Читать книгу Gesammelte Werke - Ricarda Huch - Страница 96

Toleranz

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Als während des Dreißigjährigen Krieges die Katholiken nach dem Norden vorgedrungen waren, wurde Spee nach Peine geschickt, um durch Predigt und Beispiel die Bevölkerung zum alten Glauben zurückzuführen. Es ist begreiflich, daß er Feinde hatte: eines Tages, als er über Land ritt, wurde er überfallen und schwer verletzt. Ein durch die katholische Reaktion vertriebener Prädikant fand den Hilflosen, verband seine Wunden, so gut es gehen wollte, geleitete ihn nach Hause und beschützte ihn vor weiteren Angriffen. Immer wird es Samariter geben, deren gütiges Herz nur die Hilfsbedürftigkeit beachtet, nicht nach dem Glauben, der Nation, dem Stande fragt. Etwas anderes als die natürlich-christliche Güte einzelner Menschen sind die Grundsätze, die zu einer Zeit und in einem Volke maßgebend sind und die Anordnungen in Staat und Kirche und die Handlungen der Menschen bestimmen. In einem und demselben Volke kann es zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Grundsätze geben. Im Lande der grausamsten Inquisition, in Spanien, entstand einst das weltberühmte Gespräch des Heiden mit Vertretern der drei geoffenbarten Religionen, die ihn zuerst entzückten, als sie ihm erklärten, was ihnen gemeinsam sei, aber in Bestürzung versetzten, als sie auf das zu sprechen kamen, was sie unterscheide, und sich bekämpften und sich gegenseitig die Aussicht auf die Seligkeit absprachen. Wiederum als ihm jeder das Wesen seines Glaubens auseinandergesetzt hatte und der Heide Gott in einem herrlichen Gebet gedankt hatte, daß er sich der Welt dreifach offenbart habe, entfernten sich die drei Gläubigen ergriffen und beschämt und einig in dem Ergebnis: es möge jeder glauben, was ihm von seinen Vätern überliefert sei, und in der Liebe wetteifern, die Entscheidung, welcher Glaube der wahre sei, Gott überlassend. In solcher Gesinnung regelte sich im mittelalterlichen Spanien der Verkehr zwischen den Spaniern, Arabern und Juden, die die Halbinsel bewohnten. Sie disputierten über ihren Glauben, ohne sich zu verfolgen. Diese friedlichen Beziehungen bestanden unter den höheren Klassen, die überhaupt duldsam zu sein pflegen, da Sitte, Bildung und Wissenschaft sie einander nähern. Die unteren Schichten des Volkes, die nur ihre eigene Sprache kennen und sprechen und überwiegend ihren Instinkten ausgeliefert sind, ringen weniger um das Verständnis fremder Völker und Religionen; anzunehmen, daß das beste Recht und die edelsten Eigenschaften ihrem Volke angehören, ist ihnen natürlich. Mehreren wilden Volkserhebungen gegen die Fremden, Araber und Juden, gaben die höheren Klassen allmählich nach; die Könige Ferdinand und Isabella führten, indem sie sich auf den Volkshaß stützten, die Ausrottung der Fremden und Vereinheitlichung Spaniens herbei. Von den unteren Volksschichten ging die Forderung der Reinheit des Blutes aus, die in der Folge für die Spanier so charakteristisch wurde, ihren Stolz begründete, der sie bei anderen Nationen verhaßt machte. Nachdem der Fanatismus in langwährenden Kriegen gegen fremdrassige und fremdgläubige Völker aufgepeitscht war, übertrafen die Spanier alle europäischen Nationen an Unduldsamkeit und Nationalstolz.

Auch in Deutschland hatte sich das Volk zuweilen in Judenverfolgungen und Ketzerverfolgungen hineinhetzen lassen; aber die Inquisition, also eine grundsätzliche, systematische Verfolgung Irrgläubiger, fand in Deutschland nicht viel Zustimmung. Sie wurden von den Dominikanern ausgeübt, die nie volkstümlich waren und von den Humanisten geradezu verhöhnt wurden. Diese hätten, wenn überhaupt, eher einen Menschen wegen schlechten lateinischen Stils verbrannt als einen, der über das Verhältnis von Gott Vater zu Gott Sohn eine vom Papst nicht gebilligte Meinung hatte.

In der Zeit, als Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz, mit dem Beinamen der Fromme, den Calvinismus in sein Land einführte und die Lutheraner vertrieb, schrieb einmal Landgraf Wilhelm von Hessen, ein sehr einsichtiger Mann, in bezug auf dies Vorgehen: Wenn er, Friedrich, das Recht hätte, seine Untertanen nach seiner Meinung umzuändern, so hätten ja der Erzbischof von Mainz und der Abt von Fulda dasselbe Recht, welches sie, die Protestanten, ihnen aber nicht hätten lassen wollen, ebensowenig Frankreich und Spanien, deren Untertanen der Kurfürst Beistand geleistet hätte. Deshalb könnten jene Fürsten ihm vorwerfen, er strafe an ihnen, was er selbst tue. Darauf antwortete Friedrich: es sei wohl ein ander Ding, einen zum Guten und Gotteswort und der Wahrheit, ein anderes, ihn zum Bösen, Abgötterei und Lüge treiben, die weil das eine von Gott geboten, das andere direkt verboten sei. »Ficht mir auch nicht an, daß die Papisten fürwenden möchten, sie hätten auch den Vorsatz, die rechte Religion zu befördern, denn ein jeder muß seines Grundes selbst gewiß sein, man wollte denn alle Religionen in ein Zweifel setzen und eine scepticam religionem machen, daß man nit wisse, welches schwarz oder weiß wäre.« Erstaunlich, wieviel Naivität und zugleich Klugheit und richtige Beobachtung sich in diesem Urteil des alten, damals seinem Ende nahen Kurfürsten verrät. Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, wird der nicht alle und namentlich die, welche seiner Leitung und seinem Schutze anvertraut sind, an der Wahrheit teilnehmen lassen wollen? Ist es nicht eine Pflicht, sie vor den Irrtümern und falschen Lehren Andersgläubiger zu behüten? Der Kurfürst nahm offenbar an, es gebe nur zweierlei: entweder die Überzeugung, im Besitz der Wahrheit und des Heils zu sein, die notwendig jeden anderen Glauben ablehnen und verdammen muß, oder Lauheit, die nicht fern ist von Gleichgültigkeit in Glaubensfragen. Im allgemeinen hatte er wohl recht. Überzeugte Gläubigkeit, die zugleich den Glauben des anderen achtet und nach der altspanischen Parabel die Wahrheit Gott überläßt, ist sehr selten. Weit entfernt, Duldsamkeit in die mittelalterliche Weltanschauung einzuführen, erneuerte die Reformation noch einmal das alte Glaubensfeuer mit seiner ganzen Inbrunst und seiner ganzen Ausschließlichkeit.

Luther allerdings vergaß nicht, daß er, als er um das Recht, seinen Glauben zu bekennen, kämpfte, die Papstkirche bitter getadelt hatte, weil sie die Ketzer verbrenne, anstatt sie mit Gründen zu überwinden. Es gibt nämlich neben tiefer Einsicht und Gleichgültigkeit noch eine dritte Quelle der Duldsamkeit: die Lage des Unterdrückten, dem die Meinungsäußerung verboten ist; sein Schrei nach Toleranz pflegt zu verstummen, sowie er sich Bekenntnisrecht erworben hat. Er rückt dann in die Reihe der Überzeugten ein, die sich verpflichtet halten, die Wahrheit auszubreiten. Luther war überlegen genug, seinen Standpunkt aus der Kampfzeit nicht zu vergessen; noch im Jahre 1528 sagte er, er könne nicht zulassen, daß man die falschen Lehrer töte, es sei genug, daß man sie verbanne. Als er sich zögernd bewegen ließ, die Hinrichtung von Wiedertäufern zu befürworten, nahm er ihre Staatsgefährlichkeit zum Vorwand. Um behaupten zu können, daß bei den Evangelischen kein Glaubenszwang herrsche, während doch den Katholiken die Ausübung ihres Gottesdienstes verboten war, ließ er sich zu Beweisführungen herbei, die nicht ganz reinlich waren.

Die Fürsten, denen auf protestantischer Seite die Handhabung der Behandlung Andersgläubiger zugeteilt wurde, gingen dabei, wie es die Kirche und wie es Karl der Große getan hatten, von der Notwendigkeit der Einheit aus. Entsprechend dem starken Triebe nach Zentralisation, der die Fürsten seit dem 15. Jahrhundert beherrschte, glaubten sie verschiedene Bekenntnisse in ihrem Gebiet nicht dulden zu können. Gleichschaltung der Untertanen sollte ihre Beherrschung und Verwaltung erleichtern. Sie ließen sich dabei gerne von den Pfarrern beraten, die von ihrem Standpunkt des Glaubenseifers zu demselben Schlusse kamen wie die Fürsten von ihren staatsmännischen Interessen aus.

Die Verfolgungswut war besonders grimmig bei den Lutheranern, was sicherlich nicht mit der Persönlichkeit Luthers, vielleicht aber mit seiner Betonung der richtigen Lehre zusammenhing. Anhänger, die ihn persönlich gekannt hatten, wie der ungeschlachte Amsdorff, hielten jeden für einen im Grunde todeswürdigen Ketzer, der im geringsten von der lutherischen Lehre abwich. Durch sie geriet Melanchthon nach Luthers Tode in eine sehr peinliche Lage. Während seines ganzen Lebens litt Melanchthon darunter, daß er sehr klug, sehr scharfblickend, ein feiner, regsamer Geist, mehr kritisch als schöpferisch und dazu als Persönlichkeit zart und weich war, geeignet, beherrscht zu werden, und geneigt, sich beherrschen zu lassen. Er hatte Augenblicke, wo er Luther und die Herrschaft, die er über ihn ausübte, haßte. Sein überscharfes Auge sah unbarmherzig die Schäden, die die Reformation mit sich brachte: die Willkür der Meinungen, die Sittenverwilderung des Volkes, den Absolutismus der Fürsten. Die evangelischen Grundanschauungen gab er nicht auf; aber er kehrte sehr bald zu der Auffassung zurück, die seine humanistischen Lehrer, zum Teil unter dem Einfluß des Staupitz, auf ihn übertragen hatten, daß das Christentum sich hauptsächlich im Leben als friedliches, liebreiches Verhalten gegen den Nächsten zu betätigen habe. Er war weit davon entfernt, tolerant zu sein, gegen die Wiedertäufer war er viel härter als Luther; aber er wollte, daß innerhalb der Kirche nicht durch das Aufwerfen gesuchter oder gar absurder Streitfragen Gezänk erregt werde. Sein eigenstes Interesse gehörte mehr dem Humanismus als der Theologie; selbst als Luther nach Worms ging, in einem so entscheidenden Augenblick, hätte er ihn gern begleitet, um bei der Gelegenheit die rheinischen Bibliotheken nach klassischen Schriften zu durchstöbern. Homer blieb ihm nächst der Bibel das liebste und wertvollste Buch, und er sehnte sich nach Menschen, die diese Interessen teilten. Schon 1524 schrieb er seinem Freunde Camerarius, er lebe in Wittenberg wie in einer Wüste und habe nur mit beschränkten Geistern Umgang. Damit war nicht Luther gemeint: er selbst war zu bedeutend, um nicht Luthers Bedeutung immer zu erkennen; aber er empfand doch, daß Luther in einem Ideenkreise lebte, der nicht sein eigener war. Er fühlte sich als Fremdling da, wo er zu Hause sein sollte. Wenn er seinem Freunde schreibt: »Wenn ich so viel Tränen weinte als die angeschwollene Elbe Wasser vorbeiführt, so könnte ich doch meinen Schmerz nicht ausweinen«, so scheint ein Mensch zu sprechen, der beständig seine Tränen zurückgehalten hat im Bewußtsein, er werde nicht aufhören können zu weinen, wenn er einmal angefangen hätte. Nach Luthers Tode trat der Gegensatz zwischen Luther und ihm offener hervor, weniger durch ihn als durch seine Gegner ans Licht gestellt. Solange sein gewaltiger Freund die schützende Hand über ihm hielt, hatten sie sich nicht an ihn getraut, wie sehr sie auch über die Schlange grollten, die am Busen des Großmütigen nistete. Für viele von ihnen bestand das Christentum hauptsächlich im Aufrüsten und Zerlegen von Dogmen und gehässiger Verfolgung derjenigen, die die Wahrheit anders bearbeiteten. Ein berühmter Geistlicher zählte einmal 58 Schimpfwörter auf, mit denen seine Gegner ihn und die ihn beschützenden Fürsten belegt hatten. Da Melanchthon gute Werke als Zeugnis des Glaubens forderte, verketzerten ihn die Orthodoxen, als wolle er die Grundlage der Lutherschen Lehre umstürzen. Die Lehren, man müsse gute Werke tun, gehören dem Teufel, sagte Musculus. Andere hörten in dieser Lehre das Mordgeheul des römischen Wolfes oder spürten darin die Buhlereien mit der babylonischen Hure. Amsdorff verfaßte eine Schrift, daß gute Werke schädlich seien zur Seligkeit, was Kaiser Ferdinand zu der Bemerkung veranlaßte, nun sehe er, daß die Lutheraner voll Teufel seien, zuvor habe er es nicht glauben wollen. »Die Nachwelt wird staunen«, schrieb Melanchthon, »daß es ein so rasendes Jahrhundert gab, in dem die Behauptung, gute Werke seien nicht nötig, Beifall finden konnte; der Satz, man muß dem Gesetz Gottes gehorchen, ist so notwendig und wahr, wie der, zweimal zwei macht vier.« Im Zusammenhang damit lehnte er auch Luthers schroffe Formulierung der Lehre von der Unfreiheit des Willens ab. David, sagte er, sei nicht bekehrt worden, wie wenn ein Stein in eine Feige verwandelt wird – ein Vergleich, den Luther wohl auch nicht gebraucht haben würde –, sondern der Wille habe dabei mitgewirkt. In der viel umstrittenen Abendmahlsfrage neigte er zur Fassung der Schweizer, und dies war allerdings eine empfindliche Abweichung von Luther.

Als Wittenberg durch den Verrat des Herzogs Moritz an die albertinische Linie gekommen war, gründeten die Söhne des gefangenen Johann Friedrich in Jena ein Gymnasium, das bald zur Universität erhoben wurde. Zum Ersatz für Wittenberg bestimmt, wurde es bald sein Gegensatz. Da in Wittenberg Melanchthon der führende Theologe war, sammelten sich in Jena die auf den Buchstaben Luthers Eingeschworenen und bekämpften Melanchthon als Verräter. Vom Schicksal bestimmt, vor der Welt die Rolle des treuesten Gefährten Luthers, gleichsam seines anderen Ichs zu spielen, und innerlich mit dem toten Freunde in Zwiespalt, von den Anhängern desselben gehaßt, führte der Unglückliche ein gequältes Leben. »Herr Philippus«, schrieb sein Schüler, der Burgunder Hubert Languet, der ihn wie einen Vater verehrte, »ist durch Jahre, Mühen, Lästerungen und Verleumdungen so gebrochen, daß von seiner gewohnten Heiterkeit gar nichts übrig ist.« Wer dachte noch daran, daß der junge Melanchthon in übermütiger Laune an den Dunkelmännerbriefen mitgewirkt hatte! Man kannte ihn nur noch verbittert, verkrampft, gehetzt und geängstigt. Er begrüßte den Tod, der ihn aus dem saeculum sophisticum, wie er es nannte, abrief. Immerhin konnte sich diese theologische Wut an ihm, dem Träger eines weithin berühmten Namens, nicht anders als schriftlich in bösartigen Anspielungen vergreifen, härter war das Los einiger seiner Jünger, gleichfalls angesehener Männer. Melanchthons Schwiegersohn, Caspar Peucer, Leibarzt des Kurfürsten August, und dessen Kanzler, Georg Craco, waren sich bewußt, daß sie ihre Ansichten am Dresdener Hofe geradezu nicht vertreten durften, denn August und seine Frau, eine dänische Prinzessin, hielten am strengsten Luthertum fest; aber sie trauten es sich zu, unvermerkt das Bekenntnis im Sinne ihrer Anschauungen umzuwandeln. Man nannte diese Haltung Kryptocalvinismus. Der Kurfürst vertraute diesen Männern, mit denen er in häufigem Verkehr stand, ganz, so daß er auf die Verdächtigungen, die gegen sie vorgebracht wurden, nicht hörte; um so größer war sein Zorn, als ihre geheimen Meinungen und Absichten durch einen Brief, der in unrechte Hände gelangte, an den Tag kamen. In der Tat mußte dem Kurfürsten klarwerden, daß in dem Verhalten der beiden Männer eine Nichtachtung seiner Person lag, denn einen bedeutenden Geist würden sie kaum hintergehen zu können geglaubt haben. Die Rachsucht pflegte den frommen Fürsten zu einem Teufel zu machen, der mit Lust zusah, wenn seinen Feinden das Herz aus dem Leibe gerissen wurde; der unglückliche Kanzler starb an den Folgen der Folter; Peucer blieb trotz aller Fürbitten, namentlich von seiten des Kurfürsten von der Pfalz, zehn Jahre im Kerker. Er wurde frei, als der alte Kurfürst nach dem Tode seiner geliebten Anna eine junge Anhaltinerin heimführte, die, jedenfalls auf Anregung ihres Vaters, sich die Freilassung des Schwergeprüften als Geschenk erbat. Melanchthon hat die Katastrophe seiner Anhänger nicht erlebt; er starb im Jahre 1561.

Wenn die Calvinisten in gewisser Hinsicht weitherziger als die Lutheraner erschienen, so war das in ihrer Lage begründet. Da sie anfangs im Reich nicht zugelassen und von den Lutheranern mehr als die Katholischen gehaßt wurden, strebten sie im eigenen Interesse eine Einigung aller protestantischen Bekenntnisse an. Calvin war persönlich äußerst unduldsam. Aus der Verbrennung des unglücklichen Servet, der die Dreieinigkeitslehre angriff, ist ihm freilich insofern kein besonderer Vorwurf zu machen, als Servet für einen Atheisten galt und auf allen Seiten die Meinung herrschte, daß Atheisten und Gotteslästerer mit dem Tode zu bestrafen seien: Sebastiano Castellio, der sich gegen die Hinrichtung Servets äußerte, bildete durchaus eine Ausnahme. Beza schrieb in bezug auf Castellios davon handelnde Veröffentlichung, seit dem Beginn des Christentums seien solche Gotteslästerungen nicht gehört worden.

Trotz dieser betonten und systematischen Unduldsamkeit erwies sich allmählich der Calvinismus in der Tat der Toleranz zugänglicher als das Luthertum. Das lag schon daran, daß die Calvinisten gebildeter und vornehmer, in der Lebensführung sittlicher waren als die Lutheraner. Diese selbst bekannten gelegentlich, daß die Calvinisten ihnen an Schriftkenntnis, an Sittlichkeit, an Tapferkeit und Fürsorge für die Armen und Kranken überlegen wären. Wie es schon im Mittelalter der Fall gewesen war, gab es in den Niederlanden vorbildliche Armenanstalten, ihre Spitäler, sagte man im Reich, glichen Palästen. An den Höfen der Calvinisten wurden Wissenschaften und Künste, Kenntnis der Sprachen gepflegt; der kursächsische Hof gab nach Augusts Tode das Beispiel der Völlerei und Roheit. Dazu kam, daß die Calvinisten tätig, arbeitsam, unternehmend, also trotz ihrer Kirchlichkeit und Tugend dem Weltlichen sehr verbunden waren. Handel und Gewerbe brachten eine gewisse Weitherzigkeit gegenüber fremden Nationen und Bekenntnissen mit sich.

Einzelne kannten auch im eigentlichen Reformationszeitalter eine Duldsamkeit, die gerade auf christlicher Religiosität beruht. Unter den Fürsten zeichnete sich der Landgraf Philipp von Hessen aus, der in seinem Testament sagt: »Einigen Menschen um deswegen, daß er unrecht glaubt, zu töten, haben wir nie getan, wollen auch unsere Söhne vermahnt haben, solches nicht zu tun, denn wir's, daß es wider Gott ist, halten.« Daß der liebenswerte Fürst an diesem Grundsatz festhielt, ist ihm um so höher anzurechnen, als die befreundeten Fürsten und Geistlichen ihn davon abzubringen suchten. Er hatte, obwohl für seine Person überzeugter Protestant, ein Gefühl sowohl für die Begrenztheit wie für die Vielförmigkeit aller menschlichen Einsicht und wagte es, sich an dem guten Willen der Menschen genügen zu lassen. Man kann die eingehenden, verständigen, herzlichen Briefe, die er an Irrgläubige geschrieben hat, um sie zu seiner Ansicht zu bekehren, in denen er seinen Stand völlig beiseite gesetzt, ja vergessen zu haben scheint, nicht ohne warme Teilnahme lesen.

War Wilhelm von Oranien nicht ganz so eindeutig wie Philipp, benützte er die Duldsamkeit wirklich als Mittel zu politischen Zwecken, so muß man doch annehmen, daß sie in seiner Gesinnung lag, daß er in seinem gefahrvollen Leben auf die Allmacht Gottes zu vertrauen gelernt hatte, ohne doch zu glauben, daß seine Auffassung des Göttlichen die einzig mögliche und die einzig erlaubte sei. Auch hat ihm schließlich das Bestehen auf religiöser Duldung eher geschadet als genützt; sein treuer Freund und Anhänger sogar, der hochgebildete Philipp Marnix von Ste. Aldegonde, hielt es für eine unbegreifliche Verirrung, daß er den Erzfeinden, den Katholiken, Duldung gewähren wollte. Oranien ging so weit, Mennoniten, Wiedertäufer von der friedlichen Art, zuzulassen und durchzusetzen, daß der übliche Bürgereid von ihnen nicht gefordert wurde. »Der Prinz«, schrieb Marnix einem Freunde, »will nicht leiden, daß die Wiedertäufer das Bürgerrecht verlieren sollen. Er antwortete mir bitter, ihr Ja sei so gut wie unser Eid, und wir sollten die Sache nicht weiter treiben, es sei denn, wir wollten auch dem Papst das Recht zuerkennen, uns zu seinem Gottesdienst wider unser Gewissen zu zwingen.« Es ist derselbe Gedankengang, den Wilhelm von Hessen dem Kurfürsten Friedrich von der Pfalz vorhielt.

Um die Zeit von Oraniens Tod wurde in der Nähe von Flensburg Georg Calixtus, eigentlich Kallisön, geboren, der als Professor der kürzlich durch Herzog Julius von Braunschweig gegründeten Universität Helmstedt für Verständigung aller christlichen Bekenntnisse wirkte. Er war beeinflußt durch Melanchthon, dessen Schüler sein Vater gewesen war; auch Erasmus kann man unter seine geistigen Ahnherren zählen. Offenbar machte sich hier eine Stammeseigentümlichkeit geltend, die von jeher in den nordwestlichen Gegenden zur Entfaltung eines undogmatischen, in Werken der Nächstenliebe, überhaupt im Leben und Handeln sich betätigenden Christentums geführt hatte. Es war damals die Zeit der großen Humanisten, Scaliger, Casaubonus, die in Leiden wirkten und die ganz im Sinne Melanchthons über alles die Barbarei haßten und fürchteten. Zu ihnen trat der junge Calixt in Beziehung. Nachdem er durch sie mit dem Calvinismus in Verbindung getreten war, suchte er Katholiken kennenzulernen und erfüllte sich mit Bewunderung der Größe der alten Kirche. Die Mehrzahl der evangelischen Theologen bekämpften Calixtus. Man nannte seine universale Richtung, die die Unterschiede zwischen den Bekenntnissen abschwächen wollte, Synkretismus und verdächtigte seine Anhänger als lau und rationalistisch, ja als servil, weil Calixtus wegen der Streitsucht der protestantischen Theologie die Herrschaft des Staates in der Kirche für besser hielt als die Herrschaft der Theologen. Das war allerdings ein zweischneidiger Standpunkt. Politisch führte der Calixtinismus oder Philippismus zur Parteinahme für den Kaiser: die Calixtiner betrachteten die Schweden als Feinde, nicht als Erretter. Die tragische Verwicklung der deutschen Angelegenheiten zeigt sich darin, daß der aus edelster Gesinnung hervorgehende Calixtinismus, obwohl auf der Grundlage des Luthertums entstanden, das Bestehen des Luthertums hätte gefährden können.

Wenn Oraniens Ideen sich in Holland anfangs nur sehr beschränkt, später weitgehend verwirklichten, so ist das nicht nur seinem persönlichen Einfluß, sondern ebensosehr dem Umstande zuzuschreiben, daß Holland als ein handeltreibender, am Meer gelegener Staat seinen Vorteil darin fand, daß verschiedene Nationen und Bekenntnisse sich zu friedlichem Verkehr auf seinem Boden trafen. Auch Venedig genoß den Ruf, ein Zufluchtsort für Gläubige aller Art und Nichtgläubige zu sein. In Hamburg konnte man zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges die Meinung aussprechen hören, die Religion sei nur dazu da, um die unteren Klassen im Zaum zu halten.

Die bändigende und bildende Aufgabe der Religion war von jeher namentlich von Staatsmännern in Betracht gezogen, aber auch von der Kirche selbst, die ja eine großartige und wirkungsvolle Erziehungsanstalt war. Indessen war im Mittelalter die Überzeugung damit verbunden, daß Gott angebetet werden müsse, weil Gott sei, und daß seinen Gesetzen gehorcht werden müsse, weil Gott der Herr sei und es so wolle, von ihrem Nutzen ganz abgesehen. Diese unmittelbare Gläubigkeit war schon gegen das Ende des Mittelalters stellenweise brüchig geworden. Der Gedanke des Cusaners, daß Gott an sich nicht erkennbar sei und daß die Reinheit der Erkenntnis dem Wesen und der Bildungsstufe der verschiedenen Völker entspreche, tauchte unter dem Einfluß der Renaissance mit allerlei Folgerungen wieder auf. Eine von den Fragen, die Kaiser Maximilian an den Abt Trithemius richtete, lautete: »ob ohne Beeinträchtigung des Glaubens jene weitverbreitete Meinung zulässig erscheine, welche dahin geht, daß jeder Verehrer des Einen Gottes in der Religion, die er für wahr und heilbringend halte, ohne den christlichen Glauben und die Taufe selig werden könne, wenn er von der Religion Christi keine Kenntnis hat«. Trotz der sorgsam verklausulierten Fassung der Frage hielt es der vorsichtige Abt für richtig, sie gemäß der strengsten katholischen Lehre zu beantworten; aber man kann doch aus ihr schließen, wie gelockert die Auffassung des Kaisers und vieler anderer war. Die Humanisten nahmen Freiheit des Denkens und Lehrens für sich in Anspruch, und wenn sie äußerlich am gewohnten Bekenntnis festhielten, so taten sie es teils, um nicht selbst in Ungelegenheiten zu kommen, teils aus demselben Grunde, den die Hamburger betonten, daß die Religion zur Zügelung des gemeinen Volkes notwendig sei. Der bekannte Gothaer Domherr Mutian war der Meinung, daß auf der Religion die Autorität des Papstes und Kaisers beruhe und daß ohne diese kein Mensch mehr seines Eigentums sicher sei.

Luther hat einmal gesagt: »Denn wo die Welt hätte länger so stehen sollen, wie sie stand, wäre gewiß alle Welt mahometisch oder epikurisch worden, und wären keine Christen mehr blieben.« Die Hand eines Gewaltigen hielt die untergehende Sonne des Glaubens zurück, so daß ein tiefes Abendrot den Himmel weit hinauf überflammte. Mit der Energie des Glaubens kehrten Unduldsamkeit und Verfolgungssucht zurück. Im Jahre 1542 führte Papst Paul III. durch die Bulle Licet ab initio die spanische Inquisition in Italien ein; auf den protestantischen Universitäten wurde von den Theologen, auf manchen von den Professoren aller Fakultäten, ja sogar von den Fecht- und Reitlehrern, der Eid auf die Bekenntnisschriften gefordert. Trotzdem kann man rühmend sagen, daß die Reformation den harten Glaubenszwang der mittelalterlichen Kirche gebrochen hat. Die Glaubenskämpfe haben dazu geführt, daß die drei christlichen Konfessionen im Reich nebeneinander leben und ihren Glauben bekennen konnten. In den Organen der Reichseinheit, an den Reichstagen und am Reichskammergericht waren sie vertreten, der Westfälische Frieden hat die eigentümliche Einrichtung getroffen, daß im Bistum Osnabrück ein katholischer und ein evangelischer Bischof als Landesherr miteinander abwechselten. Mochte dies gesetzmäßige gegenseitige Tolerieren der straffen Einheit Abbruch tun, der geistige Gewinn war groß. Es war ganz im Sinne des universalen Reiches, daß es allerlei Formen des Glaubens pflegte, wie es stets allerlei staatliche Bildungen umfaßt hatte, und Mitte und Vermittler des Abendlandes bleiben konnte. Wohl blieb eine Entfremdung zwischen Katholiken und Protestanten; aber der Norden und der Süden waren niemals ganz miteinander verschmolzen gewesen, ohne daß es deshalb an einem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit gefehlt hätte. Daß es im Westfälischen Frieden gelang, trotz der tiefgreifenden Zerwürfnisse eine Einheit zu schaffen, beweist, wie stark das Gefühl der Zusammengehörigkeit in den Deutschen war. Nach einem zerfleischenden Kriege von dreißigjähriger Dauer fanden sie sich wieder zusammen. Man durfte sich einer Spannung freuen, die das geistige Leben befeuerte und bereicherte.

Allmählich verschaffte sich neben der gesetzmäßigen, beschränkten Toleranz, die ein Ergebnis der Glaubenskämpfe war, eine gesinnungsmäßige Toleranz Geltung, die mit zunehmender Gleichgültigkeit gegen religiöse Dinge zusammenhing. Stimmen erhoben sich, die von den geoffenbarten Religionen ganz absehend eine sogenannte natürliche Religion annahmen. Sie fiel mit der Lehre Christi zusammen, die von der Natur in das Herz der Menschen gepflanzt sei. Man nannte wohl das Christentum die vernünftigste von allen Religionen, weil sie den Forderungen der Vernunft entspreche. Den historischen Christus, seine Gottessohnschaft, seine Auferstehung, die Mysterien des Glaubens, ließ man beiseite.

Im 18. Jahrhundert griff in den höheren Gesellschaftsschichten die für die Religion so verderbliche Ansicht sehr um sich, daß sie als Lenkseil für die unteren Klassen, und besonders zur Stütze des Thrones da sei. Sie führte dazu, daß an den Höfen eine ölig blanke oder militärisch kommandierte Frömmigkeit Mode wurde, und auch von den gebildeten Bürgern hielten viele am sonntäglichen Kirchgang fest, um dem Gesinde und den arbeitenden Klassen ein Beispiel zu geben. Da mit der Zeit die Absicht durchschaut wurde, diente sie nur dazu, die Religion verächtlich zu machen.

Die Grenze der Toleranz blieb noch lange der Atheismus. Selbst in Thomas Morus' Utopia, wo Duldung aller Religionen vorausgesetzt wurde, war der Atheismus ausgenommen. Zwar sollten die Atheisten nicht verfolgt werden, aber sie sollten keine öffentlichen Ämter bekleiden dürfen, denn weil durch Zweifel am Leben im Jenseits die Pflichterfüllung ins Wanken komme, seien sie staatsgefährlich. Dieser flache Standpunkt des Nutzens drängt sich stets vor, sowie die Religion eine Angelegenheit des Verstandes wird; aber er war doch nicht der einzige Grund des allgemeinen Übereinkommens, den Atheisten aus der Gesellschaft auszustoßen. Gott erschien auch denjenigen, die kein Dogma anerkannten, als der feste Punkt, mit dessen Entfernung das Chaos hereinbrechen würde, ein unbestimmtes Grauen vor der Entleerung des Himmels verhinderte sie, laut und öffentlich sein Dasein zu leugnen. Trotzdem konnte es im Jahre 1675 geschehen, daß ein deutscher Fürst, Karl Ludwig von der Pfalz, der Sohn des Winterkönigs und Urenkel Friedrichs des Frommen, einstiger Führer der kämpferischen Protestanten, den Juden Spinoza, der als Atheist galt, an die Universität Heidelberg berief. Die Einladung wurde ihm vermittelt durch einen Professor der Theologie an derselben Universität, welcher ihm versicherte, der Kurfürst werde ihm die größtmögliche Freiheit im Philosophieren zugestehen, darauf bauend, daß Spinoza sie nicht zum Umsturz des öffentlichen Gottesdienstes benützen werde. Es wurde nichts daraus, weil Spinoza in einem sehr feinen Schreiben dankend ablehnte.

Gesammelte Werke

Подняться наверх