zertrümmern, die schöne Empireuhr, auf die sie noch vor wenigen Minuten so stolz gewesen.

Vier Minuten vor neun. Nun steht sie aufrecht zwischen ihren Gästen, so blaß in ihrem rosa- und elfenbeinfarbenen Satin, daß ein Schrei des Entsetzens den Saal erfüllt. Aber niemand erhebt sich. Sind denn die Gäste alle festgenagelt auf ihren Stühlen? Brauchen sie zwei Stunden, um in ihrem Schreck zu schreien: „Hermine!“ Zwei Stunden? Ach Unsinn. Die Uhr zeigt ja eine Minute vor neun. Ist sie verrückt geworden, oder die Uhr? Und die Gäste scheinen nicht mehr hungrig. Sie wissen, daß ein anderer Schmaus auf sie wartet. Als sie im Chor den Namen der Madame Blok herausschrien, geschah es wohl nur als Vorbereitung darauf.

Sie ahnt allmählich, daß ein Verhängnis über sie hereinbricht. Alle diese Gedanken stoßen aneinander, und die aneinandergestoßenen werden zu Funken, die Funken zum Brand. Hermines Gehirn steht in Flammen. Flammen, die den Kreis der Gäste umzucken. Die Gäste mit wachsbleichen Gesichtern, fahlen Augen, blauen Lippen und Totenköpfen. Der Tod. Madame Blok ahnt den Tod.

Neun Uhr. Genau vor einer Stunde hätte man melden sollen: „Es ist angerichtet.“ Plötzlich denkt Madame Blok daran, daß in der Familie Blok oft Selbstmord begangen wurde, und sie erstarrt zu Stein. Die rechte Hand auf dem Griff der Tür, die vom Salon ins Arbeitszimmer führt, Wartet sie die neun Glockenschläge ab, um zu öffnen und selbst zu verkünden: Herr Blok ist tot.

. . . Wie grausam die Gäste sind, deren Augen unerbittliche Bündel von Fragezeichen schleudern.

Herr Blok ist tot, und die Hausfrau muß erklären: Er hat sich selbst getötet, er hat sich erhängt . . .

Die Gäste verlassen ihre Stühle, stürzen vor. Wenn auch die Frauen ihre nackten Arme vor die Augen halten, sind sie doch entschlossen, sich nichts von dem Schauspiel entgehen zu lassen. Ein Gehängter! Stellen Sie sich das vor. Und niemand hört mehr auf Hermine, die klagt: „Warum bat ich ihn nur, den Likör zu holen? Er hat fast eine ganze Flasche Wodka getrunken und sich dann aufgehängt.“ Und dann schreit sie: „Dimitri! Dinuitri!“ Das Personal mischt sich unter die Gäste. Ein Küchenchef von Rabattet mit seiner weißen Kochmütze beherrscht die ganze Situation.

Jemand schlägt vor, den Leichnam herunterzuholen. Die Frauen schlagen die Hände zusammen. Madame Blok lehnt sich gegen eine Wand und sieht zu, wie die Gäste sich um den toten Dimitri drängen, den man auf eines der Sofas legt. Sie tun so, als wollten sie ihn ins Leben zurückrufen. Dann entschuldigen sie sich und machen sich davon. Nicht ohne vorher den Strick zu teilen. Denn das bringt Glück.

Arme Madame Blok. Trotzdem sagt man ihr, daß sie im Grunde genommen vielleicht sogar noch Glück gehabt hat, denn hätte Herr Blok sich nicht erhängt, wer weiß, ob er nicht bei seinem zügellosen Charakter und seiner Vorliebe für Wodka, noch dazu bei dem Geist der Zerstörung, der seit mehreren Jahren die Welt beherrscht, ganz einfach ein Bolschewik geworden wäre.

Die friedliche Madame Blok, Dianas Mutter, und ein Bolschewik? Nein, nein. Besser, ein Selbstmörder in der Familie als ein Kommunist.

Wenn er nur mit seinem Selbstmord noch einige Wochen gewartet hätte, so hätte er zum Beispiel im Krieg den gewünschten Tod finden können, und seine Frau und seine Tochter könnten sogar noch auf ganz legitime Art stolz darauf sein.

Ja, und wenn Madame Dumont-Dufour unter einem guten Stern geboren wäre, dann wäre der Oberst zweifellos an der Spitze seiner Truppen gefallen. Und es gäbe vielleicht sogar in Auteuil eine Rue Colonel Dumont.

Da die Damen sich geschworen haben, alles zu beichten, und da Hermine nun schon einmal einen Gehängten im Hause gehabt hat, ist Hermine wohl so gut, der lieben Louisa zu sagen, ob es wahr ist, was geredet wird.

Hermine bekommt einen Schrecken. „Was wird denn geredet, Louisa?“

Louisa lächelt, wird etwas verlegen, senkt vertraulich die Stimme und dreht die Zunge schier ein dutzendmal im Munde herum. Dann erklärt sie, sie wolle geradeheraus fragen, ob nicht ein Mandragora zwischen den Ritzen des Parketts in Bloks Zimmer gewachsen wäre, an der Stelle, wo Blok den Selbstmord beging. Sie möchte nämlich wissen, ob das, was man von Gehängten behauptet, wirklich, wahr ist. Sie habe es selbst in einem Roman gelesen, den sie sich auf einem Bahnhof als Reiselektüre gekauft und an dessen Titel sie sich nicht mehr erinnere — —

Madame Blok versteht kein Wort.

Was meint nur Madame Dumont-Dufour?

Zwei Sessel rücken aneinander. Flüstern. Eine Frage, die schwer zu stellen ist. Und Madame Blok wird blutrot, weil sie antworten muß.

„Oh, meine Liebe, ich habe nicht nachgesehen. Der Diener hat ihn ausgezogen und in die Leichentücher gewickelt. Ich kann Ihnen nur das eine verraten, daß die großkarierte Hose, die er doch nur einmal getragen hatte, sofort von den Motten zerfressen wurde, und zwar gerade zwischen den Schenkeln.”

„Sollte es also wirklich wahr sein?“

Madame Dumont-Dufour wird ihren Arzt befragen und der Freundin dann das Forschungsresultat mitteilen. Und nun hat Madame Blok das Gefühl, ihre Pflicht getan zu haben. Jetzt hat sie genug erzählt, jetzt kann sie aufstehen, sich verabschieden. —

„Aber, meine liebe Hermine, Sie sind doch eben erst gekommen. Wir hatten doch noch gar keine Zeit, uns richtig auszusprechen. Ich konnte mich noch nicht einmal nach Diana erkundigen.“

„Diana geht es vorzüglich. Und Pierre?“

„Ach, Pierre ist ein Taugenichts.“ Madame Dumont-Dufour ist zwar sonst durchaus nicht prüde — hat sie es nicht eben noch mit ihrer Erzählung von Ratapoilopolis und ihrer Frage nach den letzten Gefühlen des Herrn Blok bewiesen? —, aber sie wagt es nicht, auch nur ein Viertel der Torheiten — nein! das Wort ist zu schwach! — der Ungezogenheiten, oder man könnte fast sagen: der Scheußlichkeiten zu berichten, die Pierre zu begehen sich nicht scheut.

Sein Vater, der doch gewiß kein Engel war, gegen Pierre war er ein Waisenknabe. Der bleibt die ganzen Nächte fort, als ob der Tag nicht zum Bummeln lang genug sei. Der Oberst betrog seine Frau wenigstens nur von fünf bis sieben Uhr nachmittags, kam zum Essen nach Hause und ging um halb zehn in „die Klappe“, wie er zu sagen pflegte. Das war zwar nicht gerade anständig, aber doch immerhin zu ertragen! Aber Pierre, ach Pierre . .“

Madame Blok betrachtet im Entree den marokkanischen Kleiderständer, den Madame Dumont-Dufour, die stets originelle Ideen für die Wohnungseinrichtung hatte, einmal bauen ließ. Jawohl, richtig bauen! Es ist wie ein kleines Gebäude aus Kupferplatten, die der Oberst aus den Kolonien mitgebracht hat, und aus elfenbeineingelegtem Holz, von arabischen Lettern verziert. Dies alles zierlich zusammengefügt und mit drei Kleiderhaken versehen, verrät dem Besucher schon beim Eintritt, daß er sich in der Wohnung einer geschmackvollen Dame befindet, Und Pierre hat es letzte Woche gewagt, dies kleine Wunder islamischer Kunst und europäischer Phantasie ernsthaft zu beschädigen.

„Ich war endlich eingeschlafen“, berichtet Madame Dumont-Dufour, „als mich gegen drei Uhr morgens ein wahrer Höllenlärm aufweckte. Ich frage mich, ob es wohl Einbrecher sind, stehe auf, greife nach der Feuerzange, um mich zu verteidigen, und stürze hinaus. Der Kleiderständer lag am Boden, unter dem Kleiderständer mein Sohn, liebe Freundin, mit verbeultem Hut, offenem Kragen, irrem Blick und fuchtelnden Händen, kurz, in einem Aufzug, daß ich ihn nicht einmal mit meiner Feuerzange hätte anfassen mögen.

Und glauben Sie, Pierre hätte sich geschämt? Nicht im geringsten. Im Gegenteil, er amüsierte sich scheinbar köstlich über meine Lockenwickler und über mein Nachtgewand. Die Damen seines Verkehrs schlafen vermutlich nackt. Alles Anständige erscheint ihm lächerlich. Ich höre noch, wie er gluckst: das Hemd! Die Lockenwickler! Ich will ihm helfen aufzustehen und ermahne ihn: ,Pierre, du bist ja betrunken. So kann man es kaum mehr nennen. Besoffen bist du, sinnlos besoffen. Denk an das Schreckbild, Junge, an deinen Vater im Irrenhaus.'

Aber predigen Sie dieser tollen Jugend Vernunft. Er zerrt mich am Hemdärmel, bis er ihn zerreißt, sagt, er wolle mir ein Geheimnis anvertrauen, und lallt mir ins Ohr: ,Weiteramüsieren, Mama, weiteramüsieren! Setz deinen Hut auf. Wir gehen nach Mont Martre Whisky trinken.

Das war zu viel. Ich stürzte in mein Zimmer zurück und weinte den Rest der Nacht bitterlich.

Am nächsten Morgen glaubte ich, er würde sich entschuldigen. Stattdessen telephoniert er, sobald er aufgestanden ist, an Diana, ihr Fräulein Tochter, und erzählt ihr alles. Erzählt von meinen Lockenwicklern, von dem, was er mein Nachthemd nennt, lobt seine Metökenfreunde und dies ganze exotische Gezumpel, das unseren Kindern die Köpfe verdreht und unser Familienleben zerstört. Und das mir, die sich nichts so sehr wünscht wie Enkelkinder.“

„Aber ihr Sohn kann doch heiraten?“

„Ach, denken Sie doch an die Einstellung, die er neuerdings hat.“

Madame Dumont-Dufour scheint sich des längeren darüber auslassen zu wollen. Madame Blok ist ja keine Unwissende. Sie weiß schon, daß es viele Abarten in der Liebe gibt.

Und außerdem ist Frau Blok Mutter. Wenn sie auch Diana alle Freiheit läßt, so ist es doch ihre Pflicht, sich genau über deren Freunde zu informieren.

Deshalb fragt sie mit Vorsicht, aber Entschlossenheit: „Pierre wäre also nicht normal?“

Madame Dumont-Dufour beansprucht das Anklagerecht des Staatsanwaltes für sich allein. Sie liebt es nicht, wenn ihre Familienmitglieder — mit Ausnahme vielleicht des Obersten, der schließlich in diesem Sinne nicht zur Familie gehört — von anderen beschuldigt werden. Nur sie allein darf richten, verurteilen, freisprechen.

Und zu Madame Blok gewandt, die ihre Frage: „Ist Pierre wirklich nicht normal?“ mit eindringlicher Sanftmut wiederholt:

„Nein, er ist eben einfach nur ein wenig degeneriert“

„Ein wenig degeneriert“, grollt eine Stimme hinter der Tür.

„Wenn man vom Wolf spricht“, bemerkt Madame Dumont-Dufour . „da kommt gerade unser Pierre nach Hause.“

Pierre steht mitten im Salon.

„Guten Tag, Madame Blok. Guten Tag, liebenswürdige Mutter eines degenerierten Sohnes.“

„Guten Tag, Pierre, guten Tag, mein Kind.“

„Sind Sie nicht ganz normal, Madame Blok?“

„Pierre, ich bitte dich.“

„Bist du degeneriert, Mutter?“

„Kind, was ist denn in dich gefahren?“

Madame Blok sieht ein, daß es das beste ist, das Feld zu räumen. Sie steht auf. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Einen schönen Gruß an Diana. Auf bald, liebste Freundin!

Madame Dumont-Dufour und ihr Sohn bleiben allein.

Der schwierige Tod

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