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ОглавлениеRotverschiebung
4 x queer crime mit Nel Arta
Texte:© copyright by Ria Klug
Umschlaggestaltung:© copyright by Ria Klug
Verlag:
Ria Klug
Suchlandstraße 9
12167 Berlin
riaklug@web.de
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Einführung zum Sammelband Rotverschiebung-4 x queer crime mit Nel Arta
Sorry, das muss sein, aber man kann es auch überspringen.
Als mich 2008 die unüberwindbare Idee, ich könnte einen Krimi schreiben, anfiel, hatte ich noch keine Ahnung, wo die Reise hinführen würde.
Ich schrieb drauflos und je mehr Seiten dazukamen, desto besoffener war ich von meinem eigenen Text.
Auf Einwendungen von Freund:innen, es handele sich um ein Spartenthema, erwiderte ich lapidar, im Fernsehen liefen Krimis, in denen der Kommissar nur einen Arm hat und die meisten Zuschauer:innen dagegen mindestens zwei. Oder in Krimis träten Polizist:innen mit Liebeskummer und Alkoholproblemen auf und das läsen oder schauten auch beziehungsferne Misantrop:innen und überzeugte Abstinenzler:innen.
Aber machen wirs kurz. Erst nachdem ich mir ein Online-Seminar zum Krimischreiben leistete, erkannte ich, dass Schreiben ein zu erlernendes Handwerk ist und ich bis dato keinen erdenklichen Anfänger:innenfehler ausgelassen hatte. So wurde der zweite Roman mit Nel Arta vor dem ersten fertig, viel besser war er aber noch nicht.
Schließlich waren alle drei Nel-Arta-Geschichten in der richtigen Reihenfolge von 2011 bis 2013 erschienen, eine vierte in Teilen geschrieben, aber sie dümpelten unter der Wahrnehmungsschwelle des Buchmarktes.
Eine mutige Neuedition des Debuts Kleine Betriebsstörung von Dead Soft floppte 2016 leider ebenfalls.
Da ich aber stur und immer noch von der Figur und den Stories überzeugt bin, habe ich mich daran gemacht die Reihe nochmal als eBook herauszugeben und um den 2019 fertiggestellten vierten Band Nachts Zündeln zu ergänzen.
Beim neuerlichen Lesen fiel mir auf, wie viel ich inzwischen dazugelernt habe und, peinlicherweise, wie hölzern und ungelenk die Schreibe in Teilen war.
Beim Überarbeiten habe ich mich bemüht den Charakter zu erhalten und trotzdem den Text aufzubrezeln, um so etwas von den dreizehn Jahren Schreiberfahrung einzubringen.
Ganz nebenbei ergab sich dadurch die Gelegenheit dem dritten Band mit Popelige Mauscheleien wieder seinen ursprünglichen Titel zurückzugeben, der vom damaligen Verleger unter tätiger Beihilfe des ehemaligen Chefredakteurs der Leipziger Volkszeitung als »zu ekelhaft« abgelehnt worden war.
Ob ein fünfter und abschließender Band folgen wird, weiß ich nicht. Ideen dazu gibt es, aber die reichen ja bekanntlich nicht.
Nel Arta kann man auch in anderen Geschichten begegnen. Manchmal läuft sie nur wie Alfred Hitchcock in seinen Filmen durchs Bild. So in Die Zärtlichkeit der Hubschrauber (2013 als Edi LaGurki veröffentlicht) und in Zehntausend Kilometer. In Gefährliche Vergangenheit und Urinstinkt hat sie Co-Hauptrollen. Auch Isabel, ihrer brasilianischen Freundin und Karla, der Berliner Taxifahrerin, kann man da und dort begegnen.
Diese wunderbar inspirierende Idee, die einige meiner Bücher verbindet und sicher noch verbinden wird, habe ich mir von dem südafrikanischen Autor Deon Meyer abgeschaut.
Im ersten Band, Kleine Betriebsstörung, gibt es etliche Passagen mit Einsprengseln in Portugiesisch. Es ist eben so, dass man in einem fremden Land mit fremder Sprache häufig nichts versteht. Man kann also wie Nel durch Brasilien radebrechen und stolpern.
Für diejenigen, die das nicht ertragen, gibt es anhängend ein Glossar, zu dem man über die Endnoten gelangt, wenn man nicht wie Nel rätseln und nach und nach lernen mag, was da gesagt wird.
Wenn sich im vierten Band Nachts Zündeln gelegentlich das Gefühl einschleicht, dieser oder jener Name einer Figur wäre aus einem anderen Zusammenhang bekannt, so ist das kein Zufall, sondern mit einem Augenzwinkern gewollt.
Mehr sei hier nicht verraten.
Geneigte Leserschaft, hier hältst du also die erste und einzige Krimiserie mit einer Transfrau als Hauptfigur in den Händen.
Ich wünsche gute Unterhaltung.
Ria Klug, Dezember 2021
Nel Arta 1
Kleine Betriebsstörung
Oktober 2006
»Du glaubst, du weißt immer alles besser.«
Sabrina beugte sich vor und stellte ihren prallen Busen auf den Tisch. Damit wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen.
Mit der großen Klappe und dem schrillen Getue drängelte sie sich immer in den Mittelpunkt.
Sie quoll fast aus ihren blümeligen Fetzen. Nicht nur mit dem rosa Lippenstift, den sie reichlich über ihre Schlauchbootlippen verteilte, war sie die Karikatur einer Frau.
Alles an ihr wirkte prall. Der Lockenkopf, das üppig bemalte Gesicht, die Fettpolster, die dicken Ringe an dicken Fingern, die Handgelenke mit den unzähligen Armreifen, der fette Hals eingewickelt in kilometerlange Halsketten.
Am prallsten war ihr Arsch, in den ich sie gerne getreten hätte.
Hey, ich konnte sie einfach nicht leiden. Seit ich sie mal auf einer Sexparty bei Pinkelspielen gesehen hatte, nannte ich sie insgeheim Latrina.
Mochte ja sein, dass sie recht hatte und ich eine verflixte Besserwisserin war, aber in diesem Fall hatte ich wirklich recht. Ich fand es unerträglich und falsch, dass Julie ihrer Krankenkasse in diesem jämmerlichen Ton schrieb. Sie sollte ihren Willen kundtun und aufhören so rumzukriechen, erst dann würden die sie ernst nehmen. Sie konnte doch verdammt noch mal verlangen, dass die sie nicht immer mit »Sehr geehrter Herr Tolksdorf …« anschrieben.
Julies Blick irrlichterte eingeschüchtert zwischen mir und Sabrina hin und her. Das war wieder typisch für TransForm, unsere Selbsthilfegruppe. Rat und Tat für Transgender.11
Oder Zank, Zwist und Doofheit für und von Transgendern, ganz wie es beliebt.
Jason zupfte mich am Ärmel.
»Dann schreibts halt so, wie ihr denkt, wenn ihr euch mit dem Gejammere besser fühlt«, sagte ich.
Sabrina verdrehte die Augen und schnaufte. Wenigstens hielt sie jetzt die Klappe.
»Lass die mal machen«, sagte Jason und gurgelte den Rest aus seiner Bierflasche. Er schloss einen dezenten Rülpser an und lehnte sich zurück, weil er etwas aus seiner Hosentasche ziehen wollte. Nicht so leicht, bei seinem Wanst. Er förderte einen verknüllten Wisch hervor und faltete ihn sorgfältig auseinander.
»Das hat Cristina heute Abend gemailt«, sagte er und rieb sich die stoppelige untere Gesichthälfte, dabei starrte er versonnen auf das Papier.
»Ja, was denn? Wie siehts aus? Komm ich auch ran? Gib doch mal her.«
Jason verzog den Mund. »Ich weiß nicht, ob ich dir das wirklich geben soll. Du bist auf einmal so scharf auf dieses Geschnippel. Ich frage mich wirklich, ob du dir das gut überlegt hast.«
»Los, gib her, Blödmann. Ich weiß was ich tue.«
Ich beugte mich zu ihm hinüber und wollte ihm den Zettel wegnehmen. Er hielt ihn blitzschnell weit entfernt von mir. Obwohl ich mich ganz lang machte, fiel ich nur auf ihn drauf. Jason umfasste mich mit dem anderen Arm, rückte mich zurecht und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
»Ich mache mir halt Sorgen um dich«, sagte er, während er mich losließ und mir den Zettel überreichte. »Du hast so ein Talent Unheil anzuziehen wie Kacke die Fliegen.«
Ich gab keine Antwort, denn Cristinas Mail hatte mich in ihren Bann gezogen.
Ihr putziges Deutsch war schwer zu verstehen, aber ich entdeckte sofort, was ich wissen wollte. Am neunten November konnte ich drankommen. Einen Tag nach ihr.
Mir wurde ein bisschen flau. Wie immer, wenn es ernst zu werden drohte.
Ich blickte zu den anderen rüber, die sich um Sabrina und Julie klumpten und die Köpfe zusammensteckten. Ein richtiger Haarauflauf, in allen Schattierungen. Einiges davon Horn, anderes Kunststoff. Von denen hatten das schon einige hinter sich und hockten trotzdem hier, um ihre Weisheiten zum Besten zu geben. Wieder mal fühlte ich mich fremd und fragte mich, ob die OP daran etwas ändern könnte.
Von Ärzten und Krankenhäusern bekam ich Panik. Mein ganzes Geld würde für die Aktion draufgehen. Vielleicht machten die mich dafür zum Krüppel. Ein Sozialfall war ich schon.
»Angst?« fragte Jason.
»Nö«, sagte ich, »oder vielleicht ein bisschen. Was willst du eigentlich? Du hast dir auch die Möpse absäbeln und die Quarktasche leermachen lassen.«
»Aber hier und nicht sonstwo. Casa da Beleza heißt der Laden. Ich habs nachgeschlagen. Das heißt Haus der Schönheit. Klingt nach Seifenoper«, sagte Jason.
Amanda-Chantal und Ronja kamen zu uns rüber. Sie schienen mit ihrem Getratsche und Geschmiere fertig zu sein, aber die Neugier lebte noch.
»Am Siebten flieg ich nach Brasilien und lass mich operieren«, sagte ich, als ich merkte, dass sie sich nicht abwimmeln ließen.
»Oktober?«, fragte Ronja.
Gott, die war ja fast so bescheuert wie Sabrinalatrina. Sah so aus, als fing auch bei ihr das Transen an, indem das Hirn auf die Hälfte eingedampft und mit rosa Watte aufgefüllt würde. Damit nicht so viel Gewicht auf die Stilettos drückte. Ich hatte mich sowieso schon gefragt, warum eine mit so einer Möbelpackerfigur sich so einen Mädchennamen aussuchte.
»Das war vor zwei Wochen, Herzchen, liest du denn wirklich nie Zeitung?« Ich seufzte.
»Ist das nicht gefährlich?« Amanda-Chantal kräuselte die Oberlippe, soweit es die Lippenstiftbeschichtung zuließ. Ihr gab ich auch noch einen mit.
»Zeitung lesen?«
»Nein, die OP22 in Brasilien natürlich.«
»Für euch ist doch alles gefährlich, was nicht mit Schminken und Klamotten zu tun hat.«
Amanda-Chantal wirkte eher besorgt als sauer. »Warum bist du in letzter Zeit so aggressiv? Mit dir ist ja kaum noch zu reden.«
»Bestimmt vergisst Nel dauernd die Hormone.«
Das sagte Sabrina, die sich ein neues Betätigungsfeld suchte. Mir blieb an dem Abend einfach nichts erspart. Dann fingen sie alle an zu quasseln, jede wusste natürlich was.
»… hab ich neulich gelesen über so eine Klinik in … glaube Costa Rica oder wo … so ein Pfusch, aber ganz billig … Straßenräuber … im Flughafen das ganze Geld weg … Hygienestandards einfach schlechter …«
Ich schaltete ab, nur ein paar Fetzen nahm ich sozusagen vegetativ wahr.
Auf einmal würde es ganz still. Alle gafften mich an. Ich suchte nach dem Echo der Frage.
»Ist doch kein Geheimnis, oder? Ich möchte schon gerne mal wissen, was das kostet.«
Ronja hatte sich offenbar ganz gut erholt.
Ich sah mich um und fühlte mich zurAuskunft genötigt.
»Viertausendfünfhundert …«
»Etwa Euro? Oder das brasilianische, wie heißt das noch …?«
»Dollar, Schätzchen. Cash Kralle.«
Für einen Moment blieben die Mäuler offen stehen, ungläubige Mienen, rundum. Ich wollte gerne über was anderes reden. Natürlich keine Chance.
»Bist du sicher? Das gibts doch nicht, das ist doch viel zu billig. Selbst in Thailand zahlst du mindestens zehntausend Euro. Viertausendfünfhundert, da stimmt doch was nicht. Warum lässt du es nicht hier machen?«
»Meinst du ich habe Lust in der Charité aufm Klo zu vergammeln?«
»Du übertreibst. Nel, überleg doch mal, Viertausendfünfhundert, das kann doch nur Metzgerei sein. Du bist verrückt.«
Sabrina trug die geballten Bedenken vor. Dahinter schnatterten die anderen durcheinander.
»Das sind ja in Euro … was für ein Zimmer … wie lange … aber der Flug noch … aber in Thailand … hör mir auf mit Thailand … würd ich nie … die Kasse … hör bloß auf mit der Kasse.«
»Ich hab da neulich son Bericht im Fernsehen gesehen, wie die in Brasilien Leute entführen und Nieren oder so klauen, manchmal Kinder, die verschwinden …« Julie hing eindeutig zu viel vor der Glotze.
Ronja fiel ihr ins Wort. »Ja, das hab ich auch gesehen, gruselig, da machen ganz renommierte Ärzte und Kliniken mit.«
»Habt ihr turistas gesehen?«, fragte Amanda-Chantal. »Der lief doch neulich in der Brauerei. Da wird in Brasilien sone Gruppe Rucksacktouristen erst ausgeraubt, dann schnappt sie son Menschenhändler und sperrt sie ein, wie so Stalltiere. Der will die Organe verkaufen. Ey, das war voll eklig.«
Ich wollte das nicht ernst nehmen. Davon habe ich auch gelesen. Beim googeln nach Brasilien fand sich ja praktisch nichts anderes als Korruption und Gewaltverbrechen. Und uns gruselte es ja gerne, wenn wir etwas über fremde Länder hörten. Dann konnten wir uns in der Sessel kuscheln und denken, ach haben wirs in Deutschland gut. Aber turistas war doch nur ein scheißverdammter Film, oder?
Dass an den billigen Preis Bedingungen geknüpft waren, verriet ich nicht. Ich hatte keine Lust, darüber auch noch zu diskutieren.
Cristina hatte mir diese Gelegenheit vermittelt. Sie wollte sich auch dort operieren lassen. Wir würden uns ein Zimmer teilen. Die brasilianische Klinik bildete Ärzte in den gängigen OP–Methoden aus, weil sich ab zweitausendzehn transsexuelle Brasilianerinnen auf Kosten der Gesundheitsfürsorge operieren lassen könnten.
Natürlich erst nach dem ganzen Psychobrimborium, fast wie bei uns.
Die verbilligten OPs dienten als Lehrmaterial. Zuschauer würden dabei sein, dazu musste ich meine Einwilligung geben. Wenn ich genug Knete gehabt hätte, wäre mir das im Traum nicht eingefallen. Aber für umgerechnet achttausend Euro fing selbst ich an Kompromisse zu machen.
Eigentlich glaubte ich, die Mädels waren nur neidisch, weil ich eine Abkürzung nahm und dem sogenannten Transsexuellengesetz33 und der Krankenkasse eine Nase drehte. Das Geld dafür hatte ich noch von dem Anteil über, den mir meine Mama aus der Lebensversicherung meines Papas gegeben hatte. Wenn er geahnt hätte, was ich mit der Kohle machen würde, wäre er bestimmt am Leben geblieben, aus reinem Starrsinn.
Die Mädels übten sich immer noch im Rumunken, aber nur weil Jason ihnen den Gefallen tat und zuhörte. Da störte es nicht, dass ich den Wisch las, den Julie vom Medizinischen Dienst ihrer Krankenkasse bekommen hatte.
»Sehr geehrter Herr Tolksdorf … Sie haben beantragt, dass … Ihrem Wunsch können wir daher nicht entsprechen, solange die Gutachten …«
Vielleicht hätte ich Gutachterin werden sollen, dann hätte ich mich jedes Jahr zweimal operieren lassen können. Beim Begutachten würde das nicht stören, die Textbausteine lagen ja gemütlich auf dem Rechner. Ich müsste jedes Mal nur ein paar neue Namen und Daten eingeben. Solange die Hand die Maus bewegen konnte, würde das Geld niemals knapp werden.
Sabrinas Handy schmetterte die Ode an die Freude. Das passte wie Arsch auf Eimer. Gerettet, der Redeschwall versiegte.
Ich sah auf die Uhr. Wir konnten langsam nach Hause gehen, statt uns gegenseitig zu nerven.
Unser Treffpunkt war ein Nebenzimmer der Kultur- und Bildungsinitiative Kuhle Wampe. Insgesamt eine höchst linke Angelegenheit. Deren stinklangweilige Abendveranstaltung war vorbeit und wir konnten durch den Saal ins Freie.
Es standen noch mehrere Grüppchen herum, die sich noch nicht genug über die herrschenden Verhältnisse ausgekotzt hatten. Die sahen immer gleich aus: Kleine, dicke Frauen in Bequemschuhen, die Baskenmützen keck auf die burschikosen Frisuren geschoben, Männer mit Hängebäuchen in karierten Hemden und Bundfaltenjeans.
Klar, da gabs auch Jüngere dabei, die waren aber auf dem Weg genauso zu werden. Weltverbesserer eben.
Ein paar von denen hefteten ihre Stielaugen auf mich. Ich wackelte ein bisschen mit dem Arsch, dann drehte ich mich um.
»Maul zu, der Sabber läuft raus.«
Natürlich hatte das den gegenteiligen Effekt. Ich verkrümelte mich, bevor die Pfütze zu groß wurde.
Draußen holte mich Sabrina ein.
»Wenn die uns den Raum wegnehmen, bist du schuld. Das war doch jetzt völlig unnötig.«
»Ich habe einfach die Schnauze voll davon so bescheuert angestiert zu werden. Du kannst ja wieder reingehen und brav Pfötchen geben.«
Sabrina holte tief Luft, aber Julie zog sie am Ärmel.
»Ich habe noch mal überlegt, ob ich nicht lieber doch so schreiben …«
Ich hakte mich schnell bei Jason ein. Wir schlenderten ein paar Schritte die Kopenhagener entlang, natürlich immer mit Hundescheißesonar auf voller Leistung. Die Stadt sparte am Licht.
Jason stoppte. Ich blendete noch mal voll auf, ob ich was übersehen hatte. »Na, war bei dir mal wieder Rotverschiebung angesagt?«, fragte er. So bezeichnete Jason meine unkontrollierten Wutanfälle, es war ein Begriff aus der Astronomie. Rotverschiebung oder Redshift, bei mir blitzartiges Anschwellen von negativer Schwingung.
»Was soll ich machen? Die nerven alle ohne Ende.«
»Kommst du mit ins Kings&Queens? Wird gut für deine Laune sein. Ich bin verabredet. Nick hat gesagt, ich soll dich mitbringen«, erwiderte er.
Das war eine heftige Versuchung für mich. Dann spürte ich aber, dass ich nicht die Kraft aufbrachte, ihr nachzugeben.
»Ach Jason, du weißt doch wies läuft. Ich saufe Schampus bis ich rausgekehrt werde und versuche in jeden Ausschnitt zu krabbeln, der mir zu nahe kommt. Für die OP muss ich mein Sparschwein killen. Ich gehe besser nach Hause und suche nochmal nach billigen Flügen.«
Das war fast schon ein Zipfelchen Weisheit.
Jason schnallte es nicht. »Wenigstens passt Cristina auf dich auf. Wenn ich dich schon nicht davon abbringen kann.«
Manchmal ist er ne echte Nervensäge.
2
Ich schluckte und schluckte. Der Druck ließ nicht nach. Langsam musste die Kiste doch endlich oben sein. Soviel geschluckt hatte ich seit dem Folsom Europe44 im September nicht mehr. Da gings mir aber bedeutend besser.
Fliegen fand ich schon immer ätzend. Erstens machte ich mir ins Höschen vor Angst und zweitens hatte ich kein Sitzfleisch. Ich musste stets mit dem Leben vorläufig abgeschlossen haben, sonst hielt ich sicher nicht durch.
Es gab Seminare von den Fluggesellschaften zur Bekämpfung der Flugangst. Aber da war doch was faul, wenn Firmen extra Aufwand trieben, damit ihr Krempel verdaulich wurde.
Elf Stunden Rumhocken und Grübeln, das war Vorhölle. Mit Umsteigen in Amsterdam summierte es sich sogar auf fünfzehn Stunden. Zum Glück hatte die Passkontrolle keine Zicken gemacht, konnte sein, die gewöhnten sich langsam an Trans.
Zu Hause hatte ich alles geregelt. Jason versprach das Backoffice zu machen. Ab Ankunft in Sorocaba jeden Tag Mailkontakt zwischen halb sechs und sechs, es sei denn eine meldete sich ab. Direkt nach der OP konnte ich vom Mailen sicher nur träumen.
Jason dachte auch daran, dass halb sechs in Sorocaba im Winter halb neun in Berlin ist. Auf ihn konnte ich mich eigentlich immer verlassen. Er war Handelsklasse A. Wenn ich hetero gewesen wäre. Und Jason nicht schwul.
Er hatte Cristina geheiratet und ihr den Aufenthalt legalisiert, damit sie zurückkommen konnte nach ihrem Besuch in der alten Heimat.
Die Hochzeit war mein persönlicher Höhepunkt des Sommers gewesen. Die Tante vom Standesamt verhaspelte sich dauernd.
»Und Sie Herr äh Fenner … äh FrauähHerr Ribeiro …«
Sie wusste auch nicht, welche wem den Ring anstecken sollte.
Mir tat die Seite weh vor unterdrücktem Lachen. Ich sah schon die MoPo-Schlagzeile vor mir.
VERKEHRTE WELT! TRANSVESTITEN BEI DER TRAUUNG!
So weit ist es schon gekommen: Jose Luis Ribeiro, 28, Transvestit aus Brasilien, der sich Cristina nennt und Jana Fenner, 31, Mannweib aus Schwerin, das sich Jason nennt, gaben sich auf dem Standesamt F'hain–Kreuzberg das Jawort.
So etwas habe ich noch nicht erlebt, sagte die Standesbeamtin Frauke B., 43 …
Mein Sitznachbar kickte mich ständig mit Ellenbogen und Schulter an. Er war der breitbeinige Teil eines Heteroehepaars neben mir. Ich fragte mich, ob er Anschluss suchte oder nur um die Armlehne kämpfen wollte. Beim Einsteigen hatten sie mich neugierig gemustert. Jedes Mal, wenn ich nach rechts blickte, ertappte ich sie, wie sie mich beobachteten.
Sie waren im sogenannten besten Alter. Ihn hinderte das nicht am Zappen nach Cartoons.
Ab und zu rempelte mich die Flugbegleiterin mit dem Serviercontainer an. Während ich ihre bestrumpften Waden anhimmelte, vergaß ich für Momente wo ich war. Ich hatte Lust ihr ein Bein zu stellen. Vielleicht hätte ich unter ihren Rock linsen können, wenn sie strauchelte.
Sie musste es gespürt haben, denn als sie wieder vorbei kam, platzierte sie den Container so, dass ich höchstens gegen das Blech treten konnte. Sie fragte, was ich zum Essen trinken wollte. Dabei kräuselte sie die Nasenflügel. Ein schmales Gesicht mit breitem Mund und vollen Lippen, fast schon ein wenig herb.
Ich orderte einen Rotwein und ein Mineralwasser. Beides wurde in einer Art Zahnputzbecher serviert. Der Fingerkontakt klappte nicht.
Zum Abräumen kam schließlich eine andere.
Mein Nachbar zappte immer noch. Bugs Bunny schob sich eine Riesenmöhre rein.
»Darf ich Sie mal was fragen?«
Ich zuckte zusammen. Mein Nachbar trank Bier, das verlieh ihm offenbar Mut.
»Nein.«
Es half nicht. Seine Frau lachte und sagte: »Na Udo, hast du kein Glück?«
Er lachte ebenfalls und setzte nach. »Meine Frau und ich, also wir haben uns gefragt … Also ich bin der Udo und das ist Gerlinde, meine Frau. Wir sind aus Köln.«
Ich merkte schon, dass er nicht locker lassen würde.
»Wenns sein muss, fragen Sie schon.«
»Ach, eigentlich nur … ob Sie schon mal im Fernsehen waren. Gerlinde meint, sie hätte Sie schon mal …«
»Nein.«
Da griff Gerlinde ein. Sie streckte ihre Hand aus.
»Wie war noch mal ihr Name?«
»Nel.« Die Hand übersah ich einfach.
»Aha. Angenehm. Als wir eingestiegen sind, sagt mein Mann, willst du dich neben die Frau setzen? Und ich sag zu Udo, das ist doch ein Mann. Und dann haben wir gewettet. Ich hab doch Recht nicht wahr? Mein Mann guckt nicht so genau hin.«
Eigentlich hatte ich nur Angst vor Abstürzen oder Bomben gehabt. Doch es gab andere Arten von Terrorismus.
»Wahrscheinlich hat ihr Mann auf meinen Busen gestiert.«
Damit beeindruckte ich Gerlinde nicht.
»Ja, das macht der dauernd. Ich sag immer, Udo, das gehört sich nicht, aber er ist halt ein Mann. Der kann nicht anders. Aber er meints nicht böse. Nicht wahr, Udo?«
Udo trank einen großen Schluck. »Siehst du? Ich hab Recht«, sagte er dann zu seiner Frau.
»Aber Ihre Stimme«, sagte Gerlinde zu mir, »und Ihre Hände. Und wenn ich die Augen zumache und Sie reden …«
»Genau«, meinte Udo, »wie Lilo Wanders. Die kennen Sie doch, die von Wa(h)re Liebe.«55
Da wollten sie also hin. Womit hatte ich das verdient?
»Uns stört das ja gar nicht«, sagte Udo.
»Wir fahren ja öfter mal nach Thailand«, sagte Gerlinde, »da haben wir mal eine Show gesehen. Zuerst wussten wir nicht, das das Transvestiten sind. Erst als die sich ausgezogen haben. Naja, und natürlich die Stimmen.«
»Und die sind ganz nah rangekommen und haben uns alles gezeigt«, sagte Udo, »und dann haben sie sich gegenseitig …«
Aus Bugs Bunny hing inzwischen nur noch der grüne Püschel raus.
»Na, das hätte ich nicht unbedingt sehen müssen«, sagte Gerlinde, »aber wir sind ja aus Köln und da ist jedes Jahr die Parade und da gehen wir gerne hin, nicht wahr, Udo?«
»Ja«, sagte Udo, »soll jeder machen wie er will.«
»Ja«, fiel Gerlinde ein, »und da kann ich richtig neidisch werden, wie sich manche zurecht machen können. Zum Beispiel Mary und Gordy, also so was. Sie machen das gar nicht, oder?«
»Nein.«
»Aber dann würde sich niemand fragen, was Sie sind. Für ihre Eltern war dat sicher schwer?«
Einmal jammerte mir meine Mama vor »Wenn ich das gewusst hätt, dann hätt ich das doch nich zugelassen, du zu Fasching als Rotkäppchen. Aber ich konnts ja nicht wissen und der Vati hat sich nich drum gekümmert und das hab ich jetzt davon.«
Musste mich diese blöde Kuh daran erinnern? Leider war sie mit dem Ausgießen von Mitgefühl noch nicht fertig.
»Unsere Kinder, die sind ja schon groß, aber alle ganz normal. Aber wenn ich mir vorstelle …, das wär schon schwer.«
»Sind nicht alle so frei wie wir. Was sagen denn ihre Eltern dazu?«, fragte Udo.
Vor dem Abflug hatte ich meine Mutter angerufen. Das tat ich nur selten, denn vorher musste ich viel Kraft sammeln. Es kribbelte mich schon, wenn Mama in diesem Jammerton »Artmann« in den Hörer knödelte, gerade so, als erwartete sie, dass irgendein Nachbar ihr Vorhaltungen machen wollte, weil ihr Junge eine Tunte war.
Jedenfalls damals war es so, dass sie mir immer das Gefühl gab, ich tue ihr etwas an. Dass ich nach Brasilien gehen würde wegen der OP, kommentierte sie mit »Bin ich froh, dass Vati das nicht mehr erleben muss.«
»Die frage ich nicht danach …«
Gerlinde kroch fast über Udo drüber und senkte die Stimme.
»Mütter machen sich schon Gedanken, ob die Kinder glücklich sind. Ist für Sie bestimmt nicht einfach einen Freund zu finden, nicht wahr?«
»Ich bin Lesbe.«
Beide rissen die Augen auf. Udo fingt sich zuerst wieder. Er zwinkerte mir zu.
»Ich auch.«
»Udo, lass doch mal die dummen Witze«, sagte Gerlinde, »du machst ihn doch ganz verlegen.« Sie robbte noch näher an mich ran. »Das ist doch bestimmt nicht einfach, so mit dem Körper. Und Kinder können Sie ja auch nie kriegen. Sind Sie denn noch … Ich meine, haben Sie schon …, ist da schon alles weg?«
»Der Verstand ist noch da.«
Der Rest auch. Vielleicht sollte ich es lassen, dachte ich. Vor solchen Situationen würde mich die OP nicht schützen.
Aber war ist wie eine hässliche Warze im Dekolleté, tat nicht weh und verbarg sich unterm Pullover. Aber wenn ich eine abgeschleppt hatte und wir uns auszogen, dann wurde sie mir wieder bewusst und ich schämte mich, fühle mich ungepflegt und dachte, die musste da doch dauernd draufstarren.
Noch schlimmer war, dass sich manche Lesben regelrecht vor dem Gemächt fürchteten, da half auch alles umdeuten nicht. Eine beschissene Ausgangslage, wenn man auf der Suche nach Sex und Liebe war und dafür eigentlich nur Lesben in Frage kamen. Dazu waberten dann stets die Grundsatzfragen ob hetero, schwul, lesbisch oder sonstwas durch die Hirne.
»Wollen Sie auch eins?«, fragte Udo. Gerlinde wedelte die Flugbegleiterin herbei und bestellte Bier. Dadurch ließen sie vorerst von mir ab. Aber zu spät.
Ich musste an Sabrinas Frage denken, warum ich wegen der OP nach Brasilien fliegen wollte. Das könnte ich auch in Deutschland haben. Das stimmte schon, es würde auch nichts kosten, aber dafür musste es bei der Krankenkasse beantragt werden. Die wollte dafür Gutachten sehen, welche bestätigten, dass dieser Wunsch nicht wegtherapiert werden konnte. Die Gutachter waren Psychologen und die wollten einen Praxistest haben. Dafür hätte ich so rumlaufen und mit Fistelstimme Unsinn reden müssen wie Sabrina.
Einen Transweglebenslauf wollten die sehen. Mit dusseligen Fragen wollten die prüfen, ob mir das Frausein überhaupt zustünde und ob ich das richtig könnte. Aber nicht mit mir, auf so was hättte ich kotzen können.
Ehrlich, ich hatte es probiert. Ich hätte vielleicht den Gutachter nicht fragen sollen, wie er an sein Diplom gekommen war, das an der Wand hing. Aber ich wusste doch genau wie leicht es war, sich irgendeinen Wisch zu besorgen. Da brauchte er nur Beziehungen zu haben und schwupps, hatte er ein Diplom und ne Couch und bohrte sich in der Nase, wenn eine da lag und ihm was vorheulte.
Auf den Transweglebenslauf hätte er sich anschließend noch einen runtergeholt. Die sollten sich den Finger ins eigene Arschloch stecken, das war meine Haltung dazu.
Der Heini hatte mich rausgeschmissen und bei der Kasse verpetzt. Bei meiner Sachbearbeiterin musste ich dann antichambrieren. Die hatte mir klipp und klar gesagt, dass ich vor Allem nen Irrenarzt brauchte und keine OP, zumindest solange sie den Fall bearbeiten würde und sie sei ja noch jung und habe nicht vor den Job zu wechseln.
Garantiert hatte die am meisten gestört, dass ich keine Schleimspur auf ihrem Teppich hinterlassen hatte.
Udo und Gerlinde diskutierten über die Qualität des Bieres im Vergleich zu Kölsch. Diese Gelegenheit nutzte ich. Außerdem hatte ich die schnuckelige Stewardess länger nicht mehr gesehen.
Ich entdeckte sie in der Bordküche. Mit müden Augen räumte sie an einem Container mit Softdrinks zur Selbstbedienung. Ich mixte mir was zurecht. Dabei ließ ich mir viel Zeit und beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
Danach trank langsam, bis sich ein anderer Passagier näherte. Es war weder genug Platz, noch mochte ich Publikum bei meinen Bemühungen.
Fraglich, ob ich mich getraut hätte. Hinterher dachte ich meistens, ich hätte es getan, wenn noch Gelegenheit gewesen wäre.
Auf dem Sitz wickelte ich mich in den Lappen, der dort als Kuscheldecke bereit lag.
»Schon schlafen?«, fragte Udo. Er verbreitete eine Bierfahne.
»Ja, wenns geht.«
»Machen Sie denn auch mit bei der Parade? Aber Sie sind nicht aus Köln, was?«
»Udo, lass ihn mal in Ruhe. Du siehst doch, dass er schlafen will.« Zu mir sagte Gerlinde: »Mein Mann ist manchmal schrecklich.«
Ich drehte mich weg. Zum Kotzen, alle wollten nur helfen. Als ob das helfen würde. Außerdem wehte auch ihre Fahne. Bier im Flugzeug, einfach ekelhaft.
Das Nervpotenzial meiner Mutter war auch nicht kleiner.
Ich lud sie nicht zu mir nach Berlin ein. Sie würde den ganzen Tag in der Kittelschürze mit einem Wischlappen rumhampeln und auf mich einreden.
»Corni, bei dir muss aber mal sauber gemacht werden. Du hast ja gar keinen Kleiderschrank, ach, wenn die ganzen Sachen so offen hängen, das staubt doch so ein. Na, ich wasch dir das mal. Ich hab doch noch den Kleiderschrank von Onkel Fritz und Tante Elfi. Der ist noch wie neu. Den kannste doch haben. Ich frag mal den Henner Albrecht, der fährt doch Spedition bei Wilkens, der kann dir den bestimmt mal mitbringen. Ich bezahl das auch, du hast ja kein Geld. Musst dann nur mal helfen hochtragen.«
Sie würde es nur gut meinen, aber nicht locker lassen.
»Ach Corni, was ist denn das? Ziehst du das wirklich an? Du gehst doch so nich raus, oder? Ach, bin ich froh, dass Vati das nicht mehr erleben muss, der würd sich zu Tode schämen. Du kannst doch auch maln schönes Hemd anziehn und nen Anzug, dann würdste auch wieder Arbeit kriegen. Vom Vati sind noch zwei schöne Anzüge da, die sind wie neu. Ihr habt doch die gleiche Figur. Die schick ich dir mal.«
Irgendwann würde sie schluchzen und sagen »Ich meins doch nur gut. Aber du bist ja unbelehrbar. Warste früher schon. Dass ich mir Sorgen mach, ist dir ja egal. Hauptsache, du hast deinen Willen. An uns denkst du ja nich. Überall heißts die arme Frau, mit dem Sohn, die hat schon Last. Wenn ich erst im Grab bin, dann tuts dir noch mal Leid, aber dann isses zu spät …«
Die fünfzig Euro, die sie mir beim Abschied geben würde, hätte ich schon am gleichen Abend versoffen. Dazu müsste ich sicher noch ein paar mal in den Quälgeist66 und mich ordentlich versohlen lassen.
Hatte ich wirklich die gleiche Figur wie mein Vater? Dann wäre die OP Geldverschwendung. Über diesen Gedanken döste ich doch tatsächlich ein.
3
Die Unruhe im Flieger weckte mich. Horden strebten zu den Bordtoiletten und bildeten dort hampelige Schlangen. Ich musste auch mal dahin, mein Kinn war kratzig, unter meiner Perücke juckte es und ich wäre gerne einen Moment alleine gewesen. Es hatte wenig Sinn sich anzustellen, also schaltete ich den Bildschirm ein und sah nach, wo wir waren. Halb sechs, nur noch zwei Stunden. Ich überlegte, wo ich das Geld sicher verstauen sollte. Schließlich hatte ich sechseinhalbtausend Euro dabei, das meiste davon in Dollar für die Klinik.
Ich hatte cash dabei, weil es Swift gab. Mit dieser fiesen Einrichtung wurde jeder Geldtransfer aktenkundig und ich konnte wetten, dass deutsche Behörden darauf zugreifen. Immerhin vegetierte ich von Hartz 4 und die kontrollierten bekanntlich alles. Deswegen lagerte ich den Schotter auch nicht auf der Bank. So bescheuert war ich nicht.
Am besten sollte ich die Scheine am Körper verteilen, nicht alles an eine Stelle, dachte ich.
Die Schlange auf meiner Seite war viel kürzer geworden, ich schnellte hoch und schloss mich an. Direkt vor mir stand ein älterer Typ. Während ich die Haare betrachtete, die aus seinem Hemdkragen rausquollen, stellte ich mir unwillkürlich vor, wie er sich vor die Schüssel postieren würde und den Rand bepinkelte, weil seine Prostata nur noch Getröpfel zuließ. Wenn ich nicht so dringend gemusst hätte, wäre ich woanders hingegangen.
»Gut geschlafen?« Gerlinde erschreckte mich. Sie drängte sich dicht hinter mich. »Ich wollt Sie noch mal was fragen: Wie machen Sie …«
Endlich kam der ältere Typ raus, mit nassen Händen und zwei offenen Knöpfen am Hosenstall.
»Gehen Sie doch vor, ich habs nicht eilig«, sagte ich zu Gerlinde und schob sie an mir vorbei. Sie war irritiert, aber folgsam. Während sie die Tür schloss, hastete ich in den anderen Gang und stellte mich dort an, wo sie mich nicht sehen konnte.
Als ich zurückkam, wurde Frühstück serviert. Meine Stewardess erschien wie aus dem Ei gepellt, keine Spur von einer langen Schicht. Leider war ich nervös und fand keine Stelle, an der ich die Baggerschaufel ansetzen konnte. Meine Unruhe wollte ich dann mit Kaffee begießen, aber sie hielt einfach nicht still.
»Das ist ja interessant.« Gerlinde wedelte mit einer Illustrierten zu mir herüber. »Hier steht was über diese Hochspringerin, die ein Mann sein will. Die sagt, von den Hormonen denkt sie wie ein Mann. Ist das bei Ihnen auch so?Wollen Sie mal lesen?«
Ich nahm die Illustrierte und tat so, als ob ich das las. Vielleicht hatte sie soviel Einfühlungsvermögen, dass sie mich dabei nicht störte.
»Wo der Busen war, sieht man aber noch«, sagte Udo und tippte auf das Foto. »Da sind die Narben.«
Zum Glück schlossen die Flugbegleiterinnen wenig später die Gepäckfächer und scheuchten alle auf die Sitze. Wir sollten uns anschnallen, der Abstieg begann. Kurz danach setzten wir auf dem Rollfeld auf. Blitzschnell schnappte ich mein Zeug und ging stiften.
»Machense et joot«, rief Udo hinter mir her.
Ich konnte nicht sagen, ob mir warm oder kalt war. Der Himmel zeigte sich grau und verhangen, Frühling in São Paulo.
Vor der Passkontrolle stauten sich die Massen. Nur langsam bewegte sich die Schlange durch den Irrgarten der Absperrungen.
Irgendwann drängelte ich mich dann doch an die Transportbänder und wartete auf meinen Rucksack. Das hatte was von Lotterie, es liefen drei Bänder, auf den das Gepäck kreiselte und nur eins konnte ich im Auge behalten.
Endlich erreichte ich die Ankunftshalle. Auf der Suche nach einem Hinweis für die Busstation fand ich eine Wechselstube und tauschte alles, was ich nicht für die Klinik brauchte, in Reais77. Das war ein ganzer Haufen lappige Scheine. Den Packen verstaute ich erst im Rausgehen. Ein arge Unvorsichtigkeit. Das wurde mir sofort klar, deshalb prägte ich mir ein, wer mich beobachtet haben könnte. Dann schlenderte ich wieder durch die Halle mit ihren braunen Fliesen, ockerfarbenen Anstrichen und diesem ganzen Siebzigerjahre-Charme.
Vor ein paar Schaukästen mit indigenem Kunsthandwerksgelumpe blieb ich stehen und schaute mich nach jemandem um, den ich nach dem Weg zum Bus fragen könnte. Ein jüngerer, pickliger Typ in Jeansjacke tauchte neben mir auf und fragte »Hi, do you have dollars? Ich brauche zehn, ich kann wechseln.«
Er war einen halben Kopf kleiner als ich. Ich ließ mich trotzdem auf nichts ein.
»Meinst du wirklich, dass ich so bescheuert aussehe und dein blöder Trick funktioniert? Allein dafür sollte ich dir in die Eier treten.«
Er grinste unsicher. Kein Wunder, ich hatte Deutsch gesprochen. Ich wechselte ins Englische.
»Nein, ich habe nur Traveler Checks, nichts Bares.«
Er stutzte und überlegte. Es schien so, als wollte er noch was sagen, wusste aber nicht was. Zögernd wandte er sich ab. Er schlenderte direkt hinaus. Langsam folgte ich ihm. Ich war gespannt, ob der andere Typ, der zuvor die Halle betreten hatte und in einen der Schaukästen starrte, mir folgte.
Auf dem breiten Gehweg unter dem überkragenden Betondach standen kreuz und quer Gepäckwagen herum, dazwischen Leute. Taxen und Privatwagen wuselten davor. Über mir der diesige Himmel wie eine dreckige Fensterscheibe und es stank nach Abgasen. Die Luft war erfüllt vom Klappen der Türen und Kofferraumdeckel, dann und wann überlagert vom Dröhnen der Flugzeugtriebwerke.
Jeansjäckchen war irgendwo im Gewimmel verschwunden. Der Schaukastengucker folgte mir, blieb stehen und steckte sich eine Kippe in den Schnabel. Aus den Augenwinkeln betrachtete ich ihn. Er war hemdsärmelig und stand gut im Futter. Wirkte eigentlich ganz harmlos. Dann steuerte er mich an. Ich hastete sofort zum nächsten Taxi. Der Fahrer lud gerade ein paar Koffer und Taschen ein.
»Por favor, autobus a Barra Funda, donde?«88
Er glotzte mich einen Moment an, als ob ich ihn getreten hätte, dann machte er eine unwirsche Armbewegung.
Ich drehte den Kopf in diese Richtung, aber der Hemdsärmlige war schon auf zwei Meter rangekommen. Ohne weitere Fragen zischte ich ab.
Da stand tatsächlich ein Bus, vielleicht hundert Meter entfernt. Mein Blick saugte sich an ihm fest und zog mich dort hin. Ich geriet ins Keuchen.
»Er ist dick und langsam«, sagte ich mir ein paar Mal vor und schaltete runter.
Beim Slalom um die Trolleys sah ich mich um. Niemand verfolgte mich. Ich seufzte erleichtert auf und begnügte mich mit Schneckentempo, schließlich war der Rucksack ganz schön schwer.
Vielleicht sollte ich ein wenig Portugiesisch lernen, mit dem bisschen Spanisch könnte ich ganz schön daneben liegen, dachte ich.
Ich stieg vorne zum Fahrer ein, einem Schwarzen ohne Kopfhaare, dafür mit Ray-Ban-Sonnenbrille.
»Ticket donde?«
Er hob den Kopf von seiner Illustrierten und sagte »Biljeetschiaki«99, wobei er mit dem Zeigefinger aufs Lenkrad tippte.
»A Barra Funda?«
Er nickte.
»Quanto?«1010 Er sagte was Unverständliches. Dann grinste er, holte einen Fahrschein aus seiner Mappe und zeigte ihn mir. Ich zählte ihm umständlich das fremde Geld ab, nahm das Ticket und suchte mir einen Platz.
Die Sitze erwiesen sich abgeschabt und fleckig, aber die Kiste musste früher ziemlich komfortabel gewesen sein, das konnte man noch erahnen.
Etwa zehn Minuten später war der Bus leidlich voll und es ging los. Wir umkurvten einen gigantischen Parkplatz, dann bogen wir in eine Zufahrt auf eine vielspurige Schnellstraße. Ab da war nur noch Schritttempo möglich. Massen von Lastwagen stießen dröhnend schwarze Wolken aus. Der Verkehr wurde immer dichter. Mit lautem Gehupe zwängten sich kleine Motorräder zwischen den Schlangen durch. Beim ersten Mal zuckte ich vom Fenster zurück, weil direkt unter mir ein behelmter Schädel vorbei sauste. Unwillkürlich rückte ich weg und wartete auf einen Aufprall.
Immerhin kamen die voran.
Langsam passierten wir ausgedehnte Industrieanlagen, dann Häuser, dann wieder Industrieanlagen.
Von links, wo vorher Gegenverkehr war, tauchte eine Art Fluss auf. Es war eine breite, jämmerliche Betonrinne, in der eine viskose Masse dahin zog. Auf ihrem Rücken trieb allerlei Unrat.
Zwischen Fahrbahn und Rinne gab es hinter Betonabsperrungen sogar einen Grünstreifen. Dort standen ein paar kümmerliche Stängel mit Blättern, aber vor allem lag dort der Müll, der in der Rinne keinen Platz mehr gefunen hatte.
Etliche mächtige Rohrleitungen führten hinüber, wo sich die Häuser türmten und der Gegenverkehr kroch. Sie waren alle vergittert und mit Stacheln bewehrt wie stählerne Raupen. Trotzdem waren sie über und über mit Graffiti bedeckt.
»Lula Presidente« konnte ich entziffern. Mir wurde schwindlig bei der Vorstellung, wie das da hin gekommen sein musste.
Endlich bemerkte ich, dass sich der Bus seinen Weg in eine Ausfahrt ertrotzte. Jenseits der Fahrbahn eröffnete sich ein Blick auf eine Reihe mehrstöckiger Bretterbuden, die sich an eine hohe Betonwand lehnten.
Schwer zu glauben, dass dort wirklich Menschen wohnten. Dort hing aber Wäsche und Kinder liefen herum.
Nach weiteren verwirrenden Wendungen bog der Bus in einen riesigen Busbahnhof ein.
Ich stieg aus und folgte der Menge in eine ausgedehnte, unübersichtliche Halle voller hastender Menschen.
An einem Fressstand versorgte ich mich. Damit postierte ich mich an einen Stehtisch, schluckte, kaute und sah mich um. Nach einer Weile erkannte ich, dass die Reihen verglaster Schalter den verschiedenen Busgesellschaften gehörten, die unterschiedliche Strecken bedienten.
Etwas später stand ich vor einem Schalter und erstotterte mir eine Karte nach Sorocaba. Die Angestellte erklärte mir geduldig die Angaben auf dem Fahrschein. Schließlich verstand ich, dass der Bus um halb zwölf vom Bussteig vierzehn losfahren würde und drei Stunden später in Sorocaba ankommen sollte.
Noch eine Stunde also.
Ich setzte mich in einen Wartebereich und beobachtete weiter. Ein Haufen Bedienstete, meistens Frauen, schoben Wägelchen mit Reinigungskrempel herum und verhinderten, dass Krümel, die Leute fallen ließen, auf dem Boden aufschlugen.
Ich holte den Sprachführer raus. Nach einer Weile dämmerte mir, warum die mich dort nicht verstanden. Die geforderte Aussprache klang verteufelt nach Reden mit vollem Mund.
Ich gab auf und suchte den Bussteig.
Der Bus wartete schon da. Ein uniformierter Fahrer stand wie ein Zerberus davor und kontrollierte die Fahrscheine. Mein Rucksack musste ins Gepäckfach.
Das Wageninnere war blitzsauber und gepflegt, die plüschigen Sitze luden zum Flegeln ein. Ich hatte einen Fensterplatz in einer freien Bank.
Schließlich schwang sich der Zerberus auf seinen Thron, startete den Motor an und die Tür zischten zu.
Danach wühlten wir uns wieder durch den Verkehr und erreichten allmählich die Außenbezirke.
Immer wieder stiegen Leute ein und aus, der Fahrer hielt auch, wenn man ihm zwischen den Haltestellen winkte.
Wir erreichten wieder eine Schnellstraße. Je weiter wir uns vom Zentrum entfernten, um so schneller ging es voran. Die Straße allerdings war ein Albtraum in Beton. Stellenweise war sie mit brutaler Gewalt durch Siedlungen getrieben worden. Überall abweisende, hohe Stützwände und Häuser, die sich mit letzter Kraft über den Steilhängen hielten. Ständig tauchten neue Elendsquartiere auf, die sich in unwirtlichen Ecken ausbreiteten. Ob es Slums oder Dörfer waren, konnte ich nicht unterscheiden. Oft sahen die Häuser aus, als wären sie aus einem Sack hingeschüttet worden. Stockwerke wurden begonnen, aber nicht beendet, manche schienen verlassen und verfallen. Verputzt war kaum eines. Allmählich tauchte mehr und mehr Grün entlang der Straße auf. Passend dazu zeigte sich die Sonne. Ich wurde schläfrig. Nicht lange und ich schlief ein.
4
Jemand wollte mir meinen Rucksack wegnehmen, den kleinen mit den Papieren und den wichtigen Sachen. Ich hielt ihn fest, aber der Dieb zog so kräftig, dass ich mitgezogen wurde. Dann ließ er los und ich fiel zurück, mein Kopf schlug gegen etwas Hartes. Das weckte mich.
Wir fuhren wieder in einem Stadtverkehr, der Bus kurvte durch eine Zufahrt auf einen breiten Boulevard, neben dem sich ein Fluss mit grünen Ufern erstreckte.
Noch ein paar Kurven, dann rollten wir in den Busbahnhof von Sorocaba.
Ich fragte mich durch zu den Stadtbussen und der passenden Linie. Mit meinem Gestotter und der miesen Aussprache war das alles andere als leicht.
Der richtige Bus kam und stoppte knirschend am Bussteig.
Nachdem die meisten Passagiere raus waren, konnte ich einsteigen und dem Fahrer erzählen, wohin ich wollte. Den Straßennamen verstand er, die Nummer musste ich aufschreiben.
»Ah, Casa da Beleza, sim«, sagte er dann und musterte mich eingehend. Meine Stimme oder meine Bartstoppeln, damit fiel ich immer auf.
»Ticket?« fragte ich ihn, damit er mit dem Glotzen aufhörte.
Er zeigte zum Busbahnhof rüber und sagte etwas. Als ich wieder aussteigen wollte, winkte er mich generös zu den Sitzen.
Wir fuhren durch die grün und gepflegt wirkende Stadt. Wohltuend, nach dem brüllenden São Paulo. Nach etwa einem Kilometer hielten wir und der Fahrer bedeutete mir, ich solle aussteigen.
Kurz danach stand ich alleine an der Straße.
Die Klinik erwies sich als flacher Neubau. Höchstens drei Stockwerke, zurückgesetzt, davor ein paar Parkplätze und Grün. Mit zaghaften Schritten bewegte ich mich auf die Eingangstüren zu, passend dazu schoben sich Wolken vor die Sonne.
Die gläsernen Türen mit der Aufschrift Clinica Casa da Beleza schlossen sich automatisch hinter mir und sperrten den Straßenlärm aus. Es war still und kühl, der Steinfußboden wirkte unglaublich sauber. Nach einer weiteren Flügeltür kam ich in ein Foyer mit Theke, flankiert von Palmenhainen in Kübeln. Die Wände waren da und dort mit Indiokitsch verhübscht.
Hinter der Theke residierte ein schmächtiger Typ in einem uniformähnlichen Sakko. Ein kleines Schild verriet mir, dass er mit Senhor Vargas anzureden wäre. Er nahm mich ins Visier.
»Boahtardschisenjorapoßoaschudah?«1111
Verstand ich nicht, deshalb produzierte ich meinen ersten ganzen portugiesischer Satz:
»Você fala inglês?«1212
Er nickte.
»Ich bin Nel Arta und habe einen OP-Termin.«
Er blätterte in einer Mappe. Dann nickte er wieder.
»Miss Arta, ja, ich rufe Senhora Sotelo.«
Während er telefonierte schaute ich mich um. Geradeaus ging es in einen Aufzug mit sehr breiter Tür. Daneben gab es eine Treppe. Nach beiden Seiten schlossen sich Flure an. Aus einem näherte sich eine junge, schlanke Blondine im Kostüm. Sie steuerte mit ausgestreckter Hand und fröhlichem Lächeln auf mich zu.
»Frau Arta, wie schön Sie zu sehen. Hatten Sie eine angenehme Reise?«
Ihr Englisch war ausgezeichnet, viel besser als meins.
»Ich bin Tania Sotelo. Bitte folgen Sie mir in mein Büro. Ihren Rucksack können Sie gerne bei Senhor Vargas lassen.«
Sie klackerte geschäftig vor mir her.
Sie bat mich Platz zu nehmen und schlug eine Mappe auf.
Geschäftsmäßig fuhr sie fort: »Ich benötige persönliche Angaben von Ihnen. Haben Sie die Bescheinigung über den Aidstest mitgebracht?«
Ich zog ein Blatt aus meinen Unterlagen und reichte es ihr.
»Hier ist auch das psychologische Gutachten. Ich habe beides übersetzen lassen.«
Das hatte mich vielleicht Nerven gekostet davon zertifizierte Übersetzungen ins Portugiesische zu bekommen. Die Dokumente anzufertigen war dagegen ein Klacks gewesen.
Sie überflog sie, nickte und legte sie in ihre Mappe. Immer wenn sie sich bewegte, klimperten viele Armreifen an ihren schlanken Handgelenken. Die Haare hatte sie am Hinterkopf zusammengesteckt. Überall, wo der Haaransatz sichtbar wurde, wuchs es dunkel nach.
Sie stellte mir Fragen zu den Geburtsdaten, Wohnort, Vorerkrankungen und Ähnlichem. Meine Angaben tippte sie in einen Rechner.
Schließlich druckte sie mir eine Rechnung aus und fragte, ob ich das Geld dabei hatte.
Ich musste mich ziemlich entblößen, um da ranzukommen. Also fragte ich nach einer Toilette und ließ mir zeigen, wo ich hingehen musste.
Das gab mir die Gelegenheit noch mal das Bündel Banknoten in der Hand zu wiegen. Aber ein Rückzieher hätte keinen Sinn mehr gemacht, nachdem ich für das Ticket schon viel ausgespuckt hatte.
Tania Sotelo schloss das Geld in einen kleinen Tresor unter dem Schreibtisch ein und reichte mir die Quittung.
Ich unterschrieb eine mehrseitige Erklärung, in der ich alle Verantwortung für die Behandlung auf mich nahm und mit Filmaufnahmen und Untersuchungen fremder Ärzte zu Lehrzwecken einverstanden war. Dann erläuterte sie mir den Ablauf.
»Nicole wird Sie gleich holen und Ihnen Blut abnehmen. Danach können Sie ihr Zimmer beziehen und zu Abend essen. Haben Sie jetzt schon Hunger? Abendessen wird um sieben serviert. Morgen früh um neun möchten Sie dann Dr. Cavalcani und Dr. Andrade sehen und die OP besprechen. Allerdings werden wir wohl morgen noch nicht operieren können, die Zeit ist zu kurz um alles vorbereiten zu können.«
»Frau Sotelo, ist Cristina Ribeiro schon hier? Hat sie Ihnen gesagt, dass wir uns ein Zimmer teilen wollen? Ist das möglich? Wie geht es ihr? Ist sie schon operiert?«
Tania Sotelos muntere Fröhlichkeit war schlagartig wie weggeblasen.
»Oh, daran dachte ich nicht mehr. Bitte, es tut mir schrecklich leid. Wir wissen noch nicht genau, was passiert ist. Cristina ist während der OP verstorben. Es tut mir sehr leid.«
Ihre Lippen zitterten ein wenig und ihr Blick ging durch mich durch.
»Tot? Aber …, warum …?
Ich stotterte und spürte, wie mir die Angst in den Leib fuhr.
Cristina tot? Die immer fröhlich lachende, beneidenswert schöne Cristina tot? Mir blieb die Luft weg.
»Frau Sotelo, warum, was ist passiert?«
»Bitte, Sie müssen mich Tania nennen. Wir wissen es noch nicht, die Untersuchungen laufen. Wir vermuten Drogen. Der Kreislauf und das Herz. Es tut mir so Leid. Cristina war so optimistisch, sie hat sich so auf ihr neues Leben gefreut. Wir sind alle sehr erschüttert. Kennen Sie die Familie, Nel? Hat sie überhaupt Angehörige?«
»Sie …, sie ist mit Jason verheiratet …«
Ich konnte nicht reden, nur hilflos den Kopf schütteln.
»Wer ist das, Jason? Wie können wir ihn erreichen?«
»In Berlin …«
Tania Sotelo zog kurz die Augenbrauen zusammen.
»Sie kennen ihn? Ist sie etwa mit einem Deutschen verheiratet?«
»Ja, schon, aber …«
Ich konnte weder reden, noch einen klaren Gedanken fassen.
Tania Sotelo seufzte.
»Wir werden später darüber reden. Beruhigen Sie sich erst mal. Nicole wird sich um sie kümmern. Entschuldigen Sie mich, ich habe noch furchtbar viel zu tun.«
Sie telefonierte kurz.
Eine Krankenschwester, die sie mir als Nicole vorstellte, holte mich ab. Wie betäubt trottete ich hinter ihr her.
Wir fuhren ins Untergeschoss.
Dort führte sie mich einen breiten Flur entlang, der vor einer doppelflügeligen Tür mit der Aufschrift »Patologia«1313 endete. Eine Tür rechts davor führte in das Labor.
Nicole dirigierte mich auf einen Stuhl und holte dann ihre Utensilien hervor. Mir war flau, mein Kreislauf machte mir zu schaffen. Sie musterte mich besorgt.
»Okay? Möchten Sie was trinken?«
Ich ließ mir einen Becher Wasser geben, trank ein paar Schlucke und atmete ganz ruhig. Nicole wartete geduldig, bis ich soweit war. Sie lächelte mich aufmunternd an, bevor sie ihr blutiges Werk begann. Da konnte ich nur aus den Augenwinkeln hinschauen, aber sie machte das sehr routiniert, es war kaum was zu spüren. Nach einer Weile zog sie die Nadel raus und ließ mich ein Stück Mull in der Armbeuge einklemmen. Auf der Arbeitsfläche stand nun ein Ständer mit drei großen Röhrchen voll mit dunkelrotem Blut. Ich wusste, dass es meins war, bloß da nicht mehr.
Ich schaute zur Decke, schloss die Augen und wartete, dass es mir besser ging.
»Okay?«, fragte Nicole wieder.
Ich nickte und sagte: »Ich bin geschockt wegen Cristina.«
Dann verlor ich ein paar Tränen. Peinlich.
Sie sah mich mitfühlend an und fragte »Ihre Freundin?«
»Ja.«
Mehr mochte ich nicht erklären.
»Pobrezinha«1414, sagte sie.
Mir war nicht klar, welche sie meinte. Mit einer Kopfbewegung zu einer schmalen Tür neben dem großen Kühlschrank in der Ecke sagte sie »Es tut mir sehr leid. Sie war so fröhlich und lebendig. Nun steckt sie da in drin, das ist schwer zu glauben …«
Sie schien kurz vorm Weinen. Ich nahm ihre Hand und hielt sie einen Moment, bis es uns beiden damit spürbar unbehaglich wurde.
Nicole brachte mich nach oben und zeigte mir die cantina. Es war ein gemütlicher Raum mit etwa dreißig Stühlen und blütenweißen Tischdecken. An einem Platz wartete ein großer Teller mit belegten Broten, eine Kanne Kaffee, Zucker, Milch sowie Fruchtsaft und Wasser in Karaffen. Es gab sogar eine Serviette.
Aufseufzend sank ich davor auf den Stuhl. Ich fragte mich, ob ich das, was ich hier vorhatte, nicht besser lassen sollte.
Hensel beim Mästen, so kam mir das vor.
Die Uhr an der Stirnwand zeigte mir, dass ich mich ums mailen mit Jason kümmern sollte.
Ich ging zum Tresen und fragte nach einem Internetcafé. Vargas telefonierte mit Tania Sotelo. Eine Minute später stand sie vor mir und ich trug ihr meine Bitte vor.
»Oh«, erwiderte sie, »das ist kein Problem. Wir haben im Salon einen Computer für unsere Gäste bereit. Geht es Ihnen besser? Schön. Dann möchte ich Ihnen zuerst Ihr Zimmer zeigen. Senhor Vargas hat Ihren Rucksack schon hinauf gebracht.«
Ein paar Minuten später saß ich vor einem Monitor in einem Nebenraum der Kantine. Er war mit Polstermöbeln, Büchern, und Fernseher vollgestopft.
Während sich Windows aufbaute, zappelte ich hin und her. Halb sechs durch, höchste Zeit. Minuten später war ich auf meiner Mailseite bei Genderguide.1515
@Jason:
»cristina ist tot. sie sei bei der op gestorben wegen drogen. irgendwas mit herz und kreislauf. Ich kann das einfach nicht glauben. was soll ich machen?«
@Nel:
»Cristina tot? Bin völlig geschockt. Drogen kann nicht sein. So ein Quatsch. Dazu war sie viel zu sparsam. Sie hat die Familie unterstützt, obwohl die nichts von ihr wissen wollten. Bist du sicher mit den Drogen?«
@Jason:
»scheisse, wenn ich nicht sicher waere wuerde ichs nicht mailen. englisch genug kann ich. die sekretaerin sagt, sie vermuten also wissen sies nicht genau. oder sie luegen. was soll ich jetzt machen? vielleicht verhunzen die mich auch. danuta und julie haben erzählt, dass es hier kliniken gibt, die leute abnippeln lassen, um an die organe zu kommen. haben sie im tv gesehen. und von dem film haben die erzählt, turistas, ist auch son ekliger kram. wuerde auch den guenstigen preis hier erklaeren.«
@Nel:
»Die Transformtanten haben einen Haufen Scheiß erzählt. Manchmal sterben Leute in der Narkose, kommt vor. Wir wissen nichts. Du hast eine logische Erklärung für den billigen Preis. Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht? Kannst du was rausfinden? Wenn du lieber gehen willst, machs. Dann vier Wochen Copacabana, sich die Sonne aufn Wanst knallen lassen! Könnte mir auch gefallen. Dann kommst du aber mit schniepel wieder. Wann wärst du dran?«
@Jason:
»weiss nicht. uebermorgen wahrscheinlich. hast du keinen vorschlag was ich tun soll? ich weiss es echt nicht. oh scheisse. weisst du, wo cristinas familie steckt?«
@Nel:
»Die sind irgendwo in Sao Paulo. Früher hat sie im Amorosa Louca angeschafft. Rua Bandeirantes (hoffentlich richtig geschrieben), das ist irgendwo in der Nähe vom Flughafen. Vielleicht wissen die was. Ich rufe morgen in der Deutschen Vertretung in Sao Paulo an, schließlich bin ich der Ehemann.
Frank Maurer schalte ich nachher auch noch ein. Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Pass bloß auf dich auf und sei vorsichtig. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.
Bei begründetem Verdacht mach dich dünne. Okay?«
@Jason:
»ja ist gut. ich hoere mich mal um. Melde mich morgen wieder. Bussi.«
Was, wenn sie wirklich Organe klauten? Erst die Blutuntersuchung, dann würden sie sehen, ob was passt und rufen nen reichen Sack an, der aufm letzten Loch pfeift und seine Säuferleber tauschen wollte. Der wurde fünfzehntausend Eier bieten und ich geh hops. Wenn eine Transfrau bei der OP abnibbelt, wen wurde es stören? Dass die Polizei, gar die deutsche, rumsuchte ob dort alles mit rechten Dingen zuging und Nel vielleicht einem Verbrechen zum Opfer fiel, brauchten die kaum zu befürchten. Die könnten hier ohne Risiko einen Haufen Schotter machen. So dachte ich mir das in einem sehr düsteren Moment.
An der Leiche müsste es eigentlich zu sehen sein, ob die was geklaut hatten. Dann würden sie dort rumgeschnippelt haben, wo es für die Transistion nicht nötig war.
Damit musste ich jetzt alleine zurecht kommen.
Seufzend loggte ich mich aus und fuhr den Rechner runter.
Die Tür zum Sekretariat stand einen winzigen Spalt offen, durch den ich Tania Sotelo reden hörte. Sie telefonierte, denn es war nur ihre Stimme zu hören, während sie hin und her lief. Unschlüssig blieb ich vor der Tür stehen, ich wollte sie nicht stören, aber dringend sprechen. Ohne es zu gewollt zu haben verstand ich, was sie sagte, denn sie redete Englisch.
» … das sieht alles sehr gut aus, wenn sie wollen, können Sie sofort kommen - Nein, es müsste bald sein, je früher desto besser - Da muss ich nochmal Dr. Cavalcani fragen - Morgen früh um acht müssten wir es dann schon wissen - Gut, ich sage Bescheid, damit wir alles vorbereiten können - Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen - Nein, keine Sorge, davon haben wir nichts gefunden, wirkt clean - Moment, da muss ich eben nachschauen - Hier, zweiunddreißig – gut - Morgen dann, Sie kennen sich ja aus – Abgemacht – Danke – Grüßen Sie Senhor Cleancomer von uns - Bis Morgen - Auf Wiederhören.«
Was hatte ich denn da gehört? Ich war zweiunddreißig. Ging es etwa um mich? Ein Gedanke, der mir nicht schmeckte.
Tania redete wieder, schnell und Portugiesisch. Dann legte sie auf.
Ich klopfte und rief sie. »Tania?«
»Come in«, antwortete sie, aber Zeit für mich hatte sie nicht. Sie zog schon den Mantel über.
»Kann ich Cristina mal sehen? Zum Abschied nehmen.«
»Bitte, Nel, lassen sie uns morgen darüber reden, ich muss jetzt gehen und bin schon spät. Tschau.«
Sie hatte mich schon sanft nach draußen geschoben, als ihr beim Abschließen noch etwas einfiel.
»Wie ist das mit ihrem Mann? Wohnt der in Berlin? Ist das ein Deutscher?«
»Ja. Ich habe eben mit ihm gemailt. Er kümmert sich schon. Er wird die Deutsche Botschaft einschalten. Kann ich Cristina nicht heute noch sehen? Ich bin so traurig, das würde mir helfen.«
»Es tut mir leid, aber das verstößt gegen unsere Regeln. Morgen rede ich mit Dr. Cavalcani darüber, vielleicht können wir in diesem Fall eine Ausnahme machen. Wirklich, Nel, ich habe es eilig, wir klären das morgen, okay? Dont worry.«
»Und wenn ich Angst habe und nicht mehr zur OP will, kriege ich dann mein Geld zurück?«
Sie stutzte, dann verzog sie ihr Gesicht.
»Ja, wenn Sie wirklich nicht mehr wollen. Bitte, wir reden Morgen nochmal darüber.«
Damit sauste sie davon, stopfte im Gehen noch die Schlüssel in ihre Handtasche.
Unschlüssig blieb ich im Gang stehen.
Komisch, außer Personal hatte ich niemand getroffen. Das Haus wirkte wie ausgestorben.
In der leeren Kantine roch es nach Essen, hinter einer Mattglasscheibe sah ich jemanden herumwuseln. Also ins Zimmer.
Im Aufzug stockte ich, als ich die Zwei drücken wollte. Ich ließ den Finger hinunter wandern und drückte nach kurzem Zaudern auf den untersten Knopf. Es gab Regeln, die ich scheiße fand.
Wenig später betrat ich den von Notbeleuchtungen erhellten Gang. Den Aufzug schickte ich sofort wieder nach oben. Es brauchte niemand zu wissen, dass ich dort unten war.
Die Tür mit der Aufschrift »Patologia« war abgeschlossen. Hinter den Fenstern war es stockfinster. In das Labor konnte ich hinein. Tür zu und Licht an war eins. Die schmale Tür hinten ließ sich ebenfalls nicht öffnen, hatte aber nur ein simples Schloss. Ich blickte mich um. Schubladen auf.
Nichts. Oben auf dem hohen Kühlschrank auch nichts. Im Kühlschrank Medikamente in den Türfächern. Auf den Rosten ein paar Körbchen mit beschrifteten Blutproben und ein paar beschriftete Kunststoffboxen.
Auf der obersten stand »Ribeiro C figado«.
Auf den beiden darunter las ich »Ribeiro C rim e« und »Ribeiro C rim d«.
Ich stöhnte und musste mich setzen. Zufällig wusste ich genau, was das bedeutete. Im Sprachführer hatte ich die Seiten, auf denen es um Medizin, Ärzte und Krankenhaus ging gründlich studiert. Was machten Cristinas Leber und Nieren dort? Was in den anderen Boxen steckte, verstand ich nicht, aber überall fand ich Ribeiro C, also Cristinas Namen darauf.
Ich hatte einen fetten Kloß im Hals. Aber jetzt erst recht. Der beschissene Schlüssel lag bestimmt irgendwo, so was wollte doch niemand am Schlüsselbund rumtragen. Ich kippte die Kiste mit den Pflastern aus und es machte »pling«. Na also.
Mit zitternder Hand fummelte ich den Schlüssel ins Schloss.
Ein kühler, dunkler Raum mit Fliesen erwartete mich. Die Tür ließ ich auf, damit ich ein bisschen Licht hatte und es nicht hell in den Flur scheinen würde. In der Mitte ein Tisch mit Stahlplatte, an den Wänden ein Stahlschrank und ein Waschbecken. Eine Ecke füllte ein Stahlklotz mit Klappen, Bedienfeld, Thermometer und Laschen an der Front, in die Kärtchen rein gesteckt werden konnten. In einer davon steckte was Helles. »Ribeiro C« konnte ich entziffern.
Ich zog am Griff und die Lade kam raus.
In Filmen waren Tote immer zugedeckt. Pustekuchen, bleich wie ein ersoffener Regenwurm lag da was im Halbdunkel.
Wo war mehr Licht? Ich fand einen Schalter und über dem Waschbecken flackerte eine Neonröhre.
Die Leiche hatte ich in bequemer Höhe vor mir. Es war Cristina.
Zwischen ihren Schenkeln ein Schrumpelschwänzchen auf Schrumpelhoden. Alles fein rasiert und unversehrt. Dafür hatte sie Schnitte über Brust und Bauch. In meinem Schädel fuhren die Gedanken Achterbahn. Ich berührte Cristinas Hand. Sie fühlte sich an wie ein Kotelett aus dem Kühlschrank.
»Was haben die mit dir gemacht?«, flüsterte ich.
Bevor Cristina antworten konnte, klimperte es an der Tür und die Deckenbeleuchtung flammte auf. Ich drehte mich um und blinzelte gegen die Helligkeit an.
»Que fazes aqui?«1616
Ein Typ wie Maradona in weißem Kittel stand vor mir. Wegen des Brummens der Kühlanlage hatte ich ihn nicht kommen hören. Sein Ton war nicht gerade salonfähig.
»Musst du mich so erschrecken?« schrie ich ihn an.
Mein Herz klopfte so laut, dass ich nicht verstehen konnte, was er erwiderte.
Er schob die Lade zu, schloss die Tür zum Labor, löschte die Lichter und drängte mich in den Flur. Dort verriegelte er aufreizend bedächtig die Türen. Dann drehte er sich zu mir und fixierte mich mit seinen vorquellenden Augen.
»Miss Arta? Die Ärzte suchen Sie. Mitkommen.«
Er fasste mich am Ellenbogen und bugsierte mich in den Aufzug. Ich war so geplättet, dass ich mich nicht wehren konnte.
Wir fuhren nach oben. Er öffnete den Aufzug mit einem Spezialschlüssel auf der anderen Seite und schleppte mich in den Medizintrakt. Inzwischen hatte ich mich soweit gefangen, dass ich seine Hand abschüttelte.
»Fass mich nicht an.«
Mein Bewacher machte wieder eine auffordernde Handbewegung. »Mitkommen.«
Was sollte ich sonst schon tun? Es ging in ein Sprechzimmer. Riesenschreibtisch, Bücherschrank mit Folianten, Liege. An den Wänden Öl auf Leinwand, bombastisch gerahmt. Niemand da. Er öffnete eine gepolsterte Verbindungstür. Zu irgendwem sagte er irgendwas. Dann zu mir »Okay, warten.«
Er verschwand im Nebenzimmer. Dafür erschien von dort eine Frau um die Vierzig, klein und drahtig. Sie trug einen weißen Kittel.
»Guten Abend, ich bin Dr. Andrade. Wir möchten Sie untersuchen und über die Operation mit Ihnen sprechen.«
Sie reichte mir ihre kräftige Hand und nahm mich gründlich in Augenschein. Währenddessen hörte ich, wie mein Bewacher im Nebenzimmer mit jemandem diskutierte. Schließlich kam er zurück, dahinter ein Mann mit schütterem Haar, Brille mit Goldrand, ebenfalls im weißen Kittel. Maradona erhielt noch ein paar Anweisungen, dann machte er sich dünne. Im Vorbeigehen sah er mich nochmal wütend an.
Die Goldrandbrille stellte sich als Dr. Cavalcani vor. Er forderte mich zum Ausziehen und zum Hinlegen auf die Untersuchungsliege auf. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl dabei, aber in dem Augenblick spielte ich lieber mit.
Während ich hinter einem Paravent strippte, sagt Dr. Cavalcani »Giulio hat Sie überall gesucht und schließlich in der Pathologie gefunden. Was haben Sie dort gesucht? Es ist unseren Gästen nicht gestattet, sich dort aufzuhalten. Wir dachten, dass sei selbstverständlich. Natürlich sollten die Türen immer verschlossen sein.«
Ich entschuldigte mich lahm und faselte etwas Trauer und Verabschieden. Cavalcani zog die Augenbrauen hoch, seine Stirn verwandelte sich in einen alten Fensterladen.
»Sie kennen sie, nicht wahr? Woher? Weil sie in Deutschland geheiratet hat?«
»Jason, also Herr, äh Fenner, also er wird die Deutsche Botschaft verständigen. Und einen Anwalt einschalten. Einen richtig guten. In Berlin. Also, da ist die Deutsche Regierung …«
»Na«, brummte Cavalcani, »da werden wir ja von ihm hören. Das ist gut. Zur Deutschen Vertretung haben wir gute Kontakte.«
Ich traute mich nicht, nach den Kisten zu fragen, die im Kühlschrank lagen. Besser, die wussten nicht, dass ich sie gefunden hatte.
Die nächste Viertelstunde war für mich sehr unangenehm. Die beiden Weißkittel fummelten mit ihren behandschuhten Pfoten an mir herum und unterhielten sich. Ab und zu bekam ich einen englischen Satz hingeworfen. Andrade fotografierte alles und Cavalcani machte Notizen in einer Kladde.
Eigentlich hatte ich mir die Genitalfee immer ganz anders vorgestellt als einen moppeligen Opa oder einen Blaustrumpf. Komisch fand ich, dass sie sich so wenig um meinen Unterleib kümmerten.
»Wir sind fertig«, sagte Cavalcani. »Wir sehen keine Probleme, Sie verlassen uns als perfekte Frau. Wir haben morgen Vormittag einen OP-Termin für Sie. Das Abendessen müssen Sie ausfallen lassen, denn vor der OP dürfen Sie nichts essen. Zum Schlafen geben wir Ihnen etwas. Die Zeit vergeht wie im Flug und wenn Sie wieder aufwachen, ist alles schon vorbei.«
Damit überfuhr er mich vollkommen. Sein letzter Satz hing in der Luft. Ja, wenn. Wenn nicht, bin ich eine Art ausgenommenes Brathuhn, mit Innereien im Beutel.
Eine weißgewandete Walküre hatte den Raum betreten. Sie wurde mir als Sandra vorgestellt. An sich hätte ich sie gerne angebaggert, nur war mir gerade nicht danach.
Sie gab mir einen Kaftan und Schlappen, damit ich mich nicht mehr anziehen musste. Danach führte sie mich ab, meine Klamotten über dem Arm.
Im Aufzug überlegte ich, ob ich sie wegstoßen und abhauen könnte. Leider war ich dafür unpassend angezogen. Weit würde ich nicht kommen. Schien auch fraglich, ob ich sie umschubsen konnte. Sie wirkte eher so, als hätte sie mich aufs Kreuz legen können.
Bevor sie sich verabschiedete, reichte sie mir zwei Tabletten und einen Becher Wasser. Sie beobachtete, wie ich die Tabletten in den Mund steckte und den Becher leerte. Dann wünschte sie mir gute Nacht und ließ sie mich alleine.
Die Tür war noch nicht ganz zu, da hatte ich die Tabletten schon in den Becher gespuckt. Auch unter der Zunge lösten die sich schnell auf.
Für wie blöd hielten die mich eigentlich?
Erst die Organe in den Boxen und Cristina mit Pimmel, aber aufgeschnitten, dann , oh Wunder , ein Termin schon morgen. Dazu das Telefonat, das ich zufällig mitbekommen hatte. Und Cristina zu sehen wäre gegen die Regeln.
Nichts wie weg hier, das war überhaupt nicht koscher.
Ich wollte zunächst mal im Bett bleiben und so tun, als ob ich schliefe. Vielleicht kämen die zum Nachschauen. Später, nachts, würde ich meinen Kram packen und stiften gehen, aber ganz, ganz leise.
Im Dunkeln auf dem Bett hörte ich die Verdauungsgeräusche des Hauses. Es klapperte, knackte, summte. Die Aufzugtür, Schritte, leise Stimmen. Zimmertüren klappten. Ich war also doch nicht alleine dort.
Obwohl ich meinen Puls auf der Zunge spüren konnte, musste ich gegen das Einschlafen ankämpfen.
Ich schreckte hoch, als ich ein Geräusch an meiner Tür vernahm. Offenbar war ich doch eingeschlafen, mein Kopf dröhnte vor Benommenheit. Ich atmete trotzdem ruhig und unterdrückte den Schreck. Durch die geschlossenen Lider spürte ich einen scharfen Lichtkeil über das Bett fallen. Eine Hand griff sachte nach mir und fühlte den Puls. Dann huschte jemand leise hinaus und es war wieder finster. Ich hätte wetten können, das war die Walküre.
Wieder lag ich und wartete, dabei fühlte ich mich, als ob ich an ein paar dünnen Bändern über einem Abgrund hing. Nicht lange und ich musste mich bewegen, musste meine Haut und meinen Körper spüren.
Vorsichtig näherte ich mich dem Fenster. Es ging nach hinten raus. Das Rollo schob ich zur Seite. Tiefe Dunkelheit draußen, kein Mond, keine Außenleuchten. Nur ein schwacher Lichtschein hoch oben, über der Stadt, immerhin. Wie spät es war, wusste ich nicht, denn ich hatte mein Handy zu Hause gelassen. Im Bett hielt ich es nicht länger aus, also los jetzt, dachte ich.
Schließlich war ich abmarschbereit und heilfroh, dass ich Tania Sotelo nichts von meinen Wertsachen zum Einschließen gegeben hatte. Auf Socken schlich ich mich aus dem Zimmer. Der Flur lag verlassen, es brannte nur eine funzelige Nachtbeleuchtung. Keine Schritte, keine Stimmen. Ich nahm die Treppe. Zwei Stockwerke musste ich runter, Zeit zu lernen, mich leise zu bewegen. Gar nicht so einfach, vor allem, wenn man einen fetten Rucksack auf dem Rücken hatte.
Auf dem letzten Treppenabsatz blieb ich stehen und spähte ganz vorsichtig um die Ecke in die Halle. Hinter dem Tresen saß ein Typ und las im Schein einer Tischlampe Zeitung. Nur Gesicht und Papier waren beleuchtet, der Rest verkroch sich tief im Schatten. Der Typ sah ziemlich jung und wach aus. So hatte ich keine Chance ungesehen zu bleiben. Mit dem schweren Gepäck würde ich auch im Sturmlauf nicht an ihm vorbeikönnen. Er würde aufstehen, mir eine semmeln und dann wars das gewesen.
Wenn ich weiter die Treppe runter geschlichen wäre, hätte er nur den Kopf zu heben brauchen, um mich voll auf dem Schirm zu haben.
Ich wusste nicht weiter. Ein Fenster gab es im Treppenhaus nicht und wenn, hätte er gehört, wenn es geöffnet wurde. Da hätte ich gleich runter trampeln können und mich freundlich grinsend verabschieden wollen.
Er regte sich. Die Zeitung knisterte, der Hocker scharrte und er tat ein, zwei Schritte. Vorsichtig linste ich wieder um die Ecke. Glück gehabt, er stand mit dem Rücken zu mir, reckte sich und blickte durch die Eingangstür nach draußen. Da wollte ich auch gerne hin. Er drehte den Kopf und ich zog meine Nase zurück. Dann hörte ich seine Schritte auf mich zukommen. Vielleicht hatte ich mich im Glas der Tür gespiegelt.
Ich wollte mich hastig nach oben verkrümeln.
Aber er kam nicht die Treppe herauf, sondern seine Schritte verklangen langsam. Ich zischte nach unten. Ein kurzer Seitenblick. Er verschwand gerade im Klo. Wie der Blitz war ich an der Eingangstür. Abgeschlossen. War ja klar. Was tun? Meine Gedanken rasten.
Ich huschte hinter ihm her und öffnete die Tür zur Damentoilette, als ich von Nebenan die Spülung hörte. Die Tür zog ich erst hinter mir ins Schloss, als er seine öffnete.
Er wanderte gemächlich zurück an den Tresen. Der Hocker scharrte wieder.
Zum Glück war ich heute schon mal dort drin gewesen. In einer Wand gab es ein Fenster, nicht sehr groß, aber das war ein Weg nach draußen. Ich schlotterte und bewegte mich, als würde ich in einem zähen Brei stecken. Mühevoll öffnete ich den Metallrahmen. Ich konnte gerade so über den Rand schauen. Alles war dunkelgrau, ich vermutete mehr als ich sah, dass da ein paar Meter weg eine Hauswand stand. Zum Draufsteigen holte ich mir den Papierkorb. Ich schob den großen Rucksack ins Freie und ließ ihn nach unten plumpsen. Dabei hielt ich die Luft an. Es machte jedoch nur ein leises »Plötsch«. Der kleine folgte postwendend.
Einen Augenblick später zwängte ich mich auch durch und sprang ins Dunkel.
5
Eine brasilianische Novembernacht konnte ganz schön kalt sein. Vor allem, wenn eine mit leerem Magen, aber voller Hose, durch eine unbekannte Stadt stromerte. Ich wollte zum Busbahnhof und weg aus der Stadt. Ständig drehte ich mich um, ob da ein Auto auf mich zuhielt oder irgendwelche dunklen Typen hinter mir her schlichen. Selbst Polizeiautos beunruhigten mich, Brasilien galt nicht gerade als Ikone des Rechtstaats.
Auf den ersten Metern überlegte ich, dass mein Verschwinden eigentlich erst morgen früh auffallen würde. Ich sollte also ohne Angst herumlaufen können. Aber ich war zur Mitwisserin geworden und die mussten mich dort behalten und mundtot machen. Die Walküre konnte jederzeit kontrollieren kommen, ob ich noch da war. Sobald das geschah, würden sie mich jagen, davon war ich überzeugt.
Die Straßen schienen leergefegt, keine Menschenmengen, in denen ich hätte verschwinden können. Die Hauptstraße wollte ich trotzdem nicht verlassen, verlaufen wäre fatal gewesen. Also trottete ich den Weg entlang, von dem ich glaubte, dass der Bus ihn genommen hatte. Hin und wieder Haltestellen, aber auch die richtigen?
An einem geschlossenen und schwach beleuchteten Stehcafé konnte ich an der Wanduhr die Zeit ablesen. Kurz vor halb drei. Wann mochte der erste Bus fahren?
Den musste ich auf jeden Fall kriegen, nur dann hatte ich eine Chance weg zu kommen, glaubte ich. Und dann wollte ich die Knete wiederkriegen, sonst würde nix mit Copacabana werden.
Aber alleine konnte ich nicht mehr in die Klinik. Ich fantasierte, wie mich der Typ vom Empfang festhalten und Maradona mir ne Spritze reinhauen würde, ohne dass ich ihm in die Eier treten konnte. Die Einwilligung in die OP lag unterschrieben vor. Das Feld war bereitet, um mich elegant aus dieser Welt zu schaffen.
Wieder blickte ich mich um. Nur ein Moped auf der Gegenfahrbahn.
Nachts sah alles so anders aus. Dort rechts und die nächste links. Oder? Scheiße. Verdammt, hatte ich Kohldampf. Hoffentlich stimmt der Weg, dachte ich dauernd. Die Stadt war sicher größer als Bremen, wo ich die ersten Jahre nach meiner Flucht aus dem Elternhaus verbracht hatte.
Trotzdem war ich noch an keiner offenen Kneipe vorbei gekommen. Dabei musste ich dringend was in den Magen haben. Meine Laune bewegte sich langsam unterm absoluten Nullpunkt.
Nach einer Weile tauchte tatsächlich das klobige Massiv des Busbahnhofs auf. Ganz vorsichtig näherte ich mich, immer auf der Hut. Es war schon ein komischer Gedanke, einerseits fühlte ich mich so was von alleine, andererseits hatte ich Schiss, dass mich jemand erwarten würde.
Das Gebäude war geschlossen. Vor die Eingänge geschobene Gittertüren verwehrten den Zutritt, innen war alles dunkel.
Ich suchte mir auf dem Vorplatz eine geschützte Ecke. Ein paar Jugendliche zogen lautstark diskutierend vorbei. Ich blieb im Schatten, auf neue Freunde hatte ich keinen Bock. Der Platz war gar nicht übel, ich konnte mich auf den erhöhten Betonrand eines Pflanzlochs setzen. Dicht vor mir erhob sich die Rückwand einer Verkaufsbude. Es roch kaum nach Pisse, war windgeschützt, sogar den Rücken konnte ich am Baum anlehnen.
Die Kälte kroch tief in mich hinein, da halfen auch die zusätzlichen Klamotten nicht.
Ich lauschte dem Kollern und Gluckern im Magen, wartete und grübelte.
Am besten also nach São Paulo zur Deutschen Vertretung. Was meinte Cavalcani bloß mit den guten Kontakten dorthin?
Lautes Getrappel schreckte mich auf, Menschen rannten über den Platz, immer mehr, immer lauter. Dann wurde ich durch Tropfen im Gesicht wach. Das vermeintliche Fußgetrappel war bloß ein heftiger Wolkenbruch. Ich flitzte rüber zum Busbahnhof, unter das Betonvordach. Fahles Morgenlicht machte sich breit. Durch die geschlossenen Gitter sah ich, dass sich innen schon Leute herumtrieben. Hinter mir platschten Sturzbäche zu Boden.
Das Wasser spritzte hoch, alles wurde feucht. Mit dem Rücken an die Wand gedrückt hockte ich mich auf den Boden und wartete. Unglaublich, dass ich einschlafen konnte. Nach einer Weile Zuschauen, wie sich der Regen auf dem Asphalt sammelte und Wege in den Untergrund suchte, wurde das Gittertor geöffnet. Inzwischen hatten sich schon einige Leute gesammelt, die Wasser von Regenschirmen schüttelten und fröstelnd von einem Fuß auf den anderen traten.
Jenseits des Platzes zogen Autos lange Gischtfahnen durch die Gegend. Mir war noch nichts Verdächtiges aufgefallen. Ständig blickte ich mich um, wie ein Bussard auf dem Ansitz. Leider fühlte ich mich eher wie ein Spatz, der aufpassen musste, dass er nicht unter die Räder geriet.
Ich erhob mich und ging auf die Suche nach dem Fahrkartenschalter.
Einige Minuten später hatte ich ein Ticket in der Tasche. Bis zur Abfahrt blieb noch etwas Zeit für Kaffee und Frühstück. Kauend reihte ich mich in die Schlange vor dem Bus. Nur noch ein paar Minuten, dann würde ich weg sein. Zuerst spürte ich Erleichterung, als mein Rucksack im Gepäckraum verschwand. Beim Einsteigen verwandelte sich das in eine überschwängliche Euphorie. Ich ließ mich in die Plüschpolster meines Fensterplatzes sinken.
Als erstes Schuhe aus, das ging, neben mir war frei. Ob die Euphorie vom Kaffee herrührte oder der erfolgreichen Flucht entsprang, war mir nicht klar. War auch egal. Der Fahrer wartete noch draußen, ich starrte auf seinen Hinterkopf und drängte ihn telepathisch zum Abfahren.
Zwei Typen mit Sonnenbrillen tauchten am Bussteig auf. Einer glotzte zu mir rein. Direkt und unverblümt.
Gänsehaut überzog meinen Rücken, meine Knie zitterten.
Als sie bemerkten, dass ich sie bemerkt hatte, grinste der große Kräftige mich an. Ein Grinsen, dass nur in einem Mundwinkel zu sehen war. Es erinnerte mich an Jens Dierksen, unseren Nachbarn aus Kindertagen. Der hatte diese Miene drauf, wenn er sich mit dem Beil dem Hühnerstall näherte.
Der Kräftige stieß den anderen an und wies mit dem Kinn zu mir rüber. Der Andere kopierte das Grinsen fast perfekt, dann griff er in die Tasche, holte ein Handy raus und quasselte.
Hilflos musste ich zusehen, wie sie einstiegen. Grinsend gingen sie an mir vorbei. Am liebsten hätte ich mich in mich selbst zurückgezogen und wäre unsichtbar geworden. Ich fühlte mich unendlich schwach, in meinen Gliedern steckte der Schreck bleischwer. Ich konnte mich nicht rühren.
Nach ein paar Minuten dämmerte mir, es war besser, wenn ich nicht raus rannte. Dort im Bus konnten die mir nichts tun, es gab zu viele Zeugen. Aber wehe wenn ich ausstieg, bestimmt folgten die sofort. Unwahrscheinlich, dass ich sie dann noch abschütteln konnte.
Schließlich fuhr der Bus ab, nur war ich da nicht mehr so scharf darauf. Ich redete mir gut zu, atmete gleichmäßig und beruhigte mich allmählich. Ein Mantra hatte ich auch. Ihr müsst mich erst mal kriegen.
Nach einer Weile drehte ich den Kopf. Sie saßen nur zwei Reihen hinter mir auf der anderen Gangseite, mit direktem Blickkontakt. Der Größere beobachtete mich. Er verbreiterte sein Grinsen nochmal um einige Grade Dreistigkeit.
Der Andere telefonierte schon wieder. Ich malte mir aus, wie sie Verstärkung herbei holten. Sie würden mich abfangen, wenn ich ausstieg. Noch ein paar von diesen Typen in Barra Funda am Bussteig und an den Treppen, dann konnte nicht mal eine Maus vorbei.
Ich musste mich zwingen nicht dauernd nach hinten zu schauen. Ich spürte, dass sie mich beobachteten. Wahrscheinlich freuten sie sich darauf, was sie mit mir machen würden, wenn sie mich erst hätten.
Ich könnte den Busfahrer um Hilfe bitten, wenn wir irgendwo halten, dachte ich. Vielleicht konnte der Englisch. Mit Händen und Füßen alleine würde ich nichts erklären können.
Ganz tief im Sitz versunken studierte ich den Sprachführer, ein paar Vokabeln konnte ich dringend gebrauchen. Es half mir auch die nächste Stunde zu überstehen.
In einer Kleinstadt hielt der Bus. Der Fahrer und etliche Passagiere stiegen aus, auch die beiden Kerle. Beim Vorbeigehen machte einer anzügliche Schnalzgeräusche. Das war die richtige Gelegenheit, was vom frisch Gelernten loszuwerden.
»Sai fora!«1717
Ab und zu funktionierte die große Klappe noch. Es erheiterte sie aber nur. Im Weggehen sagte der Kleinere zu seinem Kumpel etwas, aus dem das Wort »puta« herauszuhören war. Das hatte ich auch schon gelesen, es kam in der Schimpfwortabteilung vor.
Die Kerle holten sich Kaffee, dann standen sie rauchend draußen in der Nähe, blickten gelegentlich zu mir rüber, quasselten und telefonierten. Der Busfahrer war verschwunden, da hatte ich nicht schnell genug geschaltet.
Ein Weilchen später ging es weiter. Beim Einsteigen blieb der größere Mistkerl bei mir stehen und fragte »Como vai? Tudo bem?«1818
»Lass mich in Ruhe, Arschloch.«
Schade, dass er kein Deutsch verstand. Die anderen Fahrgäste schoben nach, er musste weiter gehen, mit gerunzelter Stirn. Als ich nach hinten schaute, grinste er wieder.
Ab da blieben noch eineinhalb Stunden, um einen Ausweg zu finden.
Der Verkehr wurde immer dichter. Die Regenwolken hatten sich verzogen, allmählich wurde es warm.
Wieder war ich tief in den Sitz gesunken, damit sie mich nicht sahen.
Wir hielten da und dort, der Bus wurde voller. Während wir die Vororte passierten, entstand nach und nach in meinem Hirn so etwas wie ein Plan. Jetzt brauchte ich noch die richtige Gelegenheit.
Etwas später hatten wir das Stadtgebiet von São Paulo erreicht. Der Bus steuerte wieder eine Haltestelle an, wo ein Haufen Leute warteten.
Als die Ersten im Gang auf meiner Höhe waren, kroch ich schon auf dem Boden und schlängelte mich durch deren Beine zum Ausgang. Dass ich dabei ein paar Leute anstieß, fiel sicher nicht weiter auf. Die Leute drängelten und waren sowieso in Bewegung.
Der Fahrer suchte in dem Moment in seiner Tasche nach Wechselgeld. Bevor er wieder aufschaute, war ich draußen.
Mit flotten, aber bewusst ruhigen Schritten ging ich in Fahrtrichtung direkt an der Fahrbahn entlang. Da konnten mich die Kerle garantiert nicht sehen. Nachdem ich etwa fünfzig Meter weit gekommen war, hörte ich den Bus anfahren. Ich trat zwei Schritte vom Fahrbahnrand zurück und ließ ihn vorbeirollen. Meine Verfolger stierten halb aufgerichtet über die anderen Passagiere hinweg. Zum Abschied hielt ich ihnen den ausgestreckten Mittelfinger in die Visagen.
Der Bus nahm schwerfällig eine Kurve, dann wurde er vom Verkehr verschluckt. Jetzt gab es für mich nur noch eine Devise, nichts wie weg von dort.
In der Stadt würden die mich nicht mehr so schnell finden, wo sollten sie auch suchen?
Nach den ersten Schritten erinnerte ich mich an meinen Rucksack. Der lag natürlich noch im Gepäckfach. Ich hatte nur meinen Handrucksack mit den wichtigsten Utensilien, aber keine Klamotten mehr. Zuerst störte mich das nicht, das Ding war schwer und ohne lief es sich leichter. Nach und nach wurde mir aber klar, dass ich sowieso kaum Geld hatte. Mir fehlten so unverzichtbare Dinge wie Shampoo und saubere Wäsche.
Immerhin, meine Innereien konnte ich vorerst behalten.
In einem kleinen Laden kaufte ich Wasser und ließ mir den Weg erklären. Die freundliche Verkäuferin tat ihr Bestes, um mich zu verstehen. Sie zeigte auf einem Touristenplan, wo ich mich befand. Dann beschrieb sie, wie ich zum Bus in die Innenstadt kommen konnte.
Sie war überhaupt nicht irritiert durch meine Aufmachung. Auf meinem Kinn sprossen die Bartstoppeln, ich war zerzaust und verschwitzt. Nach einer Weile hatte ich soviel wie irgend möglich verstanden und machte mich auf den Weg.
6
Im Nachmittagslicht warf der Betonklotz einen fußballfeldgroßen Schatten. Vor dem ausladenden Portal wimmelte es von Schildern. Das gelbe mit dem Adler wirkte unscheinbar gegen das Geprotze der Firmen. Der Hinweis auf einen deutschen Betrieb, der Gurken in Gläser stopft und ihnen Saures gibt, sorgte für einen Anflug von Küchentischgefühlen.
Das änderte sich sofort, als ich die Eingangshalle betrat. Überall standen Wachleute herum, die nasepopelnd die Umgebung im Auge hatten.
Auf einem Wegweiser las ich, dass ich in den zwölften Stock musste. Immerhin gab es einen Aufzug. Danach allerdings landete ich in einem Foyer, das einem Affenkäfig glich. Der Zugang war komplett vergittert. Der Weg nach innen führte durch eine Schleuse an einer Pförtnerkabine vorbei.
Dort hatte sich eine Schlange gebildet. Alle Besucher mussten in ein Kameraauge sehen und ihre Fingerabdrücke auf einem Pad hinterlegen. Schließlich wurde auch der Pass einkassiert, erst dann wurde ich durchgelassen.
Danach ging es einen Gang entlang vor einen Tresen. Dort musste ich erklären, was ich wollte.
»Cristina ist tot. Die haben sie umgebracht. Im Casa da Beleza.«
Die Angestellte riss die Augen auf und biss sich auf die blassrosa Lippen.
»Waren Sie schon bei der Polizei?«
»Nein, ich weiß nicht wo. Außerdem sind die hinter mir her. Wenn die mich kriegen, machen die mich alle. Bestimmt.«
Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatte, nahm sie mich genauer unter die Lupe.
»Erzählen Sie bitte mal langsam, der Reihe nach. Wer sind Sie und wer soll von wem getötet worden sein?«
»Ich bin Nel Arta. Die Tote heißt Cristina Ribeiro. Umgebracht haben die sie von der Klinik Casa da Beleza in Sorocaba. Das sind verdammte Organklauer. Kapiert?«
Aus ihrem Gesicht sprach die Lebenserfahrung einer langgedienten Kummerkastentante. Sie erkannte Verrückte auf den ersten Blick. Mich eingeschlossen.
»Was haben Sie denn dort gemacht? Und wer ist diese Cristina Ribeiro?«
»Ich … Ich war zu einer OP dort. Cristina auch. Sie stammt aus São Paulo und ist mit einem Deutschen verheiratet. Der hat bestimmt schon deswegen angerufen. Jason Fenner, aus Berlin. Wissen Sie denn nichts davon?«
Sie zog die Augenbrauen hoch und seufzte.
»Bei mir hat niemand angerufen. Nach allem, was ich verstanden habe, ist das ein Fall für die Polizei. Sind sie selbst involviert? Brauchen Sie einen Anwalt?«
»Nein, verflucht, ich brauch Schutz. Und jemand muss sich um Cristina kümmern. Sie ist schließlich Deutsche. Ist das wirklich so schwer zu begreifen?«
Hinter mir bildete sich allmählich ein neugieriges Auditorium. Kein Wunder, bei diesem Andrang. Die Angestellte linste mit flackerndem Blick an mir vorbei.
»Moment«, murmelte sie, »ich ruf Ihnen jemand.«
Mit ihrer sorgfältig manikürten Hand setzte sie die Brille auf, die an einem Band hing. Sie suchte auf einer Kladde herum.
»Soll ich noch ein bisschen für allgemeine Unterhaltung sorgen, bis Sie soweit sind?« fragte ich.
»Ei ja, immer lustisch«, sagte ein Mann mit sonnenverbrannter Stirn hinter mir. Die Kummerkastentante gab keine Antwort. Sie nahm den Hörer und tippte eine Nummer.
»Hallo«, sagte sie, »ich brauche hier mal jemand von euch - Ja, meinetwegen - dann schick den Neuen rauf, aber bitte schnell – ja, danke.«
Sie legte auf.
»Gleich kommt jemand und kümmert sich um Sie. Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz«, sagte sie, wobei sie schon an mir vorbei den Nächsten fixierte.
Ich sah mich um, aber alle Stühle waren belegt. Der Mann hinter mir drängelte sich vorbei.
»Ei, isch will de Pass verlängert habbe …«
Ich entfernte mich ein paar Schritte. Hoffentlich musste ich nicht allzulange warten. Ich hatte schon wieder Hunger.
Nach fünf Minuten erschien ein Typ in kurzärmligem Hemd und Krawatte. Die Angestellte schickte ihn zu mir.
»Guten Tag. Mein Name ist Schaffrath. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Er streckte mir die Rechte entgegen. Ich ignorierte sie. »Ich weiß von einem Mord.«
Wieso rissen eigentliche alle, wenn sie davon hörten, die Augen auf?
»Am besten, Sie kommen mit in mein Büro und erzählen mir alles.«
Schaffrath ging voraus durch Gänge, in denen sich Wartende die Ärsche plattsaßen. Vor einer Glastür holte er eine Karte heraus und steckte sie in ein Terminal. Ein Klicken signalisierte die Entriegelung.
Wir mussten eine Treppe hinunter steigen. Durch eine weitere Tür erreichten wir in einen weitaus ruhigeren Trakt. Dort ließ er mich in ein kleines Büro eintreten. Er wies auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Nehmen Sie Platz.«
Bevor er sich hinsetzte, zog er die Hose über den Knien nach oben. Er trug Bart-Simpson-Socken.
»Bitte, erzählen Sie doch mal der Reihe nach. Vielleicht erst Ihre Personalien und dann was passiert ist.«
»Nel Arta, aus Berlin. Gestern habe ich meine Freundin Cristina tot in einer Kühlbox in der Klinik Casa da Beleza gefunden. Ihr wurden Organe geklaut.«
Schaffraths Finger zischten über die Tasten seines Notebooks.
Das wirkte nun schon sehr viel ernsthafter. Nach einer Viertelstunde hatte er fast alles aus mir heraus gequetscht.
»Und Sie sagen, dieser Herr Fenner wollte sich heute bei uns telefonisch melden? Da werde ich gleich mal nachfragen.«
Er griff zum Telefon.
»Hallo, hier ist Schaffrath. Hat sich bei euch heute ein Herr Jason Fenner gemeldet, wegen des Verbleibs seiner Frau? - Ja, ich warte – aha – ja – ach so? - okay – ja, mach ich – ja gut, habe ich verstanden – Danke.«
Er sah missmutig auf den Bildschirm. Dann seufzte er.
»In dieser Sache wurde heute schon ein bisschen mehr telefoniert. So ganz eindeutig scheint das nicht zu sein.«
Sein Notebook machte »Pling«. Er drückte eine Taste.
»Die Klinik hat vorsorglich eine Nachricht für Sie hinterlassen. Ich gebe Ihnen das einfach mal so weiter. Sie mögen sich dort melden. Falls Sie die OP nicht mehr wünschen, können Sie das Geld wieder abholen. Außerdem schreiben die, es handele sich um einen tragischen Todesfall, wie er in der Anästhesie immer mal vorkommen kann.«
»So ein Blödsinn. Ich hab Cristina gesehen. Das war Mord.«
»Sie brauchen nicht schreien, ich höre noch gut. Sie sind erregt, ich verstehe das. Die Tote ist Ihre Freundin und Sie wollten sich umoperieren lassen, nicht wahr?«
Am liebsten hätte ich mit dem Arm über seinen Schreibtisch gefegt und alles Gerümpel samt der kleinen Schalke 04-Fahne gegen die Wand gehauen. Aber ich riss mich zusammen.
»Es gibt Menschen, die das so nennen, ja.«
»Was machen wir nun?«, fragte Schaffrath. »Ihnen ist natürlich unbenommen, die Polizei zu verständigen. Das kann auch Herr Fenner tun, wen ihm unsere Auskunft in dieser Sache nicht genügt.«
»Was erwarten Sie, was Mörder sagen, wenn sie beschuldigt werden? Sind Sie wirklich so blöde und glauben deren Ausreden einfach?«
»Frau Arta, wir sind nicht die Polizei. Was ich glaube oder nicht spielt keine Rolle. Wenn Sie mit stichhaltigen Beweisen kommen, werde ich Ihnen gerne helfen. Im Rahmen meiner Möglichkeiten.«
»Ach Scheiße, wo soll ich die Beweise herbekommen? Können Sie nicht selbst mal dort nachsehen? Lassen Sie sich Cristina zeigen. Sie werden schon sehen.«
»Nochmal, das ist nicht mein Job. Davon verstehe ich auch nichts. Gehen Sie zur Polizei und erstatten Sie Anzeige. Ganz nebenbei ist für diese Klinik einer unser Honorarkonsuln Ansprechpartner.«
»Na toll. Jetzt weiß ich auch mal, wie die Unterstützung des Konsulats aussieht. Warum bin ich eigentlich hergekommen?«
Mit Blick auf das gerahmte Foto neben seinem Schreibplatz sagte ich »Weiß eigentlich Ihre Frau, was fürn Lulli Sie sind?«
Schaffrath zog seine hohe Stirn in Falten.
»Ich verstehe ja Ihre Angst und Ihre Enttäuschung«, sagte er nach kurzem Stocken. »Mir ist klar, dass Sie sich Sorgen machen. Am besten hinterlassen Sie mir eine Telefonnummer oder Kontaktadresse, unter der ich Sie erreichen kann. Falls ich etwas erfahre oder noch eine Frage auftaucht.«
»Ich hab noch keine Bleibe.«
»Hier in São Paulo finden Sie sicher was. Ich gebe Ihnen meine Karte, dann können Sie mich anrufen. Ich schreibe Ihnen noch die Nummer des Konsuls auf die Rückseite. Sie können ihn gerne ansprechen. Er ist auch Beisitzer in der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer. Er kennt sich aus.«
Er schob mir eine Karte über den Tisch und schraubte sich aus dem Stuhl. Audienz beendet, sollte das wohl heißen. Ich schnappte mir die Karte. Auf der Rückseite stand der Name Dr. Klaus Klinkhammer. Darunter eine ellenlange Telefonnummer.
Schaffrath war bemüht zuvorkommend. »Ich bringe Sie wieder nach oben in den Publikumsbereich. Damit Sie sich nicht verlaufen.«
Unterwegs fragte er »Sie haben wahrscheinlich Angst diese Klinik wieder zu betreten, wegen Ihres Geldes. Das ist bestimmt eine Menge, nicht wahr?«
»Logo. Viel zu viel ums einfach dazulassen.«
Er überlegte kurz.
»Sie können es sich ja überweisen lassen. Oder, wenn Sie es sofort brauchen, mit jemandem zur Unterstützung dorthin gehen.«
Sieh mal an, ganz so dämlich war dieser Heini nicht.
Draußen auf der Straße war ich ziemlich desorientiert. Was nun? Das hatte ich mir vorher nicht überlegt. Aber da wusste ich noch nicht, dass der Besuch im Konsulat so kläglich enden würde.
Gegen vier stand ich vor dem Amorosa Louca. Ein Flachbau, blau und grün gestrichen. Die Fenster waren mit Platten verrammelt, die grün gestrichene Stahltür mit dem Sichtfenster war verschlossen. Oben am Gebäude zog sich ein Werbeband mit prallen roten Herzen entlang, darüber noch eine Leuchtreklame mit dem Schriftzug.
Neben der Tür hing ein Schaukasten, darin Fotos von leicht bekleideten Damen, die sich um Stangen windeten, oder sonstwie posierten. Zu tiefe Einblicke wurden durch aufgeklebte rote Herzen verdeckt. Dazu Text auf Portugiesisch und Englisch. Es ist von »Genuss pur, aufregenden Shows und totaler Entspannung« die Rede. Bei einem »wirklich unvergesslichen Abend mit Shemales« sei alles möglich und für »jeden Geschmack etwas dabei«.
Das konnte ja heiter werden.
Die Öffnungszeiten sagten mir, dass wochentags ab zwanzigdreißig und an Wochenenden ab vierzehn Uhr geöffnet wäre, montags dagegen geschlossen. Ich musste kurz überlegen bis mir dämmerte, es war Dienstag. Unglaublich, ich war erst gestern in Brasilien angekommen.
Am Besten, ich suche mir eine Unterkunft, dusche, lege mich hin und komme später wieder, dachte ich. Hier konnte ich im Augenblick nichts ausrichten.
Hinter mir brauste der Nachmittagsverkehr auf der Autobahn, die etwas unterhalb der anderen Straßenseite entlang führte. Die Rua Bandeirantes selbst zog sich durch ein Industriegebiet und bot eine Zufahrt zur Autobahn. Entsprechend viele Laster rollten auf ihr. Der Lärm war mörderisch.
Nach fünfzehn Minuten fand ich in einer Seitenstraße eine Pension. Sie hieß zwar Aida, war aber ein schäbiger Bau. Für meinen Geldbeutel also genau richtig.
Hinter der Eingangstür mit der abblätternden Farbe wartete ein nikotingelber Vorraum mit Theke, die aussah, als hätte sie eine gnädige Hand vor der Müllkippe bewahrt.
Nachdem ich mehrmals auf die Klingel geschlagen hatte, erschien eine fette, alte Hexe aus einem Durchgang hinter der Theke. Sie kaute und schmatzte. In ihren schlaffen Mundwinkeln hatten sich Krümel vorm Gefressenwerden versteckt.
Ich versuche es auf Englisch. »I need a room.«
In ihrem dunklen Gesicht arbeitete es, dann, oh Wunder, nickte sie. Sie zeigte auf mich und hielt den Daumen hoch.
»Um?«
»Sim.«
Die Sache fing an, mir Spaß zu machen. Sie fragte »Quantas dias?«
»Wieviel kostet es?« Sehr viel Geld hatte ich nicht mehr.
Sie schrieb zwei Fünfen auf ein Blatt Papier. Dazu sagte sie »pagar adiantado«, und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich holte das Geld raus und zählte.
»Semana?«1919
Sie nickte wieder und schrieb unter die Fünfen zwei Dreien und eine Null. Ich zählte nochmal, überlegte, schließlich legte ich ihr dreihundertdreißig Reais hin. Damit blieben mir noch ungefähr zweihundertachtzig Reais. Langsam wurde es knapp.
Sie schrieb mir eine Quittung, dann schob sie mir eine Kladde rüber, in die ich mich eintragen sollte.
Ein Typ polterte hinter mir herein, knurrte irgendwas und trampelte die Treppe rauf. Mit lautem Keifen stoppte die Wirtin ihn. Er kam zögernd zurück.
Es entspann sich ein kurzes, aber heftiges Wortgefecht. Aufgeplustert und mit vorgerecktem Kinn gewann die Wirtin deutlich Oberhand, schließlich griff der Typ in die Tasche und zählte einige knüllige Geldscheine auf die Theke. Eigentlich wirkte er mit seinen großen, schwieligen Händen und dem kräftigen Oberkörper samt anhängender Bierwampe nicht so, als wäre er leicht zu beeindrucken. Trotzdem war er plötzlich ganz brav.
Die Wirtin steckte das Geld ein und wedelte ihn majestätisch weg. Er verschwand ohne weitere Einwände.
Ich klappte den Mund zu und gab ihr die Kladde zurück. Sie las und versuchte dann, meinen Namen auszusprechen.
»Ne-uw Arta …«, klang es, »Americana?«
Ich hätte sie küssen können, sie benutzte die weibliche Form.
»Não, alemão.«
Sie nickte zufrieden und trug etwas in der Kladde nach, dann sagte sie »Bem. Sua quarto, acompanhar.«2020
Sie wendete zur Treppe und stieg hinauf. Ich folgte und heftete dabei meine Augen auf ihre Fesseln. Sie trug ausgelatschte Espadrilles. Meine Nase befand sich auf Höhe ihres ausladenden Hinterteils.
Oben betraten wir in einen Gang, von dem einige Türen nach beiden Seiten abgingen. Sie öffnete eine davon. Das Zimmer war klein und genauso abgewetzt wie alles dort. Ein stählernes Bettgestell und ein gemauerter Wandschrank waren neben einem Stuhl, der als Nachttisch diente, die einzigen Möbelstücke. Das Fenster, durch das ein breiter Streifen Sonnenlicht über das Bett fiel, zeigte zur Straße und war von zwei Fetzen mürbem Stoffes flankiert. Kurz, es war himmlisch.
Die Wirtin schaute an mir runter und fragte »Bagagem?«
Erst zuckte ich mit den Schultern, dann sie. Sie zeigte mit dem Daumen über den Gang entlang und sagte »Banheiro alí.«2121
Zwanzig Minuten später lag ich frisch geduscht und rasiert im Bett. Eine bleierne Schwere presste mich auf die Matratze. Nur eine halbe Stunde ausruhen, dann musste ich los, ein Internetcafé suchen.
Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so alleine und fertig gefühlt hatte.
Die Müdigkeit zog mich in den Schlaf, aber es war, als ob ich in einem Ozean versinke.
Nach einiger Zeit bemerkte ich, wie sich alles um mich vergrößerte. Das Bett wurde länger und breiter, gleichzeitig rückten die Wände weg und die Zimmerdecke verschwand nach oben. Die Tür ragte über mir auf, wie für Riesen gemacht. Rundherum glühte ein Lichtstreifen, als sei es dahinter gleißend hell. Ich wollte den Kopf wenden, konnte mich aber nicht bewegen.
Ich spürte, dass gleich etwas durch diese Tür hereinkommen würde. Panik schnürte mir die Luft ab.
Ich fuhr aus dem Bett hoch. Benommen blickte ich mich um und wusste für Augenblicke nicht, wo ich war. Dann schlug die Erinnerung zu. Aufstöhnend sank ich zurück aufs Kissen.
Draußen war es dunkel geworden, durchs Fenster schien gelbliche Straßenbeleuchtung. Verdammt, ich hatte die Mailstunde verpennt.
Einige Minuten lang liefen meine Augen über. Dann zog ich mich an. Wenigstens in diesen Club wollte ich noch gehen, etwas Sinnvolles tun. Hunger hatte ich obendrein.
Beim Aufhübschen betrachtete ich mich im Spiegel.
Müde sah ich aus, angeschlagen und angespannt. Meine Nase spitzte aus einem blassen Gesicht heraus, die Wangen hohl bis eingefallen. Dadurch wirkten mein Mund und die Augen noch größer. Nee, schön fühlte ich wirklich nicht. Das passendere Adjektiv wäre das wohlwollende »markant« gewesen. Meine Perücke musste dringend gewaschen werden. Ich sollte wieder meine Haare wachsen lassen und so zu einer erheblich pflegeleichteren, weiblichen Frisur kommen, wurde mir langsam klar.
Aber leider würde davor eine längere Phase liegen, in der ich wieder aussehe würde wie Cornelius vom Land.
Die Wirtin saß hinter ihrem Tresen und studierte irgendwelche Unterlagen. Sie blickte auf und musterte mich. Sie sagte irgendwas Unverständliches, aber es klang anerkennend.
Den Weg zum Amorosa Louca fand ich ohne Probleme auch im Dunkeln wieder und so stand ich wenig später wieder vor der verschrammten Tür mit dem Guckloch.
Mir war so ein Schuppen ja zuwider. Nein, ehrlicherweise musste ich zugeben, er machte mir Angst. Aber jetzt umdrehen? Auch blöd, also klingeln.
Klingeln musste ich drei Mal, bevor sich was tat. Es war wohl noch nicht halb neun. Jemand schaute durchs Sichtfenster und fragte, was ich wollte. Vermutete ich jedenfalls. Da ich vergessen hatte mir einen Text zurecht zu legen, stotterte ich was auf Englisch. Als ich Cristina erwähnte, höre ich ein leises »moment«, dann wurde die Tür entriegelt und geöffnet.
Vor mir stand ein kahlköpfiger, muskulöser Typ, der mich an Meister Propper erinnerte. Er trug ein dunkles Ringershirt, aus dem die Muskeln quollen. Seine Ohrringe blitzten im Halbdunkel des weinroten Foyers. Er sagte »Come in« und ließ mich ein. Es kratzte metallisch, als er die Tür hinter mir abschloss.
Stumm starrten wir uns einen Moment an.
»Was willst du von Cristina erzählen? Ist sie wieder hier? Ich dachte, die ist in Deutschland.«
»Ja, eigentlich schon. Aber jetzt gerade nicht. Ich suche jemand aus ihrer Familie. Soweit ich weiß, hat sie Verwandte hier in der Stadt.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. Mehr denn je sah er dadurch wie ein schwarzer Meister Propper aus.
»Warum? Und wer bist du überhaupt?«
»Ich bin Nel Arta, aus Berlin. Daher kenne ich Cristina.«
Er kam einen Schritt auf mich zu. Ich wollte gerne mehr Abstand halten, aber direkt hinter mir war die Tür.
»Und, weiter? Mal raus mit der Sprache«, sagte er und näherte sich noch ein Stück.
»Cristina ist in Sorocaba, in einer Klinik. Aber sie ist tot.«
Er zeigt keinerlei Emotion. »Aha, tot also. Und was willst du von ihren Verwandten?«
»Wegen Beerdigen …«
»Aha.«
Ich war irritiert.
»Kennst du denn welche von ihr? Sie hat hier doch mal gearbeitet.«
»Vielleicht. Bist du auch in dem Gewerbe?«
»Du meinst hier …? Nein, nein. Wie ist das jetzt mit den Verwandten?«
»Ich könnte noch jemand brauchen. Letzte Woche ist eine weg gegangen. Du siehst europäisch aus, das kommt hier ganz gut an. Wir haben Kunden, die auf so was stehen.«
Um Himmels willen, so tief wollte ich nicht sinken.
»Nee, echt, das ist nichts für mich. Wie könnte ich an die Familie kommen? Kennst du jemanden, den ich fragen könnte?«
»Mal sehen. Wie kann ich dich erreichen?«
Ich zögerte. Diese Frage hörte ich da schon zum zweiten Mal. Sie gefiel mir nicht.
»Ich hab noch keine Bleibe. Ich komme einfach nochmal wieder. Morgen?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Gibt es hier in der Nähe eine Kneipe, wo es was zum Essen gibt?«, fragte ich.
»Rechts, nächste rechts, nächste links. Paar Minuten.«
»Danke. Okay, dann gehe ich mal. Bis Morgen.«
Kommentarlos langte er an mir vorbei, öffnete und ließ mich hinaus. Während ich durchatmete, knirschte die Tür hinter mir ins Schloss.
7
Eine gute Stunde später saß ich vollgefressen und angetütert auf einem Plastikstuhl. Vor mir das zweite Glas Wein. In der Ecke hing ein Fernseher, in dem sich ein Fußballplatz samt Zubehör breit gemacht hatte.
Ich hatte keine Lust zur Pension zu gehen, mir tat die anonyme Gesellschaft gut und es ging mir deutlich besser. Wenn nur die Sache mit der Klinik nicht gewesen wäre. Ich konnte da nicht einfach aufkreuzen und die Hand aufhalten. Ohne Hilfe und Zeugen würde ich die Klinik nicht mehr betreten.
Auf der Suche nach Auswegen stierte ich in die rötliche Spiegelung im Weinglas. Die verdunkelte sich, als sich eine Baggyjeans und ein Unterhosensaum samt Fleischfüllung vor meinem Tisch aufbauten.
»Zisch ab, Lulli, ich mag keine Jungs, egal wie klein.«
Ich machte mir nicht mal die Mühe aufzuschauen. Nur seine Stimme brachte mich dazu die Lider nach oben zu bewegen.
»Você é la alamão?«
»Sim, é você?«
Immerhin, ohne Nachdenken ein Kurzdialog auf Portugiesisch. Ich erblickte einen jungen Schwarzen mit blondierten Strähnen, jeder Menge Ohrringen und einer roten Sportjacke, mit der Aufschrift der »Olympic Heroe«.
»Sou o hermano do Cristina. Que pasa?«2222
Das würde ein Sprachproblem werden. Ich fragte »Inglés?«
Er drehte sich um und winkte jemand herbei. Eine junge Schwarze, die Blondie ziemlich ähnelte, näherte sich. Bei der Zahl der Ohrringe hatte sie ein leichtes Plus. Sie stellte sich neben Blondie, lächelte mich an und reichte mir die Hand.
»Hi, ich bin Alina, Cristinas Schwester. Ich spreche ein bisschen Englisch.«
Es war wirklich nur ein bisschen, aber ich hatte Zeit.
»Hallo, ich bin Nel. Wollt ihr euch setzen?«
Alina setzte sich, während er stehenblieb. Sie zuckte mit den Schultern und fragte »Dein Name, escribe«, dabei machte sie eine Kritzelbewegung mit den Fingern. Mit dem Lippenstift notierte ich ihn auf eine Serviette. Sie las, stutzte und murmelte »Ne-uw.« Sie brach in Lachen aus.
Ihr Bruder spielte cool. Sie hielt ihm die Serviette hin.
»Ihr Name, Ne-uwson«, sagte sie und gackerte hemmungslos.
Er musste erst mühsam das Grinsen unterdrücken, schließlich lachte er mit und ließ sich auf einem Stuhl nieder.
»Ne-uw und Ne-uwson«, prustete Alina zwischen Lachanfällen. Okay, so lustig fand ich es nicht. Aber ihr Lachen war so ansteckend, dass ich mitlachen musste.
Nachdem wir uns beruhigt hatten, besann ich mich darauf eine gute Gastgeberin zu sein.
»Was mögt ihr trinken? Bier?«
Alina übersetzte. Mit Bier waren beide einverstanden. Ich nutzte die gelockerte Atmosphäre und erzählte. Mit möglichst einfachen Worten und vielen Pausen, damit Alina Zeit zum Übersetzen hatte. Sie erzählte, dass sie ihr Englisch als Haushaltshilfe in einer englischen Familie gelernt hatte. Ein ziemliches Kauderwelsch mit vielen portugiesischen Einsprengseln, aber es funktionierte.
Nach und nach machte die ganze Kneipe spitze Ohren.
Ich schlug vor, draußen zu reden. Nebenan gab es eine niedrige Mauer, die den Parkplatz eines Apartmenthauses einfriedete. Dort machten wir uns mit ein paar Bierdosen breit.
Alina weinte, als ich erzählte, wie ich ihre Schwester gefunden hatte. Nelson sprang auf, trat gegen den Beton, setzte sich wieder und streichelte Alinas linke Hand. Die andere nahm ich mir vor.
Weitere Male sprang Nelson auf, redete erregt auf Alina ein, ballte die Fäuste, prüfte den Beton, ehe er sich wieder setzte. Alles garniert mit diversen fahrigen Bewegungen mit den Händen.
Er machte mich völlig konfus, viel lieber wollte ich Alina in Ruhe trösten und Händchen halten. Ich betrachtete sie von der Seite. Der zarte Flaum auf ihrer Wange war mit Tränen verklebt, ihre Schultern zuckten unrhythmisch.
Ich hätte Nelson zu einem Dauerlauf die Straße entlang überreden sollen. Gegen meine telepathischen Vermittlungsversuche war er aber immun.
Nach einer Weile zog er ein Pfeifchen aus der Tasche, stopfte es und hüllte uns in Rauchschwaden. Nach ein paar mächtigen Zügen hielt er mir die Pfeife hin.
»Maconha?«2323
Ich nickte, denn ich ahnte, was das bedeutete.
Schließlich nuckelten wir alle an dem Ding. Zwischendurch ging ich noch mehrmals rein und holte Bier. Alina ging es wieder besser, wir quasselten durcheinander, bis ich endlich fragte, ob sie sich vorstellen konnten, mit mir nach Sorocaba zu kommen. Geld holen, eine Beerdigung arrangieren und vielleicht der Sache auf den Grund gehen.
Erst waren sie ganz still. Da wäre ich am liebsten aufgesprungen, so gespannt war ich, doch das Bier und die Rauchwaren sorgten für solide Bodenhaftung. Nelson und Alina redeten aufeinander ein.
Schließlich erklärte Alina, dass sie beide mitkommen würden.
Ich hätte sie küssen können. Noch vor ein paar Stunden war ich völlig alleine gewesen, plötzlich hatte ich so etwas wie Freunde.
Ich fragte sie, was sie davon hielten sich an die Polizei zu wenden. Sie lachten abschätzig. Nelson ließ übersetzen, das solle ich nur machen, wenn ich geprügelt, gefickt und eingelocht werden wollte.
»Gut«, sagte ich, »ich verstehe schon, dann eben ohne Bullen. Aber dann können wir das Verbrechen sicher nicht aufklären.«
Nelson winkte ab und dabei lachte höhnisch auf.
Alina schien seiner Meinung zu sein. »Keine Chance. Um uns kümmert sich die Polizei nicht. Um welche wie dich oder Cristina erst recht nicht.«
Ich wollte noch mal Bier holen. Zum Aufstehen musste ich mich auf Alina abstützen. Sie winkte ab.
»Auch recht«, sagte ich.
Alina schaute mich fragend an. Ich musste lachen, denn ich hatte vergessen, dass sie kein Deutsch verstand.
Inzwischen war es spät geworden. Alina wollte gehen. Sie musste Nelson überreden, was ihr einige Mühe machte. Sie schleppte ihn zu einem Motorad vor der Kneipe.
Während sie sich die Helme überstülpten bekam ich Angst.
»Moment, wartet. Wir müssen uns noch verabreden. Wie kann ich euch erreichen?«
»Morgen hier um halb acht«, sagte Alina, nachdem sie mit Nelson verhandelt hatte.
Knatternd rauschten sie ab.
Sofort sackten Einsamkeit und kühles Nachtdunkel schwer auf mich. Das Gefühl war so beängstigend, dass ich mich zur erleuchteten Kneipe hinwendete. An der Tür erwarteten mich zwei neugierige Besoffene, deren Zudringlichkeit durch meine betäubte Wahrnehmung drang.
So elegant, wie das noch möglich war, legte ich eine Kehrtwendung hin, dabei hörte ich mich selbst reden.
»Könnt euch gegenseitig anne Wäsche gehn, ihr Schleimkröten, meine Mama will nich, dass ich mit Kerlen rummach …«
Sie riefen mir irgendwas nach.
Mit unsicheren Schritten machte ich mich auf den Weg in die Pension. Unterwegs erzählte ich dem Affen auf meiner Schulter, dass ich morgen unbedingt Jason schreiben müsse, dass ich die Sache mit der Kohle selbst geregelt hätte. Dann wurde mir übel.
8
Ganz vorsichtig öffnete ich ein Auge. Der Affe war verschwunden, hatte mir aber vorher ins Hirn gekackt. Der Haufen drückte noch gegen die Schädeldecke, aber der Geschmack war schon auf der Zunge angekommen.
Ich tastete systematisch meinen Körper ab. Es fühlte sich alles so an, wie ich es gewohnt war. Demnach hatte ich ziemlichen Mist geträumt.
Ich brauchte fast eine Stunde, um ausgehfertig zu werden. In der Zwischenzeit fiel mir auch ein, was ich dringend erledigen wollte.
Die Zimmerwirtin war auf ihrem Posten und erklärte mir, wo ich ein Internetcafé finden kann.
Sie sah mir an, dass ich es gestern zu gut mit mir gemeint hatte. Neugierig war sie auch, denn sie bot mir einen Kaffee an. Ich vertröstete sie auf morgen und stiefelte los.
Nie wieder hatte ich seitdem von Berlin behauptet, es wäre laut und schmutzig. São Paulo hatte mich eines Besseren belehrt. Nervenzerfetzender Verkehrslärm, von den Abgasen nicht zu reden.
Scheiße lag auch herum, aber nicht um Bäume, denn die gab es dort nicht.
Bis zum Centro Comercial in einer belebten Geschäftsstraße dauerte es eine halbe Stunde.
Mein Magen signalisierte mir, dass er eine angemessene Portion Kaffee verkraften könnte. Ich ließ sie ihm zusammen mit ein paar Madeleinas in einem Stehcafé auf der Galerie zukommen.
Meine Laune hellte sich etwas auf, aber welcher Wahn hatte mich nach Brasilien getrieben?
Von den Fragen hatte ich noch mehr auf Lager, zum Beispiel, warum geriet ich immer und überall in so eine Scheiße?
Weil ich aktiv meine missliche Lage verbessern wollte, kaufte ich mir eine Grundausstattung Klamotten. Dabei erstand ein Spaghettiträger-Top mit tiefem Ausschnitt. Zu Hause hätte ich das nie gekauft, aber hier gab es nichts, wo nicht der halbe Busen raushing.
Scheiß auf das Geld, wenn ich die Dollars wieder bekommen würde, war alles geritzt. Wenn nicht, reichte sowieso nicht. Deshalb kehrte ich anschließend wieder zum Stehcafé zurück. Zumal noch viel Zeit bis zur Mailstunde blieb.
Ich beobachtete die Menschen und hing meinen Gedanken nach.
Jemand drängelte sich an mir vorbei und befreite mich so von der Grübelei.
Zeit zu gehen, wie zu Hause wollte ich an den PC. Ich bückte mich nach dem Rucksack, aber der war nicht da. Auf der anderen Seite vom Hocker fand ich ihn auch nicht.
Schnell blickte ich mich nach dem Drängler um.
Da schlenderte ein spindeldürrer Halbwüchsiger mit Baseballkappe, der meinen Rucksack lässig in einer Hand trug, Richtung Ausgang. Ich sprang so ruckartig auf, dass der Hocker mit einem Knall umkippte.
Der Mistkerl mit meinem Rucksack drehte sich kurz um, dann legte er einen Kavalierstart hin. Ich schrie laut »He« und sprintete hinterher, vorbei an einem Spalier von offenen Mäulern.
Die Turnschuhsohlen des Diebs quietschten wie Turnhalle. Ich konnte auch schnell sein, wenn es sein musste. Wir sausten über die polierten Steinböden zur Treppe. Am Galeriegeländer schlug er einen Haken, dabei lugte er kurz nach hinten. Offenbar wurde ihm die Sache zu dumm, er warf meinen Rucksack in die Tiefe. Ich hatte Riesenbock mit seinen Eiern Baseball zu spielen, aber eine pragmatische Haltung zu Alltagsfragen. Deshalb raste ich die Treppen runter hinter meinen Sachen her und ließ ihn in einen Seitengang entwischen.
Mein Rucksack war zwei Etagen tief abgestürzt. Er musste offen gewesen sein, denn mein ganzer Krempel lag dort unten verstreut. Leuten schauten verstört hinauf. Ich beeilte mich die Treppe hinunterzuspringen um aufzusammeln, bevor es andere taten. Beim hastigen Schwung um das untere Ende des Geländers knallte ich voll in eine ältere Frau, die mir mit einer prallen Plastiktüte in die Quere geriet.
Wir stützten beide mit einem Schrei zu Boden, ihre Tüte platzte. Mindestens ein Kilo Tomaten rollte in alle Richtungen davon. Ich lag noch benommen auf dem Bauch, die Nase dicht über einer Doppelreihe aromatischer Bananen, da erschienen vor mir ein Paar dunkle Herrenschuhe, die unter grauen Uniformhosenbeinen herauslugten. Dazu ertönte eine Stimme. Mein Blick kletterte an den Graten der Bügelfalten empor
Die Grate endeten im Schritt in Querfalten, wie sie gewöhnlich beim Sitzen entstehen. Unter der Beule mussten Zepter und Reichsäpfel verborgen sein. Darüber folgte ein Gürtel, an dem ein Sprechfunkgerät und eine Stablampe hingen. Über dem Gürtel beulte eine Wampe in dunkelblauem Uniformhemd. Gekrönt wurde das Ganze von einem Schnauzbart, der sich mit den Lippen auf und ab bewegte. Die Rede war eindeutig an mich gerichtet und ziemlich barsch.
Zwei Kunden halfen der Frau auf. Sie hielt sich mit schmerzverzogenem Mund am Geländer fest. Ich haspelte ein paar Entschuldigungen und sammelte Tomaten ein.
Die Stimme wurde noch lauter, dazu gesellte sich eine Zweite, die hinter mir grollte. Ich scherte mich nicht darum, was gingen mich solche Kerlen an? Lieber wollte ich der Frau helfen und ihr Gemüse aufheben. Zwei Hände packten mich, zerrten mich hoch und drehten mir den Arm auf den Rücken. Ich musste den Oberkörper wegen der Schmerzen tief nach unten beugen.
»He, was soll das? Nehmt die Flossen weg, Arschlöcher.«
Mein Protest nutzte nichts. Sie drückten meinen Unterarm ao lange nach oben, bis ich die Klappe hielt. Dann ließen sie wieder nach.
»Mein Rucksack, ich brauche meine Sachen …«
Mein Protest erstickte in Gewimmer. Ich hatte Angst, sie würden mir den Arm brechen. Die beiden Uniformierten drängten mich in einen Seitengang und dort durch eine stählerne Tür. Jede meiner Bockigkeiten wurde mit einer Gemeinheit beantwortet. Erst drückten sie gegen den Unterarm, dann im Seitengang, wo es kein Publikum mehr gab, schlug einer mit einem Schlagstock gegen meinen Oberschenkel. Ich gab klein bei.
Wir durchquerten eine weitere Tür, die in eine Art Wachstube führte. Hinter einen Tresen saßen noch zwei von der Sorte. Sie musterten mich neugierig. In den Brillengläsern des Jüngeren spiegelten sich Bilder von Monitoren. Meine Bewacher ließen mich los. Ich konnte mich aufrichten, hielt aber wohlweislich die Klappe. Der immer noch bereitgehaltene Schlagstock flößte mir Respekt ein.
Die Typen begannen ein Palaver.
Schließlich erhob sich der Jüngere und verschwand. Die Beiden, die mich geschnappt hatten, stießen und gestikulierten mich durch eine andere von diesen Türen aus solidem, grau lackiertem Stahl, in einen kurzen Gang. Von dort wieder in einen Raum, klein und fensterlos mit kahlen Wänden. Bis auf einen kleinen Tisch und zwei ramponierten Stühlen war er völlig leer.
Der mit dem Schnauzer blieb an der Tür stehen. Sein Kollege wedelte mit dem Schlagstock vor meiner Nase herum und gab mir unverständliche Anweisungen. Ich verstand nichts und er schlug mir wieder gegen den Oberschenkel.
Ich schrie vor Schmerz und stolperte zurück gegen die Wand. Er setzte sofort nach, den Stock drohend erhoben. Mit der linken Hand zupfte er an meiner Jacke und machte auffordernde Bewegungen.
Also zog ich die Jacke aus. Er nickte zustimmend, nahm sie mir weg und reichte sie seinem Kollegen. Der filzte gründlich die Taschen und schmiss sie unter den Tisch. Nun zerrte er an meinem T-Shirt. Das hatte ich befürchtet.
In Krimis war das stets die Stelle, an der die Heldin ihre fast vergessenen Karatefähigkeiten einsetzt und mit ein paar Glückstreffern ihre Kontrahenten auf die Bretter schickt. Dabei bricht sie sich einen Fingernagel ab und die Frisur ist hin, aber sie kann entkommen und die Bösewichter ans Messer liefern.
Leider verfügte ich über keinerlei vergessene Fähigkeiten. Selbst wenn es so gewesen wäre, die Angst lähmte mich.
Deshalb nahm der Kerl mein Top in Empfang.
Er betrachtete eingehend meinen Busen, bevor er mit dem Stock leicht gegen meine linke Brust klopfte und eine Frage stellte. Ich zuckte mit den Schultern, aber ich glaubte, er wollte wissen, ob der Busen Natur war. Daraufhin überprüfte er die Sache eigenhändig. Das machte er dermaßen brutal, dass mir Tränen in die Augen stiegen.
Leider hatte er immer noch nicht genug, danach kam meine Hose dran, Schuhe und Strümpfe sowieso. Interessiert betrachtete er meinen Schritt. Trotz der Miederunterhose zeigte sich eine Beule. Vielleicht hatte er schon vermutet oder gehofft, dass er sie vorfinden würde.
Er prüfte die Sensibilität des Bereichs mit einem dosierten Schlag. Der Schmerz durchzuckte mich so heftig, dass mir die Luft wegblieb.
Mein Kopf sackte bis auf seine Bauchnabelhöhe. Er fasste mit der Linken meinen Hals direkt unterhalb des Kinns, hob mich so wieder hoch und drängte mich mit dem ganzen Körper gegen die Wand. Obendrein schob er seinen Schlagstock zwischen meine Beine und zog ihn kräftig nach oben. Sein Gesicht war meinem sehr nahe. Seine grobporige Nase hatte ich unmittelbar vor Augen. Sein Atem roch, als hätte er in Aftershave gesottenes Aas gefressen.
Ich wägte meine Chancen ab. Ganz kampflos wollte ich ihn nicht gewähren lassen. Vielleicht der berühmte Stirn–Nasenkick? Beide Scheißkerle schätzte ich so um die dreißig und jeder für sich schien schon kräftig genug, mich windelweich zu schlagen.
Jemand klopfte an die Tür. Der junge Kollege mit der Brille steckte kurz den Kopf rein und sagte irgenwas.
Mein Peiniger ließ unvermittelt von mir ab. Der Schnauzbart schob mir die Klamotten mit dem Fuß rüber.
Sie wollten also sehen, wie ich mich vor ihnen in den Staub schmiss. Mir war mittlerweile fast alles egal, ich bückte mich. Hauptsache ich war nicht mehr nackt. Mit zittrigen Händen zog ich mich unter den abschätzigen Blicken der Mistkerle an.
Als ich soweit war, wurde ich aus dem Zimmer eskortiert, durch den Gang in einen anderen Raum.
Es war ein fensterloses Büro mit Schreibtisch, ein paar Stühlen und zwei Aktenschränken. Hinter dem Schreibtisch thronte ein fetter Typ um die fünfzig mit kurzem grauem Haar. Er war mir spontan zuwider.
Mit einer Handbewegung wedelte er meine Bewacher hinaus. Als sie gegangen waren, griff er unter den Schreibtisch und legte meinen Rucksack auf die Platte. Aus der Tasche seines Jacketts nestelte er einen deutschen Reisepass. Er schlug ihn auf, sah aufreizend lange hinein, schließlich heftete er seine Augen zum ersten Mal auf mich. Er musterte mich seelenruhig, als wäre ich ein Brathähnchen, welches er zu kaufen in Erwägung zog.
Wenigstens da versuchte ich Stolz zu zeigen, schob das Kinn vor und starrte zurück. Nach ein paar Augenblicken glitt sein Blick abschätzig an mir und meiner Garderobe hoch und wieder herunter, dann holte er geräuschvoll Luft.
»Senhor … Artman«, hörte ich auf Englisch, »das scheint Ihr Pass zu sein, nicht wahr? Und dies demnach Ihre Tasche?«
»Ja. Her damit. Wissen Sie, was diese Scheißkerle gemacht haben?«
»Moment. Mein Name ist Rojas, ich leite die Haussicherheit. Meine Männer haben Sie für einen Ladendieb gehalten, das ist leider ein Missverständnis. Aufgrund Ihrer, hmhm, unvorteilhaften Erscheinung aber verständlich, da kann ich meinen Mitarbeitern keinen Vorwurf machen …«
Damit brachte er mich ruckzuck auf die Palme.
»Keinen Vorwurf? Sind Sie noch ganz sauber? Wer gibt Ihnen das Recht …«
Er unterbrach meine Tirade. »Ich möchte, dass wir eine kultivierte Unterhaltung führen. Wenn Sie dazu weder bereit noch in der Lage sind, werde ich meine Mitarbeiter bitten, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen. Es sind ehemalige Polizisten, die sind in der Auswahl Ihrer Mittel nicht sehr wählerisch, aber höchst effizient. Wir sind bekannt dafür, deshalb sind Ladendiebe bei uns sehr selten. Sollten Sie erwägen, die Polizei einzuschalten, kann ich Ihnen davon nur abraten. Aus naheliegenden Gründen haben wir beste Kontakte zum hiesigen Revier. Es könnte sein, dass Ihre Klage nur zu neuem Grund zur Klage führt, ich vermute, dies ist nicht in Ihrem Sinne.«
Er legte eine wohldosierte Redepause ein. Dann ein Friedensangebot.
»Bitte setzen Sie sich doch. Wir haben da das Problem mit der Kundin, die Sie verletzt und belästigt haben. Da es sich nicht um Schwerwiegendes handelt und wir ihr einen Einkaufsgutschein überreicht haben, können wir die Sache unter zwei Bedingungen vergessen. Hier ist eine Erklärung, mit der Sie bestätigen von uns wegen des kleinen Zwischenfalls korrekt behandelt worden zu sein. Darüber hinaus bestätigen Sie, Ihr Eigentum, soweit von uns sichergestellt, vollständig ausgehändigt bekommen zu haben. Die Marktleitung hat mich ermächtigt, Ihnen wegen der Unannehmlichkeiten einen Einkaufsgutschein in Höhe von einhundertfünfzig Reais zu überreichen. Ich schlage vor, Sie erhalten von mir einhundert Reais in bar, die übrigen fünfzig Reais legen wir in die Kaffeekasse der Belegschaft für deren Bemühungen. Sie unterschreiben diese Erklärung, in der Sie bestätigen, von uns ordnungsgemäß entschädigt worden zu sein. Danach steht es Ihnen frei zu gehen.«
Damit schob er mir den Rucksack und zwei Blatt Papier samt Kugelschreiber über den Tisch. Erst mal stellte ich den Rucksack auf den Kopf. Auf den ersten Blick fehlte nichts. Sogar mein Geldbeutel war da.
Ich schnappte mir den Kuli und kritzelte etwas Unleserliches unter die portugiesischen Texte.
Rojas erhob sich und öffnete die Tür. Dahinter wartete ein Uniformierter.
»Senhor Artman, mein Mitarbeiter wird Sie nach draußen begleiten. Bitte sorgen Sie dafür, dass sich ein ähnlicher Vorfall nicht wiederholt.«
Damit wurde ich entlassen. Mein rechter Oberschenkel schmerzte bei jedem Schritt. Ich fürchtete, das war ein Andenken, von dem ich noch lange was haben würde.
Obwohl ich gerne Scheiben einschlagen wollte, machte ich mich auf die Suche nach dem Internetcafé.
Dort traf sich alles, was unter zwanzig war, über Taschengeld verfügte, hier im Viertel wohnte und sich nie die Haare wusch. Einige der Burschen lümmelten vor Bildschirmen und spielten virtuellen Fußball. Die Mädchen schauten kaugummikauend zu und fummelten an ihren Frisuren herum.
Ich ließ mir vom Kassierer einen PC zuweisen und machte mich ans Werk.
@Jason
»Hallo jason du musst den konsulatsheinis feuer unterm arsch machen. die sagen alles ist normal, weils die klinik so sagt. aber mich haben welche verfolgt und ich bin denen abgehauen. Ich hab bruder und schwester von cris aufgetrieben. die wollen mit mir hingehen damit ich die kohle wiederkriege. Die sagen, polizei haette keinen sinn. aber irgendwas muss doch passieren. was sagt maurer?«
@Nel
»Das mit dem Konsulat ist natürlich blöd. Frank sagt, er muss sich erst mal einarbeiten. Er ist Papa geworden und gerade nicht so schnell damit. Aber das dauert sowieso alles ewig über die Dienstwege. Ich werde nochmal beim Konsulat nachhaken. Pass bloß auf mit dem Abholen der Knete. Geh besser zur Polizei. Das ist sicher nicht so gefährlich, wie das was du vorhast.«
@Jason
»von polizei habe ich die schnauze voll. Hab eben welche kennen gelernt, dreckspack. ich glaube die helfen mir so wenig wie die vom konsulat, eher schlimmer. ich wurde schon davor gewarnt. Das abholen muss klappen sonst bin ich naemlich pleite. Heute abend weiss ich mehr. Morgen melde ich mich wieder. bussi«
Später näherte ich mich der Kneipe von gestern. Alina und Nelson waren schon da. Ihre Augen blieben auf dem Top hängen, das unter meiner Jacke herausschaute.
»Bonito«, sagte Alina zur Begrüßung. Nelson sagte nichts, schielte aber auf meinen Busen, als wäre der gestern noch nicht da gewesen.
»Wie siehts aus mit dem Trip nach Sorocaba? Ich habe so was von die Schnauze voll. Jetzt kann ich gerade noch ein paar Busfahrkarten für uns kaufen. Aber dann bin ich pleite.«
Alina übersetzte und ich bestellte uns Bier.
»Wir fahren mit dem Motorrad«, sagte Alina, »das ist uns lieber. Und es ist billiger.«
»Und ich mit dem Bus? Meinetwegen.«
Alina kicherte. »Nein, du fährst mit uns. Das ist besser. Vielleicht müssen wir schnell abhauen.«
»Aber, … wir können doch nicht zu dritt auf dieser Klappermühle …«
Dass Alina da laut lachte, lag sicher an meinem dämlichen Gesichtsausdruck.
»Nein, Ricardo kommt mit, das ist unser Vetter«, sagte sie, als sie sich beruhigt hatte, »er hat auch ein Motorrad.«
»Wieso noch jemanden? Warum machen wir das nicht alleine?«
»Ricardo ist der Richtige dafür«, erwiderte sie, »er weiß, wie man mit solchen umgehen muss. Nur wir beide und Nelson, das geht nicht. Wir brauchen einen zweiten Mann.«
»Vielleicht sollten wir einen Bus mieten«, sagte ich, weil mich diese Begründung nervte. Ich hatte aber kein stichhaltiges Gegenargument.
Nelson sagte etwas zu Alina und stand auf.
»Nelson will los«, sagte Alina und erhob sich ebenfalls. »Wir fahren morgen um zwölf, okay?«
»Ja, aber ich hab keinen Helm und keine warme Jacke.«
»Bringen wir mit. Tschau.«
Sie brausten davon.
Ich sah hinüber zur Kneipe. Ihr Licht leuchtete verführerisch in der Abenddämmerung, also beschloss ich ein bisschen vom restlichen Geld in einen Schlummertrunk zu investieren. Diesmal setzte ich mich so, dass ich in den Bildschirm schauen konnte. Mädels in Glitzerfetzen, die sich in Gesang versuchten, Männer in kurzen Hosen, die ihren Testoüberschuss an einem Fußball oder Gegenspieler ausließen, mir war alles recht.
Tatsächlich, ein grüner Rasen leuchtete mir entgegen. Mit einem Glas Rotwein vor der Nase versenkte ich mich in einen Plastikstuhl und schaute zu. Gar nicht lange, da gingen meine Gedanken spazieren.
Wann hatte ich das letzte Mal beim Fußball vor dem Bildschirm geklebt? Das war während meiner Lehre, WM 1994. Die Belegschaft der Großküche fragte den Chef, ob sie eine Glotze in der Küche aufstellen dürfen. Er verbot es, angeblich wegen des Arbeitsschutzes.
Wahrscheinlich hatte er Angst, dass wir nichts arbeiten würden.
Kurz danach präparierte einer seinen Probierlöffel mit Chili. Dann rief er ihn, nahm vor seinen Augen einen Löffel Tomatencremesuppe, wackelte mit dem Kopf und sagte »Irgendwas fehlt da, könnten Sie mal?«
Nachher wars niemand gewesen, aber ich hatte die Prügel bekommen, weil ich auf dem Weg zum Jungkoch für die Pflege seines Küchenbestecks zuständig war.
Ich hatte gelernt, den Beruf zu hassen, das gehörte zu den wenigen Dingen, die ich aus der Lehrzeit nicht vergessen werde.
Bevor das mit diesen Erinnerungen so weiterging, gab ich mir einen Ruck, trank das Glas aus und machte mich auf die Socken.
In der Pension erwartete mich die Wirtin zu einem Plausch. Sie wollte wissen, ob es mir in Brasilien gefiel, wie lange ich bleiben wollte und noch mehr Dinge, auf die ich keine Antwort hatte. Sie erzählte, dass sie Nora hieß und nie verheiratet war, weil die Männer, da machte sie nur eine wegwerfende Handbewegung.
Mich störten ihre Vorurteile, es stimmte schon, die meisten Männer waren und sind scheiße, aber eben nicht alle.
9
Von Ricardo war durchs Helmvisier kaum was zu erkennen. Er nahm auch keine Notiz von mir. Die anderen beiden winkten mir lässig zu. Alina hatte einen Pullover und einen Helm für mich organisiert. Da Alina mit Ricardo fuhr, stieg ich bei Nelson auf.
Ich bekam den dringenden Verdacht einen bösen Fehler gemacht zu haben, als er Gas gab. Glücklicherweise konnte ich nicht nach vorne sehen. Der Fahrtwind trieb mir Tränen in die Augen. Tschüss, Mascara.
Mein Gesicht versteckte ich hinter Nelsons Rücken. Mehrmals bemerkte ich, wie sich die Motorräder zwischen den Autos durchzwängten. Es war schon schlimm genug, dabei zuzuschauen.
Nach kurzer Fahrt hielten wir an.
Wir waren in einem schmalen Sträßchen mit hohen Mauern auf beiden Seiten angekommen. Dahinter lagen betagte Industriehallen. Stacheldraht gekrönte die Mauern, zu deren Füßen sich allerlei Müll sammelte.
Dem Lärm nach gab es eine Autobahn in der Nähe.
Hatte ich schon einmal einen trostloseren Ort gesehen? Was wir dort wollten, verstand ich nicht.
Die Anderen stiegen ebenfalls ab und diskutierten irgendwas.
Fast glaubte ich schon, sie hatten sich verirrt, da winkte mir Alina. Ich sollte mit ihr und Nelson mitkommen.
Wir gingen einige Meter die verlassen wirkende Straße entlang, dann tat sich rechts eine Lücke zwischen den Einfriedungen auf. Ein schmaler Trampelpfad mit speckig glänzender Erde. Er führte ein Stück leicht bergab auf eine Straße, die nur durch Leitplanken von der Autobahn abgetrennt wurde.
Alina und Nelson bogen am Ende des Pfades nach rechts ab. Sie steuerten zielstrebig auf eine Tankstelle zu. Kurz vor der Tür blieb Alina stehen und bat mich ein paar Flaschen Wasser zu kaufen. Wir betraten den Verkaufsraum, ich fand das Kühlregal, wo ich drei Halbliterflaschen auf den Arm stapelte. Nelson suchte im Süßigkeitenregal herum. Alina blieb an der Tür und sah hinaus.
An der Kasse zog ich einen Geldschein raus und wartete, bis sich der Verkäufer zu mir bequemte. Der mürrische Typ rückte seine grüne Kappe zurecht und tippte den Betrag ein. Er nahm den Schein und holt mite der anderen Hand die Münzen raus aus der Kasse.
Nelson tauchte neben mir auf. Er hatte so ein dunkles Ding in der Pfote, das verdammt nach Waffe aussah. Die richtete er auf den Burschen an der Kasse. Der erstarrte und wich durch einen auffordernden Wink mit der Knarre ganz langsam zurück. Nelsons griff über die Theke und zog die Kasse an der offenen Lade ein Stück herum.
Mir wurde heiß. Das war ein Raubüberfall und ich war dabei, mit fremden Menschen in einem fremden Land.
Zu viel für meine Nerven. Beinahe hysterisch schrie ich Nelson an, natürlich auf Deutsch, dabei wollte ich ihn zur Seite schieben. Nelson drückte mit der Schulter dagegen und brüllte irgendwas.
Der Bursche mit der Kappe reagierte schnell, ich bemerkte es erst, als es schon fast zu spät war. Er wich einen Schritt zur Seite und schwang auf einmal einen Baseballschläger. Blitzschnell schlug er damit nach der Hand mit der Waffe. Im letzten Moment zuckte Nelson zurück. Der Schlag knallte so heftig auf die Theke, dass der Kleinkram spritzte. Bevor Nelson erneut anlegen konnte, traf ihn der Schlägerkopf wuchtig gegen die Brust. Nelson torkelte fluchend zurück und spurtete dann hinaus. Alina hielt ihm die Tür auf. Es brauchte höchstens eine Sekunde, dann hetzte ich hinterher. Fast rannte ich durchs Türglas, weil Alina ihrem Bruder nachsetzte.
Die beiden verschwanden zwanzig Meter vor mir um die Ecke auf den Trampelpfad. Als ich dort einbog, riskierte ich einen Blick zurück. Der Typ mit der grünen Kappe stierte hinter mir her.
Nelson und Alina setzten sich gerade die Helme auf, als ich um die Ecke kam. Nelson sprang auf den Sitz hinter Ricardo. Der gab sofort ordentlich Gas. Bis ich heran war, lief auch die andere Maschine. Alina wartete nicht, bis ich den Helm aufsetzen konnte. Fast fiel ich runter, weil sie losbrauste, bevor ich mich richtig festhalten konnte.
Nach ein paar Minuten ließ mein Adrenalinschub nach und ich schlotterte. Ich klammerte mich an Alina fest wie die Winslet an DiCaprio beim Untergang der Titanic.
Nach einigen Kurven und Ampeln erreichten wir einen kleinen Platz mit einer Grünanlage. Dort vegetierten ein paar dürre Bäume und schwindsüchtige Bananenstauden, alle von einem seltsam müden, grünstichigen Grau. Überall flog Müll herum und es roch nach alten Scheißhaufen. Sonst war niemand da.
Ich war noch nicht richtig abgestiegen, da ging Nelson schon auf mich los. Er schimpfte und stieß mich vor die Brust. Ich seglte auf den Boden. Er setzte nach, zog mich an der Jacke hoch, brachte sein Gesicht dicht vor meins und brüllte mir seine Spucke ins Gesicht.
Durch sein Brüllen ließ er keinen Dampf ab, sondern geriet immer mehr in Rage.
Einen klaren Gedanken konnte ich nicht fassen. Ich schrie nur »Lass mich los, ich wollte nichts klauen!«
Ich wartete darauf, dass er zuschlug.
Alina zog ihn zurück. Er keilte mit dem Ellenbogen nach ihr, wie nach einem lästigen Insekt. Für Sekundenbruchteile hatte ich einen Flashback, ich sah das wutverzerrte Gesicht meines Vaters vor mir, hinter ihm meine Mutter mit ihrem »Vati, lass gut sein.«
Wieder tauchte Alina hinter Nelson auf, diesmal mit einer Wasserflasche. Sie schüttete ihm eine ordentliche Portion über die Birne.
Der Schleier in seinem Blick lichtete sich und er ließ mich los. Im Aufrichten wischte er sich die Nässe aus dem Gesicht und leckte mit der Zunge die Tropfen von den Lippen. Ich rutschte sofort auf dem Hosenboden aus seiner Reichweite.
Ricardo gab Nelson eine andere Flasche und machte eine Bemerkung, mit der er Nelson zum Lachen brachte. Die beiden Wasserflaschen stammten aus der Tanke. Sie mussten aus meinen Jackentaschen gekullert sein.
Plötzlich schien alles wie weggeblasen, außer mir waren alle zu Scherzen aufgelegt. Alina half mir hoch. Ich sank sofort auf eine der Betonbänke.
»Wozu dieser Überfall?«, fragte ich sie.
»Du hast es vermasselt. Spinnst du? Nelson hätte es fast erwischt.« Sie spuckte mir die Worte entgegen.
»Aber …«
Sie fuhr mir in die Parade. »Die Prügel hättest du verdient. Ich hab ihn nur gestoppt, weil wir was Wichtigeres vorhaben. Wir haben jetzt aber kein Geld für die Fahrt. Und du bist schuld.«
»Ich hab doch Geld«, sagte ich schnell.
»Wieviel?«
Ich holte die Knete raus. Immerhin konnte ich zweihundert Reais auf Alinas ausgestreckte Hand blättern. Ein bisschen Taschengeld besaß ich dann immer noch. Alina zeigte Ricardo und Nelson die Scheine.
Damit war ich entlastet. Zumindest bis auf Weiteres. Ich war mir bloß nicht mehr sicher, ob die Fahrt mit dieser Bande eine gute Idee gewesen war.
»Keinen Raubüberfall mehr?«, fragte ich.
Es dauerte, bis alle es verstanden hatten. Sie lachten. Auch Ricardo, obwohl er mich verachtete, das spürte ich deutlich.
Nelson holte die Pfeife heraus und ließ sie rumgehen. Dann drängte er zum Aufbruch.
Nach einer Weile glaubte ich die Strecke wieder zu erkennen. Die geschundene Landschaft mit den schmutzigen Betonbauten, der Müll, der Dieselgestank. Kaum zu glauben, dass es erst vier Tage her war, seit ich dort lang gekommen war.
Später zeigte sich sogar die Sonne und brannte uns auf den Pelz. Unter dem blauen Himmel mit den Schleierwolken wirkte alles viel malerischer. Für Momente war mir, als wäre ich mit einer Jugendgruppe in die Ferien gefahren.
Wir hielten unterwegs einmal an einer Tankstelle an. Da sah ich Ricardo zum ersten Mal ohne Helm. Er wirkte sehnig und hager und war sicher jünger als er erschien. Die Art, wie er mich musterte kotzte mich an.
Als wir Sorocaba erreichten, stoppten wir bei einem Schnellimbiss an der Ausfallstraße. Das Essen bestand aus Burgern, Cola und Süßkram. Zum Verdauungskaffee zog Nelson eine Karte aus der Tasche. Die sah ungebraucht aus, wie eine von der Tankstelle unterwegs. Allerdings hatte ich nicht gesehen, dass er sie gekauft hätte.
Nelson breitete die Karte aus und suchte die Straße.
»Wer von euch geht mit rein?«, fragte ich.
»Wir gehen nicht rein«, sagte Alina, »wir warten, bis der Arzt rauskommt. Dann werden wir ihn fragen.«
»Aber wieso? Das kann ewig dauern. Außerdem ist die Knete im Tresor.«
Alina stöhnte ungehalten. »Das sind Organhändler. Wir können nicht einfach da reingehen. Die killen uns. Oder lassen uns von den Bullen hopsnehmen. Warte ab, Ricardo und Nelson machen das schon.«
Weitere Fragen und Einwände ignorierte sie.
Eine knappe halbe Stunde später hielten wir schräg gegenüber der Klinik im Schatten eines Alleebaumes.
Nach kurzer Absprache, von der ich mal wieder nichts verstand, joggte Alina über die Straße und verschwand in der Eingangstür.
»He, was soll das? Das kann sie nicht alleine machen. Ich glaube ihr spinnt«, sagte ich und wollte hinterher.
Ricardo hielt mich fest. Mir zog es dabei die Jacke von der Schulter. Das Top verrutschte und entblößte meinen Busen. Er zerrte mich zu sich, sagte irgendwas und betrachtete grinsend, wie ich meine Klamotten richtete. Als ich fertig war, schubste er mich zu Nelson. Der streckte den Arm aus, damit ich nicht erneut auf die Straße rannte. Wenigstens berührte er mich nicht.
Ein paar Minuten später verließ Alina das Gebäude und überquerte die Straße. Sie gesellte sich zufrieden grinsend zu uns.
»Benz, cinzento«2424, sagte sie. Jetzt verstand ich. Sie hatte mit einem Trick rausbekommen, welchen Wagen Cavalcani fuhr.
Ganz nahe fanden wir eine Kneipe, in der wir uns die Zeit vertreiben konnten. Bis auf Alina, sie schlenderte zurück zur Klinik und hielt Wache.
Wir besetzten den abgenutzten Billardtisch mit den krummen Queues. Nelson musste mich ständig erinnern, wenn ich mit dem Stoß dran war. Ricardo beachtete mich fast überhaupt nicht.
Später saßen wir draußen, es war angenehm lau, ein rötliches Abendlicht floss über die Baumkronen.
Wir zuckten alle zusammen, als Ricardos Handy klingelte. Er sprach ein paar Worte, während wir uns hastig die Jacken überzogen und die Helme schnappten. Nelson und Ricardo saßen auf, dabei schauten sie gebannt dem Verkehr entgegen.
Ich sollte am Straßenrand warten.
Höchstens eine Minute später rollte ein grauer Benz vorbei. Die Männer klemmten sich sofort dahinter. Dann fuhr Alina vor. Sie hielt kurz an und ließ mich aufsteigen. Als ich saß, brauste sie los und überholte den Benz anschließend langsam. An der nächsten Ampel standen wir neben ihm.
Alina drehte sich um und blickte mich fragend an. Ich nickte. Der Typ, der das Steuer in Altherrenmanier oben gepackt hatte und mit spitzem Mund nach vorne starrte, war Cavalcani.
Ganz ruhig ließ sich Alina wieder zurückfallen. Nelson und Ricardo blieben dicht hinter dem Arzt.
Es war noch hell genug, um den Benz gut verfolgen zu können. Solange wir im Stadtverkehr fuhren, waren wir völlig unauffällig, so viele Zweiräder schwärmten durch die Straßen.
Nach etwa einer Viertelstunde bog der Benz in eine ruhige Wohnstraße am Stadtrand ein. Alina stoppte an der Ecke und zückte ihr Telefon.
Eine weitere Viertelstunde verging, bevor es klingelte. Alina sprach kurz. Dann warf sie die Maschine wieder an und wir tuckerten gemächlich an dicht bewachsenen Grundstücken mit stabilen Toren und hohen Einfriedungen entlang. Die Häuser versteckten sich so gut, dass kaum ein Lichtschein von ihnen zur Straße drang. Die Bebauung endete, danach kam links ein Brachgrundstück in Sicht. Einige große Erdhaufen waren dort aufgeworfen, zu denen eine tief ausgefahrene Lastwagenspur führte.
Noch auf der Straße stellte Alina den Motor ab, dann rollten und schoben wir die Kiste durch die Fahrspur hinter die erste Aufschüttung.
Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Ricardo und Nelson warteten auf uns. Ricardo zeigte nach links, Richtung Häuser und erzählte etwas im Flüsterton, wobei er mit den Armen große Bögen beschrieb.
Dann schlug Ricardo die Richtung ein, in die er gedeutet hatte. Alina packte mich am Arm und zog mich mit. Wir stolperten durch das unebene Gelände.
Außerhalb der Straßenbeleuchtung wurde es stockfinster, selbst nachdem sich die Augen ans Dunkel gewöhnt hatten. Am Ende der Brache stießen wir auf dichten Bewuchs. Ich hatte einiges über Schlangen im Gelände gehört. Ricardo zögerte jedoch nicht, sondern wühlte sich ins Unterholz.
Ich ging zwar am Ende in einer andeutungsweise getrampelten Spur, hatte aber Angst abgehängt zu werden. Immer wieder schnellten Äste zurück und zischten mir um die Ohren. Junge Büsche schlugen mir in den Schritt, wenn ich zu dicht zu Alina aufschloss. Ständig wischte ich mir echte oder eingebildete Spinnenweben vom Kopf. In meinem Oberschenkel pochte der Schmerz.
Die Schinderei bergauf nahm kein Ende. Schließlich rannte ich in Alina. Sie war stehen geblieben.
Ein Zaun auf einem gerodeten Streifen versperrte uns den Weg. Er war ungefähr einsfünfzig hoch und versuchte den Zutritt mit mehreren schlappen Reihen Stacheldraht zu verwehren. Wir zogen zwei davon auseinander und stiegen durch.
Zuvor mussten wir stetig bergauf steigen, ab der Einfriedung wendeten wir uns bergab. Ricardo ging weiter voran. Er bewegte sich vorsichtig und langsam. Nachdem wir ein Stück marschiert waren, zweigte ein weiterer gerodeter Streifen ab. Er führte vom Zaun weg, direkt abwärts.
Ricardo überlegte einen Moment, dann schlug er diesen Weg ein.
Ein dumpfes Bellen drang durch die Bäume. Ricardo blieb mit erhobener Hand stehen und lauschte. Das Bellen wurde lauter. Wir erstarrten, nur Ricardo hockte sich hin und fingerte etwas aus seiner Umhängetasche.
Das Bellen gewann weiter an Lautstärke, dazu ertönte immer heftigeres Rascheln und Knacken.
Sekunden später sprang ein Hund knurrend und bellend auf uns zu. Ricardo hielt dem Köter etwas entgegen, durch das Knurren war ein »Plöpp« zu hören. Der Köter klatschte aufjaulend vor uns ins Unkraut.
Trotzdem war immer noch Bellen und Getrampel zu hören, das sich schnell näherte. Blitzschnell ging Ricardo erneut in Stellung und das Gleiche passierte nochmal. Jaulen, ein schwerer Schlag auf den Boden, Gewinsel. Ricardo nahm einen kurzen Schlagstock aus der Tasche. Drei Schläge, die Hunde lagen still. Dann lauschte er wieder, aber es blieb ruhig. Mir war übel, obwohl ich Hunde nicht mochte. Ich näherte mich den beiden dunklen Haufen. Kein Schnaufen, kein Zucken, nichts. Ricardo zerlegte eine kleine Armbrust und stopfte sie wieder in seine Tasche. Das machte er sicher nicht zum ersten Mal.
Ich musste zusehen, wie er die Kadaver drehte und nach seinen Pfeilen suchte. Mit einem Messer grub er sie aus. Sogar an einen Lappen für das Blut hatte er gedacht. Verdammt, worauf habe ich mich nur eingelassen, dachte ich dabei.
Alina zog mich am Arm hinter den anderen her. Das Gelände wurde flach. Durch die Bäume schienen erleuchtete Fenster. Auf der Veranda vor einem großen Wohnzimmerfenster stand Cavalcani und rauchte. Ich erkannte ihn am Profil.
Zwischen dem Waldrand und dem Haus lagen zwanzig Meter offenes Gelände. Wir konnten uns nicht ungesehen nähern, solange Cavalcani draußen stand und qualmte.
In mir wucherte die irre Hoffnung, irgendetwas könnte geschehen, sodass wir wieder abziehen müssten. Es brauchte nur eine große Abendgesellschaft zum Dinner kommen. Oder Rambo könnte plötzlich aus dem Haus treten, auf die umgehängte MP klopfen und dem Doc sagen können, gehen Sie unbesorgt rein.
Stattdessen drückte Cavalcani die Kippe aus, räusperte sich und verschwand durch die Terrassentür hinein. Weitere Minuten verstrichen, aber alles blieb ruhig.
Ricardo ging wieder voran. Er näherte sich der Veranda. Nelson folgte ihm. Sie winkten Alina zu einer zweiten Tür, ein paar Meter daneben. Alina zerrte mich mit dorthin.
»Pronto?«, zischelte Ricardo.
»Ta bom«2525, rief Alina und riss die Tür auf.
Es war der Eingang zur Küche. An einem Tisch baute eine junge, dunkelhäutige Frau in weißer Schürze Teller und Schüsseln auf. Sie schrie auf und eine volle Suppenterrine fiel aus ihren Händen. Alina packte die Frau und drehte ihr einen Arm auf den Rücken. Der Oberkörper der Angestellten landete klirrend auf dem Geschirr. Alina zischte ihr etwas ins Ohr. Die Angestellte erstarrte sofort und gab keinen Ton mehr von sich.
Aus dem Wohnraum nebenan hörten wir nach dem Klirren von Glas Gewimmer und Klatschen. Es klang wie Kotelettklopfen. Alina quetschte die Angestellte in die Speisekammer.
Die Tür zum Wohnzimmer stand halb offen. Ich erblickte ein Stück von einem gedeckten Esstisch, weiße Tischdecke, Teller, Besteck, Servietten. Das Tischtuch hatte unschöne Falten, zwei Kerzenleuchter waren umgekippt und bildeten Wachspfützen. Auf dem Boden lag ein zerbrochenes Aperitivglas in einer kleinen Lache, die ins dunkle Parkett versickerte. Hinter dem Tisch saß schreckstarr eine ältere Dame mit kastanienrotem Haar. Sie wimmerte und schniefte leise.
Ich hörte Nelson in aggressivem Tonfall reden.
Cavalcanis »Não, não« klang jämmerlich. Wieder ertönte dumpfes Klatschen, dann Stöhnen.
Mit jedem Klatschen wimmerte die Frau lauter. Nelson rief nach mir, meine Knie wurden noch weicher als sie ohnehin schon waren. Alina musste mich durch die Tür schieben. Das große Zimmer erwies sich als Altenheim für betagte dunkle Möbel, dicke Bücher und Ölschinken.
Cavalcani hielt sich mühsam mit aufgerissener Hemdbrust und zerzaustem Haarkranz auf einem Stuhl. Mit fleckigem Gesicht blinzelte er kurzsichtig in meine Richtung. Eigentlich trug er eine Brille. Nelson stand neben ihm, eine Hand lässig auf Cavalcanis Schulter.
Nelson vibrierte förmlich, seine Pupillen waren nur kleine Punkte. Scheiße, das musste Doping sein.
Ricardo hielt sich etwas entfernt auf der anderen Seite auf, auch er stand unter Strom. Mit dem Schlagstock schlug er leise klatschend einen schnellen Takt in seine linke Handfläche. Wenigstens war nirgendwo eine Knarre zu sehen.
Langsam näherte ich mich. Cavalcanis Mundwinkel waren eingerissen. Auf seinem Kinn glänzte verschmiertes Blut. Auch auf der aufgerissenen Knopfleiste seines Hemds gab es Blutflecken.
Er tat mir leid, fast noch mehr als ich mir selbst.
»Wegen Cristina …«, krächzte ich mit trockenem Mund. Er blinzelte mich angestrengt an.
»Miss Arta?«, fragte er mit viel zu hoher Stimme.
»Ich weiß, was ihr gemacht habt.« Mehr brachte ich nicht raus.
»Aber …«, stammelte er. Dann war ihm anzusehen, wie eine Idee durch sein Hirn zischte.
»Sie wollen ihr Geld zurück, nicht wahr? Kein Problem, ich schreibe Ihnen einen Scheck. Sagen Sie bitte den beiden, dass wir das gütlich regeln.«
Er wollte sich aufrichten, aber Nelson drückte ihn wieder runter. Scheck, das hatte er verstanden. Ich nickte ihm zu, dachte, lassen wir den Doc nen Scheck oder zwei schreiben, das beruhigt die Gemüter.
»Ta bom.« Nelson nahm die Hand weg.
Cavalcani erhob sich schwerfällig. Ricardo klaubte dessen Brille auf und gab sie ihm. Ein Glas war gesprungen, das Gestell hing schief im Gesicht.
Cavalcani schleppte sich zu einem Sekretär, öffnete die Schreibplatte und eine Schublade, der er Stift und Scheckheft entnahm. Alle Augenpaare folgten ihm dabei.
Nelson verlagerte ständig sein Körpergewicht von einem Bein auf das andere. Er wirkte wie ein Ballon kurz vorm Platzen. Auf sein kurzes Kommando kam Cavalcani zurück an den Tisch. Er zog den Stuhl näher ran, glättete das Tischtuch und schlug das Heft auf. Mit dem Kugelschreiber in der Hand zögerte er, dann blickte er zu mir auf.
»Sind Sie mit zehntausend Dollar einverstanden? Wegen der Unannehmlichkeiten, die Sie hatten?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, füllte er den Scheck aus und reichte ihn mir.
»Sie können ihn bei jeder Bank einreichen. Er wird nicht zurück gewiesen werden, das verspreche ich.«
Nachdem ich den Scheck genommen hatte, sagte er »Bem?« und schaute sich fragend um. Die Stille hielt er nur wenige Sekunden aus, dann fragte er etwas auf Portugiesisch.
Nelson grinste und machte eine auffordernde Bemerkung. Cavalcani schrieb einen zweiten Scheck. Danach blinzelte er in die Runde und fragte wieder. Nelson beachtete ihn nicht. Er blickte Alina an, dann die schniefende Frau des Docs und machte eine kurze Kopfbewegung.
Darauf bugsierte mich Alina in die Küche. Im Vorbeigehen zupfte sie Frau Cavalcani am Ärmel und gab ihr ein kurzes Kommando. Alina dirigierte die Frau auf einen Stuhl und schloss die Tür. Sie fragte mich, auf den Scheck weisend, ob ich zufrieden damit wäre.
Mein zögerndes Nicken kommentierte sie mit einem Grinsen, das sagte »Siehst du, lass uns mal machen.«
Ich fragte mich, ob der Scheck wirklich einlösenbar wäre. Ich würde beim Versuch verhaftet werden können, immerhin waren da zwei gekillte Köter, Körperverletzung, Hausfriedensbruch. Weiß der Himmel, welche Vergehen ein Richter noch finden würde.
Von nebenan war wieder das dumpfe Klatschen zu hören, begleitet von drohend knurrenden und einer jämmerlichen Stimme. Dann schien ein Möbelstück zu Bruch zu gehen, Flüche, Brüllen, dann noch eins. In die folgende Stille wimmerte Frau Cavalcani.
Ich schrie, sie sollten aufhören damit, das würde auch nicht helfen und jetzt wäre es genug, ich wöllte dort weg und wenn ich gewusst hätte, was die anstellen würden ...
Ich schrie auf Deutsch und war deshalb die einzige, die eine Ahnung davon hatte, was ich von mir gab. Obendrein öffnete ich die Tür. Ich war fest entschlossen, der Sache ein Ende zu bereiten.
Ricardo und Nelson beugten sich gerade über den Arzt, der auf dem Boden vor der Anrichte lag. Sein Kopf befand sich direkt unterhalb der zertrümmerten Front. Es sah fast so aus, als hätte Cavalcani drunter oder hinein krabbeln wollen. So wie ich mich vor den Wutanfällen meines Vaters verstecken wollte. Er war aber erheblich größer als eine Erstklässlerin.
Ricardo richtete sich auf, schnappte sich ein Papier vom Tisch und ging wortlos in die Küche. Frau Cavalcani drängelte sich vorbei. Sie schrie »Marcelo, Marcelo!«
Nelson hielt sie fest. Er schleifte sie zur Speisekammer und sperrte sie zur Hausangestellten.
Ich betrachtete Cavalcani genauer. Aus seiner Nase sickerte Blut.
Nelson kam zurück und sagte »Morto.«2626
Darauf kaute ich drei Sekunden herum, bevor ich wieder losbrüllte. Nelson schrie zurück und schlug mir mit dem Handrücken auf den Mund. Alina ging sofort dazwischen. Sie verhinderte, dass ich mir Prügel abholte. Stattdessen redete sie erregt auf ihren Bruder ein. Schließlich sagte sie zu mir »Wir gehen.«
Damit drehte sie sich um und verschwand durch die Küche ins Freie. Nelson folgte ihr.
Sie achteten nicht darauf, ob ich folgte. Ich klammerte mich an der Anrichte fest und wusste nicht weiter. Meine Unterlippe schwoll an, blutete aber nicht.
»Ei!«
Ricardo erschreckte mich. Mit einer Kopfbewegung zeigte er mir, ich solle mitkommen. Im Rausgehen filzte er ein graues Jackett. Eine Brieftasche und ein paar Geldscheine wanderten in seine Taschen.
Draußen nahm er den Gehweg am Haus entlang, Richtung Straße. Er schaute sich mehrmals um, ob ich folgte.
Kurz vor dem Gartentor holten wir die anderen ein. Die Gartenmauer und auch das Tor waren sehr hoch, aber Ricardo holte einen Schlüsselbund hervor, mit dem er vorsichtig entriegelte. Er öffnete das Tor ganz langsam, dann streckte er den Kopf raus und linste nach links und rechts. Wir huschten hinaus und er sperrte wieder ab.
Leise trippelten wir die Straße entlang, Richtung Motorräder. Kein Mensch, kein Auto, niemand führte seinen Kläffer Gassi.
Wir gingen einzeln für uns, als wollten wir mit den anderen nichts mehr zu tun haben. Für meinen Fall war das nicht weit hergeholt.
10
»Herr Dr. Klinkhammer ist nicht im Hause«, sagte die Sekretärin.
»Und wann ist er zurück?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er musste nach Sorocaba. Ich glaube nicht, dass er heute nochmal ins Büro kommt.«
Das klang nicht gut. Ich konnte mir denken, was er in Sorocaba machte und wenn ich Recht hatte, war er im Bild.
»Wie kann ich ihn morgen erreichen?«
»Ich bin nicht informiert, welche Pläne er hat. Es kann sein, dass die Angelegenheit in Sorocaba ihn noch länger aufhält. Am besten hinterlassen Sie mir Ihren Namen, den Grund Ihres Anrufs und wie er Sie erreichen kann.«
»Das ist was Persönliches. Ich probiere es morgen nochmal.«
Das war verdammt schnell gegangen. Ich hatte noch im Ohr, wie Frau Cavalcani meinen Namen nannte. Damit war mein Geld unerreichbar für mich.
Und wenn ich es recht bedachte, fahndete sicher die Polizei nach mir.
Ich hatte noch vierzig Reais in der Tasche. Und diesen Scheck. Dummerweise konnte ich erst in drei Wochen zurückfliegen. Umbuchen war selten möglich und kostete Geld. Ob ich überhaupt fliegen konnte? Nach Lage der Dinge war es wahrscheinlicher, dass mich die Polizei spätestens bei der Passkontrolle abgreifen würde. Ob ich mich stellen sollte? Ein paar Ex-Polizisten konnte ich schon kennen lernen. Jason hätte gesagt »Polizist ist nicht gleich Polizist.«
Leider griff ich zu oft in die Scheiße.
Jemand klopfte an die Kabine, weil ich dort schon minutenlang saß und nichts mehr tat. Ich hängte ein und trottete an den Postschalter zum Bezahlen.
Zurück in der Pension ließ ich mir im Bad viel Zeit. An diesem Mittag schien es nicht zu stören, niemand rüttelte ungeduldig an der Tür.
Das Bad wäre allerliebst gewesen, mit seiner Dreißigerjahre-Keramik und den schwarz-weißen Fliesen, wenn es weniger schmuddelig gewesen wäre. In der Dusche wuchsen schleimige Schimmelecken in die Höhe und wenn der Duschvorhang am nackten Körper hängen blieb, gab es einen guten Grund sich nochmal zu duschen. Seis drum, alles besser als Käfighaltung auf Staatskosten.
Danach legte ich mich wieder hin. Nach der Rückkehr aus Sorocaba konnte ich kaum schlafen und war entsprechend erledigt. Zudem musste ich meine Situation überdenken und einen Ausweg finden.
Kurz vorm Dunkelwerden wachte ich auf. Ich war zwar verschlafen und hungrig, hatte aber einen Entschluss gefasst.
Leider verfügte ich außer frischer Unterwäsche über nichts Sauberes mehr zum Anziehen. Hose und Jacke hatten die Fahrt und der Waldspaziergang sichtlich zugesetzt. Die Jeans, mit der ich gekommen war, sah auch nicht besser aus, roch aber noch schlechter. Trotzdem nahm ich sie, einfach weil sie mir vertraut war und noch keine Beihilfe zu Straftaten geleistet hatte.
Die Leuchtreklame warf ein fahles rotes Licht auf den Asphalt und alles, was in ihren Schein geriet. Zuerst meine Schuhe und Hosenbeine, dann wurde auch meine Hand, die nach der Klingel tastete, zu einem mattroten Puppenpfötchen. Eine Minute später öffnete Meister Propper und ließ mich rein.
»Was willst du?«, war seine erste Frage, nachdem er wieder verriegelt hatte.
»Ich bin pleite. Wie war das mit dem Job?«
»Also doch. Hast du so was schon mal gemacht?«
»Eigentlich nicht …«
»So so, eigentlich nicht. Na, komm mal rein. Drüber reden können wir.«
Mit diesen Worten führte er mich an der Garderobe vorbei in eine Bar mit Bühne. Dort waren erst zwei oder drei Tische besetzt und so trübe beleuchtet, dass ich nicht viel erkennen konnte. Dafür blitzte und strahlte die Theke, hinter der sich eine junge Frau bewegte, deren Busen aus einem kleinen BH hervorzuquellen drohte. Bebel Gilbertos Stimme schleimte durchs Lokal.
Meister Propper dirigierte mich auf einen Barhocker und winkte die Barfrau herbei.
»Das ist Sonia«, sagte er, »Sonia, gib uns mal zwei Gläser von dem Roten. Ist das okay für dich, oder möchtest du was anderes?«
Ich nickte nur, denn ich war mit Sonias Anblick beschäftigt. Sie füllte zwei Gläser, die Flasche blieb vorsorglich auf der Theke stehen. Remo prostete mir zu, dann tranken wir. Der Wein war mit Abstand der beste, den ich seit langem in mich hinein geschüttet hatte.
Meister Propper musterte mich.
»Ich bin Remo. Wie heißt du?«
»Nel.« Ich hätte gerne ein Pseudonym benutzt, aber auf die Schnelle hatte mich das überfordert.
»Du sieht scheiße aus. Eigentlich lasse ich niemand in einem solchen Aufzug rein.«
Er hatte gut reden. In dunkler Hose und blütenweißem Hemd sah er aus wie ein Conférencier.
»Ich habe nichts anderes mehr. Auch deswegen brauche ich einen Job.«
»Kannst du auch ladylike sein?«
»Ich kanns versuchen. Ich kenne in Berlin welche, die sinds. Die könnte ich nachmachen.«
Er runzelte die Stirn und wirkte nicht überzeugt.
»Gut«, sagte er schließlich, »hier wird alles gemacht. Blowjobs, anal, Sandwich, manchmal Fisten und so weiter.«
Ein rotes Blinklicht hinter der Theke ließ ihn innehalten.
»Moment.«
Er ging hinaus und kam kurz darauf mit drei Männern wieder herein. Sie unterhielten sich ein wenig, dann übergab er sie an ein paar Diven in Reizwäsche.
»Habt ihr auch Frauen als Kundschaft?«, fragte ich, als er sich wieder setzte.
Zuerst sah er verblüfft aus, dann lachte er lauthals.
»Não«, sagte er, als er wieder zu Atem kam, »soweit sind wir noch nicht. Ich glaube, dann würden die Männer wegbleiben. Wäre schade, die haben das Geld.«
»Bar könnte ich auch machen. Da habe ich sogar Erfahrung.«
Remo winkte ab.
»Sonia macht das sehr gut. Außerdem kannst du kein Portugiesisch. Wenn du hier jobben willst, dann beim Ficken.«
Er musterte mich nochmal gründlich.
»Du brauchst was Richtiges zum Anziehen, ordentliche Schminke und alle überflüssigen Haare weg. Dann brauchst du noch ein paar Tage Anleitung.«
Ich gebe zu, es war nicht ohne Reiz, aber meine Angst war viel größer.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Mit dem Stehvermögen ist es nicht weit her. Die Hormone, weißt du. Mit Männern habe ich früher schon mal was gehabt, ist aber schon fast fünfzehn Jahre her. Inzwischen find ich die eher eklig.«
Remo musste schon wieder lachen.
»Das geht den anderen hier genauso. Ein paar warten auf Mr. Right. Die Hormone musst du vielleicht mal weglassen. Du könntest mit einer mitgehen und dir zeigen lassen, wie es gemacht wird. Carmen vielleicht. Kannst du Spanisch?«
»Ja, ein bisschen Spanisch kann ich, aber wenn ich die Hormone weglassen soll, musst du mir den Arsch aufschneiden und sie rausholen.«
Remos Augen blitzten vor Vergnügen.
»Sehe ich aus, wie ein Metzger? Oder gar wie ein Arzt? Aber Doc Remo ist hilfsbereit. Für Durchblutungsstörungen halte ich immer Viagra bereit. Bisher haben wir das damit in den … hmhm … Griff gekriegt. Also, willst du es wirklich probieren?«
»Versuchen kann ichs ja mal. Wie viel könnte ich eigentlich verdienen?«
An der Entscheidung hatten sich zwei Gläser Rotwein beteiligt. Mal hospitieren, das konnte doch nicht schaden. Ich hatte sowieso sonst nichts Sinnvolles zu tun.
»Meine Mädels kriegen Geld pro Kunde, wie viel hängt davon ab, was ihr mit den Kunden macht. Es gibt eine Preisliste, die solltest du dann kennen. Wenn du es schaffst, sie richtig heiß zu machen und noch ordentlich zum Saufen bringst, kannst du schon einen Tausender die Woche machen. Nicht sofort, vielleicht schaffst du die Hälfte. Manchmal sind auch Bullen zu Besuch. Da müssen wir aufpassen. Wenn ein Bulle kommt, kriegst du Bescheid und musst verschwinden. Wenn sie dich erwischen, musst du löhnen. Oder die buchten dich ein.«
Ich fragte lieber nicht wieso. Von der Polizei konnte ich sowieso nichts Gutes mehr erwarten.
»Aber wie ist das mit den Klamotten? Wo kriege ich was her?«
»Carmen soll dir was leihen. Das kannst ihr später abkaufen. Die Mädels haben alle mehr Klamotten als Schränke dafür. Du wirst etwa so aussehen wie Yanet.«
Er zeigte mit dem Kopf zu einem der Tische, an dem zwei Typen mit einer gesträhnten Blondine saßen. Sie trug nicht viel, aber der weiße Spitzen-BH und die weißen Strümpfe zum Strapsgürtel kontrastierten scharf zu ihrer dunklen Haut. An den Füßen trug sie Sandalen mit unanständig hohen Absätzen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte die Männer weggejagt und die zarte Person in ein romantisches Himmelbett geschleift.
Was war bloß mit mir los, fragte ich mich. Ich sollte es bei dem dritten Glas Wein bewenden lassen.
»Ich glaube nicht, dass ich so gut damit aussehe.«
Remo gluckste.
»Das ist doch völlig egal, Hauptsache, es macht die Männer an. Warte mal ab, wenn du dich darin siehst. Sei morgen um halb zwei hier. Ich sage Carmen gleich Bescheid, dann muss ich noch ein paar Sachen erledigen. Willst du noch bleiben? Sonia, gib Nel noch was, das geht aufs Haus. Ah, da kommt ja Carmen. Tschau.«
Aus einer Tür neben dem Ausgang stöckelte eine dunkeläugige Schönheit. Sie trug ein durchsichtiges, schwarzes Kleid, das höchstens bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel reichte und darunter nur einen dunklen String. Der String hatte vorne eine deutliche Beule, wegen der ich mich an ihrer Stelle geschämt hätte. Ihren dunklen Haare fielen fast bis auf die Hüften. Sie bewegte sich wie eine Prinzessin, mit leichten Schritten und geradem Rücken. In ihrem Schlepptau folgte ein älterer Typ, der das genaue Gegenteil von ihr war. Plump und schwerfällig, schnaufend, mit verschleierten Augen.
An der Bar bestellten sie Sekt. Remo schlenderte zu ihnen hin, sie wechselten ein paar Worte. Er wies mit dem Kinn zu mir.
Carmen schaute herüber und zeigte mir eine wundervolle Doppelreihe weißer Zähne, die auf ein Werbeplakat gehörten. Mein Blick dagegen verfing sich auf ihren dunklen Nippeln. Carmen sah aus, als hätte sie sich ein männliches Genital anbasteln lassen. Das konnte aber nicht lange her sein, sie war allerhöchstens Mitte Zwanzig.
Eigentlich hatte ich gehen wollen, da aber spürte ich, wie diese Falle über mir zuschnappte. Wie in Trance winkte ich Sonia und ließ mir noch ein Glas Wein einschenken.
Damit ich Carmen nicht dauernd anstarrte, blickte ich mich im Lokal um. Mir war völlig egal, dass Yanet mit den beiden Männern abzog. Ich beobachtete ungerührt, wie Yanets Arschbacken den String zermalmten, der sie trennte.
Weitere Männer füllten den Raum. Eine lange Blonde machte sich an einem kleinen Dunklen zu schaffen. Er klammerte sich mit halb geschlossenen Augen an ihr fest und hielt sein Becken so, dass sie bequem in seiner Hose wühlen konnte.
Ich wendete mich wieder meinem Glas zu. Carmen winkte. Ich schwankte zwischen Beklemmung und Jubel, versuchte aber cool auszusehen.
Carmen reichte mir die Hand und fixierte mich mit ihren Kastanienaugen.
»Hola, Nel, ich bin Carmen. Das ist Manuel. Magst du etwas mit uns trinken?«
»Hola, ja.«
Mein Mund war völlig ausgedörrt, das Angebot mit dem Sekt kam gerade rechtzeitig. Aus der Nähe betrachtet sah Manuel wie ein netter Onkel aus. Trotzdem hatte ich was gegen ihn, denn seine Stielaugen klebten an Carmens Busen. So ein verdammtes Ferkel. Kerle können sich einfach nicht benehmen. Wir prosteten uns zu. Carmen erzählte Manuel etwas über mich. Leider konnte ich sie nicht fragen was sie über mich verbreitete, denn ein anderer Mann begrüßte sie. Ein Büromensch um die Vierzig, den ich augenblicklich hasste. Er trank ein Glas mit, dann entschuldigte sich Carmen bei uns und schob mit ihm ab.
Mir schnürte es die Kehle zu. Ich musste sofort gehen.
Erst als ich draußen war und den roten Lichtschein hinter mir gelassen hatte, konnte ich wieder richtig durchatmen. Die Luft schmeckte feucht und mild, fast schon schwül.
Den Grund dafür bekam ich ein paar hundert Meter später zu spüren. Unvermittelt schüttete es wie aus Kübeln. Nach höchstens einer Minute war ich durch und durch nass.
Als ich vor der Pension den Schlüssel aus der Tasche kramte, ließ der Regen nach. Perfektes Timing. Nora hörte mich kommen. Sie streckte neugierig die Nasenspitze durch den Vorhang, hinter dem offenbar ihr Reich begann.
»Ay, ay, ay, pobrezinha.«
Sie nahm sich meiner an. Ich musste wirklich traurig ausgesehen haben, müde und durchgeweicht. Wie eine Mutter führte sie mich nach oben ins Bad. Aus einem wurmstichigen Schrank im Flur holte sie ein paar frische Handtücher, die genauso dünn gewaschen waren, wie meine zu Hause.
Ich schlotterte am ganzen Körper vor Kälte und Erschöpfung. Trotzdem war Nora schuld, dass ich auch noch ungebremst Rotz und weiteres Wasser heulte.
Sie schälte mich aus den Klamotten und schob mich unter die Dusche. Allerdings ist war nicht nur hilfsbereit, sondern auch sparsam. Nach einer Minute stellte sie das Wasser ab und frottierte recht energisch an mir herum.
Sie hantierte so selbstverständlich, als wäre ich ihr Kind. Ich schrie vor Schmerz auf, als sie meinen rötlich verfärbten, angeschwollenen Oberschenkel mit dem Handtuch bearbeitete. Nora hielt inne und schaute sich die Sache an.
»Ay, ay, ay«, murmelte sie wieder und tupfte vorsichtig weiter. Sie brachte mich in Handtücher gewickelt ins Zimmer, meine nassen Sachen auf dem Arm. Unter gutturalen Mutterlauten stopfte und zupfte sie an der Bettdecke herum, nachdem ich ins Bett gekrochen war.
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Mein Oberschenkel schmerzte so, dass ich mich nur steif und unbeholfen bewegen konnte. Ich betrachtete den blau-grünen Fleck, schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich aus dem Schwanz des Wachdienstlers mit einem Fleischmesser das Mittelstück rausschneiden würde.
Zum Anziehen hatte ich nur schmutzige Sachen, aus denen ich die besten heraussuchte. Meine Schuhe waren noch klamm.
Auf dem Weg nach draußen passte mich Nora ab. Sie examinierte gründlich ob es mir besser ging, tätschelte mir die Wange und bat mich in ihr Reich. Ich tauchte durch den muffigen, schweren Vorhang und folgte ihr in einen dunklen Gang, der mit Möbeln in einen Geschicklichkeitsparcours verwandelt worden war.
Zu allem Überfluss stieß ich mir das lädierte Bein an einer hinterhältigen Kommode, die sich mit ihrer Alterspatina fast unsichtbar gemacht hatte, sagte aber nichts, damit Nora mich in Ruhe ließ.
Sie öffnete eine Tür am Kopfende, Licht strömte herein und bewahrte mich vor einem weiteren Zusammenprall. Wir traten in einen großen, betonierten Innenhof, eingegrenzt von hohen, vermoosten Mauern. Es gab einen geräumigen Schuppen mit offenem Tor, wo Möbelteile, Matratzen und anderes Gerümpel lagerte, das allmählich zu Kompost werden würde.
Auf der anderen Seite spannte ein vergilbtes Plastikdach über rostigen Stahlstützen, darunter zwei Waschmaschinen, ein Steinwaschbecken und ein Schränkchen.
Der Himmel war in Wäscheleinensegmente aufgeteilt. Zwischen Handtüchern und Bettwäsche hingen meine Klamotten. Nora ließ mich fühlen, dass sie noch nass waren. Sie rochen nach Waschpulver, also hat Nora sie gewaschen. Langsam wurde mir das unheimlich.
Nora bot mir Kaffee an. Ich lehnte ab, ich brauchte einfach meine Ruhe. Das war wie vor einer schweren Operation.
Außerdem musste ich telefonieren, aber ungestört.
»Moment bitte, ich stelle Sie durch«, sagte die Sekretärin, nachdem ich lange warten musste.
»Dr. Klinkhammer. Sie wollten mich sprechen?«
Eine knarrende und desinteressierte Stimme.
»Ja. Ich habe mir sagen lassen, Sie wären für die Klinik Casa da Beleza der richtige Ansprechpartner.«
»Und?«, sagte er und ich hörte, wie er sich zurechtsetzte. Lauter wurde er auch. »Was ist damit? Wie war noch mal Ihr Name?«
Ich war mir nicht sicher, wie ich vorgehen sollte. Eine kleine Pause entstand.
»Ich weiß, dass dort Organe geklaut werden.«
Das erzeugte eine Pause am anderen Ende.
»Wie kommen Sie darauf? Woher wollen Sie das wissen, Herr …?«
»Frau Arta. Ich habe die Leiche gesehen. Von Cristina Ribeiro.«
»Kann es sein, dass Sie zufällig vorgestern in Sorocaba waren? Bei Dr. Cavalcani?«
»Das sage ich Ihnen, wenn Sie mir sagen, ob Sie von dem Organklau wissen.«
Danach dauerte die Pause ziemlich lang. Schließlich räusperte sich der Konsul.
»Davon ist mir nichts bekannt. Aber wenn es wahr ist, muss ich der Sache nachgehen. Sie können mir dabei helfen. Waren Sie schon bei der Polizei?«
»Noch nicht. Aber ich werde da hingehen.« Das sagte ich mit soviel Nachdruck wie möglich.
»Das sollten Sie natürlich auch. Ich würde Ihnen gerne dabei helfen. Sprechen Sie eigentlich Portugiesisch?«
»Nein, aber …«
»Sehen Sie. Ich würde Sie begleiten. Dann wird Ihre Aussage nicht so schnell als Unfug abgetan. Ich verfüge über ein paar Kontakte. Wo sind Sie jetzt? Wollen Sie in mein Büro kommen? Ich kann Sie auch abholen lassen. Was meinen Sie?«
»Wieso glauben Sie, dass ich Hilfe brauche?«
Klinkhammer zögerte wieder mit der Antwort. Dann sagte er »Ihr Name ist Arta, nicht wahr? Dann brauchen Sie auf jeden Fall Hilfe. Hören Sie, ich will ganz offen mit Ihnen sein. Ich weiß, dass Sie bei dem Überfall auf Dr. Cavalcani dabei waren. Seine Frau und das Hausmädchen sind Zeugen. Wenn Sie jetzt ohne Unterstützung zur Polizei gehen, sind Sie einfach nur ein Mittäter und ein Mörder. Die brasilianische Polizei ist nicht zimperlich, glauben Sie mir.«
»Wieso wollen Sie mir helfen? Das verstehe ich nicht.«
»Ach«, sagte er betont locker, »da gibt es mehrere Gründe. Sie sagen, da findet Organklau statt. Wenn Sie jetzt einfach zur Polizei gehen, spielt das keine Rolle mehr. Die werden sich nur mit dem Mord beschäftigen. Ich weiß aber, dass Sie nicht aktiv daran beteiligt waren. Außerdem sind Sie Deutscher und ich bin Konsul.«
»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Sie so scharf aufs Helfen sind. Im Konsulat sagen die ausdrücklich, geholfen wird nur bei der Suche nach nem Anwalt.«
Allmählich wurde Klinkhammer ungeduldig.
»Hören Sie, ich mache den Job seit über dreißig Jahren. Ich weiß, wie das geht und brauche keine Anweisungen vom Konsulat. Außerdem bin ich mit vielen einflussreichen Leuten bekannt. Das Casa da Beleza ist auch mein Baby. Ich hab es mit aufgepäppelt und vermittle viele Patienten dahin. Auch Deutsche. Hervorragender medizinischer Standard und nur halb so teuer wie in Europa. Deswegen interessiert mich, was da wirklich läuft. Wenn Ihnen jemand helfen kann Sie da rauszuhauen, dann ich. Also, wo stecken Sie?«
»Ich bin in einem Internetcafé.«
»In São Paulo? In welcher Straße?«
»Ja, in der Stadt. Wie die Straße heißt, weiß ich nicht.«
»Fragen Sie jemanden. Ich lasse Sie abholen.«
Mich störte sein Drängen. Das kam mir merkwürdig vor.
»Hier ist gerade niemand.«
»Das gibts doch nicht. In welchem Stadtviertel sind Sie? Oder sagen Sie mir wenigstens, wo Sie wohnen. Wie kann ich Sie erreichen?«
»Ich habe noch keine Unterkunft. Ich rufe Sie noch mal an, wenn ich weiß, wo ich bleibe.«
»Warten Sie, warten Sie. Kommen Sie doch einfach in mein Büro.«
Er nannte mir eine Adresse in der Avenida Paulista.
»Ich bin den ganzen Tag hier. Ich erwarte Sie. Kommen Sie zu mir, bevor Sie zur Polizei gehen. Das ist besser für Sie, glauben Sie mir.«
»Ja, okay.«
Ich legte auf. Was, wenn er mir nicht helfen konnte? Mit dem Maul waren diese Typen immer Weltmeister. Wenn es dann nicht klappte, lag die Schuld bei anderen. Darauf wollte ich mich nicht verlassen. Soweit war ich noch nicht.
Kurz vor halb zwei näherte ich mich dem Amorosa Louca. Ich schlenderte sehr langsam, nicht nur weil mich die Blessur behinderte. Ich ging wie durch einen zähen Brei, in dem ich mir jeden Schritt erkämpfen musste. Aber selbst auf diese Weise stand ich irgendwann vor der Tür.
Mit einem ausgedehnten Frühstück hatte ich mich selbst noch in Zugzwang gesetzt. Am Ende musste ich meine vierzig Reais auf die Theke blättern.
Ich sah mir noch mal die Fotos im Schaukasten an. Von den Frauen darauf erkannte ich keine. Ich fragte mich, wie ich auf so einem Bild aussehen würde.
Remo öffnete mir.
»Tudo bem? Carmen ist noch nicht da, die kommt aber sicher gleich. Warte an der Theke.«
Der Geruch nach kaltem Rauch erfüllte den leblosen Raum. Ein Typ kam herein und stellte sich neben mich. Er steckte in einem dunklen Anzug, war jung und schwarz und wenn er diesen blondierten Haarbüschel obendrauf nicht gehabt hätte, hätte es noch länger gedauert, bis ich Nelson erkannte. Er grinste mich dünn an und sagte »Oi Nel, tudo bem?«
»Was machst du denn hier?«
Ich konnte nicht behaupten mich zu freuen, ihn zu sehen.
Er verstand was ich wissen wollte.
»Trabalho aqui.«2726
Ich musste dämlich ausgesehen haben, denn er kicherte.
»Komm, sag nicht, du wärst ein Callboy. Das kann ich nicht glauben.«
Nelson runzelte die Stirn. Dann sprudelte ein Schwall Worte aus ihm heraus. Für mich verständlich schälte sich nur sein mehrfaches »Callboy não« heraus.
»Okay, schon gut«, sagte ich, damit er mich nicht weiter vollschwallerte. Er ging wütend weg.
Ein paar Minuten später begrüßte mich Carmen, außer Atem, mit ein paar Entschuldigungen und Küsschen links und rechts.
»Ich musste noch dieses Kleid anprobieren und die silbernen Sandalen dazu. Todchic, für den Sommer. Oh Nel, wie siehst du aus. Komm mit, wir machen erst mal deine Haare und Make-up.«
Carmen zog mich hinter sich her in einen Flur mit einigen Türen und einer Treppe. Wir stiegen hinauf über mit dunklem Teppich ausgelegte Böden. Goldfarbene Schnörkellampen streuten ihr spärliches Licht über rubinrote Tapeten.
Beim genaueren Hinsehen zeigte sich der Teppich als ziemlich abgetreten. An den Wänden waren Kratzer mehrfach übermalt und ausgebessert worden, dadurch wirkten sie wolkig wie ein Ölgemälde.
Carmen klapperte munter plaudernd vor mir her. Ich verstand nur die Hälfte, mein Spanisch war nicht besonders und ungeübt obendrein. Oben liefen wir durch einen weiteren Gang mit etlichen Türen bis zu ihrem Zimmer. Als wir dort ankamen, wusste ich immerhin, dass sie seit zwei Jahren dort arbeitete, aus Chile stammte und mich so schön machen würde, dass ich mich nicht wiedererkenne.
Ein Bett beherrschte ihr Zimmer. Wände und Decke waren dunkelblau gestrichen und mit silbernen Sternen beklebt. Rund um das Bett gab es Spiegel, die bis auf den an der Decke verhängt waren. Statt eines Fensters hatte der Raum ein Oberlicht. In einer Ecke gab es ein Waschbecken hinter einem Paravent. Eine Kommode, zwei kleine Nachtschränkchen mit Leuchten in Venusform, ein paar Plüschhocker und eine Garderobennische komplettierten die Einrichtung. An Wandhaken baumelten Spielzeugpeitschen, Plastikblumen, Lichterketten und solches Gedöns. Viel Platz war nicht mehr.
»He«, sagte Carmen, damit ich aufhörte mich mit offenem Mund durch die Einrichtung zu staunen, »setz dich mal hier vor die Kommode.«
Über der Kommode hing ein beleuchteter Spiegel. Sie schaltete die Lampe ein und schaute mir sinnierend ins Gesicht. Dann fühlte sie die Glattheit meiner Wangen und des Kinns, nickte zufrieden und holte ein paar Hände voll Schminkutensilien aus der Kommode. In kurzer Zeit hatte sie mich in eine Barbie verwandelt. Mein Teint wirkte wie in Plastik gegossen, die Lippen schwellend überformt, die Augen hatten diesen tiefen, geheimnisvollen Blick, den ich an anderen so sehr schätzte. Dabei trällerte und plapperte Carmen unaufhörlich.
Sichtlich zufrieden mit sich und ihrem Werk wühlte sie in einer Kommodenschublade.
Sie förderte eine rote Corsage mit Strumpfhaltern an Licht, dann rote Strümpfe, schließlich fand sie noch einen passenden String.
»Zieh das mal an, später schauen wir noch mal durch, was dir noch passen könnte.«
Carmen setzte sich vor den Spiegel und legte an ihrer Maske los, während ich mich widerwillig aus meinen Sachen schälte. Die Corsage passte tatsächlich, allerdings reichte sie nur bis unter den Busen. Das ist war fast besser so, denn Carmen verfügte über deutlich mehr Oberweite. Als ich Hose und Slip unten hatte rief Carmen »O Nel, nono, so geht das nicht. Da müssen wir schnell was tun.«
Ich verstand überhaupt nicht, wovon die Rede war. Entsprechend ratlos starrte ich ihren Rücken an. Dann bemerkte ich, dass sie mich im Spiegel sah und mit dem Rougepinselchen auf meine Mitte zeigte.
»Hey, Carmen, aber das haben wir doch alle, oder etwa nicht?«
Carmen drehte sich halb um, die Augenbrauen fragend hochgezogen.
»Na das«, sagte ich und zeigte auf meinen Unterleib. Carmens Schultern zuckten. Was zum Teufel hatte sie bloß? Dann wurde mir klar, sie lachte.
»Nonono, los pelos«2827, sagte sie prustend, »deine Haare müssen weg, so geht das nicht. Warte mal …«
Sie kramte in der Kommodenschublade, bis sie einen Rasierer fand, den sie mir mitsamt einem Handtuch zuwarf.
»Mach das mal weg, unterm Waschbecken ist eine Schüssel für Wasser. Beeil dich, die Beine auch. Beim Popo helfe ich dir. So viele sind es ja nicht.«
Ich versuchte mein Bestes, war aber noch nicht fertig, als Carmen fertig gestylt und umgezogen war. Sie trug das Gleiche wie am Tag zuvor. Das fand ich immer noch äußerst sexy.
Einen Moment betrachtete sie meine Ungeschicklichkeit. Ich hatte mir halt noch nie den Genitalbewuchs in Gesellschaft rasiert.
»Gib mal her, ich zeige dir wie ichs mache«, sagte sie. Sie griff zu, zog schrumpelige Haut mit zwei gespreizten Fingern glatt und rasierte mit kleinen, flinken und präzisen Strichen. So schnell, wie die Haare weniger wurden, wuchs etwas bei mir. Ich konnte es nicht verhindern, so sehr ich es auch versuchte. Carmen lächelte, nahm es fest in die Rechte, drückte zu, ließ wieder nach, dabei streichelte sie mit dem Daumen über die Spitze. Das spornte die Durchblutung weiter an.
»So zum Beispiel kannst du es bei deinen Kunden machen. Später zeige ich dir noch mehr, aber jetzt ist dafür keine Zeit. Dreh dich mal rum.«
Das tat ich gerne, weil es die Peinlichkeit verdeckte. Eine andere folgte aber. Sie zog meine Hinterbacken auseinander und entfernte die Haare aus der Falte.
»So ist das schön und zieht die Männer an«, sagte sie und tippte mit spitzen Fingern auf die Rosette.
»Nein, nein, um Himmels Willen.« Musste sie mir soviel Angst machen?
»Musst du nicht, dann verdienst du aber nicht viel.«
Das brachte mich auf was. »Benutzt ihr Kondome?«
»Eigentlich schon, ein paar von uns lassen es auch mal sein, wenn sie mehr Geld dafür kriegen.«
»Und du?«
Carmen zog die Nase kraus.
»Wenn der Richtige kommt, werde ich drauf verzichten. Weißt du, der, der mich heiraten wird.«
Aha, so war also die Lage. Das versetzte mir einen kleinen Stich.
»Fertig«, sagte Carmen und klopfte mir auf den Hintern.
»Steh mal auf und ziehe die Strümpfe an, ich helfe dir beim Festmachen. Nein, der String kommt oben drüber, das andere kannst du später ja anlassen.«
Aus einer Ecke holte sie ein Paar rote Sandalen mit Keilabsatz.
»Passen dir diese Schuhe hier?«
»Ja, das geht. Aber soll ich wirklich mit nacktem Busen rumlaufen?«
»Nein, besser ist nur ein bisschen was zeigen zum Anheizen«, erwiderte Carmen. Sie fischte eine Chiffonbluse mit tiefem Ausschnitt und eine lange Kette aus rötlichbraunen Kernen aus der Schublade.
»Probier das mal. Die Kette dreimal um den Hals. Das geht doch gut. Du siehst toll aus.«
Ich fühlte mich immer noch nackt.
»Ich brauche noch eine kleine Vorbereitung, in der Toilette gegenüber. Entschuldige mich einen Moment.«
Mit einem kleinen Gummiball mit Stiel verschwand Carmen über den Gang in einer Tür. Ich wartete draußen und überlegte, ob sie das tat, was ich vermutete.
»Ola, gringa2928, lass mich vorbei«, hörte ich eine tiefe Stimme. Sie entsprang einer Quelle hoch über meinem Hinterkopf. Eine große Blonde mit langen Locken grinste mich an. Ein kleines Stück ihrer Größe verdankte sie den Absätzen, aber nicht viel. Sie trug einen Rock, der kaum breiter war als einer meiner Jeansgürtel, dazu eine Bluse, deren Ausschnitt bis tief in einen Grand Canyon reichte. Die angrenzenden Höhen verdankte sie wahrscheinlich eher der Implantationskunst denn der Natur.
Sie reichte mir eine schmuckbehangene Flosse und brummte »Ich bin Ana-Jeisol. Como vai?«
»Bem, e você? Ich bin Nel.«
Ihr Händedruck war mehr ein Streicheln.
»Prazer, ate mais tarde.«3029
Damit stolzierte sie weiter, rief in eine offene Tür »Oi, todo bem?«, und verschwand in einer anderen.
Der Weg runter zur Bar war wieder so eine Hürde, die ich nehmen musste. Ich war zwar schon öfter nackt oder halbnackt in Leder in der Öffentlichkeit, zum Beispiel im Quälgeist, aber dort unter Lesben und Trans und nicht als Pfingstkuh auf einem Treffen von Melkfetischisten.
An der Bar war es noch ruhig. Sonia polierte Gläser. Carmen erklärte mir, welche Dienstleistung was kostete. Obwohl es mich schüttelte, schrieb ich einen Spickzettel, weil ich mir nicht alles behalten konnte. Nach und nach fanden sich die Mädels ein. Ana-Jeisol, Alejandra, Yanet. Alle waren rausgeputzt, lachten und alberten herum. Ana-Jeisol und Yanet kippen sich Cuba Libre hinter die Binde.
Dann sabberten die ersten Gäste um uns herum.
Carmen eroberte ihren ersten Kunden, einen schwerfälligen Typen undefinierbaren Alters, der wie ein Bauer aussah. Große braune Hände wie Kartoffeln, wettergegerbte Haut, schlechte Zähne. Sie nannte ihn Sylvinho.
Während er ein Bier abpumpte fragte sie ihn, ob ich mit nach oben kommen durfte. Er willigte ein, gurgelte den Rest aus der Flasche und fragte »Pronto?«3130
Carmen ging voraus, den Bauer nahmen wir in die Mitte.
Mit dem Usus kannte er sich aus, Hosen runter und Waschen machte er ohne Aufforderung. Carmen schälte sich aus ihrem Kleid, holte Gleitmittel, Kondome und Handschuhe, dann streifte sie sich einen Cockring über. Sylvinho kniete sich aufs Bett, Carmen hockte sich neben ihn und spielte mit seinem Schwanz und seinen Eiern. Sein unförmiger, behaarter Körper wirkte verletzlich und abstoßend zugleich.
Ich hätte ihn gerne geschlagen.
Carmen rollte ihm ein Kondom über, dann widmete sie sich seinem Hintern. Er grunzte, als sie einen behandschuhten Daumen in der Spalte versenkte. Mit der anderen Hand rieb sie ihren eigenen Schwanz auf ein beachtliches Format. Darüber rollte ein Gummi.
Schließlich baute sie sich hinter ihm auf, zog den Daumen heraus und platzierte dort ihren Schwanz. Mit langsamen Stößen versetzte sie sein Gewabbel in Bewegung. Ihre Hände spielten dabei weiter an ihm herum. Es dauerte höchstens zwei Minuten, bis er unter Röhren kam.
Zurück an der Bar war mir vor widerstreitenden Gefühlen schwummerig. Nur ein kleiner Teil des Menschen erledigte diese Arbeit. Diesen Teil stellte ich mir als Heizungskeller samt Brennstofflager vor. Dunkel und unheimlich, schlecht riechend, fiese Geräusche, unangehm heiß und man betritt ihn nicht gerne. Aber ohne muss man frieren. Wollte ich das?
Sylvinho spendierte Sekt. Er sah zufrieden aus.
»Wie machst du das mit dem Ständer?«, fragte ich Carmen. Ihr Slip war immer noch stark ausgebeult.
»Ich habe mir eine Viagra reingepfiffen. Das mache ich immer so, das hält ziemlich lange. Später, wenn die Wirkung nachlässt lasse ich mich auch mal ficken. Willst du auch eine? Die sind in der Kommode, die Dose mit den hellblauen Kapseln. Kannst dir eine nehmen, aber nur eine, ja? Mehr ist gefährlich.«
Ich ging das Mittel nehmen. Kleine kaugummiförmige Dinger, auf denen Hundert stand. Es fühlte sich an, als müsste ich mir wieder Männereigenschaften aneignen, damit ich eine Frauenarbeit tun konnte.
Ein Typ machte sich an mich heran.
»Probiers mal alleine«, flüsterte Carmen.
Mein fehlender Enthusiasmus stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben.
»Ich passe auf und bleibe in der Nähe. Versuchs mal. Der kennt sich aus, er ist Stammkunde.«
Ich ging mit ihm nach oben. Cesar, so hatte er sich vorgestellt, wusch sich und schaute mich erwartungsvoll an. Auch ausgezogen sah er wie ein Versicherungsvertreter aus.
Er war schlaff und wabbelig. Nur an einer Stelle nicht. Ich schnappte danach und zog ihn zu mir. Er war überrascht, aber es funktionierte. Sein Schwanz schwoll auf Kampfstärke.
Mich machte es überhaupt nicht an. Er beugte sich vor, zog meine Bluse auseinander und betatschte meinen Busen. Damit gab er sich nicht zufrieden, seine Hände wanderten nach unten. In dem Moment, wo er mich dort berührte erstarrte ich, gleichzeitig schoss Blut in meinen Schwellkörper.
Erschrocken ließ ich von ihm ab und wich zurück.
Er kam nach, wohl weil er glaubte, es gehörte zum Spiel. Ich krabbelte über das Bett auf der Flucht vor seiner Zudringlichkeit.
»Lass mich sofort in Ruhe. Ich kotz dich voll!«, schrie ich.
Völlig überraschte hörte er sofort auf.
»Que …what …«, stammelte er. Statt einer Antwort zog ich mich in die äußerste Ecke zurück.
»Raus, verpiss dich, such dir ne andere.«
Seine Überraschung verwandelte sich in Wut. Er brüllte nun ebenfalls. Ich wollte ihm einen Plüschhocker an die Birne knallen, aber da öffnete Carmen die Tür.
Sie machte sich an Cesar heran. Binnen weniger Augenblicke beruhigte sie ihn, dann winkte sie mich heran.
Ich ließ mich von ihr auf dem Bett drapieren, den Rücken auf ihren Oberschenkeln, den Kopf zwischen ihren Brüsten, meine Beine gespreizt. So präsentierte sie mich Cesar.
Er fasste wieder Mut, näherte und wurde handgreiflich.
Etwas später ging es richtig zur Sache. Ich achtete darauf, dass ich beim Sandwichfick ganz oben war.
Cesar pumpte schwitzend und ächzend zwischen mir und Carmen hin und her. In Windeseile war er komplett bedient und wir gingen wieder nach unten.
Klar habe ich früher Freundinnen gehabt, die den Mann in mir sahen und wollten und auch da hatte ich mein ungeliebtes Anhängsel manchmal reingesteckt. Ich dachte, das muss so sein. Danach fühlte ich immer Erleichterung und Abscheu, genau so wie diesem Moment auch.
Wenigstens Carmen und Cesar waren sichtlich zufrieden. Er schwebte auf Wolken und spendierte ebenfalls Schampus. Yanet warf uns wütende Blicke zu.
»Es ist eigentlich ihr Kunde«, flüsterte Carmen. Cesar winkte Yanet herbei. Die entzog sich der Einladung, indem sie sich an einen anderen Kerl in der inzwischen gut gefüllten Bar heranmachte.
Später begegnete ich Yanet im Flur vor den Zimmern. Sie fauchte mich wütend an, aber ich verstand sie natürlich nicht. Unfreundlich gemeint war es jedoch gewiss, denn ich hörte »burra gringa« und »veado maldito«.3231
Ich beschimpfte sie auf Deutsch. Auch Yanet erfasste den Sinn und ging auf mich los. Vom Zickenkrieg hielt ich noch nie etwas, denn Kratzen und Beißen erforderte Nahdistanz. Zwei Schritte Annäherung von ihr genügten, dann konnte ich ihr eine scheuern. Die wuchtige Backpfeife pfefferte sie gegen die Wand. Das genügte ihr fürs Erste, keifend zog sie ab.
Es war nicht gerade schlau gewesen, mir Feinde zu machen. Aber vielleicht würde Remo die Sache ausbügeln können. Seine Bürotür neben dem Treppenaufgang stand einen Spalt offen, Licht fiel in den Gang.
»Remo? Hallo?« Ich linste vorsichtig um die Ecke. Er saß seitlich abgewandt zu mir an seinem Schreibtisch, die Nase über einem Streifen Koks.
»Komm rein«, forderte er mich nach einigem Schnuffeln und Hochziehen auf. »Wie siehts aus, kommst du zurecht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich muss aber noch viel lernen. Morgen gehts bestimmt schon besser, dann habe ich den Schock hinter mir.«
Er lachte.
»Das ist auch besser so, ich will dich nämlich nicht wieder rausschmeißen müssen. Denk dran, ist ja nur für kurz.«
»Ja, du hast recht. Trotzdem nicht so einfach. Aber ich brauche das Geld dringend. Am Dienstag muss ich das Zimmer wieder bezahlen.«
Er wackelte mit dem Kopf.
»Ich rate dir ab Geschäfte nebenbei zu machen. Wenn ich so was spitz kriege, gehts dir schlecht. Das kann ich nicht dulden. Ihr zahlt faire Preise für die Infrastruktur, mehr könnt ihr nicht verlangen. Was wolltest du eigentlich von mir?«
»Ich habe Krach mit Yanet, wohl weil wir einen ihrer Kunden bedient haben. Darf ich so was überhaupt? Meinst du ich soll mich entschuldigen?«
»Zum Teufel mit diesen dauernden Zickereien«, sagte Remo genervt. »Kunden gehören niemandem, die entscheiden selbst, was und wen sie wollen. Wie oft muss ich das noch erzählen?« Er seufzte. »Okay, ich red noch mal mit ihr, später. Jetzt habe ich keine Zeit.«
Er blickte über den Schreibtisch zu seinem staubigen PC– Monitor, der einen Windows Bildschirmschoner zeigte. Ziemlich liederlich kam sein Büro daher, überall lagen Pappkartons herum und wackelige Stühle stapelten sich. Vor hundert Jahren war das letzte Mal gestrichen worden. Trotzdem hätte ich gerne mit ihm getauscht.
Ich bedankte mich und ließ ihn alleine.
Später war mir fast alles egal, ich ließ mich treiben, noch nicht mal Yanets aggressive Haltung machte mir etwas aus. Beim Tabledance an den Stangen klatschte ich zu Ana–Jeisols Darbietungen, danach setzten wir noch einen drauf, indem wir für unser Publikum eine Knutschnummer mit rituellen Begattungsbewegungen aufführten.
Gegen Mitternacht hatte ich etwa einhundertdreißig Reais gutgemacht, aber rasende Kopfschmerzen und eine lästige Dauererektion, die nicht weichen wollte.