Читать книгу Mein Leben davor - Richard Mackenrodt - Страница 4
Schmerz ist mein ständiger Begleiter
ОглавлениеEs ist lange her, und dennoch erinnere ich mich genau: Er kam, ohne sich vorher anzukündigen. Einfach so. Aus dem Nichts.
Ein Freund hatte Videos besorgt, über seinen großen Bruder, der in einer Videothek arbeitete. Die Eltern der beiden waren übers Wochenende verreist, das wollten wir ausnutzen. Sieben Jungs aus der neunten Klasse, ausgerüstet mit Popcorn, Bier, Chips und Schlafsäcken. Wir hatten elf Filme am Start und ordneten sie der Härte nach. Alle ab 18. Es sollte losgehen mit Freddy Krüger, dann würden Vampire, Werwölfe, Zombies und Kettensägenmörder folgen, und als krönender Abschluss ein Menschenfresser-Film, der überall auf der Welt auf dem Index stand und von dem es hieß, dass nur die Abgebrühtesten in der Lage waren, ihn auszuhalten. Jeder klopfte großspurige Sprüche und kündigte an, das Programm locker zu überstehen. Das waren noch VHS-Videos, klobige, schwere, störungsanfällige Dinger, die grobkörnige, matte Bilder durch den Röhrenfernseher flimmern ließen. Damals gab es nichts Besseres. Auf dieses Wochenende freuten wir uns seit Monaten. Die Mission unterlag strengster Geheimhaltung. Niemand durfte etwas davon wissen, keine Eltern und Geschwister (außer dem besagten Bruder), keine Lehrer, und auch die anderen Mitschüler nicht. Das machte uns zu einer verschworenen Gemeinschaft. Wochen lang warfen wir uns in der Schule stumme Blicke zu und wussten: Wir waren tausendmal cooler als die ganzen anderen Hirnis. Die Glorreichen Sieben. Mädchen waren zu der Veranstaltung natürlich nicht zugelassen, sie hatten nicht die nötigen Nerven (glaubten wir). Der große Bruder besorgte Bier und zwei Flaschen Schnaps und stellte klar, dass er hinterher keine Sauerei wegmachen würde. Wir mussten uns verpflichten, das Haus am Sonntag in einwandfreiem Zustand zurück zu lassen. Oder er würde uns den Arsch aufreißen, vom Nacken bis zum Kinn.
Am Freitagabend fanden wir uns ein, mit all den Taschen und Tüten. Keiner kam zu spät. Nicht eine Sekunde dieses Wochenendes durfte versäumt werden. Helden an der Schwelle zu einem großen Abenteuer. Der erste Film war noch ziemlich harmlos, da hatte ich Schlimmeres gesehen. Der zweite ging schon mehr an die Nieren. Beim dritten fragte ich mich zum ersten Mal, ob das Ganze hier wirklich eine so gute Idee gewesen war.
Und dann kam er. Ohne sich anzukündigen. Ohne jede Vorwarnung. Der Schmerz. Er schoss in meinen Kopf, und ich stöhnte leise auf. Was meine Freunde mir sofort als Schwäche auslegten.
»Zu hart für dich, Alex?«
»Quatsch – hab nur Blähungen«, log ich. Wir waren 15, wir wollten cool wirken, um jeden Preis. Nur so behielt man den Rang in der Clique, den man sich mühsam erarbeitet hatte.
»Furzen läuft aber nicht«, sagte einer. »Sonst Rote Karte.« Alle lachten, nur ich nicht. Denn das hier war kein normaler Schmerz. Ich war schon vom Fahrrad gefallen, beim Klettern vom Baum gestürzt, mit dem kleinen Zeh an der Schrankecke hängen geblieben, und hatte mir die Hand in der zugeschlagenen Autotür eingeklemmt. Mit Schmerz kannte ich mich aus. Dachte ich. Erst ein paar Tage zuvor hatte ich mir im Backofen die Finger verbrannt, das hatte höllisch weh getan. Aber dieser Schmerz hier war anders, er fühlte sich an, als hätte mir jemand eine Axt mitten in die Stirn getrieben. Ich wollte aufschreien, aber ich riss mich zusammen, so gut es eben ging, presste die Zähne aufeinander, und als ich merkte, dass mir Tränen in die Augen schossen, sprang ich auf und lief hinaus. Dabei riss ich eine Lampe um, prallte gegen den Türrahmen, und im dunklen Hausflur gelang es mir nicht, den Lichtschalter zu finden.
»Hey!« rief ich. »Wo is‘n das Klo?!« Ich stolperte über einen Schlafsack, der auf dem Boden lag, und als ich mich auf allen Vieren auf dem Boden wiederfand, verlor ich jede Kontrolle über meinen Körper. Im nächsten Moment kamen die Jungs auf den Flur, das Licht ging an. Ich sah ihre angewiderten Gesichter.
»Mann, Alex, auf den Teppich kotzen? Und dann legst du dich auch noch rein? Scheiße noch mal!«
***
Ich war nicht in der Lage, den teuren Perserteppich sauber zu machen. Ich rief zu Hause an, und mein Vater kam, um mich abzuholen, nachts um eins. Auf dem Fernseher war noch das Standbild zu sehen, das gerade einen Enthaupteten zeigte, dem das Blut aus der Halsschlagader schoss. Mein Vater fand die Videos, das Bier, den Schnaps. Er nahm alles mit, und noch in der Nacht wussten sämtliche Eltern Bescheid. Ich hatte den Jungs nicht nur das Wochenende ruiniert. Ich hatte die größte denkbare Katastrophe ausgelöst. Überall hagelte es Stubenarrest, Fernsehverbot, gekürztes Taschengeld. Das würden sie mir nie verzeihen. Noch vor Sonnenaufgang brachte Vater mich ins Krankenhaus. Ich wurde an Geräte angeschlossen, es gab eine Sonographie, meine Hirnströme wurden gemessen. Das volle Programm. Ich bekam starke Medikamente, durch die der Schmerz erträglicher wurde. Aber mehr auch nicht. Er dachte gar nicht daran, zu verschwinden. Er schien sich immer tiefer in meinen Schädel bohren zu wollen, wie Säure, die du aufs Dach gießt und die sich bis in den Keller frisst. Die Ärzte fanden nichts. Ich hatte keinen Tumor und auch keine andere diagnostizierbare Krankheit. Ich hätte kerngesund sein müssen. Aber ich war es nicht. Sie gaben mir einen Cocktail aus besonders starken Schmerzmitteln, um mir wenigstens den Schulbesuch wieder zu ermöglichen. Aber wie sollte ich mich auf eine Mathe-Schulaufgabe konzentrieren, wenn ich halb sediert in der Gegend herum hing?
Ich verlor meine Clique. Die Jungs wussten, dass ich krank war und wünschten ständig gute Besserung. Aber das Desaster des gescheiterten Horror-Wochenendes hing mir hartnäckig in den Kleidern wie stinkendes, verdampftes Frittenfett. Es stand mir auf die Stirn geschrieben. Und ich veränderte mich. Seit der Schmerz mich im Griff hatte, bewegte ich mich anders. Bedächtiger, vorsichtiger, als könnte jeder schnelle Schritt neue Schmerzen verursachen. Ich lächelte nicht mehr, und wenn ich es doch einmal tat, war es das Lächeln eines gefolterten Irren. Ich versuchte, wie früher zu sein, aber ich bekam es nicht hin. Für die Kids in meiner Klasse wurde ich unheimlich. Sie wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten, und deswegen ließen sie es lieber bleiben. Das zu erleben war fast so schmerzhaft wie der Sturm, der unablässig in meinem Kopf tobte.
***
Meine Eltern ließen mich die Schule wechseln. Zuerst wollte ich das nicht, aber schon am ersten Tag in der neuen Klasse erkannte ich, was für eine gute Idee das war. Meine neuen Mitschüler wussten nicht, wie ich vorher gewesen war. Und das Beste an der neuen Schule war das Mädchen, das unmittelbar vor mir saß. Paula hatte langes, rötlich leuchtendes, leicht gewelltes Haar, meist zum Pferdeschwanz oder als Zopf gebunden. Sie war gar nicht einmal so besonders hübsch, aber ihre Haare dufteten wie Erde nach einem warmen Sommerregen, und ein bisschen auch wie der Keller meiner Großeltern. Diese Mischung raubte mir den Verstand. An einem Morgen fragte sie mich: »Warum schaust du eigentlich immer so verkniffen?«
»Ich habe Schmerzen.«
»Wo?«
»Im Kopf.«
»Warum?«
»Weiß ich nicht.«
»Warst du noch nicht beim Arzt?«
»Ich bin dauernd bei Ärzten.«
»Und die finden nichts raus?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Sie pumpen mich nur voll.«
»Drückt der Schmerz aufs Sprachzentrum?«
»Nein. Wieso?«
»Weil du immer so kurze Antworten gibst.«
Ich schwieg. Ihr Anblick lähmte mich.
»Oder bist du zu sehr damit beschäftigt, an meinen Haaren zu schnuppern?«
Ich nehme an, ich habe ein ziemlich dummes Gesicht gemacht. Paulas glockenhelles Lachen erfüllte das ganze Klassenzimmer. Aber ich fühlte mich nicht ausgelacht, sondern eingeladen, mit zu lachen, und das tat ich. Sie hatte längst bemerkt, wie oft meine Sinne auf sie gerichtet waren. Trotzdem mochte sie mich, und das war schön. Es war allgemein bekannt, dass sie mit einem Jungen aus der Parallelklasse ging, also machte ich mir keine großen Illusionen. Aber mein Schnuppern an ihren Haaren war jetzt gewissermaßen legitimiert, ich durfte es ausleben, ohne damit rechnen zu müssen, eine geschmiert zu bekommen. Das war doch schon mal was.
Die medizinischen Tests wurden ausgeweitet. Aber die Ärzte waren mit ihrem Latein bald am Ende und fingen an, mich herum zu reichen. Ich bekam chinesische Akupunktur. Und bald darauf auch japanische. Ich lernte Wien und das St. Josef-Krankenhaus kennen, die Universitätsklinik in Hamburg und die Charité in Berlin. Die Spezialisten waren scharf darauf, das Rätsel zu knacken, das in meinem Kopf wohnte. Meine Zähne wurden untersucht, weil ein Professor in Hamburg einen Zusammenhang mit den Zahnnerven vermutete. Ein Assistenzarzt in Berlin stellte die These auf, meine Kopfschmerzen könnten mit meinen Senk-Spreiz-Füßen zu tun haben. Der Kollege in Wien mutmaßte, der Kopfschmerz sei von den grausamen Szenen der Horrorfilme ausgelöst worden. Letztlich verliefen sämtliche Theorien im Sande und führten zu nichts. Das war zwar frustrierend, aber immerhin hatten die Reisen mich vom Schmerz ein wenig abgelenkt und mir dadurch gewisse Erleichterung verschafft. Ich war glücklich über alles, das meinen Geist auch nur für einen kurzen Moment mit etwas anderem beschäftigte.
Im Klassenzimmer bewahrte der Duft von Paulas Haaren mich vor dem Durchdrehen. Aber wenn ich alleine zu Hause sitzen musste, war es so gut wie unmöglich, die nötige Konzentration aufzubringen. Hausaufgaben. Vorbereitung auf Schulaufgaben. Schon nach wenigen Minuten musste ich dem Impuls widerstehen, einfach aufzuspringen und meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, immer und immer wieder und wieder und wieder. Damals ahnte ich noch nicht, dass mir der Tiefpunkt erst noch bevor stand. Denn die Wirkung der Medikamente ließ nach, von Tag zu Tag ein wenig mehr. Und der Schmerz wurde wieder so bohrend, wie er zu Anfang gewesen war. Die Spezialisten im Rechts der Isar veränderten die Zusammensetzung der Medikamente. Daraufhin ging es etwas besser. Aber wieder nur für ein paar Wochen. Dann hatte mein Körper sich auch an diese Rezeptur gewöhnt, die Wirkung ebbte erneut ab. Es wurde immer klarer: Auf Dauer würde mein Schmerz sich nicht entscheidend eindämmen lassen. Diese Erkenntnis rief in mir den Wunsch wach, auf den Fernsehturm zu steigen und von der Aussichts-Plattform in die Tiefe zu springen. Was für ein Leben sollte ich führen, wenn das niemals mehr aufhörte? Was für ein beschissenes Leben konnte das schon sein? An meinem 16. Geburtstag beschloss ich, mich umzubringen, wenn ich innerhalb eines Jahres nichts gefunden haben sollte, um mein Schicksal entscheidend zu erleichtern.
***
An einem sonnigen Donnerstag, nach der letzten Stunde, packte ich meine Schulsachen in die Tasche, als Paula sich neben mich setzte und leise sagte: »Ich glaub, ich hab was für dich.« Dabei beugte sie sich zu mir vor und lächelte süß. Ich war verwirrt. Sie hatte eine unglaubliche Figur, es war Sommer, ihr Top war weit ausgeschnitten, und sie beugte sich immer weiter vor, so dass es kaum möglich war, irgendwo anders hinzusehen.
»Was… denn?« fragte ich mit trockener Kehle.
»Weißt du, wo ich wohne?«
»Ja.« Was für eine Frage!
»Im Garten haben wir so einen Holzschuppen. Da treffen wir uns. Heute Nachmittag.« Sie stand auf und ging. Mit leicht schiefem Kopf schaute ich ihr nach, bis sie verschwunden war. Und hätte dort wohl noch Stunden lang gesessen, wenn nicht nach einer Weile der Hausmeister herein geschaut hätte, der seine Tour machte, um die Klassenzimmer abzuschließen. Ich rannte nach Hause und fieberte unserer Verabredung entgegen. Heilige Scheiße, ich hatte ein Date! Mit dem schärfsten Mädchen aus unserer Klasse! Die meisten Jungs bei uns hielten zwar zwei bis drei andere für hübscher, aber für mich stand Paula völlig unangefochten auf Platz eins. Und jetzt wollte sie mich treffen! Noch dazu in einem Geräteschuppen, wo uns niemand sehen konnte! Ich ließ meiner Fantasie die Zügel schießen und stellte mir vor, wie wir uns in dem Schuppen die Kleider von den Leibern reißen und entfesselt miteinander schlafen würden. Auch wenn ich überhaupt keine Ahnung hatte, wie man das eigentlich machte. Rein technisch gesehen wusste ich es natürlich, aber das war auch schon alles. Paula dagegen hatte bestimmt schon eine Menge Erfahrung. Wie peinlich, wenn ich mich jetzt total anfängerhaft anstellen würde! Egal jetzt, irgendwie würde es schon gehen. Jeder musste mal anfangen. Was sollte ich anziehen? Aber dann wurde mir klar: Solche Fragen stellten sich Mädchen. Ich würde bleiben, wie ich war. Als ich den Nachmittag für weit genug fortgeschritten hielt, verließ ich die Wohnung und steuerte das Haus von Paulas Eltern an. Es befand sich in der Schwedenstraße, an der Westseite des Englischen Gartens, direkt am Schwabinger Bach. Das Gartentürchen stand offen, und so spazierte ich auf das Grundstück, als würde ich das jeden Tag tun. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Der Schuppen war nicht zu übersehen. Die Tür war angelehnt. Ich klopfte mit dem Finger auf das leicht verwitterte Holz.
»Komm rein«, hörte ich Paula von drinnen sagen.
Ich schob die Tür auf. Sie knarrte. Und da saß sie, den Rücken an die Wand des Schuppens gelehnt, auf einer alten, schmutzigen Matratze, die auf dem Boden lag. Leck mich am Arsch, war das romantisch.
»Setz dich zu mir«, sagte sie. Ich ließ mich auf die Matratze nieder und achtete darauf, ihr noch nicht zu nahe zu kommen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie sich eine Zigarette drehte.
»Du rauchst?« fragte ich.
»Nur manchmal«, antwortete sie und lächelte mich offen an. Ich hatte Mühe, ihrem Blick stand zu halten. Sie trug ein T-Shirt. Nicht mehr das mit dem weiten Ausschnitt von heute Mittag, aber dafür lag dieses hier hauteng an ihrem Körper. Ihr Rock war etwas hochgerutscht, so dass ein Knie zu sehen war. Ich spürte eine Aufwallung in meiner Hose und hoffte, dass nichts davon zu sehen war. Was erwartete sie jetzt von mir? Wie sollte ich mich benehmen? Erst mal abwarten, ganz ruhig, es wird sich alles ganz von selbst ergeben. Sie fragte, wie schlimm meine Schmerzen waren.
»Sie werden übler«, erwiderte ich, »weil die Medikamente nicht mehr wirken.«
»Tut es immer weh?«
»Rund um die Uhr.
»Kannst du überhaupt schlafen?«
»Wahrscheinlich weil ich vom Schmerz so erschöpft bin.«
»Ich bewundere«, sagte sie lächelnd, »wie du das aushältst. Ohne zu jammern.«
»Jammern ist Scheiße«, sagte ich. »Davon wird’s auch nicht besser.«
»Das hier könnte helfen«, verkündete sie und hielt empor, was sie gerade gedreht hatte.
»Eine Zigarette? Ich weiß nicht, ob Nikotin so viel bringt.«
Paula grinste. »Das ist keine Zigarette.«
***
Der Joint packte meinen Schmerz in Watte. Ich lag grinsend in der Ecke und tat etwas völlig Schwachsinniges: Ich dankte ihm für diese Erfahrung. Und dafür, dass er mich mit Paula zusammen geführt hatte. Natürlich dachte ich das nur, ich sprach es nicht aus! Obwohl ich mir da, wenn ich jetzt darüber nachdenke, nicht mehr wirklich sicher bin. Ich hatte das Bedürfnis, den süßlich stinkenden Glimmstengel zu streicheln wie einen braven Hund und ihm ein Leckerli zu geben. Mit anderen Worten: Der erste Joint meines Lebens hatte durchschlagende Wirkung. Auf einmal war der Schmerz nur noch eine dunkle Ahnung, ein schwacher, feiger Kerl, der sich in den letzten Winkel meines Schädels zurück gezogen hatte, vermutlich um dort einsam und alleine einen unbeachteten Tod zu sterben. Feiner Hund, ja, komm her, bring das Stöckchen – sooo ein feiner Hund!
Als ich aufwachte, lag ich auf der schmutzigen Matratze. Draußen war es schon fast dunkel. Von Paula keine Spur. Ich war noch etwas benebelt, aber schon wieder klar genug, um den Schmerz wahr zu nehmen als das, was er war – der mächtige Feind hatte sich nicht lange zurück drängen lassen, spielte schon wieder mit seinen Muskeln und genoss es mich zu quälen. Meine Augenlider waren schwer wie Kanaldeckel, aber ich konnte hier nicht noch länger liegen bleiben. Das Aufstehen war eine Tortur, irgendwie schleppte ich mich trotzdem aus der Hütte und sah mich um. Paula hatte mich alleine hier liegen lassen. Anstatt sie zu verführen war ich eingeschlafen. Nicht zu fassen. Ich hatte es voll versaut. Sie war zu Hause, das sah ich am Licht, das in ihrem Zimmer brannte. Ich suchte nach einem Stein, der klein genug war, warf ihn gegen die Fensterscheibe und wartete. Nichts. Ich nahm einen größeren. Der Stein rutschte beim Wurf ein wenig ab. Trotzdem traf ich erneut eine Fensterscheibe – nur war es die falsche. Nämlich die des Wintergartens. Es klirrte, aber zum Glück ging nichts zu Bruch. Die Tür des Wintergartens öffnete sich, und da stand Paulas Vater, ein großer, breitschultriger Mann Mitte 40, der nicht mehr viele Haare hatte. In strengem Ton wollte er wissen, wer ich war und was ich hier zu suchen hatte. Mein Gehirn arbeitete noch nicht wieder richtig. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich. Regungslos stand ich da, ein dünner, bekiffter, 16-Jähriger auf einem fremden Grundstück in der Abenddämmerung. Paulas Vater wiederholte seine Aufforderung, meine Identität preis zu geben.
»Ich… war hier…«, stotterte ich.
»Falsch«, sagte er, »du bist immer noch hier.«
»Ich… schwitze«, war mein völlig hirnrissiger Beitrag zum Gespräch.
»Wer auch immer du bist: Du machst jetzt, dass du weg kommst, oder ich ruf die Polizei.«
Obwohl seine Worte unmissverständlich waren, erreichten sie mich nicht wirklich, sie waren wie kleine Gummibälle, die an mir vorbei hoppelten, im Gras liegen blieben und mich überhaupt nichts angingen. Auf einmal fand ich das alles hier unglaublich witzig. Worte, die in Wirklichkeit Bälle waren! Ich musste grinsen und konnte mir ein leises Kichern nicht verkneifen. Es war unübersehbar, dass Paulas Vater jetzt langsam wütend wurde, aber das machte die Sache nur noch komischer. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht laut los zu prusten. Er kam auf mich zu, mit festen Schritten und ganz schlechter Laune. Der Mann war ja echt zum Schießen komisch! Konnte man den mieten? Da öffnete sich im ersten Stock, dort wo das Licht brannte, ein Fenster, und der Kopf von Paula beugte sich hinaus. »Papa«, rief sie, »das ist Alex, er ist okay.« Ihre Stimme klang ganz ruhig, ich konnte nur in ihren Augen sehen, dass sie in Alarmbereitschaft war und den Schaden zu begrenzen versuchte.
»Du kennst ihn?« wollte ihr Vater wissen.
»Er geht in meine Klasse. Der Junge, der mitten im Schuljahr gewechselt hat.«
»Hat er die Schule gewechselt, weil er nicht alle beisammen hat?«
»Er ist gekommen, um sich mein Mathe-Heft auszuleihen«, sagte sie und sah mich dabei auffordernd an.
»Ja, genau«, sagte ich. Obwohl ich den ganzen Vorgang noch immer rasend lustig fand, riss ich mich zusammen, weil ich merkte, dass Paula mich ohne Worte darum bat. Sie verschwand vom Fenster, und Sekunden später kam sie mit dem Heft aus dem Wintergarten, vorbei an ihrem Vater, der mich in der Zwischenzeit nicht aus den Augen gelassen hatte. Paula schob mich am Haus vorbei in Richtung Straße.
»Dein erster Joint, hm?« raunte sie mir zu, sobald wir den Sichtkontakt zu ihrem Vater verloren hatten. »Tut mir leid, dass ich nicht da war, als du aufgewacht bist. Hätte mir denken können, dass du neben der Kappe bist.«
»Was soll ich mit dem Mathe-Heft?« war alles, was ich beizusteuern in der Lage war.
»Das nimmst du mit nach Hause, und morgen bringst du es mit in die Schule. Ist nur ein Alibi, damit mein Vater nichts merkt.« Sie blieb stehen und wollte sich mit einem Lächeln von mir verabschieden. Aber das Marihuana in meinem Blut ließ mich todesmutig werden, und ich fragte sie: »Kann ich dich küssen?«
»Ich bin mir sicher, dass du das kannst. Aber wenn du es versuchst, knalle ich dir eine, und das würde bestimmt weh tun.«
»Schmerz ist mein ständiger Begleiter«, sagte ich.
Sie gab mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm. »Schlaf dich aus, Alex«, sagte sie. »Du siehst echt Scheiße aus.« Damit drehte sie sich um und ging. Ich blickte ihr hinterher, aber als ich sah, dass ihr Vater inzwischen in der Haustür stand, hielt ich es für klüger, mich abzuwenden und den Heimweg anzutreten. Ich war verwirrt und verstand noch nicht, was in den letzten Stunden geschehen war. Aber eins wusste ich mit absoluter Sicherheit: Schmerz ist mein ständiger Begleiter war mit Abstand das Coolste, was ich jemals von mir gegeben hatte.
***
Der Joint war wirksamer gewesen als all die Schmerzmittel der vergangenen Monate, und deswegen sprach ich meinen behandelnden Arzt darauf an. Zuerst tat er, als hätte er nicht zugehört. Als ich nicht locker ließ, sah er mich an, als hätte ich in die Ecke seines Behandlungszimmers gepisst.
»Alex«, sagte er, »mach keinen Blödsinn.«
»Ich mach doch gar nichts. Ich wollte nur wissen…«
»Ich kann dir kein Cannabis verschreiben. Das fällt unters Betäubungsmittelgesetz.«
»Ich war in der Bibliothek«, sagte ich. »In einem Buch stand, dass man Tetrahydrocannabinol – das ist der Wirkstoff im Cannabis…«
»Ich weiß, was das ist«, unterbrach er mich.
»… also, dass das vor allem gegen chronische Schmerzen gut eingesetzt werden kann, und so.«
»Ich kann dir kein THC verschreiben.« Seine Stimme wurde schärfer.
»Wieso nicht?«
»Auf welchem Planeten lebst du? Es ist verboten. Es macht abhängig. Ich darf dir auch keine Morphine geben, solange dir nicht bei einem Unfall der Arm abgerissen wird.«
»Herr Doktor, darf ich das kurz zusammen fassen?«
Er verdrehte die Augen.
»Es existiert also ein gutes, sehr wirksames Schmerzmittel. Eines, das sehr viel besser ist als der ganze Kram, den Sie mir so geben. Aber der Staat verbietet, es einem Patienten zu verabreichen, obwohl er es verdammt gut gebrauchen könnte?«
»Das ist kein Kram, Alex. Das sind die modernsten und höchstentwickelten Präparate, die es überhaupt gibt. Die Schmerzmittelbehandlung kostet deine Krankenkasse jeden Monat über 600 Mark. Und da es eine gesetzliche Krankenkasse ist, zahlt das letztlich auch der Staat. Also tu nicht so, als würde er dich hängen lassen.« Er sah mich an, als hätte er Perlen der Weisheit vor eine dumme Sau geworfen.
»Eine Versorgung mit Cannabis wäre billiger«, sagte ich. »Und effektiver. Es ist nachgewiesen, dass sehr viel mehr Menschen durch Alkohol krank werden und sterben. Trotzdem ist Saufen erlaubt. Jeder darf so viel in sich rein schütten, wie er will. Wieso?«
Der Arzt stand auf. »Erspar mir bitte diese Kiffer-Logik.«
»Warum werden Sie denn jetzt so unhöflich?«
»Hier ist dein neues Rezept«, sagte er, drückte es mir in die Hand und deutete zur Tür. »Und dann raus hier. Ich hab zu tun.«
Als ich die Klinke schon in der Hand hatte, fügte er noch hinzu: »Die nächsten Rezepte schicke ich mit der Post. Mir gefällt dein Ton nicht.«
Ich bat Paula, mir Gras zu besorgen. Sie freute sich, dass ihre Maßnahme bei mir so großen Anklang gefunden hatte, und am nächsten Tag brachte sie mir ein kleines Piece mit, eingewickelt in Stanniol. Es war kaum größer als eine Haselnuss und hielt nicht lange vor. Nach ein paar Tagen und drei weiteren Pieces ließ Paula mich wissen, dass es so nicht weitergehen konnte. Auf Dauer würde sie meinen Bedarf nicht befriedigen können, sie war schließlich kein Dealer und hatte immer nur etwas für den persönlichen Gebrauch.
»Ich zahl’s dir auch«, sagte ich.
»Du musst dir eine andere Quelle besorgen«, erwiderte Paula. »Wenn du willst, stell ich dich jemandem vor.«
Wir fuhren mit dem Fahrrad zu einer Eckkneipe in Giesing. Der Kellner war zuerst sauer, weil Paula mich mitgebracht hatte, aber nachdem er mir im Hinterzimmer ein wenig auf den Zahn gefühlt hatte, erkannte er meine ehrbare Harmlosigkeit. »Du kriegst was«, sagte er. »Gutes Zeug. Nicht der Scheiß, den sie dir beim Bahnhof verticken, du weißt, was ich meine.«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, aber das sagte ich ihm nicht.
»Du erzählst niemandem von mir, hörst du? Nicht so wie Paula, die ihr kleines Mundwerk nicht halten kann. Checkst du das?«
Ich sagte ihm, ich würde es checken, und so steckte ich meine gesamten Ersparnisse in den Erwerb von Marihuana. Eigentlich hatte ich für einen Computer gespart, aber diese Investition erschien mir ungleich sinnvoller.
Ich wusste inzwischen auch schon ziemlich gut, welche tägliche Dosis ideal war, um auf der einen Seite den Schmerz zu reduzieren und auf der anderen halbwegs klar im Kopf zu bleiben. So konnte ich die schulischen Leistungen halten, und meine Eltern merkten nichts. Jetzt war ich für einige Wochen auf der sicheren Seite! Das Leben war schön, so konnte es weiter gehen.
Das Dumme an einem Vorrat, an dem man sich täglich bedient, ist dann auf Dauer nur, dass er eben doch immer kleiner wird und irgendwann verschwunden ist. Ohne dass mittlerweile vergleichbare Ersparnisse angelegt worden sind. Und als ich mir aus den letzten Krümeln einen Joint bastelte, wusste ich zudem: Das war nicht mein einziges Problem. Denn auch wenn ich es mir noch nicht eingestehen wollte: Die Wirkung hatte in den letzten Tagen immer mehr nachgelassen. Auch THC war offenbar kein Freifahrtschein, um meinen Schmerzen für immer zu entkommen. Diese Erkenntnis war wieder einmal niederschmetternd.
Ich saß in Paulas Zimmer in der Ecke auf dem Boden. Meine Hände lagen auf dem kühlen Parkett. Paula wusste keinen Rat. So kontinuierlich wie ich hatte sie noch nie gekifft, sie wusste nicht, wie sehr die Wirkung bei mir wohl noch weiter nachlassen würde. Die heitere Grundstimmung, mit der ich in den vergangenen Wochen durchs Leben geschwebt war, drehte sich, wie der Wind sich dreht, bevor ein Sturm aufzieht. Ich malte die Zukunft wieder in düsteren Farben, und die Angst vor ihr kehrte zurück.
»Es gibt etwas«, sagte Paula, »das ist noch besser als Kiffen.«
»Eine andere Droge?« Ich sah sie neugierig an.
»Wenn du so willst«, meinte sie und ließ sich nicht in die Karten sehen.
»Wie heißt sie?« Ich wurde unruhig. »Sag schon. Ist sie teuer?«
»Tatsächlich«, erwiderte Paula und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, »ist sie sogar umsonst. Also, Manche zahlen zwar auch dafür, aber das sind Deppen.«
Ich verstand gar nichts mehr. »Wie kann etwas nichts kosten, das noch besser ist als Cannabis?«
Paula legte mir die Hand in den Schritt und tastete mit sachtem, aber zielgerichtetem Griff nach dem, was ich in der Hose hatte. Ich stellte das Atmen ein. Sie sah mir fest in die Augen, ohne ein Lächeln, während sie da unten massierte, was sofort hart wurde und sich quer legte. Ein aus dem Schlaf gerissenes Tier.
»Es geht hier nur um Sex«, sagte sie leise. »Raffst du das?«
Ich stammelte hervor, ich würde es raffen. Natürlich. Klar. Nur Sex. Sonst nichts. Sie knöpfte mir die Hose auf.
»Du solltest jetzt wieder atmen«, riet sie. »Sonst wirst du gleich ohnmächtig.«
Einen Moment lang fragte ich mich noch, was passieren würde, wenn ihr Vater herein kam. Aber den Gedanken schlug ich in die Flucht wie ein lästiges Insekt. Mit fiebrigen Fingern ging ich ihr an die türkisfarbene Bluse.
»Langsam«, sagte sie. »Ruhig. Das soll danach alles noch heil sein, okay?«
»Okay. Natürlich. Klar.«
»Und red nicht ständig immer dasselbe. Am besten sagst du gar nichts. Und erzähl bloß nicht, du liebst mich, oder so einen Quatsch. Wenn du kitschig wirst, schmeiß ich dich raus.«
Ich nickte. Und wurde nicht kitschig. Außer in meinen Gedanken. Aber ich drehte fast durch. Als ich in sie hinein glitt, musste ich stöhnen. Es war so unglaublich.
»Nicht zu laut«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Papa sitzt unten vor der Glotze.«
Ich nickte. Und stöhnte nicht mehr.
»Was ist mit deinem Kopf?«, fragte sie, während sie auf mir saß, ihr Becken rhythmisch vor und zurück bewegte und mir ihre Brüste entgegen reckte. »Tut er noch weh?«
»Nein«, röchelte ich. »Tut er nicht.«
»Besser als Cannabis?«
»Viel besser.«
»Hab ich doch gesagt.«
Ich umfasste ihren Hintern, und es gelang mir, die Bewegungen meines Beckens mit dem ihren zu synchronisieren. Ich erhöhte das Tempo. Aber Paula versteifte sich, so dass wir aus dem Takt kamen.
»Nicht so hastig«, schnurrte sie. »Auskosten. Ganz langsam. Stell dir vor, ich wäre der teuerste Champagner der Welt. Den schüttest du auch nicht einfach in dich rein. Du trinkst ihn Schluck für Schluck. Bis du es nicht mehr aushältst.«
Ich hielt es eigentlich schon jetzt nicht mehr aus. Aber in diesem Moment hätte ich alles getan, was sie mir befahl, selbst ein sofort vollstreckbares Todesurteil hätte ich auf der Stelle unterschrieben.
Ich kam trotzdem viel zu schnell, es ließ sich beim besten Willen nicht vermeiden. Danach lag ich neben ihr und starrte an die Decke, spürte hinein in die Überwältigung, in der ich noch immer gefangen war. Neben mir lag das aufregendste Mädchen der Welt. Und das in meinem Kopf konnte nicht Schmerz genannt werden, egal was für Maßstäbe man anlegen wollte. Er war nicht völlig verschwunden, aber zu etwas geschrumpft, das nicht mehr war als ein leichtes, fast schon wohliges Stechen. Ich war glücklich. Und das war noch untertrieben, denn ich hätte am liebsten das Fenster aufgerissen und über den Schwabinger Bach hinüber gebrüllt, wie geil das Leben war.
Danach plauderten wir ein wenig. Paula erzählte mir von einem Film, den sie im Kino gesehen hatte, und dann davon, dass ihr Vater schon ein Handy hatte, und dass er bald Internet anschaffen wollte, und überhaupt wollte sie auch ein Handy haben, aber ihre Eltern meinten, das sei viel zu teuer, und sie würde die ganze Familie damit ruinieren. Ich genoss den Klang ihrer Stimme. Aber nach einer Weile fing es in meinem Kopf an zu pochen, und ich spürte, wie der Schmerz sich auf den Weg machte, um zu mir zurück zu kehren. Ich unterbrach Paulas Redefluss und schlug vor, noch einmal miteinander zu schlafen. Sie sah kurz auf ihren Radiowecker, meinte dann, sie habe aber nur noch eine halbe Stunde Zeit. Ich packte sie und riss sie zurück in die Kissen.
Paula hatte die Klinke ihrer Zimmertüre in der Hand und sah mir ernst ins Gesicht. »Zu keinem ein Wort, ist das klar?«
Ich nickte.
»Ein blöder Spruch zu Tim, und ich bring dich um.«
»Ich sag nichts.« Tim war ihr Freund.
»Keine Andeutungen, keine komischen Blicke, keine Briefchen.«
»Aber ansprechen darf ich dich schon noch?« Ich schaffte es tatsächlich, das mit einem Grinsen zu sagen, so leicht war mir ums Herz. Paula öffnete die Tür.
»Machen wir das noch mal?« fragte ich leise, damit ihr Vater unten nichts hörte. »Irgendwann?«
»Mal sehen«, antwortete sie, als hätte ich gefragt, ob wir noch ein zweites Mal Physik miteinander pauken würden.
Auf dem Weg nach Hause lächelte ich jeden Passanten an wie ein Besoffener. Manche Leute grüßte ich, obwohl ich sie nie zuvor gesehen hatte. Am meisten wunderte sich meine Mutter. Sie sagte, sie hätte mich seit dem Ausbruch meiner Beschwerden nicht mehr so entspannt gesehen, und gleichzeitig so wach.
»Lässt es nach?« wollte sie wissen.
»Zeitweise.«
»Bekommst du neue Medikamente? Oder gehen die Schmerzen einfach zurück?« Sie klang ganz aufgeregt.
»Ich habe eine Freundin«, sagte ich. Und während ich mich voller Stolz aufs Sofa fallen ließ, wünschte ich mir schon, ich hätte die Klappe gehalten.
»Ach ja? Wer ist es denn?«
»Ist doch egal.«
»Na, offensichtlich nicht.«
»Aber geheim«, wand ich mich. »Sie will erst noch mit einem anderen Typ Schluss machen.«
Das Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter verschwand. »Sie küsst den einen, während es noch den anderen gibt?«
Meine Mutter mal wieder. Was ging sie das überhaupt an? Papa stellte mir doch auch keine solchen Fragen. In der Nacht lag ich wach und konnte nicht einschlafen. Der Schmerz war wieder da. Ich masturbierte. Aber es war, als hätte ich versucht, ein Überschallflugzeug mit einem Papierflieger zu ersetzen. Der Schmerz ließ sich davon kaum beeindrucken.
Am nächsten Morgen tat Paula, als wäre nichts zwischen uns gewesen. Aber darauf war ich vorbereitet, das überraschte mich nicht. Ich fragte sie trotzdem leise, ob wir uns heute Nachmittag sehen könnten. Sie schüttelte den Kopf und behauptete, sie habe keine Zeit. Nach der zweiten Stunde fragte ich ein zweites Mal. Paula schnaubte, ich möge sie in Ruhe lassen, sie habe doch schon Nein gesagt. Ich entschuldigte mich und verbrachte den Rest des Schultages damit, an ihren Haaren zu schnuppern und von ihrem nackten Körper zu träumen.
Nachdem ich den halben Nachmittag wie ein Tiger im Käfig durch jeden Winkel meines Zimmers gestrichen war, rief ich sie an. Sie begrüßte mich mit einem Wutausbruch, so heftig, dass es im Hörer laut klirrte.
»Welchen Teil von ‚Lass mich in Ruhe‘ hast du nicht verstanden?! Bist du krank?!«
»Na ja«, erwiderte ich kleinlaut. »Irgendwie schon.«
Es krachte in der Leitung. Dann tutete es. Sie hatte den Hörer irgendwo hin gedonnert, die Verbindung war unterbrochen. Ich setzte mich auf den Teppich, legte das Telefon vor mir auf den Boden und fing an nachzudenken. Schon bevor der Schmerz mein Dasein gespalten hatte, war sexuelles Verlangen Teil meines Lebens gewesen. Aber eben so, wie es bei einem Heranwachsenden normal war. In meinem Alter dachten Jungen ständig an Sex, an was denn sonst. Und natürlich waren sie davon überzeugt, den Verzicht darauf nicht lange überstehen zu können. Aber für mich war das anders. Ich brauchte ein Mädchen. Eine Frau. Am liebsten Paula. Aber wenn ich sie nicht haben konnte, musste es eben jemand anders sein. Und zwar bald. Denn es gab viele Dinge, an die man sich gewöhnen konnte, obwohl sie furchtbar waren. Den Ekel erregenden Mundgeruch etwa, den Mathelehrer Kässheimer verströmte. Oder den Anblick der frisch ausgedrückten Pickel, die Klassenstreber Sebastian jeden Tag unverdrossen mit sich herum trug. Auch bei dem niederschmetternden Gefühl, das mich überkam, wenn ich mir klar machte, dass ich keine richtigen Freunde mehr hatte, handelte es sich um eine Wunde, die immer weniger weh tat und allmählich vernarbte. Aber an einen Schmerz wie den in meinem Kopf konnte ich mich nicht gewöhnen. Das wusste ich, denn ich hatte es probiert. Immer wieder. Denk nicht an ihn. Er hat nur so viel Macht, wie du ihm gibst. Das waren die Parolen, mit denen ich versucht hatte, ihn aus dem Ring zu schubsen. Aber es hatte nicht funktioniert. Er quälte mich, auch wenn ich noch so sehr versuchte, ihn klein zu denken. Er durchbohrte mein Gehirn, blockierte meine Gedanken und lähmte meine Muskeln. Es gab nur eines auf dieser Welt, das ihn für eine kurze Weile in die Knie zwingen konnte, und das war Sex. Aber welchen zu bekommen, war nicht so einfach. Keines der Mädchen an unserer Schule interessierte sich für mich, auch bei uns in der Nachbarschaft fiel mir keins ein. Das lag natürlich auch daran, dass ich nach wie vor nur Augen für Paula hatte. Ich war in sie verliebt, natürlich war ich das. Ein anderes Mädchen wäre für mich nur eine Sexpartnerin gewesen und sonst gar nichts. Aber ich war ein von Schmerzen geplagter, verschlossener, blasser Junge, den niemand für eine Boygroup gecastet hätte, selbst wenn der Mangel noch so groß gewesen wäre. Wie sollte es mir gelingen, ein Mädchen, an dem mir noch nicht einmal etwas lag, zum Sex zu verführen? Ich erinnerte mich an das Ultimatum, das ich mir an meinem 16. Geburtstag gestellt hatte, und musste zugeben, dass es nicht ohne Grund entstanden war.
***
Nach einigen Tagen, angefüllt mit Schmerz, passte Paula mich nach dem Unterricht vor der Schule ab. In der letzten Zeit hatten wir kaum ein Wort gewechselt, und deswegen überraschte es mich, als sie fragte: »Können wir reden?«
»Worüber?«
Sie sah mich nur stumm an, mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte.
»Klar können wir. Was gibt’s denn?«
Sie setzte sich in Bewegung, und wir fingen an, nebeneinander her zu gehen. Schweigend. Ich dachte, das würde die stille Ouvertüre sein zu dem, was sie mir zu sagen hatte. Aber das war ein Irrtum, denn es kam nichts. Wir bogen in die nächste Straße ein. Und in die übernächste. Das war ihre Vorstellung von ‚miteinander reden‘? Mir sollte es recht sein, ich genoss es ja schon, sie einfach nur nach Hause zu begleiten. Diese Minuten waren mein Highlight der Woche. Ich würde nicht anfangen, mich zu beklagen. Vielleicht wollte sie mir damit nur zeigen, dass sie nicht mehr böse auf mich war. Wenn das stimmte, war es eine gute Sache. Ich merkte kaum, dass wir bereits in der Schwedenstraße waren, und wünschte mir, die letzten paar Meter bis zu ihrem Haus würden ewig dauern. Aber irgendwann blieben wir dann doch davor stehen.
»Na, dann«, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein.
»Ich hab mich getrennt«, sagte sie.
»Wovon denn?«
»Wovon? Lass mich überlegen. Von meinem Fahrrad? Meinem Verstand? Meiner Zwei in Geschichte?«
Ich starrte sie an und hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie da faselte.
»Du bist so ein Spacken«, sagte sie. »Von meinem Freund hab ich mich getrennt.«
»Hä? Von Tim? Wieso?« Ganz bestimmt glotzte ich sie noch dämlicher an als zuvor.
»Kannst du dir das nicht denken?«
Nein, das konnte ich nicht, und das sagte ich ihr auch. Sie sah mich an, als hoffte sie, einen Hinweis auf irgendeine Art von Intelligenz in meinen Augen zu finden.
»Hat er sich blöd benommen, oder was? Ich meine, er hat doch sicher keine andere.« Auf einmal leuchtete in mir – wie ein Wetterleuchten am Horizont – die vage Hoffnung auf, ich könnte mit Paula, jetzt, wo sie nicht mehr mit Tim zusammen war, hin und wieder ins Bett gehen.
Aber dann sagte sie: »Ich hab mich von ihm getrennt, weil ich mich in einen anderen verknallt hab.«
»In wen?« fragte ich. Schon war sie wieder futsch, die vage Hoffnung. Und ich fragte mich, warum sie mir das alles überhaupt erzählte. Warum war es so wichtig, mir die Einzelheiten ihres Liebeslebens schonend beizubringen? Sie war mir doch zu nichts verpflichtet.
»In dich, du Blödmann«, sagte sie, und bevor ich auch nur realisieren konnte, was sie gesagt hatte, war sie schon im Haus verschwunden und hatte die Türe geschlossen. Mein Herz fing an zu rasen. Hatte ich geträumt, oder hatte sie das eben wirklich gesagt? Der Nachhall ihrer Worte war eindeutig. Ich hatte mich nicht verhört. Es konnte aber sein, dass sie es ironisch gemeint hatte, wie das mit dem Fahrrad und der Zwei in Geschichte. So war es bestimmt! Paula hatte einen Hang zur Ironie, vor allem dann, wenn der andere auf der Leitung stand und nichts kapierte. Und was sollte ich jetzt machen? Zeigen, dass ich wenigstens das gerafft hatte, und nach Hause gehen? Ich weiß nicht warum, aber ich ging zur Tür und klingelte. Der Klingelton war noch nicht verhallt, als die Tür aufgerissen wurde und Paula in meine Arme flog. Sie umschlang mich und hielt sich an mir fest.
»Wenn du jetzt nach Hause gegangen wärst«, sagte sie leise, »ich glaub, dann wär ich gestorben.«
***
Ich habe nie wirklich kapiert, warum Paula sich in mich verliebt hat. Auch in unserer Klasse traf ihre Entscheidung auf Unverständnis. Tim war cooler als ich, größer, athletischer, sah besser aus. Er war stellvertretender Schulsprecher der Mittelstufe und spielte Fußball in der B-Jugend des TSV 1860. Tim war definitiv einer der begehrtesten Jungs der ganzen Schule. Lag es daran, dass Paula gerne gegen den Strom schwamm? War es ihr zu leicht und bequem, das Mädchen an Tims Seite zu sein? Zog es sie deswegen zu einem Außenseiter wie mich? Oder war es eher so, dass sie sich verpflichtet fühlte, weil sie wusste, wie sehr sie mir helfen konnte? Litt sie unter einer Art Helfersyndrom? Vielleicht war sie insgeheim aber auch egoistischer, als ich dachte, und vor allem deswegen mit mir zusammen, weil sie die Macht genoss, die sie über mich hatte. Denn nur mit ihr ging es mir gut. Musste sie zu einem Familientreffen und war ein paar Tage nicht in der Stadt, litt ich wie ein Hund. Hatte sie eine Grippe, und wir konnten nicht miteinander schlafen, machte mich das fertig. Ich war aber nicht so verrückt, ihr jemals eine jener Fragen zu stellen. Nichts, absolut nichts wollte ich tun, das unser Zusammensein hätte gefährden können. Wir schliefen jeden Tag miteinander, mindestens drei- oder viermal. Die Schmerz stillende Wirkung unserer Liebesspiele nutzte sich nicht ab, nicht im Geringsten. Ich kann allen Schmerzpatienten dieser Welt nur zurufen: Werft alle Medikamente und Drogen auf einen Haufen, zündet ihn an, und dann zieht euch aus und habt wilden, hemmungslosen und alles durchdringenden Sex miteinander!
Es geschah etwas Erstaunliches. Ich gewann an Selbstvertrauen, machte im Unterricht den Mund auf, und einmal schlichtete ich sogar mit lauter Stimme einen Streit auf dem Schulhof, als zwei Achtklässler aufeinander losgingen. Auch mein Image in der Klasse veränderte sich, und das nicht nur, weil Paulas Glanz auf mich abfärbte. Die Mitschüler begannen mich zu respektieren. Die Lehrer redeten mich anders an. Es waren oft nur Winzigkeiten, die den Unterschied ausmachten – ein Blick, ein Lächeln, eine spezielle Wortwahl. Da wurde mir klar: Wenn sogar mein Leben sich so sehr verändern konnte, waren wir alle nur einen ganz kleinen Schritt davon entfernt, dass unser Leben sich von einem Trümmerhaufen in etwas verwandelte, das funktionierte. Ich ließ mein Haar wachsen, und bald reichte es mir fast bis auf die Schultern. Paula mochte das, sie fand, so sah ich aus wie ein Rockstar. Ich war nicht mehr so blass, mein Rumpf wurde muskulöser. Der Einzige, der seine Meinung über mich nicht änderte und mich genauso wenig leiden konnte wie am ersten Tag, war Paulas Vater, aber das konnte ich verschmerzen. Ich schätze, ich war einfach viel zu oft Gast in seinem Haus, ohne dass er mich eingeladen hatte.
***
Ich bemerkte nicht, dass sich zwischen Paula und mir etwas veränderte. Jedes Mal, wenn wir miteinander schliefen, genoss ich so sehr das Verschwinden meines Schmerzes, dass ich nicht mehr auf sie achtete. Es entging mir, dass sie sich danach immer öfter von mir abwandte, dass wir weniger miteinander sprachen und sich ein unsichtbarer Schleier über sie legte. Darum überraschte es mich, als ich ihr die Bluse aufknöpfen wollte und sie meine Hände von sich schob. Das hatte sie noch nie gemacht.
»Ich will nicht«, sagte sie.
Ich war ein wenig verwirrt. »Aber ich habe Schmerzen.«
»Bin ich deine Fickmaschine?« Sie sah mir in die Augen.
»Was? Aber nein!«
»Doch.«
»Bist du nicht.«
»Doch, bin ich.«
»Ich lieb dich, Paula. Hey, das weißt du doch.«
»Du liebst mich, weil ich eine so verdammt gut geölte Fickmaschine bin.«
»Nein!«
»Die du anwerfen kannst, wann du willst. Die man nie auftanken muss und die sich nie darüber beschwert, dass sie mehr ficken muss als jede Hafennutte.«
»Paula, bitte! Hör auf, so zu reden!«
»Wenn’s doch die Wahrheit ist.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Ich ging zu ihr und legte ihr von hinten vorsichtig die Hände auf die Schultern.
»Wir müssen heute nicht miteinander schlafen«, sagte ich sanft. Aber in meinem Inneren regte sich eine ganz andere Stimme, die sehr viel schärfer sprach: Doch, verdammte Scheiße, müssen wir! Weil ER in meinem Schädel tobt! Weil ich sonst verrückt werde vor Schmerz! Ich drehte langsam den Drehstuhl, so dass sie in meine Richtung blickte. Als sie den Kopf zu mir hob, sah ich, dass sie weinte.
»Doch«, sagte sie mit fast tonloser Stimme, »wir müssen. Weil das Teil unserer Vereinbarung ist.«
»Wir haben überhaupt keine Vereinbarung.«
»Sie ist nur nie ausgesprochen worden. Aber es gibt sie, das wissen wir doch beide. Wir schlafen immer miteinander. Ich fahre mit meinen Eltern nicht mehr in die Ferien, weil ich dich nicht so lange ungevögelt lassen will. Wenn ich krank bin, habe ich ein schlechtes Gewissen. Wenn du krank bist, schläfst du trotzdem mit mir, ganz egal, ob ich das eklig finde oder nicht.«
»Es stimmt«, sagte ich. »Natürlich bin ich verrückt danach. Es verwandelt mich von einem Zombie zu einem Menschen. Aber wenn du dich deswegen schlecht fühlst…«
»Was dann?« Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und musterte mich aufmerksam. »Willst du dann seltener Sex haben?«
»Wenn wir was ändern müssen, damit es für dich passt, dann tun wir das.«
»Klingt nach Koalitionsvereinbarungen zwischen zwei Regierungsparteien.«
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich vor sie. »Paula, was immer auch nötig ist, ich mach’s.«
Sie sah mich lange an. Ich gab mir jede erdenkliche Mühe, optimistisch und aufbauend drein zu schauen. Ich griff nach ihrer Hand und umschloss sie mit meinen. Dadurch verstärkte sich mein Verlangen nach ihr. Und da war der Schmerz. Ich wusste, wo die Erlösung war, aber sie wollte sie mir nicht geben. Was war so schlimm daran, mir ihren Schoß zur Verfügung zu stellen, wenn es für mich doch so viel bedeutete? Konnte sie ihre Befindlichkeit nicht einfach zurückstellen? Und konnten wir diese Diskussion nicht einfach nach dem Sex führen, verdammt noch mal? Hatte ich nicht das verfluchte Recht, sie zu ficken? So, wie ein Verhungernder das Recht hat, einem Reichen ein kleines Stück Brot zu stehlen? Warum stellte sie sich so an?
»Alex«, sagte sie schließlich, »so einfach ist das nicht.«
»Was brauchst du denn von mir?«
»Das Gefühl, mit dir schlafen zu können, wenn mir danach ist. Und zwar nur dann.«
»Okay.«
»Weißt du, wenn ich meine Tage habe, tut es manchmal weh. Dann hab ich überhaupt keine Lust.«
»Okay.«
»Wenn ich zu müde bin, will ich auch nicht.«
»Okay.«
»Und wenn du mir einfach alles ausziehst, ohne Gefühl und Rhythmus, nur so voller Gier und Ungeduld – dann kotzt mich das an. Ich bin kein Selbstbedienungsladen. Und sag jetzt nicht schon wieder ‚okay‘.«
Ich sagte gar nichts. Das Gespräch überforderte mich. Sie hatte in allem Recht, das war offensichtlich. Aber ich wusste, welche Unterwäsche sie heute trug, und während der Schmerz mich folterte, waren da die Gedanken an ihren BH, den man vorne öffnen musste, und an den superschmalen Slip, und diese Gedanken machten mich wahnsinnig. Mein Schwanz musste zwischen ihre Beine, wenn ich nicht verrückt werden wollte!
»Du kannst nur an das eine denken, richtig?« Ihr Blick wurde allmählich inquisitorisch.
»Davor schon. Danach ist es anders. Wir könnten ganz anders reden.«
»Du willst, dass wir erst mal Sex haben, damit wir hinterher ein besseres Gespräch führen können?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Aber gedacht.«
»Ja«, gab ich zu. »Danach kann ich viel klarer denken. Ohne den Schmerz.«
»Alex, es tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung«, beeilte ich mich. »Ich reiß mich zusammen, reden wir trotzdem.«
»Ich meine, es tut mir leid, dass wir so nicht weiter machen können. Ich hatte gehofft, es würde funktionieren, und eine Weile lief es ja auch gut. Aber du bist wie ein Vampir, du saugst mich aus, und jedes Mal ist ein bisschen weniger von mir übrig.«
»Was wollen wir tun?« fragte ich. Ausgehend vom Bauch schoss mir ein Gefühl der Angst in die Brust, das mich zu lähmen drohte.
»Wir müssen es beenden«, antwortete Paula.
»Was beenden?«
»Alles. Ich krieg’s nicht hin. Wir müssen uns trennen.«
»Müssen wir den Sex auch beenden?«
»Das macht man so, Alex. Wenn man sich trennt.«
»Ja, aber in meinem Fall…«
»Auch in deinem Fall. Sorry.«
***
Ich habe sie noch Wochen lang angewinselt wie ein hungriger Köter. Der Verlust meiner Würde war mir gleichgültig. Ich wollte einfach nur mit ihr ins Bett. Aber es war vorbei. Endgültig. Ich hatte das, was zwischen uns gewesen war, zu Tode gefickt. Was dann folgte, war die härteste Zeit meines Lebens. Ich investierte einen bedeutenden Teil meiner Ersparnisse und ging in den Puff. Ich bezahlte für eine vollbusige Blondine und vögelte sie. Ihre Haare waren blondiert, ihre Brüste mit Silikon aufgepumpt, und küssen durfte ich sie auch nicht. Der Sex brachte die erhoffte Erleichterung, aber er war kein Vergleich mit dem Paradies, zu dem Paula mir verholfen hatte. Ich radelte zu der Eckkneipe in Giesing und fragte den Kellner, ob er auch noch andere Sachen hatte. Härtere. Er verkaufte mir eine Ecstasy-Pille. Aber noch tougheres Zeug vertickte er nicht, wenn ich das wollte, musste ich zum Bahnhof gehen. Das Ecstasy wirkte nicht übel, aber richtig zufrieden war ich nicht. Ich kratzte mein letztes Geld zusammen und besorgte mir in der Nähe des Bahnhofs ein wenig Heroin. Es war nicht schwer zu kriegen, wirklich nicht. Und wie man sich das Zeug spritzte, wusste ich aus Filmen. Schon unmittelbar nach dem ersten Druck wusste ich, dass ich das Richtige getan hatte. Mir wurde ganz warm, der Schmerz floss auseinander wie geschmolzene Butter, versickerte und war einfach weg. Das war ja noch besser als jeder Sex. Ich lag im Land des Friedens und dämmerte glücklich vor mich hin. Als ich Stunden später wieder zu mir kam, ging es mir schlecht, ich fühlte mich schwach und krank und hatte mir in die Hose gepisst. Es gab zwei Dinge, die waren mir hundertprozentig klar. Erstens: Ich brauchte mehr davon, einen ganzen Vorrat. Und zweitens: Ich konnte ihn mir nicht leisten. Aber ich kannte die Geheimzahl der ec-Karte meines Vaters. Also nahm ich die Karte und holte hundert Mark aus dem Geldautomaten. Wenn ich Glück hatte, würde Papa das gar nicht merken. Das Geld reichte, um mich für ein paar Tage einzudecken. Am nächsten Morgen war ich nicht mehr in der Lage, in die Schule zu gehen. Meinen Eltern erklärte ich lallend, es wäre eine Grippe. Sobald die Wirkung nachließ und der Schmerz zurück kehrte, nahm ich den nächsten Druck. Irgendetwas tief in mir drin sagte mir zwar, dass die Rechnung auf Dauer nicht aufgehen würde, aber die Versuchung war viel zu groß. Mama wollte mit mir zum Arzt gehen, weil ich nach fünf Tagen immer noch im Bett lag, aber ich sagte ihr, es sei alles okay, keine Sorge, die Grippe sei schon auf dem Rückzug. Dann war mein Vorrat aufgebraucht, und ich wusste, dass ich wieder losziehen musste. Am Morgen zog ich erneut die Karte aus Papas Portemonnaie und wartete, bis die beiden zur Arbeit gegangen waren. Schon im Treppenhaus musste ich mich mit aller Kraft am Geländer festhalten und wusste, dieser Ausflug würde kein Spaß werden. Ich entnahm dem Geldautomaten 200 Mark und suchte wieder denselben Hinterhof auf. Man sagte mir, die Preise seien gestiegen, und ich bekam für das Geld kaum mehr als beim ersten Mal. Aber das war mir egal. Hauptsache, ich hatte etwas! Ich schwitzte schon aus allen Poren wie verrückt und konnte nicht mehr warten, bis ich zu Hause war. Das hatte ich schon geahnt, deswegen hatte ich alles dabei, was ich brauchte. Ich kauerte mich zwischen zwei Müllcontainer, band den Arm ab und suchte mit fiebrigen Fingern nach einer Vene. Obwohl mir übel war und ich fast gekotzt hätte, war mein Kopf schon weiter und wusste, gleich würde alles wieder gut werden. Ich traf die Vene, und dann kam die Wärme und hüllte mich ein, eine Badewanne voller Glück.
Als ich gefunden wurde, lag ich zwischen den Mülltonnen in meinem Erbrochenen (nun schon zum zweiten Mal in meinem Leben). Im Krankenwagen, auf dem Weg zur Klinik, kollabierte mein Körper, der Herzschlag setzte aus. Der Notarzt musste mich reanimieren, und nachdem ich auf die Elektroschocks des Defibrillators nicht reagierte, hat er mir mit einer Herzdruckmassage das Leben gerettet – und mir dabei zwei Rippen gebrochen. In der Klinik legte man mich für drei Tage in künstliches Koma. Als ich endlich erwachte, saßen meine Eltern bei mir am Bett, und ich kam mir vor wie ein Stück Scheiße. Der Kopf fühlte sich an wie ein Ballon kurz vor dem Platzen, bei jedem Atemzug taten die gebrochenen Rippen weh. Dazu kam der Entzug. Sie wussten über alles Bescheid, über meine Ausflüge zum Geldautomaten, und die Einstiche in meinem Arm (die ich bisher verborgen hatte) waren eindeutige Hinweise auf das, was ich getan hatte. Sie machten mir keine Vorwürfe, ich musste ihnen auch gar nichts erklären. Sie wussten, wie sehr der Schmerz mir zusetzte, vor allem seit der Trennung von Paula.
Ein paar Tage später kam ich in eine sehr renommierte Reha- und Entzugsklinik auf dem Land, in der ich mindestens sechs Wochen lang bleiben sollte. Ich ließ das alles über mich ergehen, aber mein 17. Geburtstag rückte immer näher, und ich wusste mittlerweile mit absoluter Gewissheit, dass ich das Versprechen einlösen würde, das ich mir vor knapp einem Jahr gegeben hatte. Lange würden meine Qualen nicht mehr dauern. Sie mussten ein Ende haben.
***
Nach zwei Wochen in der Entzugsklinik fand ich mich an einem neuen Tiefpunkt wieder. Tage und Nächte vergingen völlig gleichförmig. Ich wollte mit niemandem reden. Ärzte, Krankenschwestern, andere Patienten, niemand kam an mich heran. Innerlich war ich nicht mehr wirklich anwesend, sondern bereitete mich vor auf den Übergang vom Leben zum Tod. Wozu noch auf meinen Geburtstag warten? Warum brachte ich es nicht endlich hinter mich und setzte meinem Leben schon jetzt ein Ende? Wieso noch weitere Wochen voller Schmerz und Depression über mich ergehen lassen? Das hatte doch alles überhaupt keinen Sinn mehr. Beim Abendessen ließ ich ein Messer verschwinden. Ich zweifelte zwar daran, dass es scharf genug sein würde, um mir damit die Pulsadern aufzuschlitzen, aber man konnte es ja wenigstens mal versuchen. Da ich ein Schlafzimmer mit zwei anderen Patienten teilte, zog ich mich mit dem Messer auf die Toilette zurück. Ich verbarrikadierte mich in einer Kabine, und da saß ich nun also auf dem Scheißhaus und starrte das Messer an. Es war, verdammt noch mal, nicht scharf genug. Mit dem Teil würde ich höchstens eine Riesenschweinerei anrichten, aber der Abschied vom Leben würde damit nicht gelingen. Was sollte ich tun? Die Klinik war nur zwei Stockwerke hoch, es machte keinen Sinn, aus dem Fenster zu springen. Erhängen? Vielleicht mit einem Kabel. Der Schmerz wütete in meinem Kopf. Ich schloss die Augen und ballte die Faust. So fest, dass die Hand anfing weh zu tun. Dann holte ich aus und schlug mit der Faust gegen die Wand, mit voller Wucht und aller Kraft. Ich schrie auf vor Schmerz. Ja, Schmerz! Und endlich mal ein anderer als ewig nur der verhasste Drecks-Schmerz in meinem Kopf! Das war gut! Wieso war ich darauf nicht früher gekommen? Ich holte noch einmal aus und hämmerte die Faust erneut gegen die Wand. Ich spürte, wie Knochen knackten, und konnte es auch hören. Und, Scheiße noch mal, aller guten Dinge waren drei! Jawoll! Rauf auf die Wand! Jetzt die andere Hand! Baammm!! Und nochmal! Und nochmal! Ich schrie so laut, dass es nur wenige Sekunden dauerte, bis ein Pfleger gegen die Kabinentür hämmerte.
»Wer ist da drin?! Aufmachen!«
»Ich bin Alex Magnusson, und ich habe mir gerade die Finger zu Klump gehauen!«
»Mach die Tür auf, sofort!«
»Geht nicht, Arschloch, ich kann meine Finger nicht bewegen. Und dasselbe mach ich jetzt mit meinem Kopf!« Ich stand auf und wollte meinen Worten Taten folgen lassen, aber da hatte er schon mit einem kleinen Spezialschlüssel die Tür geöffnet und riss sie auf. Er sah meine verkrümmten, Blut unterlaufenen Finger, das Messer auf dem Boden und, wie ich annehme, ein irres Flackern in meinen Augen. Ich kannte ihn vom Sehen, wusste aber nicht, wie er hieß, ein Typ Mitte 20. Er wollte mich festhalten. Ich rammte ihm die Faust ins Gesicht und empfand den erneuten, scharfen Schmerz, als meine gebrochenen Finger sein Auge trafen, als grimmige Wohltat. Ich war bereit, alles zu zerstören, was ich hatte, was ich war. Alles sollte in Fetzen gerissen werden. Nichts sollte übrig bleiben. Unter der Wucht meines Schlages taumelte er gegen die offene Tür. Er war benommen, aber nur für einen Moment, dann riss er die Hände hoch, als Deckung, und ich hatte keine Chance mehr. Mit einem geübten Griff hatte er mich, und mein Oberkörper wurde nach vorne gezogen wie die Klinge eines Taschenmessers, das man zusammen klappte. Er war nun hinter mir und schob mich aus der Kabine. Drei weitere Pfleger kamen angelaufen. Zwei packten meine Füße und hoben sie hoch. Zu viert trugen sie mich den Flur entlang, ich strampelte wie ein wildes Tier, das nicht zum Schlachter wollte.
Sie brachten mich in einen isolierten Raum und schnallten mich an allen Vieren auf einem Bett fest.
»Hier kannst du so viel schreien, wie du willst«, sagte der Pfleger, den ich geschlagen hatte. »Niemand wird es hören.«
Ich bekam eine Spritze, deren Inhalt wie eine Nebelwolke in meinen Blutkreislauf drang, und wurde ruhig, ganz ruhig. Sogar der Schmerz in meinem Kopf und in den Händen wurde schwächer. Das war gutes Zeug, wieso bekam ich das erst jetzt? Ich dämmerte weg.
Und als ich die Augen wieder öffnete, stand ich barfuß auf einem kalten Steinboden. Ich befand mich in einem Raum ohne Fenster, der nur von einer sehr schwachen, flackernden Neonröhre an der Decke beleuchtet wurde. Ich kannte den Raum nicht und wusste nicht, wie ich hier her gekommen war. Die Wände bestanden aus nackten, dunklen, alten Backsteinen, und es roch wie in einem feuchten Keller, modrig und nach alten, renovierungsbedürftigen Kupferleitungen. Ein leises, gleichmäßiges Piepen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Kam es aus den Wänden? Nein, dafür war es zu deutlich zu hören, es kam mir vor wie die langsame, elektronische Wiedergabe eines ruhigen Herzschlages. Ich drehte mich um und spürte den unebenen, groben Boden unter mir. Da stand ein Krankenhausbett. Schneeweißes Laken und ebenso weiße Decke. Neben dem Bett stand ein Gerät mit einem grünen Monitor, auf dem sich in gleichmäßigen Wellen, synchron zum Piepen, ein Herzschlag abzeichnete. Daneben ein Ständer, an dem ein Infusionsbeutel hing. Der Beutel führte in einen Schlauch, der gefüllt war mit einer gelblichen Flüssigkeit. In diesem Bett lag jemand, aber ich stand zu weit jenseits des Fußendes, und die Decke war zu hoch aufgebauscht. Ich konnte ihn nicht sehen. Da stand noch ein anderes Gerät. Auch dieses führte einen Schlauch zum Bett, und es gab ebenfalls ein Geräusch von sich, das mir bisher entgangen war. Luft, die durch den Schlauch gepumpt wurde. Wer auch immer in diesem Bett liegen mochte, er musste beatmet werden. Die Bettdecke hob und senkte sich ein wenig, langsam und immer wieder, in stetem Rhythmus. Hier wurde jemand künstlich am Leben gehalten. Ich wollte zu ihm gehen und ihn mir ansehen, aber eine männliche Stimme ließ mich herum fahren.
»Herr Magnusson, können Sie mich hören?«
Ich öffnete die Augen und musste blinzeln, weil es so hell war. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff: Den Ausflug in das Backsteinzimmer hatte ich nur geträumt. Ich war noch immer in dem isolierten Raum, ans Bett festgeschnallt.
»Wie fühlen Sie sich?« Über mir stand ein Arzt, den ich noch nicht kannte.
»Wo bin ich?«
»Können Sie sich daran erinnern, was gestern Abend passiert ist?«
»Ich war auf dem Klo, da kommt ein Typ rein gestürmt und macht mich fertig.«
»Das war ein Pfleger, und er hat Sie davon abgehalten, sich noch weiter zu verstümmeln.«
Ich blickte an mir herunter und sah, dass meine Hände eingegipst waren, fast bis zum Ellbogen.
»Sie haben drei gebrochene Finger, zwei an der rechten Hand und den linken Mittelfinger. Wollen Sie mir sagen, was passiert ist?«
»Sie haben es doch schon präzise wieder gegeben.«
»Wollten Sie sich umbringen?«
Ich antwortete nicht.
»Herr Magnusson?«
»Nennen Sie mich Alex.«
»Alex?«
»Ja, ich wollte mich umbringen. Es war nur schlecht geplant. Beim nächsten Mal wird mir das nicht mehr passieren.«
»Ich werde Sie in eine spezielle Abteilung verlegen. Sie werden keinerlei Gelegenheit bekommen, den Versuch zu wiederholen.«
»Irgendwann werden Sie mich raus lassen müssen.«
»Nein«, sagte er, »werden wir nicht. Sie haben uns gerade eben dazu veranlasst, sie so lange hier zu behalten, wie wir es für richtig halten.«
Noch am selben Tag kam ich in die Abteilung AS, das stand für ‚akut suizidgefährdet‘. Wir waren zu acht. Fünf Männer – vorausgesetzt, man ließ mich als Mann schon durchgehen. Und drei Frauen. Jeder von uns hatte mindestens einen Selbstmordversuch hinter sich. Dimitri, ein kleiner, dicker 30-jähriger Russe, hatte es schon siebenmal versucht. Rund um die Uhr waren mindestens drei Pfleger in unserer Nähe und ließen uns nicht aus den Augen. Wir aßen mit Plastikbesteck, und die Teller und Becher, von denen wir aßen und tranken, waren aus Pappe. Bleistifte, Filzstifte und Kugelschreiber waren verboten, nur Wachsstifte waren erlaubt. Von unseren Schuhen waren die Schnürsenkel entfernt worden. Die Wände waren gepolstert. Wenn ich aufs Klo musste, kam ein Pfleger mit, und die Tür der Toilette durfte nicht geschlossen werden. Der Arzt hatte Recht gehabt: Hier war es nicht möglich, sich das Leben zu nehmen. Ich wurde auf starke Beruhigungsmittel und Antidepressiva gesetzt. Der Schmerz in meinem Kopf wurde davon kaum geschwächt, aber ich blieb trotzdem ruhig, ja nahezu gleichgültig, und döste den halben Tag vor mich hin. Das war gar nicht mal die schlechteste Daseinsform, da hatte ich schon üblere Phasen hinter mir gehabt. Ich ergab mich dem Schicksal und ließ die Dinge laufen.
Dimitri, der siebenfach gescheiterte Selbstmörder, war ein merkwürdig lustiger Geselle. Er lächelte unentwegt, und als ich ihn fragte, warum er das tat, meinte er, das liege an den Folgen seines dritten Selbstmordversuchs, als er sich zwar in den Kopf geschossen, das Projektil sein Gehirn aber nur gestreift hatte. Seitdem müsse er ständig lächeln, auch wenn ihm zum Heulen zumute sei. Er zeigte mir die beiden Narben, die der Schuss hinterlassen hatte – eine über seinem linken Ohr und die andere am höchsten Punkt seines Schädels. Er erklärte mir, dort liege das Kronenchakra, und dass er es durchschossen hatte, habe seine Empfänglichkeit für alle schöpferischen Energien vertausendfacht. Seitdem verstehe er, was den Kosmos im Innersten zusammen halte, und wie wunderbar die Welt sei. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, sich danach weiterhin das Leben nehmen zu wollen. Dimitri hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, er hat sich erhängt, erschossen, ist mit einem Betonblock unter seinen Füßen ins Wasser gesprungen, hat sich ein Schwert in den Bauch gerammt, sich mit Schlaftabletten vollgepumpt, und zuletzt hat er versucht, aus dem zwölften Stock eines Hochhauses zu springen. Dreimal haben die Ärzte ihn wieder zusammengeflickt, nach dem Schuss durch seinen Kopf, nach der Sache mit dem Schwert (Selbstmordversuch Nr. 5), mit dem er sich die Milz zerfetzt hat, und nach dem Blutbad im Hochhaus (Selbstmordversuch Nr. 7). Das Erhängen (Selbstmordversuch Nr. 2) hat nicht funktioniert, weil Dimitris Genick dafür zu kräftig war und einfach nicht brechen wollte.
»Hätte ich Klaviersaite nehmen sollen«, sagte er mit seinem russischen Akzent. »Wäre ich wenigstens erstickt.«
Der Sprung in den See frühmorgens um sechs, mit dem Beton unter den Füßen (Selbstmordversuch Nr. 4), wurde von einem Angler beobachtet, der ihm hinterher sprang und mit einem Messer das Seil durchschnitt, das er sich um den Fuß gebunden hatte. Den größten Teil der Schlaftabletten (Selbstmordversuch Nr. 6) hat er erbrochen, und der Rest wurde ihm im Krankenhaus aus dem Magen gepumpt. Er wollte wissen, ob mir auch schon einmal der Magen ausgepumpt worden war. Ich schüttelte den Kopf.
»Iste so eklig«, befand er. »Stecken sie Schlauch in deine Mund und schieben runter bis zum Schnitzel. Mach ich nie wieder.«
Seine Lieblingsgeschichte war die mit dem Hochhaus. »War mein siebter Versuch«, sagte er. »Und sollte mein letzter sein. Gibt nicht viele Hochhäuser in München. Kennst du Vierzylinder?«
»Du meinst bei einem Auto?«
Er lächelte über meinen irritierten Gesichtsausdruck.
»Ist Name von BMW-Hochhaus. Weil sind so vier Türme in einem. Hab ich alles genau geplant. Dicke der Fenster? In Ordnung, wenn du kommst mit fette Vorschlaghammer aus Stahl mit Hickorystiel, doppelt verkeilt, für 120 Mark. Höhe von Gebäude? Alles gut, wenn du gehst in oberste Stockwerk. Sind Büros. Gesamte Haus hat Höhe 99,5 Meter. Hab ich mich gefragt, wieso nicht 100? Wenn ich baue teure Hochhaus für BMW, ich mache 100 Meter voll und höre nicht auf bei 99 Meter und 50 Zentimeter. Ein Russe würde immer 100 bauen und nicht halbe Meter weniger. Höchste Büros also über 80 Meter. Muss reichen. Wird reichen. Heute wird klappen. Weißt du, wie riecht Hochhaus von BMW, wenn du gehst durch Eingangstür?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Wie Büros eben riechen. Nach Papier und Druckern und so? Vielleicht nach Leder?«
Dimitri schüttelte lächelnd den Kopf. »Als ich reinkomme, riecht nach Kartoffelsuppe. Weil gleich um die Ecke ist Kantine. Gut, denk ich, letzte Geruch in meine Nase: Kartoffelsuppe. Damit kann ich leben. Und sterben.«
»Lass mich raten«, unterbrach ich ihn. »Sie haben dich mit dem riesigen Vorschlaghammer gar nicht erst hoch gelassen.«
Dimitri zog eine Augenbraue hoch, um damit seine Missbilligung auszudrücken. »Bin ich kein Idiot«, sagte er. »Hab ich Hammer in dicke Papprolle gesteckt, und an Empfang gesagt, hab ich Termin wegen Bauzeichnung.«
»Und dann?«
»Bin ich in Aufzug gestiegen. Lief klassische Musik, so mit Klavier und Geige, hab ich mich richtig feierlich gefühlt. Das ist jetzt also die Ende, hab ich gedacht, und so für mich noch gebetet. Tür geht auf, ich geh raus – große, offene Büro, du weißt, was ich meine.«
»Ein Großraumbüro.«
»Genau. Seh ich mich um, welche Fenster passt am besten. War schöne Wetter, mit Sonne, durch Fenster konnte ich sehen die Alpen, am Horizont. Vor mir steht hübsche, junge Frau in kurze Rock, fragt, ob sie mir helfen kann. Ich sage Ja, öffne Papprolle, hole Hammer raus, gebe ihr die Rolle. Dann geh ich langsam auf Fenster zu, hinter dem die Alpen sind, weil ich will, dass das ist das Letzte, was ich sehe, bevor alles ist zu Ende. Leute fangen schon an, komisch zu gucken. Ich hebe Hammer hoch und sage laut: Bitte gehen Sie beiseite! Weißt du, so richtig eindrucksvoll, Leute sollen hinterher sagen, war ganzer Kerl, der da gesprungen ist aus Vierzylinder. Hebe ich Hammer über Kopf, hole aus und schlage auf Fenster. Macht laute Geräusch, anders, als ich hatte erwartet. Tiefer. Kein Klirren. Scheibe bricht auch nicht. Leute von Büro schreien auf. Rennen weg. Ich denke, gibt’s doch nicht. Scheibe hat nicht mal Kratzer. Ich werde hier nicht sterben durch Sturz von Vierzylinder, sondern vor Scham, weil ich kriege Scheiß-Fenster nicht kaputt! Nehm ich noch mal zwei Schritte Anlauf, hebe Hammer, schlage zu mit ganze Kraft, die ich habe. Wieder laute Buumm, aber diesmal klingt anders, weil Scheibe bekommt Sprung. Noch mal Versuch, buumm, Sprung wird größer. Ich wie in Rausch, schwitze wie Schwein, obwohl Klimaanlage bläst mir in Gesicht, ich ziehe Jacke aus, schlage noch mal zu, endlich splittert Scheibe! Loch ist noch zu klein, noch ein Schlag und noch einer, und jetzt ist groß genug. Ich werfe Hammer auf Boden, gehe paar Meter zurück. Leute stehen alle um Aufzug rum, starren mich an. Einer ruft: Tun Sie das nicht! Das ist doch Wahnsinn! Und ich denke, du Milchgesicht, was weißt du denn von meinem Leben? Ich laufe los, und direkt vor Fenster breite ich Arme aus und springe.« Dimitri verstummte.
»Ja, und dann?« fragte ich.
Dimitris Mund lächelte zwar immer noch, wie er es fast immer tat, aber seine Augen verdunkelten sich. »Milchgesicht wollte Held sein, ist hinterher, und als ich gesprungen bin, ist er auch gesprungen und hat Fuß erwischt. War ich schon halb draußen. Hat er mich mit Bauch in untere Rand von Fensterloch gespießt.« Dimitri zog sein T-Shirt hoch und zeigte mir eine wulstige, gezackte Narbe, die quer über seinen Bauch verlief und die man als moderne Kunst hätte ausstellen können.
Die Tage begannen zu verschwimmen, irgendwann hatte ich keine Ahnung mehr, wie lange ich hier schon war und wann meine Eltern zum letzten Mal zu Besuch gekommen waren. Ich glaube, auch Paula ist einmal kurz da gewesen, aber dessen war ich mir nicht sicher, ich konnte es mir auch eingebildet haben. Einmal am Tag musste ich für eine Dreiviertelstunde zu einem Psychologen, aber der Kerl hatte eine Fistelstimme und sah mich an wie ein Insekt. Er war ein Arschloch, und ich weigerte mich, mit ihm zu reden. Bei irgendeinem Mittagessen fragte ich einen der Pfleger nach dem Kollegen, der mich in jener Nacht vom Klo geholt hatte. Ich wollte wissen, wie es ihm ging und ob er noch sauer auf mich war.
»Er heißt Michael, und ein bisschen angepisst war er schon«, sagte der Pfleger. »Zwei Tage danach hat er nämlich geheiratet, und dir hatte er zu verdanken, dass er beim Jawort ein Veilchen hatte.«
Ich sagte, ich würde mich gerne bei Michael entschuldigen, und so kam er kurz darauf tatsächlich auf die Station. Ich war erleichtert, dass er mir nicht böse war.
»Weißt du«, sagte er lächelnd, »ich habe eine Freundin, die ist Maskenbildnerin beim Theater. Sie hat alles weggeschminkt, man hat nichts gesehen.«
»Das ist gut.«
»Außerdem war ich selbst schuld. Ich bin ausgebildet für solche Situationen und hätte vorbereitet sein müssen.«
»Trotzdem sorry, dass ich dich geschlagen habe. Ich hab mich in meinem ganzen Leben noch nie geprügelt.«
Er fragte, wie es mir ging, und wie stark sie mich mit den Medikamenten herunter gedimmt hätten. Ich zuckte die Achseln und fragte zurück, wie es mir hier schon gehen solle. Nicht gut und nicht schlecht, und wenn es nach mir ging, konnte ich hier bis in alle Ewigkeit vor mich hindämmern.
»Was hattest du mal vor mit deinem Leben?« fragte er. »Bevor der Schmerz gekommen ist.«
Darüber hatte ich schon seit langem nicht mehr nachgedacht. »Viel in der Gegend rumreisen. Möglichst viele verschiedene Leute kennen lernen. Außerdem kann ich ganz gut schreiben. Vielleicht Reisejournalist? Sowas in der Art.«
»Klingt toll«, sagte er. »Wer hindert dich dran, das immer noch zu wollen?«
»Michael, es ist so: Wenn du ständig das Gefühl hast, gleich platzt dein Kopf, dann hast du keinen Spaß mehr mit dem, was du tust. Egal, was es ist. Abgesehen von Sex. Ich könnte höchstens Callboy werden. Aber das ist doch auch Scheiße. Das Beste für mich ist noch sowas wie das hier.« Ich hob die Arme und deutete in alle Richtungen. »Hier bleib ich für immer. Ihr werdet mich nicht mehr los.«
Michael nickte. »Du bist zu clever dafür«, sagte er. »Irgendwann gibst du dich damit nicht mehr zufrieden.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich mach den Job nicht erst seit gestern.«
»Wie kommt es, dass du schon geheiratet hast?« fragte ich. »Du bist nur ein paar Jahre älter als ich.«
Michael lächelte, ja strahlte fast. »Ich hab einfach die Richtige gefunden. Jetzt ist sie auch noch schwanger. Da gab es keine zwei Meinungen mehr.«
»Du wirst schon Vater?«
»Oh, Vater bin ich schon. Da war ich kaum älter als du. Ein Versehen. Die Kleine kommt schon bald in die Schule.« Er zog ein Foto heraus und zeigte mir seine kleine, blondgelockte Tochter.
»Echt süß.«
»Sowas kommt dir vor wie vom anderen Stern, oder? Ging mir damals auch so. Aber das Leben fragt nicht lange, es zieht die Dinge einfach durch. Dann musst du sehen, was du draus machst.«
»Weißt du«, fragte ich, »warum ich so oft auf die Wand eingeschlagen hab? Weil der Schmerz in den Händen so stark war, dass er mich vollständig abgelenkt hat vom Schmerz in meinem Kopf. Das hat mich irgendwie berauscht. Das wollte ich noch öfter haben. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich mich da drin in dem Klo an die Wand geknüppelt bis zur Bewusstlosigkeit.«
Michael nickte: »Weißt du, was ich mache, wenn ich mich von irgendwas ablenken will?«
»Keine Ahnung. Du küsst deine Frau. Kaufst deiner Tochter ein Eis. Gehst ins Kino.«
»Ich mache Sport.«
»Was für welchen?«
»Ich laufe. Je größer das Problem, desto länger die Strecke. Dabei komme ich auf völlig andere Gedanken. Wenn ich danach unter der Dusche stehe, bin ich entspannt, und manchmal lösen die Dinge sich auf einmal wie von selbst.«
»Mit Sport hatte ich’s noch nie besonders.«
»Ist nur so eine Idee.«
»Außerdem, sieh dich mal um: Was für Sport soll ich hier machen? Liegestützen? Situps?«
»Warum nicht?« antwortete Michael. »Ist für den Anfang schon mal besser als nur rum zu hängen.«
»Hm.«
Und wenn dir das nicht reicht…«
»… dann was?«
»Dann gibt es hier im Haus ein Fitnessstudio.«
»Im Ernst?« Das hatte ich nicht gewusst.
»Geräte. Laufband. Ergometer. Alles da.«
»Super. Nur lassen sie mich da nicht hin.«
»Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen.«
***
Michael hatte nicht übertrieben, das Fitnessstudio im zweiten Stock der Klinik war wirklich nicht übel. Natürlich musste mich ein Pfleger beim Training beaufsichtigen, das machte Michael selbst. Ich hatte inzwischen keinen Gips mehr an den Händen, aber die Finger waren nach wie vor geschient, an Übungen mit den Händen war also nicht zu denken, und ich widmete mich den Geräten für die Beine. Eine tolle Figur machte ich nicht gerade, denn ich war nicht nur völlig untrainiert, sondern stand auch noch unter Beruhigungsmitteln und Psychopharmaka, die alles andere als leistungsfördernd waren. Ich probierte eine Runde auf dem Laufband, auch wenn ich mir nichts davon versprach, denn Laufen hatte ich immer für die ödeste aller Sportarten gehalten, weil man ständig nur einen Fuß vor den anderen setzen musste und nichts passierte. Ich stellte eine mittlere Geschwindigkeit ein und trabte ein paar Minuten vor mich hin, bis Michael die Geschwindigkeit erhöhte.
»Schaffst du das auch noch?«
»Kein Thema.«
»Und das?« Er stellte das Gerät noch eine Stufe höher.
»Willst du mich beleidigen? Bei dem Tempo kann ich frühstücken und Zeitung lesen.«
»Alles klar«, sagte Michael und erhöhte um eine weitere Stufe. Das Spiel trieben wir so lange, bis ich alles geben musste, um das Tempo zu halten und nicht hinten runter zu fliegen. Nach einer Weile wollte er die Geschwindigkeit um eine Stufe drosseln, aber ich drückte seine Hand beiseite.
»Nicht«, sagte ich.
Michael lachte. »Du sollst trainieren, nicht kollabieren.«
»Ich schaff das«, keuchte ich. Mein Shirt war längst nass, die Beinmuskeln brannten. Das erzeugte eine ähnliche Wirkung wie die Finger, die ich vor einigen Tagen gegen die Wand gedonnert und dabei gebrochen hatte: Der Schmerz in meinem Kopf verblasste, weil der in den Beinen so stark und die Anstrengung so groß war! Das Gefühl machte mich fast ein bisschen high, ich konnte nicht genug davon bekommen. Ein paar Minuten später konnte ich aber trotzdem nicht mehr und musste aufhören. Aber ich hatte eine völlig neue Erfahrung gemacht: Totale Erschöpfung schob IHN, den Schmerz in meinem Kopf, in den Hintergrund! Ich setzte mich auf einen Ruhesessel, japste nach Luft und musste dabei lachen, was dazu führte, dass ich mich verschluckte und husten musste.
»Nicht übertreiben, Marathonmann«, sagte Michael und klopfte mir auf die Schulter.
»Das brauch ich jetzt jeden Tag!« rief ich. »Jeden verschissenen Tag!« Wir mussten beide lachen, bis mir auch noch der Bauch weh tat.
Ich konnte den Chefarzt dazu bewegen, meine Medikamente herab zu setzen. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, stand ich wieder auf dem Laufband, bereit, heute noch mehr zu geben als gestern. Ich hatte zwar höllischen Muskelkater, aber das war mir egal. Nach einer Dreiviertelstunde war ich kurz vor dem Zusammenbruch, und Michael musste das Band abstellen. Ich trank zwei Flaschen Wasser, dann setzte ich mich aufs Ergometer und fing an, in die Pedalen zu treten. Bisher hatte ich diese Dinger verachtet, jetzt sah ich das anders. Eine halbe Stunde Vollgas, und es zog so sehr in den Waden, dass ich einen Krampf bekam und aufhören musste. Ich lag auf dem Boden wie ein Käfer, und irgendwie war ich glücklich, denn ich hatte einen Weg gefunden, aus eigener Kraft gegen den Schmerz zu kämpfen. Dafür brauchte ich niemanden, der sich zur Verfügung stellte, das konnte ich ganz alleine.
Ich trainierte eine Woche lang, jeden Tag zwischen fünf und acht Stunden. Die meiste Zeit war ich völlig erschöpft, und nachts schlief ich so tief wie ein Baby. Bereits in dieser Anfangszeit spürte ich, dass unter der Erschöpfung etwas anderes heran zu wachsen begann. Ich wusste noch nicht, was es war, aber ich spürte, dass es mein Leben von Grund auf verändern würde. Die Medikamente trübten meinen Blick nicht mehr, ich war hellwach und klar. Mein Körper wurde sehnig und kantig, meine Stimme kräftiger, mein Auftreten selbstbewusster. Das einzige Problem war, dass ich von Tag zu Tag sehnsüchtiger durchs Fenster nach draußen blickte, und wenn wir mittags eine Stunde lang auf den Hof durften, sog ich die Luft ein wie eine Köstlichkeit. Ich ließ mir einen Termin geben beim Klinikchef. Zu meiner Überraschung empfing er mich praktisch sofort und fragte freundlich, was er für mich tun könne.
»Ich trainiere seit einer Woche jeden Tag auf dem Laufband«, begann ich.
»Ich weiß«, sagte er. »Michael hat mir erzählt, wie aktiv Sie geworden sind.«
Er war mir wohlgesonnen, das spürte ich. Also wagte ich mich ein Stück weiter nach vorne. »Das Laufen ist für mich eine hervorragende Therapie. Es lenkt ab von meinem Schmerz.« Ich tippte mir mit der geschienten Hand an den Kopf. »Das Dumme ist nur: Auf dem Laufband auf die Mauer starren ist auf Dauer unglaublich langweilig.«
»Wie wäre es mit einem Fernseher?« fragte er. »Ein wenig Unterhaltung, würde das helfen?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich, »dass ich Lust hätte, mich beim Laufen auf eine Fernsehsendung zu konzentrieren. Und die Glotze nervt mich ja schon zu Hause bei meinen Eltern. Ich hätte eine ganz andere Bitte.« Ich glaube, er ahnte bereits, was kommen würde, aber er sah mich an, als hätte er keinen Schimmer. »Ich möchte draußen laufen. Michael hat mir von einer Runde erzählt, die ungefähr zehn Kilometer lang ist und an einem Seeufer entlang führt. Er würde mich bei den Läufen begleiten.«
Der Klinikchef nickte leicht, und ich dachte schon, er würde Ja sagen. »Herr Magnusson, ich kann Ihren Wunsch sehr gut verstehen«, sagte er. »Ich kann ihn nur leider nicht erfüllen.«
»Hören Sie, ich stürze mich nicht in den See. Ich lauf auch vor kein Auto. Ich verspreche Ihnen, ich mache keinen Quatsch. Ganz großes Ehrenwort.«
»Ich glaube Ihnen durchaus, dass Sie das ernst meinen. Und ich bin davon überzeugt, dass Ihnen das Laufen gut tut, da gibt es ja gar keinen Zweifel. Trotzdem wäre damit ein Risiko verbunden, dass ich nicht eingehen kann.«
»Was denn für ein Risiko?«
»Vor wenigen Wochen hatten Sie vor, sich umzubringen, sogar gegen massiven Widerstand. Sie haben sich schwere Verletzungen zugefügt.«
»Das ist vorbei! Das hab ich hinter mir!«
»Das möchte ich gerne glauben, Herr Magnusson, aber woher soll ich wissen, dass das so bleibt? Meiner Meinung nach sind Sie für eine solche Maßnahme noch nicht stabil genug.«
»Ich fühle mich großartig.«
»Michael hat mir auch erzählt, dass Sie beim Laufen dazu neigen, zu übertreiben. Er muss Sie bremsen und das Band ausschalten, sonst würden Sie laufen bis zum körperlichen Zusammenbruch.«
»Ich bin eben ehrgeizig. Daran ist doch nichts Schlechtes.«
»Ahnen Sie nicht, worauf ich hinaus will? So, wie Sie laufen – das ist typisches Suchtverhalten. Erst die Sexsucht, dann die Drogen, jetzt das Laufen. Es tut mir leid, aber ich kann Sie erst nach draußen lassen, wenn ich sehe, dass Ihr Verhalten sich normalisiert.«
Ich saß nur noch da und sagte nichts mehr. Innerlich nannte ich ihn einen Scheißkerl, aber ich wusste auch, dass er Recht hatte. Leider.
Trotzdem trainierte ich weiterhin mit der gleichen Verbissenheit, denn ich hatte bereits den Punkt überschritten, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Ich hatte die Herausforderung angenommen, die mein Schmerz an mich gestellt hatte, und jetzt wollte ich wissen, wer stärker war – er oder ich. Mein Ehrgeiz blieb niemandem in der ganzen Klinik verborgen, jeder kannte mich als den Läufer. Ich trainierte so viel, dass Michael sich mit anderen Kollegen abwechseln musste, wenn es darum ging, mich auf dem Laufband im Auge zu behalten, sonst hätte er einen Haufen Überstunden machen müssen. Eines Morgens schnürte ich die Laufschuhe, als er in mein Zimmer kam, gefolgt von zwei seiner Kollegen, alle drei in Sportkleidung.
»Zieh dir noch was über«, sagte er, »draußen ist es kalt.« Er grinste. Ich konnte es nicht fassen.
»Wie hast du das geschafft?!«
»Ich hab den Boss gefragt: Was ist, wenn wir den Alex zu dritt begleiten? Da hat er Ja gesagt.«
»Zu dritt?!«
»Du kriegst ‘ne richtige Eskorte, Mann.«
Die drei strahlten mich an, und ich glaube, ich habe feuchte Augen bekommen. Das war so ziemlich das Rührendste, was jemals jemand für mich getan hatte. Unterwegs überredete ich die Jungs immer wieder, die Runde noch größer zu machen, und am Ende hatten wir ungefähr 17 Kilometer abgespult. Wenige Tage zuvor hätte ich noch nicht für möglich gehalten, dass ich im Leben einmal so weit laufen könnte. Am Morgen darauf hatte ich so brutalen Muskelkater, dass ich kaum gehen konnte. Die Treppe hinauf zum Fitnessstudio bin ich rückwärts gegangen, weil die Oberschenkel sonst bei jeder Stufe aufgejault hätten. Das war aber kein Grund für mich, einen trainingsfreien Tag einzulegen. Das alles waren positive Schmerzen, und gestern, nach den 17 Kilometern, hatte ich erlebt, wie sehr der Schmerz in meinem Kopf sich für den Rest des Tages mit einer Nebenrolle hatte begnügen müssen. Das brauchte ich heute sofort wieder, dazu gab es überhaupt keine Alternative. Klar war das Suchtverhalten, was denn sonst. Aber diese Sucht konnte mich von der Verdammnis erlösen. Andererseits war es natürlich genau das, was Süchtige von ihrer Sucht stets gerne glauben wollten. Wie auch immer: Ich hatte keine andere Wahl. Dies war der Weg, den ich würde gehen müssen.
Bei unserem nächsten Lauf wollte Michael wissen, ob meine Eltern eigentlich aus Schweden kamen, wegen meines Nachnamens.
»Mein Opa kam aus Uppsala«, sagte ich. »Direkt nach dem Krieg wollte er unbedingt nach Deutschland.«
»Wieso?«
»Er war Fotograf und wollte die ganzen Trümmer fotografieren. Seine Bilder sind später Jahre lang ausgestellt worden, in der ganzen Welt.«
»Und dabei hat er deine Oma kennen gelernt?«
»Zuerst wollten sie zusammen nach Schweden ziehen. Aber dann wurde Oma schwanger, mit Papa. Und da sind sie in Deutschland geblieben.«
***
Ich träumte wieder den merkwürdigen Traum vom Krankenbett in dem Raum mit den dunklen Backsteinmauern. Aber diesmal war alles ein wenig anders. Ich hörte die Stimme meines Großvaters, und er sang mit seiner alten Stimme das fröhliche schwedische Kinderlied, das er mir beigebracht hatte, als ich ganz klein gewesen war. Er war aber nicht im Raum, ich hörte nur seine Stimme, als würde sie aus der Wand kommen. Noch immer konnte ich nicht sehen, wer eigentlich in diesem Bett lag, angeschlossen an die Geräte und die Infusion, die ganz langsam durch den Schlauch sickerte.
Beim Frühstück erzählte ich Dimitri davon. Er wollte wissen, wovon das Kinderlied handelte.
»Es wird von einem Elch gesungen, der am Straßenrand steht und sich darüber beklagt, dass er nicht auf die andere Seite kommt, weil die Autos alle so schnell fahren.
»Lustige Lied?«
»Ja.«
»Sing mal.«
»Ich kann nicht singen.«
»Komm schon, Alex, jeder kann singen.«
»Du vielleicht. Ich nicht.« Dimitri sang öfter Wenn ich einmal reich wär aus dem Musical ‚Anatevka‘ und tanzte dazu Kasatschok, und das machte er gar nicht mal so schlecht. Wenn man ihn dabei erlebt hatte, konnte man sich kaum vorstellen, dass er jemand war, dessen ganzes Trachten und Sehnen darauf gerichtet war, sich das Leben zu nehmen. Aber er war auch jemand, der nicht locker ließ, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und jetzt legte er es darauf an, mich zum Singen zu überreden. Also tat ich es schließlich doch:
»Hur ska jag göra för att komma över vägen«, sang ich leise, und ich war selbst darüber erstaunt, wie gut ich die Töne traf. Na ja, jedenfalls die meisten. »Hur ska jag göra för att komma över dit.« Ich räusperte mich verlegen und sagte: »So, das muss jetzt aber reichen.«
Dimitri applaudierte höflich, dann sah er mich lange an.
»Warum guckst du so? War mein Gesang so schlimm?«
»Alex, fragst du dich gar nicht mehr, woher sie kommen, deine Schmerzen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Die Ärzte haben nichts gefunden, also was soll ich machen?«
»Ärzte wissen nicht alles.«
»Manche Leute, Dimitri, die haben andere Dinge, einen Tinnitus zum Beispiel, so ein Geräusch im Ohr, das hören sie Tag und Nacht. Meistens findet man heraus, woher es kommt, manchmal aber auch nicht. Oft verschwindet der Ton wieder, aber es kann auch sein, dass er bleibt. Für immer. Dann muss man damit leben, ob es einem passt oder nicht. Genauso ist das mit dem Schmerz in meinem Kopf. Wenn ich wüsste, wo er herkommt, davon würde er auch nicht verschwinden.«
»Kann sein, du hast Recht«, sagte Dimitri. »Aber vielleicht machst du Irrtum. Dinge oft haben tiefere Sinn, aber wir können nicht sehen. Ich zum Beispiel frage jeden Tag: Wieso so viel Sehnsucht nach dem Tod? Und andere Frage: Wieso klappt nicht mit Umbringen? Ich bin unglücklich, das war ich schon immer. Aber weiß ich nicht wieso. Viele bringen sich um, weil sie sich hassen. Aber ich hasse mich nicht. Find ich mich ganz okay. Findest du mich okay?«
»Ich finde dich sogar sehr okay.«
»Gibt Dinge, die machen mir Spaß. Singen, Tanzen, Reden. Einen Plan ausdenken, wie ich mich umbringen könnte. Gibt auch Menschen, die ich gerne habe. Dich zum Beispiel.«
»Ich mag dich auch, Dimitri.«
»Aber ich hab Gefühl, ich gehör hier nicht her.«
»In diese Klinik?«
»Nein, in diese Welt. Bin ich zu falsche Zeit in falsche Körper an falsche Ort. Und irgendwas sagt mir, Alex, mit dir ist auch was falsch. Kann nicht sagen was, aber etwas ist falsch.«
»Wie meinst du das?«
»Weiß nicht. Keine Ahnung. Etwas, das jeder bisher hat übersehen.« Er kratzte sich am Kinn. »Ist nur Gefühl. Du weißt schon, seit Loch in Kronenchakra empfang ich Sachen, die kann ich nicht erklären. Manchmal. Nicht immer. Aber immer dann, wenn ich sehe dir in die Augen.«
Das klang alles ziemlich sinnlos, aber etwas an seinen Worten berührte mich trotzdem, brachte eine Saite in mir zum Schwingen. Deswegen fragte ich: »Was kann man denn übersehen haben? Es wurde doch alles durchgecheckt.«
»Ist nicht Job von Arzt«, antwortete Dimitri. »Ist dein Job, was zu finden. Irgendwann kommt Lücke, dann muss Elch den Mut haben und über Straße gehen.«