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Die Ellipse: Wenn Moses ein Ägypter war…

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Erst die zweite Abhandlung, „Wenn Moses ein Ägypter war…“, entwickelt den ganzen dramatischen Gang der historischen Handlung. Die Abhandlung liest sich wie die Inhaltsangabe einer „historischen Erzählung“, die ihren dramatischen Höhepunkt mit der Schilderung der Ermordung Moses’ durch eben die Semiten, die er aus Ägypten geführt hatte, erreicht. Ungeachtet der verstörenden (und für einen streng religiösen Juden oder Christen blasphemischen) Thesen, die er aufstellt, leitet Freud die zweite Abhandlung mit einer Darlegung seiner Bedenken vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse ein. „Je bedeutsamer die so gewonnenen [d.h. auf psychologischen Wahrscheinlichkeiten ruhenden] Einsichten sind, desto stärker verspüre man die Warnung, sie nicht ohne sichere Begründung dem kritischen Angriff der Umwelt auszusetzen, gleichsam wie ein ehernes Bild auf tönernen Füßen.“24 Es sollte den Leser stutzig machen, wenn Freud (in einer Formulierung, auf die wir noch zurückkommen werden) sagt: „Aber es ist wiederum nicht das Ganze und nicht das wichtigste Stück des Ganzen.“25

Blickt man auf das Erscheinungsdatum der Abhandlung, 1937, so dürfte die Form, in der Freud seine historische Rekonstruktion präsentiert, wohl kaum die Empörung und das Entsetzen seiner jüdischen Mitbürger verhindert haben. Der erste Absatz der Abhandlung enthält bereits eine abfällige Bemerkung über die „Talmudisten“, „die es befriedigt, ihren Scharfsinn spielen zu lassen, gleichgültig dagegen, wie fremd der Wirklichkeit ihre Behauptung sein mag.“26 Freud scheint gleichsam die Vorwürfe an seine Adresse vorwegzunehmen und sich gegen mögliche Angriffe zu verteidigen. Am Beginn seiner genaueren Darstellung der These über die ägyptische Abstammung Moses’ charakterisiert Freud die Semiten (also die Juden im Ägypten der Zeit Moses’) näher so:

„Aber was einen vornehmen Ägypter – vielleicht Prinz, Priester, hoher Beamter – bewegen sollte, sich an die Spitze eines Haufens von eingewanderten, kulturell rückständigen Fremdlingen zu stellen und mit ihnen das Land zu verlassen, das ist nicht leicht zu erraten.“27

Es gehört zu den erstaunlichsten Zügen der zweiten Abhandlung „Wenn Moses ein Ägypter war…“, daß sie offenbar als eine „rein historische Studie“28 über das gelesen werden will, was tatsächlich geschehen sein könnte. Freud zieht hier keinerlei explizite Verbindung zur Psychoanalyse. Im Gegenteil: Er vermeidet sichtlich jeden Versuch einer psychoanalytischen Interpretation – und zwar selbst dort, wo eine solche sich ganz offensichtlich anbietet (etwa gelegentlich der Ausführungen zum Beschneidungsritus). Ich vermute, daß die zeitgenössischen Leser – gesetzt, die Abhandlung wäre anonym erschienen – durchaus auch zu dem Schluß hätten kommen können, daß sie es hier mit einem etwas verschrobenen Autor zu tun haben, der die fesselnde Geschichte eines ägyptischen Adeligen, Moses, erfindet, dessen Versuch, den „wilden Semiten“ eine übernommene monotheistische Religion aufzuzwingen, damit endet, daß diese „das Schicksal in ihre Hand [nahmen] und […] den Tyrannen aus dem Wege [räumten]“29. Die Werke ausgewählter Historiker, Bibelforscher und Alttestamentler zieht Freud rein unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für seine These heran. Für dieses Vorgehen gilt offenbar ähnliches wie für die willkürliche Auswahl der Bibelstellen, die er vorsorglich in einer Fußnote rechtfertigt:

„Wenn wir mit der biblischen Tradition so selbstherrlich und willkürlich verfahren, sie zur Bestätigung heranziehen, wo sie uns taugt, und sie unbedenklich verwerfen, wo sie uns widerspricht, so wissen wir sehr wohl, daß wir uns dadurch ernster methodischer Kritik aussetzen und die Beweiskraft unserer Ausführungen abschwächen. Aber es ist die einzige Art, wie man ein Material behandeln kann, von dem man mit Bestimmtheit weiß, daß seine Zuverlässigkeit durch den Einfluß entstellender Tendenzen schwer geschädigt worden ist. Eine gewisse Rechtfertigung hofft man später zu erwerben, wenn man jenen geheimen Motiven auf die Spur kommt. Sicherheit ist ja überhaupt nicht zu erreichen, und übrigens dürfen wir sagen, daß alle anderen Autoren ebenso verfahren sind.“30

Ein Hinweis auf die Frage, warum Freud – der in der ersten Abhandlung noch behauptet, sein Beitrag sei allein eine „Anwendung der Psychoanalyse“ – nun den psychoanalytischen Ansatz beiseite schiebt und seine zweite Abhandlung in den Mantel einer historischen Studie hüllt, deren Ziel die Aufhellung einer Begebenheit des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts ist, finden wir indessen nur im Rückgang auf die erste Abhandlung. Freuds wichtigstes Argument zur Begründung seiner These beruhte zunächst auf seiner psychoanalytischen Interpretation des Mythos von der Verstoßung des Volkshelden. Freud glaubt Fragmente dieses Mythos in den Sagen über Sargon von Akkad, Moses, Cyrus, Romulus, Ödipus, Karna, Paris, Telephos, Perseus, Herakles, Gilgamesch, Amphion und Zethos wiederzuerkennen. Man beachte, daß diese Liste in erster Linie mythologische Figuren anführt. Für Freud aber ist der Ägypter Moses eine Figur der Geschichte, eine reale Person, die in einer näher zu bestimmenden historischen Epoche lebte; eine Person, die den Monotheismus von dem ägyptischen Pharao Echnaton übernahm und die, um die Aton-Religion zu bewahren, sie den in Ägypten lebenden Semiten aufzwang. Ohne eine Konstruktion dieser „historischen“ Fakten hätte Freud aber wiederum keinerlei Basis für die psychoanalytische Interpretation, die er dann zur Erklärung dieser „Fakten“ anbietet.

Blickt man auf den letzten Absatz von „Moses, ein Ägypter“ zurück, so wird man sehen, daß Freud die Notwendigkeit einer solchen historischen Evidenz bereits angedeutet hatte:

„Wenn man das Ägyptertum Moses’ als den einen historischen Anhalt gelten läßt, so bedarf man zum mindesten noch eines zweiten festen Punktes, um die Fülle der auftauchenden Möglichkeiten gegen die Kritik zu schützen, sie seien Erzeugnis der Phantasie und zu weit von der Wirklichkeit entfernt.“31

Auch zu Beginn der Abhandlung diskutiert Freud bereits die Berücksichtigung der grundlegenden „historischen“ Fakten über Moses:

„Man behauptet mit gutem Recht, daß die spätere Geschichte des Volkes Israel unverständlich wäre, wenn man diese Voraussetzung [also daß Moses tatsächlich gelebt und der Auszug aus Ägypten tatsächlich stattgefunden habe] nicht zugeben würde.“32

Obwohl also Freud wiederholt bekräftigt, wir hätten keine sicheren Beweise für den Exodus und die tatsächlichen Begebenheiten in Ägypten, scheint er doch keinerlei ernste Zweifel daran zu haben, daß sie tatsächlich stattfanden. Hier gerät Freuds Konstruktion auf dem Weg von den Voraussetzungen zu den Schlüssen, die er zieht, auf eine schiefe Bahn. Dazu zählt auch der letzte Satz der ersten Abhandlung, in dem Freud nicht mehr von seiner „Annahme“ oder „Vermutung“ spricht, sondern von der „Einsicht, daß Moses ein Ägypter war“33. Im ersten Absatz der zweiten Abhandlung nun, in dem Freud sein „neues Material“34 für die These vom „Ägyptertum Moses’“ noch einmal rekapituliert, sagt er: „ich habe hinzugefügt, daß die Deutung des an Moses geknüpften Aussetzungsmythus zum Schluß nötige, er sei ein Ägypter gewesen, den das Bedürfnis eines Volkes zum Juden machen wollte.“35

Je genauer man die Details der Freudschen Erzählung studiert, desto abenteuerlicher scheint sie zu werden. Wir finden alle möglichen Formen argumentativer Lücken, Sprünge, wir finden zweifelhafte Voraussetzungen und kühne Spekulationen. Ein Beispiel: Dem biblischen Text ist sehr wenig über die Herkunft der Leviten zu entnehmen, wenngleich sie eine wichtige Rolle in der Exodus-Geschichte (und für die jüdische Geschichte im ganzen) spielen. Freud erkennt deshalb an, daß „zu den größten Rätseln der jüdischen Vorzeit […] die Herkunft der Leviten“, eines jener „zwölf Stämme Israels“, gehöre.36 Freud glaubt jedoch, dieses Rätsel lösen zu können. Er schlägt vor:

„Es ist nicht glaubhaft, daß ein großer Herr wie der Ägypter Moses sich unbegleitet zu dem ihm fremden Volk begab. Er brachte gewiß sein Gefolge mit, seine nächsten Anhänger, seine Schreiber, sein Gesinde. Das waren ursprünglich die Leviten. Die Behauptung der Tradition, Moses war ein Levit, scheint eine durchsichtige Entstellung des Sachverhalts: Die Leviten waren die Leute des Moses. Diese Lösung wird durch die […] Tatsache gestützt, daß einzig unter den Leviten später noch ägyptische Namen auftauchen.“37

Wenn es also im Buch Exodus heißt, Moses sei vom Sinai herabgestiegen und habe sein Volk das Goldene Kalb anbeten sehen, woraufhin die Söhne Levi, auf Moses’ Geheiß, „dreitausend Männer“ erschlugen, dann sollen diese Söhne Levi also in Wirklichkeit Moses’ ägyptische Entourage gewesen sein! (Und dies, obwohl – Freuds historischer Rekonstruktion zufolge – Moses niemals am Sinai gewesen sei und auch Aaron nie gelebt habe.)

Legt man Freuds Behauptung, in Wirklichkeit habe der ägyptische Moses seinen Monotheismus den etwas einfältigen Semiten aufgezwungen, zugrunde, so muß man sich allerdings fragen, was von Freuds Verweis auf die biblischen Patriarchen: Abraham, Isaak und Jakob zu halten ist. Werfen wir einen Blick auf seine verschlungenen Erklärungen:

Kadesch, die Wüstenoase, soll der Ort gewesen sein, an dem die Semiten, nach Ermordung ihres ägyptischen Anführers Moses, sich mit Stämmen vereinigten, die einem anderen Gott, dem midianitischen Jahve huldigten: „ein roher, engherziger Lokalgott, gewalttätig und blutrünstig“38. Es war nun notwendig geworden, diesen Gott zu glorifizieren, einen Kompromiß herbeizuführen, um Jahve – jenen grimmigen, dämonischen Gott – dem monotheistischen Gott, den die Ägypter anbeteten, „anzupassen“. Also wurden, in der Absicht, einen solchen Kompromiß zu finden, „die Sagen von den Urvätern des Volkes, Abraham, Isaak und Jakob, herangezogen. Jahve versichert, daß er schon der Gott der Väter gewesen sei; freilich, muß er selbst zugestehen, hätten sie ihn nicht unter diesem Namen verehrt.“39 Dies folgte der „neuen Tendenz“ der Verehrung und Vermischung des vulkanischen Gottes, Jahve, mit dem monotheistischen Gott des Ägypters Moses.

Wir verstehen jetzt besser den Sinn der Bemerkung, die Freud ganz zu Beginn seiner ersten Abhandlung hervorgehoben hatte: „Der Mann Moses, der dem jüdischen Volke Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter war, gehört so entlegenen Zeiten an, daß man die Vorfrage nicht umgehen kann, ob er eine historische Persönlichkeit oder eine Schöpfung der Sage ist.“40 Es ist nicht Gott oder etwa Abraham, Isaak oder Jakob, der die Religion des jüdischen Volkes stiftete. Es ist der Mann Moses, der sie begründete. Es ist kein Gott (weder der monotheistische Gott des Moses noch der dämonische Gott der Midianiten, Jahve), der das jüdische Volk erwählte. Es ist Moses, der die Juden auserwählte, die Anhänger des monotheistischen Gottes Aton zu werden. „Moses hatte sich zu den Juden herabgelassen, sie zu seinem Volk gemacht; sie waren sein ‚auserwähltes Volk‘.“41 Was Freud nicht sagt, ist, welcher Religion die in Ägypten lebenden jüdischen Semiten anhingen, bevor sie von Moses für seinen Monotheismus ausersehen wurden; er sagt nur, daß es in keinem Fall eine monotheistische Religion gewesen sei.

In seiner Zusammenfassung der Erzählhandlung schreibt Yerushalmi, daß Moses den Semiten „eine noch vergeistigtere, bildlose Form der monotheistischen Religion [gab]. Außerdem führte Moses, um sein Volk von anderen zu unterscheiden, den ägyptischen Brauch der Beschneidung ein.“42 Dieser eher flüchtige Verweis auf den ägyptischen Brauch der Beschneidung wird aber kaum der zentralen Funktion gerecht, die er in dem Aufsatz „Wenn Moses ein Ägypter war…“ einnimmt. Aufgrund seiner Beweiskraft wertet Freud den Beschneidungsritus als ein „Leitfossil“, das „uns wiederholt […] die wichtigsten Dienste geleistet hat“43. Führt man sich die psychoanalytische(n) Interpretation(en) der Beschneidung und die Nähe des Beschneidungsvorgangs zur Kastration vor Augen – wie dies die meisten der Leser des Freudschen Aufsatzes getan haben dürften –, so wird man vermuten, hier endlich den Auftakt zu einer psychoanalytischen Deutung der historischen Rekonstruktion vor sich zu haben. Doch wir werden abermals enttäuscht. Von Kastration ist in Freuds Abhandlung nirgendwo die Rede. Freud beschränkt sich ganz auf die bewußten Gründe, die Moses dazu bewegten, den „rückständigen“ Semiten einen Beschneidungsritus zu geben. Beschneidung, so Freud, war allgemein als ägyptische Sitte bekannt. Um sicher zu gehen, daß die auserwählten Semiten sich den Ägyptern nicht unterlegen fühlen würden, führte Moses den Beschneidungsritus ein.

„Man weiß, in welcher Weise sich die Menschen, Völker wie Einzelne, zu diesem uralten, kaum mehr verstandenen Brauch verhalten. Denjenigen, die ihn nicht üben, erscheint er sehr befremdlich, und sie grausen sich ein wenig davor – die anderen aber, die die Beschneidung angenommen haben, sind stolz darauf. Sie fühlen sich durch sie erhöht, wie geadelt, und schauen verächtlich auf die anderen herab, die ihnen als unrein gelten. […] Es ist glaublich, daß Moses, der als Ägypter selbst beschnitten war, diese Einstellung teilte. Die Juden, mit denen er das Vaterland verließ, sollten ihm ein besserer Ersatz für die Ägypter sein, die er im Lande zurückließ. Auf keinen Fall durften sie hinter diesen zurückstehen. Ein ‚geheiligtes Volk‘ wollte er aus ihnen machen, wie noch ausdrücklich im biblischen Text gesagt wird, und als Zeichen solcher Weihe führte er auch bei ihnen die Sitte ein, die sie den Ägyptern mindestens gleichstellte. Auch konnte es ihm nur willkommen sein, wenn sie durch ein solches Zeichen isoliert und von der Vermischung mit den Fremdvölkern abgehalten wurden, zu denen ihre Wanderung sie führen sollte, ähnlich wie die Ägypter selbst sich von allen Fremden abgesondert hatten.“44

In diesem Fall zieht Freud den biblischen Text zur Untermauerung seiner Hypothese über die Einführung der Beschneidung heran. Denn er interpretiert auf diese Weise den Satz aus Exodus 19:6, der von den Israeliten als einem „heiligen Volk“ spricht. Wenn Freud so argumentiert, muß er sich allerdings fragen lassen, wie es dann um die traditionelle Interpretation der Beschneidung als einem Zeichen des Bundes zwischen Gott und Abraham, dem gleichsam fleischgewordenen Siegel des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk, steht. Diese traditionelle Deutung blendet Freud systematisch aus.

„Moses hat den Juden nicht nur eine neue Religion gegeben; man kann auch mit gleicher Bestimmtheit behaupten, daß er die Sitte der Beschneidung bei ihnen eingeführt hat. Diese Tatsache hat eine entscheidende Bedeutung für unser Problem und ist kaum je gewürdigt worden. Der biblische Bericht widerspricht ihr zwar mehrfach, er führt einerseits die Beschneidung in die Urväterzeit zurück als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Abraham, andererseits erzählt er an einer ganz besonders dunklen Stelle, daß Gott Moses zürnte, weil er den geheiligten Gebrauch vernachlässigt hatte, daß er ihn darum töten wollte und das Moses’ Ehefrau, eine Midianiterin, den bedrohten Mann durch rasche Ausführung der Operation vor Gottes Zorn rettete. Aber dies sind Entstellungen, die uns nicht irremachen dürfen; wir werden später Einsicht in ihre Motive gewinnen. Es bleibt bestehen, daß es auf die Frage, woher die Sitte der Beschneidung zu den Juden kam, nur eine Antwort gibt: aus Ägypten.“45

Freuds vielleicht originellste Einsicht in die Problematik besteht aber in dem Kunstgriff, in der Analyse der Eigenart der Beschneidungssitte einen weiteren Beweis der ägyptischen Herkunft Moses’ zu liefern. Freuds Argument:

„Herodot, der ‚Vater der Geschichte‘ teilt uns mit, daß die Sitte der Beschneidung in Ägypten seit langen Zeiten heimisch war, und seine Angaben sind durch die Befunde an Mumien, ja durch Darstellungen an den Wänden von Gräbern bestätigt worden. Kein anderes Volk des östlichen Mittelmeeres hat, soviel wir wissen, diese Sitte geübt; von den Semiten, Babyloniern, Sumerern ist es sicher anzunehmen, daß sie unbeschnitten waren. Von den Einwohnern Kanaans sagt es die biblische Geschichte selbst; es ist die Voraussetzung für den Ausgang des Abenteuers der Tochter Jakobs mit dem Prinzen von Sichem. Die Möglichkeit, daß die in Ägypten weilenden Juden die Sitte der Beschneidung auf anderem Wege angenommen haben als im Zusammenhange mit der Religionsstiftung Moses’, dürfen wir als völlig haltlos abweisen. Nun halten wir fest, daß die Beschneidung als allgemeine Volkssitte in Ägypten geübt wurde, und nehmen für einen Augenblick die gebräuchliche Annahme hinzu, daß Moses ein Jude war, der seine Volksgenossen vom ägyptischen Frondienst befreien, sie zur Entwicklung einer selbständigen und selbstbewußten nationalen Existenz außer Landes führen wollte – wie es ja wirklich geschah –, welchen Sinn konnte es haben, daß er ihnen zur gleichen Zeit eine beschwerliche Sitte aufdrängte, die sie gewissermaßen selbst zu Ägyptern machte, die ihre Erinnerung an Ägypten immer wachhalten mußte, während sein Streben doch nur aufs Gegenteil gerichtet sein konnte, daß sein Volke sich dem Lande der Knechtschaft entfremden und die Sehnsucht nach den ‚Fleischtöpfen Ägyptens‘ überwinden sollte? Nein, die Tatsache, von der wir ausgingen, und die Annahme, die wir an sie anfügten, sind so unvereinbar miteinander, daß man den Mut zu einer Schlußfolge findet: Wenn Moses den Juden nicht nur eine neue Religion, sondern auch das Gebot der Beschneidung gab, so war er kein Jude, sondern ein Ägypter, und dann war die mosaische Religion wahrscheinlich eine ägyptische, und zwar wegen des Gegensatzes zur Volksreligion die Religion des Aton, mit der die spätere jüdische Religion auch in einigen bemerkenswerten Punkten übereinstimmt.“46

Wir mögen ein Unbehagen an der laxen Art und Weise spüren, mit der Freud sich der hebräischen Bibel dort bedient, wo sie seine Argumentation stützt, aber als störend beiseite schiebt, wo sie seine Annahmen durchkreuzt. Und in der Tat setzt sich Freud ernsthaften methodologischen Einwänden aus, wenn er, nicht ohne Selbstbewußtsein, behauptet: „Den biblischen Bericht über Moses und den Auszug kann kein Historiker für anderes halten als für fromme Dichtung, die eine entlegene Tradition im Dienste ihrer eigenen Tendenzen umgearbeitet hat.“47 Freud legt die Kriterien für seinen selektiven Blick auf die biblische Erzählung und die Auswahl der Stellen, die er als Zeugen der historischen Wahrheit erachtet, und solcher, die er für Entstellungen hält, nirgendwo wirklich offen. Man kann sich daher auch des Eindrucks nicht erwehren, Freud habe, überzeugt von der Richtigkeit seiner Deutung, die Bibel noch einmal selektiv auf die Passagen durchgesehen, die seinen Ansatz stützen. Mehrfach behauptet er in der zweiten Abhandlung, daß der fromme Schriftsteller in seiner Überlieferung und Redaktionierung der biblischen Erzählung „eigenen Tendenzen“ folge. Daß er selbst sich diesem Verdacht aussetzt, scheint Freud, seiner Pose des interesselosen, allein die historischen Fakten ermittelnden Historikers zum Trotz, offenbar nicht einzuleuchten.

Ich glaube, wir können nicht rechtfertigen, aber doch verstehen, warum Freud auf diese Weise vorgeht. Nehmen wir an, Freud hätte Recht mit seinen Vermutungen über den Auszug der Juden aus Ägypten und auch über das Schicksal Moses’. Sollten die Semiten ihn tatsächlich ermordet haben, so macht es ja durchaus Sinn, daß die Schriftsteller, die den Pentateuch-Text niederschrieben und redaktionierten, dies haben verschweigen wollen. Sie hätten entsprechend versucht, alle Spuren der Tat in der biblischen Erzählung zu verwischen.48 Uns leuchtet demnach auch der Sinn von Freuds berühmter Analogie zwischen Mord und Textentstellung ein:

„Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Worte ‚Entstellung‘ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen.“49

Freud zieht die Analogie von Mord und Textentstellung zur Charakterisierung der (angeblichen) Beseitigung des Textes über die Ermordung Moses’ heran. Haben die frommen biblischen Schriftsteller den Mord an Moses verheimlichen wollen, so ist es nun die Aufgabe des (psychoanalytisch-) detektivischen Historikers, diejenigen Spuren des Mordes, die noch nicht vollkommen verwischt wurden, lesbar zu machen.

Wir können diese Analogie freilich auch auf Freuds eigenen Text anwenden – ein Text, der selber „fast in allen Teilen auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche“50 aufweist. Was aber wurde dann hier entstellt und beseitigt? Was könnte Freud „in seiner Erscheinung verändert“ und „an eine andere Stelle“ gebracht haben? Wir haben jedenfalls allen Grund anzunehmen, daß es solche Entstellungen gibt. Erinnern wir uns etwa der Eingangspassage von Freuds Abhandlung: „Aber es ist wiederum nicht das Ganze und nicht das wichtigste Stück des Ganzen.“51 Was also ist das Ganze, und: Lassen sich in dieser Abhandlung Spuren des wichtigsten Stücks des Ganzen entdecken?

Man wird diese Fragen angemessen sicher nicht ohne die Betrachtung der dritten und wichtigsten Abhandlung, „Moses, sein Volk und die monotheistische Religion“, beantworten können. Ich möchte trotzdem einen Schritt zurückgehen und noch einmal die beiden ersten Abhandlungen heranziehen – Abhandlungen, die zu einem Zeitpunkt publiziert wurden, als Freud noch in Wien lebte und die allgegenwärtige Bedrohung der europäischen Juden (und der Disziplin der Psychoanalyse) allerorts spüren konnte.

Lassen wir also noch einmal unsere Zweifel und Vorbehalte beiseite und nehmen an, Freuds Behandlung des Themas sei mehr oder weniger historisch korrekt. Zu welchen Erkenntnissen ist Freud bisher gelangt? Hier seine prägnante Zusammenfassung:

„Hiermit wäre ich zum Abschluß meiner Arbeit gelangt, die ja nur der einzigen Absicht dienen sollte, die Gestalt eines ägyptischen Moses in den Zusammenhang der jüdischen Geschichte einzufügen. Um unser Ergebnis in der kürzesten Formel auszudrücken: Zu den bekannten Zweiheiten dieser Geschichte – zwei Volksmassen, die zur Bildung der Nation zusammentreten, zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellenschriften der Bibel – fügen wir zwei neue hinzu: Zwei Religionsstiftungen, die erste durch die andere verdrängt und später doch siegreich hinter ihr zum Vorschein gekommen, zwei Religionsstifter, die beide mit dem gleichen Namen Moses benannt werden und deren Persönlichkeiten wir voneinander zu sondern haben. Und alle diese Zweiheiten sind notwendige Folgen der ersten, der Tatsache, daß der eine Bestandteil des Volkes ein traumatisch zu wertendes Erlebnis gehabt hatte, das dem anderen fern geblieben war. Darüber hinaus gäbe es noch sehr viel zu erörtern, zu erklären und zu behaupten. Erst dann ließe sich eigentlich das Interesse an unserer rein historischen Studie rechtfertigen. Worin die eigentliche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre besondere Macht beruht, wie unmöglich es ist, den persönlichen Einfluß einzelner großer Männer auf die Weltgeschichte zu leugnen, welchen Frevel an der großartigen Mannigfaltigkeit des Menschenlebens man begeht, wenn man nur Motive aus materiellen Bedürfnissen anerkennen will, aus welchen Quellen manche, besonders die religiösen Ideen die Kraft schöpfen, mit der sie Menschen wie Völker unterjochen – all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte zu studieren wäre eine verlockende Aufgabe. Eine solche Fortsetzung meiner Arbeit würde den Anschluß finden an Ausführungen, die ich vor 25 Jahren in Totem und Tabu [1912-13] niedergelegt habe. Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, dies zu leisten.“52

Abermals eine eloquente, eine bewegende, aber ausweichende Schlußfolgerung. Freud erwähnt die Ermordung Moses’ nicht explizit. Er nennt sie nur implizit: Ein Teil des Volkes habe „ein traumatisch zu wertendes Erlebnis“ gehabt. Man könnte fast von einer Parallele zwischen Freud und dem biblischen Moses sprechen – Moses führt die Israeliten in das gelobte Land, betritt es aber nicht mehr. Und der Schlußabsatz ist voller Versprechen – Versprechen, die der alternde, dem Ende seines Lebens sich nähernde Freud vielleicht niemals einzulösen vermocht hätte. Bis hierher hat uns Freud eine schlüssige Geschichte erzählt, aber ihre Bedeutung, insbesondere ihr psychoanalytischer Gehalt, ist damit noch nicht zum Vorschein gekommen. Freud verweist darauf, es sei noch „viel zu erörtern“, in dessen Licht sich erst „das Interesse an unserer rein historischen Studie rechtfertigen“ ließe.

Rufen wir uns auch das Ende der ersten Abhandlung noch einmal ins Gedächtnis zurück. Freud schrieb dort, daß, wenn wir „Ernst […] machen mit der Annahme, daß Moses ein vornehmer Ägypter war“, sich „sehr interessante und weitreichende Perspektiven“ ergäben. Es ließe sich auf dieser Basis eine „mögliche Begründung von zahlreichen Charakteren und Besonderheiten der Gesetzgebung und der Religion, die er dem Volke der Juden gegeben hat“, erfassen, und wir würden außerdem „selbst zu bedeutsamen Ansichten über die Entstehung der monotheistischen Religionen im allgemeinen angeregt“53 – ein Versprechen, das Freud zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs eingelöst hat. Was also haben diese angeblich historischen Ereignisse aus der Mitte des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts mit dem jüdischen Volk heute zu tun? Und was heißt dies für die These, die ich meinen Untersuchungen vorangestellt hatte: daß wir in Der Mann Moses und die monotheistische Religion Freuds Antwort auf die Frage nach dem Wesen des (bzw. seines) Judentums finden? Wenn wir auch erst mit einer genauen Untersuchung der dritten Abhandlung diesen Antworten näherkommen werden, so glaube ich doch, daß sich bereits Spuren der von Freud vorgeschlagenen Lösung abzeichnen.

Freud und das Vermächtnis des Moses

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