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2. Literatur über Sprache und Motorik
ОглавлениеUm der Sache etwas näher zu kommen, fragte ich mich, wieso man auf einen Zusammenhang von Sprache und Bewegung kommt. Die Aufgabe ist es also nach Literatur zu suchen, in der die beiden Bereiche zusammen vorkommen:
Luchsinger/Arnold 1970 empfehlen für die Behandlung aller jener Störungen von Stimme und Sprache, in welchen die funktionelle Störungskomponente (z.B. Stottern) vorherrscht, die sogenannte Kaumethode. Es geht darum, dass die Bewegungen der Lautbildung im Prinzip den Bewegungen des Kauens ähnlich sind. Sie erklären dazu: „Solange die Mundorgane des Patienten tadellos zum Essen und Trinken funktionieren, dann sei kein Grund vorhanden, warum die gleiche Organe nicht für die Lautbildung des Sprechens genau so gut dienen sollten. In weiterer Folge beauftragt man den Patienten, lauthafte Kaubewegungen zu machen, während er bestimmte Wörter oder Sätze murmelt. Später vermindert man das Ausmass der Kaubewegungen bis der Patient sich lediglich vorstellt, dass er während seines Sprechens kaut."(Luchsinger/Arnold 1970, S.389). Die Autoren selbst kritisieren, dass obwohl Sprechen und Essen dieselben peripheren Organe beanspruchen, die Zentren, welche Sprechen und Essen steuern, sehr verschieden voneinander sind.(vgl. S.390).
Zur Klärung der Problematik des "Stammelns" zitiert Böhme 1974 ein älteres Werk von Luchsinger, das aber demnach immer noch aktuell zu sein scheint! "Zieht man bei Stammlern zwischen dem 4., 5. und 6. Altersjahr Vergleiche, so ergibt sich das klare Bild, dass bei leicht motorisch Behinderten bis zum 6. Lebensjahr ein Ausgleich zustande kommt. Gleichzeitig mit der Verbesserung der Feinmotorik beheben sich auch leichtere Sprechstörungen. Die Kinder korrigieren sich selbst, die Sprache wird normal. Bei den "Motorisch-Debilen" fand sich fast immer ein ausgesprochenes Stammeln, während die "Motorisch-Normalen" nur ganz selten ein leichtgradiges Stammeln aufwiesen. So kann man sagen, dass beim Stammler - besonders beim universellen Stammler - neben dem sensoriell-akustischen Faktor auch der allgemeinen motorischen Fertigkeit eine grosse Bedeutung zukommt, die auch bei der Sprachbehandlung beachtet werden muss."(Böhme 1974, S. 184). Böhme gibt dann selbst das Rezept für den motorischen Stammler: "Durch krankengymnastische Bemühungen usw. entwickelt sich die Gesamtmotorik. Gleichzeitig werden die feinmotorischen Bewegungsfolgen der Artikulationsorgane mit günstig beeinflusst."(S. 189).
In seinem eher medizinischen Werk wird auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem feinmotorischen Training und dem Stammeln nicht eingegangen. Anscheinend wird diese Therapie einfach angewandt, weil sie einen mehr oder minder grossen Erfolg aufzeigt.
Schulze 1978 gibt als Vortraining für die Sprachbildung, Hör- und Sprecherziehung eine Methode an, die auf emotionaler, multisensorieller und sensomotorischer Basis beruht. Hier wird dann unter vielen anderen Trainingsarten (Kontaktfähigkeit, emotionaler Bereich, Aufmerksamkeit, Konzentration, Geruch, Geschmack, usw.) auch das Training des Bewegens und der feineren Bewegung (Hand-, Gesichts- und Mundmotorik) angegeben, (vgl. Schulze 1978, S. 126-128). Wie bei Böhme wird auch hier auf den Zusammenhang zwischen diesem Bewegungstraining und der Sprache überhaupt nicht eingegangen. Ihm scheint die Idee vorzuschweben: Möglichst alles trainieren, dann entwickelt sich unter anderem auch die Sprache.
In einem Lehrbuch für Logopäden von Führing u.a. 1976 werden eine Reihe von Methoden zur Behandlung des Stotterns diskutiert. Es wird an dieser Stelle gesagt: "Dass die meisten Stotterer bei allen motorischen Äusserungen ungeschickt sind, darf wohl als erwiesen angenommen werden." (Führing u.a. 1976, S.120). und "Nur unter Einbeziehung der Gross- und Feinmotorik, nur mit Ausnutzung der phylogenetisch und onto-genetisch tief verwurzelten psychomotorischen Koordination von Sprechmotorik und gesamtkörperlicher Ausdrucksmotorik kann die Sprechübungstherapie in sinnvoll gelenkte grossmotorische Bewegungsabläufe eingebaut werden." (S. 119).
Obwohl auch hier auf die Hintergründe der Methode nicht genauer eingegangen wird, würde eventuell einiges geklärt, wenn die phylo- und ontogenetische Entwicklung des Menschen in diesem Zusammenhang etwas analysiert würde.
Knura 1974 weist bei Stammlern unter anderem auch nach:
im zentralen Bereich: phonematische Differenzierungsschwäche, Störungen des motorisch-kinästhetischen Analysators, Unreife der motorischen Zentren und Bahnen
im expressiven Bereich: motorische Ungeschicklichkeit, etc. (vgl. Knura 1974, S. 110).
Auch hier wieder finden wir die starke Verknüpfung einer Sprachstörung mit einer motorischen Störung. In dieser Studie des Deutschen Bildungsrates wird aber diesem Phänomen weiter keine Beachtung geschenkt, und deshalb auch keine diese Fakten berücksichtigende Therapie vorgeschlagen.
In Wohl's sprachtheoretischer Konzeption wird die Bewegung miteinbezogen. Seine Bewegungstheorie ist auf den Grundlagen des 1. und 2. Signalsystems aufgebaut. D.h. der Mensch erlebt in täglicher Erfahrung z.B. das "Haus"(l. Signalsystem). Durch den ständigen Bezug prägt sich in ihm langsam der Begriff "Haus" ein (2.Signalsystem). Das 1. Signalsystem tritt danach gegenüber dem 2. in den Hintergrund. Aus seinen Überlegung geht dann als wichtigster Schluss hervor,"...dass der Denkprozess nichts anderes ist als eine spezifische Form des menschlichen Bewegungsablaufs, seine latente Anfangsphase und, dass die antizipierende Rolle dieser Eingangsphase im Verhältnis zur eigentlich äusserlich sichtbaren Bewegung auf der Programmierung und Steuerung dieser Bewegung ruht." (vgl. Wohl 1977, S.148). Aus dieser These leitet er eine umfassende Konzeption der menschlichen Motorik ab, die er in 17 Punkten beschreibt. Im 1. Punkt steht: "Im Lichte der vorhandenen Forschungsergebnisse bestätigt sich voll und ganz die These, dass die Sprache die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist und dass ohne verbales, mit den entsprechenden Bewegung der Sprechmuskel verbundenes Material kein Denken möglich ist. Diese Ergebnisse beweisen gleichzeitig, dass der Denkprozess durchaus keine ausschliesslich nervale Tätigkeit ist, sondern vor allem eine motorische." (S.148,149]
Dieses Ergebnis stelle ich sehr stark in Frage, denn man prüfe nur einmal bei sich selbst, ob einem eine Rechenaufgabe ohne Bewegung der Sprechmuskulatur wirklich nicht gelingt ! Mir scheint eine andere Verknüpfung von Denken und Sprechen, etwa so wie sie Lurija 1969 beschreibt, sinnvoller (vgl. dazu Kapitel 5, S. 2l). Im weiteren finde ich es sehr schwierig, aus Wohl's hochtheoretischem Modell praktische und anwendbare Schlüsse zu ziehen.
In der Arbeit von Eggert, Schuch und Wieland 1975 mit dem vielversprechenden Titel "Psychomotorisches Training" wurden lese- und rechtschreibschwache Schüler getestet. Bei der Auswertung der Tests wird hervorgehoben, "...dass die durchgeführten Trainingsverfahren und hier besonders in der Kombination 75% Motorik, 25% kognitiv-verbal sehr intensiv eine positive Beeinflussung der Sprachleistungen bewirkten. Erklärbar ist dieser Leistungsanstieg möglicherweise mit einer im Verlauf der Therapie eingetretenen Festigung des Selbstwertgefühls und einer damit verbundenen Erhöhung der Äusserungsbereitschaft der Kinder. Gestützt wird dieser Interpretationsansatz durch die Ergebnisse des Persönlichkeitstests." (Eggert/Schuch/Wieland 1975, S. 62). Hierzu ist zu sagen, dass diese Schüler eher in Grob- als in Feinmotorik trainiert wurden. Das Resultat im Feinmotoriktest war dann auch dementsprechend negativ, (vgl. S. 61). Leider werden auch in dieser Studie die Querverbindungen zwischen Sprache und motorischem Training nicht untersucht. Das kommt wohl auch daher, dass sie die Leistungsverbesserung eher der Stärkung der Persönlichkeit, als speziell dem motorischen Training zuschreiben. Der Autor erwähnt dann aber doch noch, dass das psycho- oder sensomotorische Training als therapeutisches Prinzip seine Bedeutung in Deutschland im wesentlichen Kiphard verdanke.
Kiphard 1978 schreibt sehr wenig über dieses Gebiet, doch er gibt uns einen sehr interessanten Hinweis:" Neueste russische Forschungen haben ausserdem ergeben, dass täglich mehrmals minutenweise durchgeführte passive und aktive Hand- und Fingerbewegungs-übungen einen Überaus günstigen Einfluss auf die gesamte Sprachentwicklung rückständiger Kinder auszuüben vermögen." (Kiphard 1978, S. 110). Durch eine Logopädin bin ich dann auf diese neueren russischen Forschungen gestossen. Ich möchte dann im 4. Kapitel genauer und ausführlich auf die Arbeit von M. Kolzowa, die bis jetzt noch nicht veröffentlicht wurde, eingehen.
Bei der Literatursuche habe ich die neuesten Werke und auch Lehr- und Schulbücher ausgewählt. Es ist aber sehr wenig Literatur über das Gebiet "Bewegung und Sprache" vorhanden. Meistens wird nur sehr allgemein über die Beziehung dieser beiden Gebiete geschrieben. Wenn Bewegungstraining erwähnt wird, dann hauptsächlich im Zusammenhang mit der Förderung der Gesamtentwicklung des Kindes. Trotzdem sind doch einige Hinweise von Bedeutung: Dass tatsächlich eine Verknüpfung von Sprache und Bewegung vorhanden ist, zeigt das parallele Auftreten von Sprach- und motorischer Störung, sowie das anscheinend oft angewandte Bewegungstraining. Einige Autoren haben zwischen Grob- und Feinmotorik unterschieden, wobei die Handmotorik eine besondere Stellung in diesem Kontext haben könnte. Um das Problem besser zu erfassen scheint es nötig zu sein, einmal die phylo - und ontogenetische Entwicklung des Menschen zu betrachten.