Читать книгу Der Fall Deruga - Ricarda Huch - Страница 4
II
ОглавлениеDie Sitzung des nächsten Tages eröffnete Dr. Zeunemann mit der Erklärung, eine Zeugin, die aus Ragusa gekommen sei, habe gebeten, sofort vernommen zu werden, damit sie möglichst bald zu ihrer Familie zurückreisen könne. Er habe um so weniger Anstoß genommen, ihrer Bitte zu willfahren, als er sie nicht für wichtig halte und sie nur auf Ansuchen des Verteidigers zulasse. Immerhin werde man von ihr Aufschlüsse über die Beziehungen des Angeklagten zu seiner geschiedenen Frau während der ersten Zeit seiner Ehe erhalten.
Auf seinen Wink trat eine mittelgroße Dame ein, die mit einer ziegelroten Schabracke behängt war und auf ihrem brandroten, in vielen Tollen und Puffen aufgesteckten Haar einen großen, von einem Niagarafall weißer und blauer Straußenfedern überstürzten Hut trug. Sie trat ein paar Schritte vorwärts, blieb dann stehen und sah mit suchenden Blicken um sich, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Augenscheinlich hatte sie sich den Platz des Angeklagten beschreiben lassen, denn dort blieb der Blick hängen, ohne zunächst durch das Ergebnis seiner Forschung befriedigt zu werden.
Plötzlich indessen stieß sie einen Schrei aus, rief mit kreischender Stimme: »Dodo!« und lief mit ausgestreckten Armen auf Deruga zu. Sie hatte ihn jedoch nicht erreicht, als der Gerichtsdiener, der sie hereingeführt hatte, ihrer habhaft wurde und sie vor den kleinen Tisch im Angesicht der versammelten Richter stellte, wo sie den Eid zu leisten hatte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie schluchzend, indem sie ihr Taschentuch hervorzog, »aber das war zuviel für mich. Dies Wiedersehen nach so viel Jahren! Die Veränderung! Und im Grunde doch dasselbe liebe, närrische Gesicht! Wenn Sie mir eine Pfanne mit glühenden Kohlen herstellten, Herr Präsident, so schwöre ich Ihnen, ich halte die Hand hinein, um seine Unschuld zu beweisen!«
»Die Sache ist leider nicht so einfach«, sagte Dr. Zeunemann mit wohlwollender Überlegenheit. »Hingegen können Sie uns unsere Arbeit sehr erleichtern und dem Angeklagten nützen, wenn Sie, was Sie zu sagen haben, kurz, klar und folgerichtig sagen. Sie heißen Rosine Schmid, geborene Vogelfrei, sind Hauptmannsgattin und vierundvierzig Jahre alt?«
»Jawohl«, sagte die Dame, »ich gehöre nicht zu denjenigen Frauen, die sich ihres Alters schämen. Übrigens tun die Männer auch, was sie können, um jung zu erscheinen, besonders beim Militär, und würden es noch mehr tun, wenn so viel für sie davon abhinge wie für uns Frauen.«
»Frau Hauptmann«, sagte der Vorsitzende, »Sie kennen den Angeklagten Sigismondo Enea Deruga, sind aber mit ihm nicht verwandt. Wollen Sie so gut sein und mit Vermeidung alles Überflüssigen erzählen, wann und unter welchen Umständen Sie ihn kennenlernten?«
»Mit Vergnügen will ich das«, sagte Frau Hauptmann Schmid lebhaft. »Alles will ich sagen, was ich weiß, denn dazu bin ich ja hergekommen. ›Und wenn ich bis ans Ende der Welt reisen müßte‹, sagte ich zu meinem Mann, ›ich täte es, um dem Dodo aus der Patsche zu helfen. Das hat er um mich verdient, so lieb und gut wie er immer war.‹ Und getan hat er es auch nicht, denn wenn er auch etwas toll und originell war, den Topf voll Mäuse, gemordet hat er sicherlich keinen Christenmenschen und am wenigsten die gute Seele, seine Frau.«
»Wie kommt es, daß Sie den Angeklagten einen Topf voll Mäuse nennen?« fragte Dr. Zeunemann.
»So nennt man doch«, erklärte Frau Schmid, »die Figur, die bei den Feuerwerken gewöhnlich zuletzt kommt, wo es so kracht und prasselt, daß man glaubt, einen feuerspeienden Berg vor sich zu haben. Es war eine Art Kosename, den seine Frau ihm gegeben hatte, weil er zuweilen Anfälle von Wut bekam, wo er Rauch und Feuer spuckte, so daß sie sich vor ihm fürchtete.«
»Sonderbarer Kosename«, meinte der Vorsitzende.
»Ach, Herr Präsident«, sagte die Frau Hauptmann lachend, »er meinte es ja im Grunde nicht böse, sowenig wie ein Topf voll Mäuse gefährlich ist. Darum paßte der Name gerade so gut, und wir nannten ihn alle so, obgleich es sich für mich, so ein junges Mädchen, wie ich war, kaum recht schickte.«
»Ich bitte zu beachten«, sagte der Staatsanwalt, »daß nach Aussage der Zeugin die damalige Frau Deruga sich vor ihrem Mann fürchtete.«
Frau Hauptmann Schmid drehte sich schnell nach dem Sprecher um und sagte, während ihr das Blut ins Gesicht stieg: »Wenn Sie glauben, Sie hätten damit einen Vorteil über den Herrn Doktor gewonnen, daß ich gesagt habe, er sei aufbrausend, so sind Sie gewaltig im Irrtum. Die Aufbrausenden sind die Schlimmsten nicht, und das sagt ja auch das Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich habe oft zu meinem Manne gesagt: ›Meinetwegen möchtest du schimpfen und fluchen, ja, sogar in Gottes Namen zuschlagen, nur das Maulen und Scheelblicken, das Brummen und Nachtragen, das ist mir zuwider‹, und ich glaube, daß einer, dem es nie überläuft, das Herz nicht auf dem rechten Flecke hat.«
Der Vorsitzende machte eine abschließende Handbewegung und sagte: »Ihre Mitteilungen, Frau Hauptmann, sind uns sehr wertvoll. Vielleicht erzählen Sie uns zunächst, auf welche Weise Sie die Bekanntschaft des Angeklagten machten!«
»Sehr gern, sehr gern«, sagte Frau Hauptmann, »ich habe auf der langen Reise immer an jene Zeit gedacht, darum ist mir alles gegenwärtig, obschon es jetzt vierundzwanzig Jahre her ist. Ja, vierundzwanzig Jahre ist es her, und einundzwanzig Jahre war ich damals alt. Die Großmutter hatte gerade viel Geld bei der Lotterie verloren. Denn obwohl sie sich einbildete, ein Muster von Vernunft zu sein, konnte sie doch nicht leben, ohne zu spielen. Und wenn sie sich das Geld hätte zusammenbetteln müssen, gespielt mußte werden. Weil nun der Großvater ärgerlich war, was er zwar nicht aussprach, denn das traute er sich nicht, aber er machte ein langes Gesicht und manchmal eine spöttische Bemerkung, wollte die Großmutter es wieder einbringen und richtete das alte Lusthäuschen am Gartenzaun zum Vermieten ein, und es wurde eine Anzeige für die Zeitung gemacht. Ich weiß noch wie heute, wie wir abends spät um den Tisch der Lampe saßen und uns abrackerten, um die Sache in richtiges Deutsch zu bringen. Denn der Großmutter war das Schriftliche nicht geläufig, und der Großvater wollte nichts damit zu tun haben. Erstens, sagte er, schicke es sich für den Offiziersstand nicht, Zimmer zu vermieten – er war nämlich Hauptmann, aber schon lange nicht mehr im Dienst –, zweitens möchte er keine Fremden im Hause leiden, und drittens sei es eine Schande, arglosen Leuten die alte Baracke als Wohnung aufzuschwatzen.«
»Ihre Großmutter war offenbar keine Deutsche«, schaltete der Vorsitzende ein, »da ihr das Deutsche nicht geläufig war?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Frau Schmid, »sie war ja aus Bosnien; aber sie war eine sehr schöne Frau und übrigens auch gebildet, nur nicht in den Wissenschaften.«
»Und Ihre Eltern?« fragte der Vorsitzende.
»Ja, meine Eltern waren auch von dorther«, sagte die Frau Hauptmann ein wenig errötend; »aber sie waren zu früh gestorben, als daß ich mich ihrer hätte erinnern können, und ich sah eigentlich den Großvater und die Großmutter als meine Eltern an. Also, um in meiner Erzählung fortzufahren, als der Großvater das sagte, geriet die Großmutter in eine Furie und sagte, das Lusthaus hätte der Kaiser Joseph oder Ferdinand oder Maximilian, das weiß ich nicht mehr, für seine Geliebte gebaut, da in dieser Gegend noch lauter Wald und Heide gewesen wäre, und es wäre noch etwas Malerei an der Decke und eine steinerne Vase, wenn auch zerbrochen, an der Treppe. Außerdem wolle sie es den Leuten gar nicht aufschwatzen, nur zeigen; sie könnten ja die Augen auftun und mit Gott wieder heimgehen, wenn es ihnen nicht paßte. Wenn die Großmutter in der Furie war, sah sie sehr majestätisch aus; sie hatte eine gebogene Nase wie ein Papagei, aber Augen, schöner wie Diamanten, und dickes weißes Haar, das wie ein Schneeberg über ihrem Kopf stand. Um sie zu begütigen, half der Großvater doch mit bei der Anzeige, und sie lautete schließlich so: ›Hier ist ein fesches Sommerhaus zu vermieten, auch winters brauchbar, wenn es beliebt. Es liegt im Grünen und hat einige Möbel. Besonders geeignet für ein junges Ehepaar.‹ Die Großmutter wollte nämlich zuerst schreiben: ›für ein Liebespaar‹. Da wurde aber der Großvater beinahe böse und sagte, die Großmutter würde ihn noch um Ehre und guten Namen bringen, und sie wäre ärger als eine Zigeunerin. Da gab die Großmutter nach, denn sie hatte eine große Hochachtung für des Großvaters Vornehmheit und Weltkenntnis, und es wurde statt dessen das ›junge Ehepaar‹ gesetzt.«
»Und auf diese Anzeige hin kamen Herr Dr. Deruga und seine Frau?« fragte der Vorsitzende. »Wann war das?«
»Vor dreiundzwanzig Jahren, wie ich schon sagte«, antwortete Frau Schmid; »es mag im Mai gewesen sein.«
»Juli war es«, sagte Deruga, »denn die Linde, unter der wir abends saßen, duftete, und der Rosentriumphbogen über der Gartenpforte blühte, als wir das erstemal hindurchgingen.«
Alle blickten erstaunt nach dem Angeklagten, dessen wohllautende Stimme und melodischer Tonfall jetzt erst auffielen; was er sagte, hatte fast wie ein kleines Lied geklungen.
Die farbenprächtige Frau zeigte wieder eine Neigung, auf ihn zuzulaufen, unterdrückte sie aber und sagte nur: »Recht haben Sie, es war Juli! Sie wissen es am besten und könnten überhaupt alles viel besser und schöner erzählen als ich.«
»Schräg über unserm Pavillon stand das Sternbild des Wagens«, sagte Deruga, »und wenn wir nachts Hand in Hand nach Hause kamen, Mingo und ich, sah ich ihn an und dachte: Wie bald, fliegender Wagen der Zeit, wirst du uns von diesen schnellen, törichten Augenblicken fortführen in das namenlose Dunkel.«
»Ja, etwas Ähnliches muß ich wohl mal von Ihnen gehört haben«, fiel Frau Schmid lebhaft ein; »denn im folgenden Sommer, wenn der Wagen hoch am Himmel stand, sah er mir immer so leer aus, und doch hatte ich sonst auch niemand darin sitzen sehen, natürlich.«
»Sie haben also noch zuweilen an uns gedacht, Brutta?« fragte Deruga.
Frau Hauptmann Schmid zog ihr Taschentuch und brach in Tränen aus. »Ach«, schluchzte sie, »das greift mir ans Herz, wenn Sie mich bei dem Namen anreden. Es nennt mich ja seit Jahren niemand mehr so, denn der Großvater und die Großmutter sind lange tot, und ich möchte gar nicht wieder hin nach dem alten Hause. Wer weiß, ob der Wagen noch darübersteht!«
Der Vorsitzende nahm jetzt den Faden des Verhörs wieder auf, indem er Frau Schmid bat, sich zu beruhigen, und sie fragte, ob die Eheleute Deruga den Eindruck eines glücklichen Paares gemacht und ob sie ihren Großeltern gefallen hätten.
»Und wie!« sagte Frau Schmid, »besonders der Doktor. Das heißt, dem Großvater gefiel die Frau besser, aber er hielt sich zurück. Dagegen, wenn die Großmutter einen leiden mochte, dann merkte man's. Und vom ersten Augenblick an sagte sie, ›das wäre ein Mann für mich gewesen‹.«
»Wie kam sie darauf?« fragte Dr. Zeunemann. »Erwies er Ihnen Aufmerksamkeiten?«
»Keine Spur!« sagte Frau Schmid. »Er spaßte nur mit mir, wie das so seine Art war. Zum Beispiel sagte er mir immer, ich wäre so häßlich, daß man mich nur mit einem Auge ansehen könnte, sonst hielte man es nicht aus; und wenn ich ihm in den Weg kam, kniff er ein Auge zu, bald das eine, bald das andere. Um sie zu schonen, wie er sagte. Die Grimassen, die er dabei machte, waren zu komisch, daß ich nicht aufhören konnte zu lachen, und die Großmutter lachte auch; aber sie ärgerte sich doch ein bißchen. Das ließ sie übrigens nie an ihm aus, sondern an mir, wie ich denn überhaupt, um die Wahrheit zu sagen, viel von ihr ausgestanden habe; denn sie war rasch und zornig, obwohl sonst eine herrliche Frau, die ich bis an mein Lebensende lieben und verehren werde.«
»Empfanden Sie das Benehmen des Angeklagten nicht als unzart?« erkundigte sich der Vorsitzende.
»Bewahre!« sagte Frau Schmid. »Wenn einem auf solche Weise gesagt wird, daß man häßlich ist, glaubt man hübsch zu sein. An Heiraten habe ich nie gedacht, er hatte ja eine Frau, und noch dazu eine, die ich schwärmerisch verehrte. Die Großmutter gewann sie erst allmählich lieb, dann aber war sie fast mehr in sie als in den Doktor verliebt. Anfangs hatte sie allerlei an ihr auszusetzen: sie wäre zu alt für den Doktor – tatsächlich zählte sie ein paar Jahre mehr –, und namentlich wäre sie nicht feurig genug für einen so hübschen und reizenden Mann. Ihr Gesicht wäre nicht übel, wenn man genau zusähe, aber ihre Augen wären zu sanft und dadurch langweilig. Immer gleiche Freundlichkeit wäre wie Milchbrei; müßte man den täglich essen, würde einem übel. Dagegen ein gut gepfeffertes und gezwiebeltes Gulasch würde einem nie zuwider. Nur eins ließ meine Großmutter an ihr gelten: das war ihr Nacken. Die arme Frau trug nämlich immer den Hals frei, obschon das damals nicht so in der Mode war wie heutzutage, und wenn sie durch den Garten ging, leicht, wie wenn sie Flügel an den Füßen hätte, sagte meine Großmutter: ›Übrigens gefällt sie mir nicht, aber ich möchte sie einmal auf den Nacken küssen.‹
Eines Tages, es muß im Oktober gewesen sein, weil wir die Trauben abgenommen hatten, war die Großmutter besonders schlechter Laune wie jedes Jahr bei der Traubenernte. In der Zwischenzeit bildete sie sich nämlich ein, daß sie süß wären, und kam dann die Zeit heran, waren sie doch wieder sauer. Morgens beim Frühstück gab sie mir eine Ohrfeige, weil ich die Kaffeetasse umgeworfen hatte. Das heißt, sie hatte mir einen Stoß gegeben, aber sie sagte, das wäre keine Entschuldigung, denn ich hätte sie dumm angeglotzt. Bei der Gelegenheit sagte sie mir auch, wenn ich wenigstens gescheit wäre, so möchte ich hingehen, aber häßlich und dumm, da könnte es einen nicht wundern, daß der Doktor mich nicht genommen habe; daß er mich als unverheirateter Mann gar nicht gekannt hatte und mich aus dem Grunde gar nicht hätte heiraten können, leuchtete ihr niemals ein. In der Küche stellte ich mich auch an wie ein Tölpel, sagte sie, und doch hinge vom Kochen das Glück der Ehe ab, und daß sie große Stücke darauf hielt, danke ich ihr noch tagtäglich, wenn mein Mann sagt, in den feinsten Hotels von Wien und Prag schmeckte es ihm nicht so gut wie zu Hause, und doch ist er weit herumgekommen und versteht sich darauf.
An dem Tage nun wollte ich einen Risotto machen, und weil ich schon einmal einen unter der Aufsicht der Großmutter gemacht hatte, dachte ich, dabei würde es mir gewiß nicht fehlen. Ich schnitt also meine Zwiebeln und Leber und alles und richtete das Zeug an, und plötzlich fiel mir ein, daß ich Hunger hätte und daß gewiß noch eine Traube hängengeblieben wäre, die ich mir holen könnte, ohne daß die Großmutter es merkte. Ich schüttete noch ein wenig Fleischbrühe nach und dachte, auf die Art könne ich es ruhig eine Weile gehenlassen. Eigentlich nämlich muß der Risotto fortwährend gerührt werden, und das wußte ich gut genug; aber ein bißchen keck und leichtsinnig war ich schon. Jetzt kann ich das nicht mehr begreifen, aber in der Jugend kommt man unversehens von einem aufs andere, wenn man sich die Zukunft ausmalt: Verehrer, Körbe, Hochzeit und so weiter, und ich vergaß über solchen Träumereien wahrhaftig das Mittagessen. Auf einmal steht die Großmutter vor mir, in der Nachtjacke, das Gesicht rot wie ein glühender Ofen, und schreit: ›Da steht sie und maust, die Dirne, die mir den ganzen Risotto verbrannt hat!‹ Wahrhaftig, ich roch es selbst durch das offene Küchenfenster, unter dem wir standen, und unbegreiflich ist es, daß ich es vorher nicht gemerkt hatte. Und dann fiel sie über mich her, griff mit der einen Hand in meine Haare und schlug mit der anderen so auf mich los, daß mir zumute war, als hätte mich der Wirbelwind gefaßt und drehte sich mit mir im Kreise herum. Weh tat es mir nicht, dazu war ich zu erstaunt. Aber noch viel mehr erstaunte ich, als plötzlich die Großmutter ihrerseits von einem Sturmwind erfaßt und zurückgerissen wurde und Frau Dr. Deruga zwischen uns stand, wie der Engel mit dem feurigen Schwerte, der Adam und Eva aus dem Paradiese trieb, mit Augen, die nicht blau wie sonst, sondern schwarz waren und knisterten, so kam es mir nämlich vor in meiner Erregung.
›Lassen Sie das Kind los, Sie abscheuliche, gottlose Hyäne!‹ rief sie so laut und hart, wie sie mit ihrer weichen Stimme konnte; und nach einer kleinen Pause sagte sie ein wenig weicher und gelinder: ›Megäre, wollte ich sagen.‹ Wie sie das gesagt hatte, kam es ihr wohl selbst ein wenig komisch vor, daß sie in den Mundwinkeln zu lachen anfing, und dann lachte die Großmutter geradeheraus, und wie ich das hörte, lachte ich dermaßen, daß ich ordentlich kreischte, und fiel der Frau Doktor um den Hals, der die Tränen aus den Augen sprangen vor Lachen.«
Während dieser Erzählung beobachteten sowohl die Richter wie Dr. Bernburger in unauffälliger Weise den Angeklagten, in dessen Mienen sich deutlich ausprägte, wie er die wiedererstehende Vergangenheit miterlebte, seine länglichen, schöngeschnittenen Augen erglänzten wie die Schuppen eines silbernen Fisches. Er schien seine Lage und Umgebung vollständig vergessen zu haben und sagte unbefangen zu der alten Freundin: »Arme Marmotte« (so nannte er seine Frau), »arme, gute, feige Person! So hatte sie später ihr Junges gegen mich verteidigt, das natürlich seine Prügel ebenso verdiente wie Sie damals, Brutta. Aber erzählen Sie weiter, erzählen Sie: Was tat die Großmutter?«
»Der Großmutter«, fuhr die Frau Hauptmann fort, »waren die Augen auch feucht, aber nicht nur vom Lachen, sondern gerührt war sie, gerührt über die Frau Doktor, und machte kein Hehl daraus; denn obwohl sie, wie schon gesagt, eher scharf und zornig war, so war sie doch ohne Falsch und zögerte nicht, ein Unrecht zuzugestehen, wenn sie es nämlich eingesehen hatte. Sie stemmte die Arme in die Seite und sagte: ›Also so sieht das stille Wasser aus! Eine richtige Feuerflamme kann herausschlagen! Da bin ich freilich so dumm wie alt gewesen. Und wenn ich heute unser Herr Doktor wäre, ich würde Sie morgen vom Fleck weg heiraten, so gut haben Sie mir eben gefallen. Und nun muß ich Sie auf den Nacken küssen!‹ Damit umarmte sie die Frau Doktor und küßte sie nicht nur auf den Nacken, sondern auch auf beide Backen, und dann sagte sie, der Risotto solle nun vergeben und vergessen sein, und sie wolle für das Mittagessen sorgen, denn kochen könne sie besser, als man es von einer gottlosen Hyäne erwarten würde. In der Tat brachte sie in einer Stunde das feinste Essen zusammen, nämlich Fleischpastete und Marillenknödel, und ich begreife heute noch nicht, wie sie es machte, denn das sind Gerichte, zu denen man seine Zeit braucht. Helfen mußte ich allerdings doch und bekam Püffe und Kniffe, aber das schadete nicht, weil sie ein vergnügtes Gesicht dazu machte. Nachher beim Mittagessen, an dem die arme Marmotte, ich meine die Frau Doktor, auch teilnehmen mußte, sprach die Großmutter viel über Erziehung und daß namentlich die Mädchen lernen müßten, nicht so heikel und empfindlich zu sein, denn bei den Männern wären sie nicht auf Daunen gebettet, und wenn eine nicht einen Puff vertrüge und sich ihrer Haut wehren könnte, ginge es ihr schlecht; die Wehleidigen und die Nachgiebigen würden nur verachtet. Eine Frau, die ihnen keinen Vorteil brächte, sähen die Männer nur als eine Last an, deshalb müßte ein Mädchen entweder Geld haben oder kochen können. Die arme Marmotte rühmte ihren Mann, daß er nicht so wäre, aber die Großmutter, die doch bisher soviel Wesens von ihm gemacht hatte, sagte, da gäbe es keine Ausnahmen. In diesem Punkte wäre einer wie der andere, und wenn die Liebe einmal einen uneigennützig machte, haßte er die Frau nachher doppelt, die ihn so verblendet hätte.«
»Warum sagen Sie immer ›arme Marmotte‹?« fragte der Vorsitzende, der mit außerordentlicher Geduld zugehört hatte.
»Nun, weil sie tot ist«, antwortete die Frau Hauptmann nach einer Pause verblüfft.
»Ach so«, sagte Dr. Zeunemann, »bei ihren Lebzeiten haben Sie nicht so von ihr gesprochen?«
»Bewahre«, sagte Frau Schmid, »sie kam mir im Gegenteil beneidenswert vor. Nun ja, etwas Hilfloses hatte sie an sich, und zuweilen war sie auch traurig und sah ängstlich aus, und da mag ich sie wohl einmal ›arme Marmotte‹ genannt haben.«
»Wissen Sie, warum sie zuweilen traurig war?« fragte der Vorsitzende.
»Warum?« fiel Deruga höhnisch ein. »Das kann ich Ihnen sagen. Weil sie ihren Mann nicht so liebte, wie sie sollte, weil sie an einen anderen dachte, der besser zu ihr passen würde, und weil sie Angst vor meiner Eifersucht hatte. Denn wir Italiener haben nicht Milch oder Wasser in den Adern, sondern Blut, und dann werden unsere Augen blutrot, wenn wir zornig werden.«
Frau Hauptmann warf einen erschrockenen und tadelnden Blick auf Deruga und sagte zu den Richtern gewendet:
»Er macht nur Spaß! Er war immer ein Spaßmacher und liebte es, die Leute zu foppen und zu erschrecken.« Dann wieder zu ihm herüber: »Warum hätte die arme Marmotte Sie denn geheiratet? Ein Kind konnte ja sehen, wie lieb sie Sie hatte.«
Deruga hatte bereits den Kopf wieder auf die Hand gestützt, so daß man sein Gesicht nicht sah, und gab kein Zeichen des Anteils mehr.
»Wenn sie sich vor ihm fürchtete«, fuhr Frau Schmid, zu den Richtern gewendet, fort, »so war das sicherlich nicht seine Schuld, sondern es kam von ihrer außerordentlichen Furchtsamkeit. Einmal in der Nacht fiel etwas mit einem Betrunkenen vor. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, aber ich weiß, wie sie von uns allen damit geneckt wurde.«
Der Vorsitzende ermunterte Frau Schmid, sich zu besinnen oder zu erzählen, was sie noch davon wisse. Dann, da ihr nichts einfiel, fragte er Deruga, ob er sich vielleicht noch daran erinnere.
Deruga hob den Kopf und sah aus, als habe er keine Ahnung, wovon die Rede sei.
»Ach, Sie wissen doch, Doktorchen«, redete ihm Frau Schmid zu. »Es kam nachts ein Betrunkener am Pavillon vorbei und grölte so laut, daß Ihre Frau davon aufwachte und dachte, es wäre unter dem Fenster. Es wird im November gewesen sein, denn es war eine stürmische und regnerische Nacht, und Sie hatten keine Lust aufzustehen und stellten sich schlafend, während Ihre Frau fast verging vor Angst. So ungefähr war es, erinnern Sie sich denn nicht mehr daran?«
»O ja«, sagte Deruga, »es stellte sich eine ungewöhnliche Zärtlichkeit bei meiner Frau ein. Ich wachte auf, weil sie sich an mich schmiegte und ihren Kopf dicht an meinen Hals drückte, und als ich mich noch in dem Traum wiegte, es habe sie plötzlich eine Leidenschaft für mich überkommen, flehte sie mich an, ich solle sie vor dem Betrunkenen schützen. ›Er ist unter dem Fenster‹, sagte sie, ›im nächsten Augenblick wird er hereinkommen. Was fangen wir an, oh, was fangen wir an! Schließe wenigstens das Fenster.‹ Ich rief: ›Ich werde mich hüten, das zu tun; so bist du doch einmal zärtlich gegen mich‹ – und ich habe es ausdrücklich ziemlich bösartig gesagt, denn sie ließ mich los und drehte ihr Gesicht nach der anderen Seite und weinte. Ich sagte noch viel beißender als vorher, sie solle nicht so dumm sein und weinen, und übrigens, wenn sie sich unglücklich fühle, brauche sie nicht für das Leben zittern. Und wenn sie zum Sterben unglücklich sei, sagte sie, sie möchte doch nicht, daß ein ekelhafter, betrunkener Mensch sie anfaßte und erwürgte. Daß sie gar nicht unglücklich wäre, sagte sie nicht. ›Der Kerl liegt draußen im Straßengraben und wird singen, bis er einschläft‹, sagte ich, und dann stellte ich mich schlafend, um sie durch die Furcht zu quälen. Nach einer halben Stunde verstummte das Geheul, und gleich darauf schlief sie fest und ruhig, während ich wachend neben ihr lag und ihren hübschen weißen Hals betrachtete und darüber nachdachte, wie leicht ich ihre Kehle zudrücken könnte, fast ohne daß sie es merkte.«
Der Staatsanwalt zuckte triumphierend seine geschwänzten Augenbrauen und streckte, den Mund schon zum Reden geöffnet, den Zeigefinger aus, als der Justizrat die Hand gegen ihn erhob und gleichgültig, wie man einen nichtigen Einwand beseitigt, sagte: »Er hat es ja nicht getan. Hunde, die bellen, beißen nicht, wie unsere Zeugin schon sagte.«
Ehe noch der Staatsanwalt einen Laut hervorbringen konnte, erklärte Dr. Zeunemann, nachdem er durch einen verbindlichen Blick nach rechts und links die Zustimmung erbeten, aber nicht abgewartet hatte, die Sitzung der Mittagspause wegen für geschlossen. Er wollte um drei noch einige Fragen an Frau Hauptmann Schmid richten, und wenn seine Kollegen einverstanden wären, könne sie dann abreisen. Der Nachtzug nach Wien gehe um acht Uhr.