Читать книгу Die kleine Insel am Ende der Welt - Richard Mackenrodt - Страница 4
Das schwärzeste Schwarz
ОглавлениеDie Männer trugen Schwarz. Ausschließlich. Von Kopf bis Fuß. Sonnenbrillen. Jacketts. Hemden. Krawatten. Hosen. Schuhe. Socken. Ein Schwarz, das die Augen irritierte, ohne dass der Betrachter den Grund dafür benennen konnte. Selbst ihre Slips und Unterhemden waren schwarz, obwohl den Blicken verborgen. Und die Haare: Zweimal pro Woche mussten sich die Männer beißend riechenden Farbkleister auf den Kopf schmieren lassen, und – nicht zu vergessen – auf die Augenbrauen. So stand es im Arbeitsvertrag. Zudem hatten sie sich alle fünf Stunden zu rasieren, solange sie im Dienste des Unternehmens auftraten. Selbstverständlich waren auch sämtliche Geräte, die sie bei der Arbeit benutzten – Smartphones, Tablets, Bluetooth-Headsets – schwarz wie die Nacht.
Schwarz war nicht gleich Schwarz. Ein schwarzer Gegenstand konnte im hellen Sonnenlicht zum fahlen Grau werden, und schwarzer Samt konnte an einem sonnigen Strand leuchten wie der Vollmond um Mitternacht. In Wirklichkeit war Schwarz ja eine Farbe, die es gar nicht gab. Wer von Schwarz sprach, beschrieb nichts weiter als die Abwesenheit subjektiver Farbreize. Das Finsterste im gesamten Universum waren die sogenannten Schwarzen Löcher. Sie warfen keinerlei sichtbares Licht zurück und waren damit tatsächlich völlig dunkel. Der oberste Chef der beiden schwarz gekleideten Männer hatte sich mit diesen Dingen lange und intensiv beschäftigt. Er wollte, dass die Außendarstellung von Nero Black Enterprises so schwarz war wie nur irgend möglich. Er träumte vom Black-Hole-Black. Dass dieses Ideal unerreichbar war, störte ihn nicht. Er war beseelt davon, dem Unmöglichen denkbar nahe zu kommen – bei allem, was er auf den Markt brachte und bei allem, womit Nero Black Enterprises in Erscheinung trat. Er hatte sich mit den Forschern einer texanischen Universität in Verbindung gesetzt, denen es gelungen war, den schwärzesten Stoff herzustellen, den die Welt jemals gesehen hatte. Dieses ultraschwarze Material bestand aus einem Miniaturwald von Nanoröhrchen und reflektierte nur 0,0045 Prozent des Lichtes, das darauf fiel. Die Röhrchen bestanden aus eng zusammengerolltem Kohlenstoff und waren so winzig, dass 400 davon nebeneinander in ein menschliches Haar gepasst hätten. Nero Black hatte alles aufgekauft, was die Texaner ihm liefern konnten. Das Rohmaterial war anschließend in Deutschland bearbeitet worden, er hatte daraus Kleidungsstücke herstellen lassen für alle Mitarbeiter, die außerhalb der Firma auftraten, etwa bei Messen und Presseterminen, und auch für das Wachpersonal. Das alles hatte ein Vermögen gekostet. Ein Wachmann von Nero Black Enterprises trug bei seiner Arbeit Klamotten am Leib, die so teuer waren wie ein nagelneuer Mittelklassewagen mit allen Extras. Ein halbes Dutzend Wachleute sicherten den Firmenhauptsitz am Münchner Stadtrand, und das taten sie Tag und Nacht, denn es galt nicht nur, die teuren Geräte im Inneren des Gebäudes zu beschützen, sondern viel mehr noch die unfassbar wertvolle tiefschwarze Fassade, die ebenfalls von den Texanern angefertigt worden war.
Nero Black hasste es, irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Überraschungen verabscheute er fast genau so sehr wie das Licht der Öffentlichkeit, dem er sich mit bemerkenswerter Konsequenz zu entziehen verstand. Die Gazetten hätten eine Menge Geld dafür bezahlt, um etwas in Erfahrung zu bringen über diesen Mann, der unbeobachtet die Fäden zog und einen Welterfolg nach dem anderen auf den Markt brachte. Wie sah er aus? Was war er für ein Mensch? Was hatte er für ein Privatleben? Gab es ihn überhaupt? Man kannte nur seinen Namen und das NBE-Logo, das eine stilisierte Zeichnung seines Gesichts zeigte. Und so berühmt sein Name auch sein mochte: Nicht einmal der stimmte. Denn der Mann, der selbst so etwas war wie ein Schwarzes Loch, hieß natürlich nicht Nero Black, sondern war auf die Welt gekommen als Phillip Emanuel Schwarz. Er war 31 Jahre alt und so unscheinbar, wie ein Mann nur sein konnte. Klein und schmächtig. Blass. Mit einer unauffälligen Brille auf der Nase, deren dünnes Metallgestell natürlich schwarz war. Auch er trug stets nur schwarze Kleidung aus texanischem Kohlenstoff. Eine Zeit lang hatte er sogar seine straßenköterfarbenen Haare schwarz gefärbt, aber das war ihm dann doch zu albern gewesen. Schließlich wusste sowieso niemand, wer er war. Seine Villa im Süden der Stadt war extrem gut gesichert. Niemand hatte eine Ahnung, wer dort wohnte, auch nicht der Lieferservice, der ihn mit Lebensmitteln versorgte. Hier hatte er alles, was er brauchte. Wenn er nicht arbeitete, zog er Bahnen durch den Swimming Pool, spielte mit dem Gerät, das er Zauberstab nannte, las ein Buch oder sah sich einen Film an, in seinem eigenen Kino, das über eine riesige Leinwand und einen kinofähigen Digitalprojektor verfügte, und in dem – ja – ein einziger schwarzer Kinosessel stand. Phillip Schwarz hatte keine Freunde, und er wünschte sich auch keine. Er hatte die Einsamkeit zu einer Kunstform erhoben, er lebte sie aus auf geradezu inbrünstige Weise, weil er der festen Überzeugung war, dass diese Art zu leben besser zu ihm passte als alles andere. Wenn er das Grundstück hin und wieder verließ, dann stets nur durch einen unauffälligen Hintereingang, und anschließend fuhr er mit seinem Elektro-Fahrrad davon, wie ein ganz normaler Typ von nebenan. Schwarz hatte keinen Chauffeur und – bis auf eine Ausnahme – auch keine Bediensteten. Der einzige Mann, der außer ihm das Grundstück jemals betrat, war Hatchiko Matsumoto, ein 52-jähriger Japaner, der noch kleiner, schmächtiger und blasser war als er selbst. Matsumoto kümmerte sich dienstags und freitags um den Garten, reinigte den Pool und putzte das Haus. Den Hausherrn bekam Matsumoto dabei niemals zu Gesicht.
Wenn Phillip Schwarz mit dem E-Bike unterwegs war und anderen Menschen begegnete, benahm er sich unauffällig und kein bisschen exzentrisch. Er trat zurückhaltend auf, aber nicht wortkarg. Er besuchte Kunstausstellungen, und manchmal führte er dort mit Gleichgesinnten fachkundige Gespräche. Er flog in der Economy-Klasse nach Monte Carlo, um sich dort, von einer Hotelsuite an der Strecke, das Formel-Eins-Rennen anzusehen. Oder er begab sich, bekleidet mit einem Schutzanzug, in die Niederungen der Münchner Kanalisation und durchstreifte sie einen Nachmittag lang. Solche Dinge tat er nicht, um sich zu entspannen – und auch nicht, weil er vielleicht nicht ganz bei Trost gewesen wäre – sondern ausschließlich, um sich Inspiration zu holen für neue Spiele. Oder für Updates zu bereits bestehenden Spielen. Denn Nero Black Enterprises war einer der bedeutendsten Hersteller von Computerspielen, und Phillip Schwarz das große Mastermind dahinter. Er tat nichts aus purem Vergnügen. Vergnügen war nicht Teil seiner Existenz. Schwimmen ging er, um seine körperliche Kraft zu erhalten und den Geist frei zu bekommen für neue Ideen – nicht, weil es ihm Spaß gemacht hätte. Filme sah er, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was inhaltlich und stilistisch bei der Jugend, die seine Spiele kaufte, gerade angesagt war. So funktionierte er. Alles verfolgte einen Zweck, nichts geschah ohne tieferen Sinn. Manchmal fragte er sich, warum er so war und wieso er das eigentlich alles tat. Er hatte mehr Geld verdient, als er jemals ausgeben konnte. Es bereitete ihm auch längst keine Befriedigung mehr, Erfolg zu haben. Ganz im Gegenteil sogar: Er hasste die Vorstellung, dass Hunderttausende vor irgendwelchen Konsolen, Tablets oder Handys saßen und mit seinen Spielen auf raffinierte und grafisch ach so anspruchsvolle Weise ihre tumben Gewaltfantasien auslebten und ihren Geist verdorren ließen. All diese Menschen hielt er für Schwachköpfe, und sich selbst für schuldig, ihnen auch noch das letzte bisschen Individualität aus den Köpfen zu saugen. Trotzdem steckte er all seine Kraft in die Weiterentwicklung der Spiele, und seine Fangemeinde dankte es ihm. Der geheimnisvolle Nero Black war eine Kultfigur, voller Begeisterung trugen die Leute T-Shirts mit Motiven aus seinen Spielen, und natürlich mit dem berühmten Firmenlogo von NBE, das in der Mitte sein stilisiertes Konterfei mit schwarzer Sonnenbrille trug.
Kathrin Schmidtbauer war Nero Blacks persönliche Assistentin und die einzige Person im gesamten Unternehmen, mit der er in Kontakt stand. Die meiste Zeit saß sie vor ihrem Computermonitor, und wann immer er es für nötig hielt, loggte er sich ein und erteilte ihr schriftliche Anweisungen. Phillip Schwarz wollte nicht, dass in der Firma irgendjemand auch nur seine Stimme kannte. Natürlich hatte er leitende Angestellte, und es gab auch einen Aufsichtsrat, aber mit all diesen Leuten kommunizierte er nicht direkt. Die einzige Schnittstelle war Kathrin Schmidtbauer. Sie nahm für ihn an allen wichtigen Sitzungen teil und übermittelte seine Kommentare. Kathrin empfand diese Art der Zusammenarbeit noch immer als skurril, hatte sich aber daran gewöhnt. Und warum hätte sie sich beklagen sollen? Sie wurde gut bezahlt, sie musste keinen schwarzen Kohlenstoff tragen, weil sie nicht in der Öffentlichkeit auftrat, die Kollegen in der Firma waren größtenteils in Ordnung, und sie war ohnehin jemand, der pragmatisch dachte und dazu neigte, das Positive zu sehen. Phillip Schwarz schätzte derart unkomplizierte Menschen, und er mochte vor allem Kathrins Stimme, die so weich und melodisch war. Denn er schickte ihr zwar immer nur schriftliche Nachrichten, sie aber sprach zu ihm, wenn sie antwortete. Mit keiner Stimme war er so vertraut wie mit ihrer. Kathrin hingegen kannte ihren Chef zwar nicht persönlich und hielt ihn für einen verklemmten Sonderling, aber irgendwie mochte sie ihn trotzdem und entwickelte für ihn fast so etwas wie mütterliche Gefühle, obwohl sie nur wenige Jahre älter war. Wenn sie zu ihm sprach, nahm sie schon lange kein Blatt mehr vor den Mund, und er hatte sie dafür noch nie zurecht gewiesen.
An diesem Morgen stellte Kathrin eine Leitung her, damit ihr Chef hören konnte, was die beiden Mitarbeiter vom Gelände der morgen beginnenden Games Convention zu berichten hatten. Das schwarz gekleidete Duo war verabredet mit Lisa Bürger, die mit ihrer Firma Messebau B&B für den Aufbau des Messestands von Nero Black Enterprises zuständig war.
Lisa war spät dran und deswegen etwas unruhig, denn schließlich würde sie gleich nach dem Termin zum Flughafen fahren müssen. Deswegen fiel ihr der Zehnjährige nicht auf, der auf einem Skateboard umher fuhr, und vor allem entging ihr, dass er während der Fahrt einen großen, rosafarbenen Kaugummi auf den Asphalt spuckte. Auf dem Weg zur Halle war Lisa eingerahmt von ihrer jungen Assistentin Simone und den beiden gutgebauten Kerlen in Schwarz. Ihre Jacketts trugen Aufnäher von der Größe eines Tennisballs, die das NBE-Logo mit dem verschatteten, stilisierten Gesicht des Firmenchefs zeigten. Also mussten sie dem supercoolen Image der Firma entsprechen bis unter die gefärbten Haarspitzen.
»Der Stand ist so gut wie fertig«, sagte Lisa.
»Aber Sie werden nicht hier sein? Und Ihre Geschäftspartnerin auch nicht?« Der größere der beiden Männer stellte diese Fragen, und in seinen Worten schwang Verwunderung mit. Seine Miene aber blieb hinter der pechschwarzen Sonnenbrille absolut regungslos.
»Es wird alles perfekt sein«, antwortete Lisa und bemühte sich, besonders viel Ruhe und Überzeugungskraft in ihre Stimme zu legen. »Auch ohne unsere Anwesenheit. Frau Eggers wird uns würdig vertreten.«
Lisas Assistentin deutete ein Nicken an. Die Männer in Schwarz ließen nicht erkennen, was sie von Lisas Worten hielten. Der Vibrationsalarm ihres Mobiltelefons fing an zu brummen. Lisa sah auf dem Display, wer mit ihr sprechen wollte, entschuldigte sich kurz bei den beiden Männern, wischte über den Touchscreen, nahm das Gespräch an und sagte ohne jede Begrüßung: »Ich ruf dich gleich zurück.« Sie legte auf, steckte das Gerät wieder ein, und ohne es zu ahnen, steuerten die vier Personen nicht nur auf den Eingang der Halle, vor dem große Plakate von der bevorstehenden Messe kündeten, sondern auch direkt auf den rosafarbenen Kaugummi zu, der wie eine Monster-Amöbe lauernd auf dem Boden lag…
Der Stand von Nero Black Enterprises war sehr groß und hauptsächlich in Schwarz gehalten, was nicht wirklich überraschend war. Es gab aber auch ein paar Grautöne, und analog zu den angepriesenen Spielen sogar ein paar sparsame Farbreflexe. Das Logo mit dem Sonnenbrillen-Gesicht war omnipräsent, in allen möglichen verschiedenen Größen, und vor allem auf dem Hintergrund des Standes prangte es gigantisch, fast vier Meter hoch. Oberhalb davon stand NBE geschrieben, darunter Nero Black Enterprises. Über den Stand verteilt waren eine ganze Reihe von Konsolen, PC’s und Tablets installiert, bereit für den spielwütigen Ansturm der Messebesucher, dem es ab morgen Früh standzuhalten galt. Ein paar Männer und Frauen wuselten herum, sie alle waren durch eine Weste mit dem Rückenaufdruck Messebau B&B als Lisas Leute erkennbar.
»Heute«, erläuterte Lisa, »werden nur noch Kabel verlegt und Geräte getestet.« Sie lächelte die Männer in Schwarz gewinnend an und fragte sich, wieso die beiden auch in der Halle ihre Sonnenbrille aufbehielten. Sie wusste noch nicht, dass es dafür tatsächlich einen Grund gab.
»Herr Black ist ein wenig verwundert«, sagte der kleinere der beiden.
»Und worüber?«
»Weil Sie morgen nicht zur Eröffnung kommen. Und Ihre Geschäftspartnerin auch nicht.«
Lisa sah ihn irritiert an. »Das kann er doch noch gar nicht wissen. Ich habe es Ihnen ja gerade eben erst gesagt.«
»Trotzdem weiß er es.«
»Woher?«
»Herr Black ist uns zugeschaltet.«
»Wie kann das sein?« Lisa war verblüfft.
Der kleine NBE-Mann legte die Kuppe seines Zeigefingers auf den Steg seiner Sonnenbrille, der die beiden Gläser miteinander verband. Lisa beugte sich vor, als hätte sie vorgehabt, ihn zu küssen. Nun sah sie, exakt in der Mitte der Brille, die winzige Linse und dicht daneben den noch etwas kleineren Audio-Eingang.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte sie leise.
Die NBE-Männer verzogen keine Miene. Das hatten sie geübt. Im Keine-Miene-Verziehen hatten sie nach ihrer Einstellung bei NBE eine mehrtägige Schulung durchlaufen, und sie beherrschten es perfekt. Simone, die Assistentin, begutachtete die Sonnenbrille des Größeren und stellte fest, dass auch sie über eine integrierte Mini-Kamera verfügte.
»Na gut, Herr Black, oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen«, sagte Lisa, »ich spreche dann also zu dieser Sonnenbrille. Hier ist Lisa Bürger, Messebau B&B. Es gibt einen guten Grund dafür, dass ich morgen nicht hier sein werde. Meine Teilhaberin heiratet, und weil ich auch ihre beste Freundin bin, muss ich dabei sein. Ich nehme an, das verstehen Sie.«
Der größere der beiden Männer legte die Hand über den kleinen Knopf, den er im Ohr hatte, um die Außengeräusche besser abzuschirmen. Dann fragte er: »Wann genau wird Frau Buffonacci heiraten?«
»Mittags«, sagte Lisa.
»Sie könnten also morgens noch hier vorbeischauen.«
»Das wäre so«, antwortete Lisa, »wenn die Hochzeit in München stattfinden würde. Oder am Tegernsee. Frau Buffonacci heiratet aber auf einer kleinen sizilianischen Insel.« Während sie das sagte, bekam Lisa das Gefühl, dass mit ihrem rechten Schuh etwas nicht stimmte. Sie blickte hinunter. Einer dieser kleinen, offiziellen Messe-Flyer klebte unter ihrer Fußspitze. Lisa scharrte mit der Sohle ein wenig über den Steinboden, aber das nützte nichts, der Flyer schien wie angetackert zu sein und blieb wo er war.
Ein paar Kilometer entfernt saß Phillip Schwarz, in einen schwarzen Bademantel gehüllt, auf seiner luxuriösen schwarzen Toilette, und während er sich entleerte und anschließend vollautomatisch gesäubert wurde, ohne einen Finger rühren zu müssen, starrte er auf den in die schwarze Wand eingelassenen 80-Zoll-Bildschirm, auf dem er sehen konnte, wie Lisa Bürger mit dem Stück Papier unter ihrer Fußsohle kämpfte. Er ahnte, von welcher kleinen sizilianischen Insel die Rede gewesen war. Aber er wollte es genau wissen.
Kathrin Schmidbauer beobachtete, wie sich auf ihrem Bildschirm eine Nachricht vervollständigte. Sie lautete: »Fragen Sie bitte, um welche Insel es sich handelt.« Kathrin sprach in ihr Headset: »Herr Black möchte gerne wissen, von welcher Insel die Rede ist.«
In der Messehalle lauschte der NBE-Mann, was der Knopf im Ohr ihm übermittelte, dann wiederholte er Kathrins Frage. Lisa wunderte sich darüber, dass ihr unsichtbarer Auftraggeber es so genau wissen wollte, gab aber freundlich Auskunft: »Das entzückende, winzige Eiland hat 400 Einwohner, ist sechs Stunden vom Festland entfernt und heißt Linosa.« Lisas Smartphone begann wieder zu vibrieren, aber diesmal reagierte sie nicht darauf. Wieder scharrte sie mit dem Schuh hin und her. Sie hasste Abreisetage, an denen morgens noch etwas zu erledigen war, und dieser verdammte Flyer unter der Sohle fing an, sie wahnsinnig zu machen.
Unterdessen blickte Kathrin Schmidtbauer erwartungsvoll auf ihren Monitor. Der kleine Schriftbalken blinkte aber nur vor sich hin, ohne einen neuen Text auszuspucken. Ein Kurier trat mit einer Sendung an Kathrins Schreibtisch und wollte eine Unterschrift von ihr haben. Sie bat ihn mit einer Geste, noch einen Moment zu warten, denn sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, ob ihr Chef noch etwas zu sagen hatte, und wusste, da würde noch etwas kommen. »Herr Black?« sagte sie mit aufforderndem Unterton. Nun fing der kleine Balken endlich an, sich rasch zu bewegen, und es bildete sich eine kurze Nachricht: »Wünschen Sie Frau Bürger eine gute Reise.« Der Kurier sah interessiert zu, eine solche Art der Kommunikation hatte er noch nicht gesehen.
Während der große Mann in Schwarz die guten Reisewünsche übermittelte, hielt Lisa ihren rechten Schuh in der Hand und hatte Mühe, den mittlerweile reichlich zerknitterten, schmierigen Flyer zu entfernen. Darunter befand sich der breit getretene Kaugummi, der inzwischen fast die Ausmaße eines Bierdeckels hatte. Sie wandte sich an ihre Leute und fragte, ob jemand ein Teppichmesser hatte, mit dem man den Kaugummi abschaben könnte. Der kleine Mann in Schwarz hielt ihr wortlos ein schwarzes Taschenmesser hin. Lisa nahm es dankend entgegen, amüsiert über das stetige, offensichtliche Bemühen der zwei, immer ganz besonders cool zu wirken.
»Sie beide«, fragte Lisa lächelnd, »haben Sie eigentlich auch Superkräfte?«
Die Männer ließen auch diesmal nicht erkennen, wie sie die Frage fanden.
…… Auf einmal aber spannte der kleinere von beiden seine Armmuskeln an. Der andere tat es ihm gleich. Die Körper der beiden Männer schienen an Volumen zuzunehmen, als würden sie aufgeblasen werden. Die Hemden spannten an den Oberkörpern, bis sie aufzureißen begannen, erst an der Brust und dann auch am Bauch. Die Kragenknöpfe wurden weggesprengt, mitsamt den Krawatten, die durch die Luft segelten. Als nächstes platzten, nahezu gleichzeitig, die Hosen der Männer. Im nächsten Moment rissen sie sich mit wenigen Bewegungen die Kleider vom Leib, und es zeigte sich, dass sie darunter weite, königsblaue Capes trugen, über hautengen purpurroten Superhelden-Anzügen. An den Füßen leuchteten silbern funkelnde Schuhe, und an den Händen außerordentlich lange, gleißend weiße Stulpen-Handschuhe ……
»Frau Bürger?« Erst die etwas besorgte Stimme ihrer Assistentin zog Lisa wieder zurück in die Realität. Sie schüttelte sich ein wenig, und schon zerplatzte die merkwürdige Vision wie eine Seifenblase im Wind. Die beiden Männer hatten nichts bemerkt, Simone aber schon. Lisa ärgerte sich insgeheim über sich selbst. Sie wusste doch, wie sie auf derart bildreiche Anspielungen reagierte. Lisas Fantasie benötigte nur einen winzigen Anstupser, um in wilder Raserei davon zu galoppieren. Ein Satz oder auch nur ein einziges Wort konnten genügen, und schon war sie in einer anderen Welt. Das Dumme war nur, dass Lisa diese wilden Ritte nicht kontrollieren konnte, so wie gerade eben. Sie fürchtete solche Momente, und deswegen war sie, gerade im Beruf, stets um große Sachlichkeit bemüht. Das mit den Superkräften war ein ganz blöder Ausrutscher gewesen, der sich sofort gerächt hatte.
In der Zwischenzeit wollte der Kurier von Kathrin Schmidtbauer wissen, was denn mit ihrem Chef nicht stimmte. Konnte er nicht sprechen? War er krank? Oder hässlich wie die Nacht? Hatte sie ihn überhaupt schon einmal gesehen?
»Niemand im gesamten Unternehmen hat ihn jemals gesehen«, erwiderte sie.
Während die NBE-Männer den Messestand genauer in Augenschein nahmen, versuchte Lisa mit dem Taschenmesser den Kaugummi von der Schuhsohle zu schaben. Aber er war feucht und glitschig und widersetzte sich ihren Bemühungen. Er zog Fäden und blieb nun auch an der Klinge und an Lisas Fingern kleben.
»Sie können meine Schuhe haben«, sagte Lisas Assistentin und unterdrückte dabei einen gewissen Ekel. »Ich habe auch Größe 40.«
Lisa unterbrach ihren Kampf gegen den Kaugummi, sah ihre Mitarbeiterin offen an und sagte mit klarer, freundlicher Stimme: »Simone, nur weil ich Ihre Chefin bin, müssen Sie sich nicht vor mir in den Staub werfen.«
Simone nickte nervös und ärgerte sich darüber, das Angebot gemacht zu haben. Lisa ihrerseits sah ein, dass eine befriedigende Reinigung der Schuhsohle im Moment nicht zu erreichen war. Sie zog den Schuh wieder an und versuchte mit einem Papiertaschentuch wenigstens das Taschenmesser zu reinigen, was aber genauso aussichtslos war. Der kleinere Mann in Schwarz gab ihr zu verstehen, dass das nicht nötig war. Sie müsse doch schließlich ihr Flugzeug nach Palermo bekommen. Lisa legte das Taschenmesser dankbar auf ein Tischchen, verabschiedete sich und verließ, gefolgt von ihrer Assistentin, zügig die Halle. Dabei fütterte sie ihr Smartphone mit der Nummer von Chiara.
1.400 Kilometer entfernt erhob sich eine kleine, entzückende Insel aus dem tiefblau glitzernden südlichen Mittelmeer, nicht mehr allzu weit von Tunesien entfernt. Linosa war eine Vulkaninsel, und wäre sie genauso arm an Vegetation gewesen wie ihre größere Nachbarin Lampedusa, so hätte sie dem Auge nicht sonderlich geschmeichelt. Aber das Lavagestein der drei Vulkankrater Monte Vulcano, Monte Rosso und Monte Nero war fruchtbarer Boden, und so wuchsen hier Mastixbäume, Opuntien und ein paar Buscharten, die es nur auf Linosa gab, wie etwa die Valantia Calva, die, zum Überleben entschlossen, ihre Wurzeln in den nackten Fels zu bohren verstand wie keine zweite Pflanze. Deswegen war Linosa, zumindest zum Teil, eine grüne Insel. Zu Zeiten der Römer hatten hier Sklavenhändler und später Piraten gehaust. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Insel dauerhaft besiedelt worden. Der sizilianische König Ferdinand II. hatte 40 Männer und Frauen auf die Insel geschickt und ihnen gesagt, sie mögen fruchtbar sein und sich mehren. Die Siedler lebten von Landwirtschaft und Fischfang, waren fruchtbar und mehrten sich, und so kam es, dass sie nach einigen Jahren nicht mehr in den weit verzweigten Höhlen der Insel leben wollten, sondern sich Häuser bauten und sie bunt anmalten. Von der industriellen Revolution, die auf dem europäischen Kontinent immer mehr um sich griff, bekam Linosa lange Zeit nichts mit. Nur selten liefen Schiffe vom Festland in dem kleinen Hafen ein. Die Weltkriege kamen und gingen, und die meisten Inselbewohner wussten nicht einmal etwas davon. Erst in den 1960er Jahren wurde von Sizilien aus ein Telefonkabel nach Linosa gelegt und eine Schule eröffnet. 1973 bekam die Insel eine Meerwasserentsalzungsanlage. Einige Jahre später fanden die ersten Touristen nach Linosa, und es wurden Pensionen und Zeltplätze eröffnet. Aber der Fremdenverkehr blieb stets sehr überschaubar – die Insel war einfach zu klein, um ihn im großen Stil zu betreiben, und viel zu weit weg vom Festland. Es würde immer unzählige Urlaubsziele geben, die schneller und preiswerter zu erreichen waren.
Hier war Chiara Buffonacci geboren worden, und hier war sie aufgewachsen, genau wie ihre große Schwester Maria und ihr kleiner Bruder Gaetano. Aber wie alle heranwachsenden Linoser, die es weder zur Landwirtschaft noch zur Gastronomie zog, stellte sich den Schwestern nach dem Ende der Schulzeit ein Problem. Sie wollten studieren, in Rom oder Florenz, aber ihre Eltern wollten sie nicht gehen lassen. Vater Rodolfo, ein Weinbauer, dessen Reben dem felsigen Boden einen erstaunlich guten Wein abtrotzten, verbot seinen Töchtern, die Insel zu verlassen. Hier gehörten sie hin, hier würden sie bleiben, und damit basta. Als Rodolfo begreifen musste, dass die beiden sich nichts mehr verbieten ließen, weil sie jetzt volljährig waren, versuchte er es stattdessen mit dem Druck auf die Tränendrüse: Was sollte denn hier auf der Insel aus ihnen werden ohne die beiden Mädchen? Sie würden vereinsamen und die Weinberge verdorren, und das alles wäre dann einzig und alleine ihre Schuld. Doch Chiara und Maria ließen sich nicht beirren. Sie verwiesen auf ihren Bruder Gaetano, der auf der Insel bleiben und sich um alles kümmern würde. Sie dagegen würden regelmäßig zu Besuch kommen, und alles wäre gut. Rodolfo musste die Mädchen ziehen lassen, auch wenn es ihm das Herz brach, wie er zu betonen nicht müde wurde. Die Schwestern fuhren mit der Fähre nach Porto Empedocle und setzten zum ersten Mal in ihrem Leben den Fuß aufs Festland. Ein Bus brachte sie nach Rom, wo sie sich an der Universität einschrieben. Die lebenslustige Chiara wurde Studentin der economia, was der deutschen Betriebswirtschaftslehre entsprach, und Maria studierte tedesco, also Deutsch. Die ernstere der Buffonacci-Schwestern hatte großes Talent für Sprachen, war die beste Englisch-Schülerin gewesen, die Linosa je gesehen hatte, und nachdem sie sich mit Hilfe von Büchern bereits Spanisch und Französisch beigebracht hatte, war sie entschlossen, sich mit dem Deutschen nun auch die sperrigste und vermutlich uncharmanteste Sprache der ganzen Welt zu eigen zu machen. Sie studierten zwei Jahre lang an der La Sapienza in Rom, bevor Chiara ihre Schwester zu einer Studienreise nach München begleitete. Ein Kommilitone der Ludwig-Maximilians-Universität verliebte sich in Maria und überredete sie, für ein Auslandssemester hier zu bleiben. Chiara wollte sich von der großen Schwester nicht trennen und entschied, dass ein Semester in der Fremde auch ihr nicht schaden konnte. An das erste Semester wurde noch ein zweites angehängt, und nach dem dritten war beiden klar, dass sie in München zu Ende studieren würden. Die schönen, dunkelhaarigen Insulanerinnen waren unzertrennlich. Wollte ein Münchner eine der beiden erobern, musste er sich gut mit der anderen stellen, sonst hatte er schon verspielt. Eine wirklich feste Bindung wollte ohnehin keine der beiden eingehen, denn für sie stand fest, dass sie nach dem Ende ihres Studiums in ihr Heimatland zurückkehren würden. Maria würde auf dem Festland als Sprachenlehrerin arbeiten, und Chiara plante, sich der wirtschaftlichen Zukunft von Linosa zu widmen. Sie wollte, dass die Insel einen größeren, moderneren Hafen bekam und einen Flugplatz, auf dem kleinere Linienflugzeuge landen konnten. Dadurch würden Handel und Tourismus angekurbelt, und damit die ganze Wirtschaft der Insel. Das alles kostete natürlich eine Menge Geld, das die Insel nicht hatte, und deswegen musste jemand ein überzeugendes Konzept erarbeiten, das man auf dem Festland vorlegen konnte. Darin sah Chiara ihre berufliche Bestimmung, ja ihre Mission.
Aber es kam alles ganz anders. Kurz vor ihrer letzten Prüfung lernte Maria einen Mann kennen, der ein paar Jahre jünger war als sie, eigentlich noch ein Bürschchen. Sie wurde von ihm schwanger, sah in der Affäre aber nicht die geringste Perspektive, und reiste ab. Maria, die sich eigentlich geschworen hatte, nie mehr in Linosa zu leben, kehrte in den Schoß der Familie zurück und bekam dort ihr Kind.
Zu dieser Zeit hatte Chiara sich längst mit einer Architekturstudentin angefreundet. Lisa Bürger war trotz ihrer sehr kurz geschnittenen, frechen erdbeerblonden Haare eine Frau mit außerordentlich femininer Ausstrahlung. Chiara fand das faszinierend. Die kurzhaarigen Frauen, die sie bisher – vor allem in Italien – gekannt hatte, waren unter den Rubriken Kampflesbe und Mannweib einzuordnen gewesen. In Lisa aber hatte Chiara eine Seelenverwandte gefunden. Die beiden verstanden sich so gut, dass Maria – trotz aller Sympathie für Lisa – manchmal mächtig eifersüchtig wurde. Nach Marias Abreise in die Heimat stand auch Chiara vor ihrer letzten Prüfung, von der anzunehmen war, dass sie mit genauso großem Bravour absolviert werden würde wie alle Prüfungen davor. Aber was dann? Sollte sie ihrer Schwester nachfolgen und sie unterstützen, gemeinsam mit der Familie? Obwohl Chiara das Gefühl hatte, dass das von ihr erwartet wurde, gab sie Lisas Überredungskünsten nach und schrieb sich zusammen mit ihr an der Fachhochschule in Detmold ein, für einen Aufbaustudiengang in Messebau. Chiara war überzeugt, das Richtige zu tun, hatte aber dennoch ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Schwester, mit der sie bisher das ganze Leben geteilt hatte. Maria hatte eine schwere Zeit durchzumachen, und sie war nicht an ihrer Seite. Um das zu kompensieren reiste Chiara, während sie in Westfalen studierte, so oft nach Linosa, wie sie nur konnte, oft gemeinsam mit Lisa, die von der Familie Buffonacci äußerst herzlich aufgenommen, ja fast schon adoptiert wurde. Lisa wurde die Patentante von Marias Tochter Francesca und stellte bald fest, dass sie zu den Buffonaccis ein innigeres Verhältnis hatte als zu ihrer eigenen Familie.
Lisa hatte sich in all den Jahren immer unglaublich gefreut, wenn sie nach Linosa reiste, und konnte es gar nicht erwarten, dort zu sein. Nur dieses Mal, auf dem Weg zu Chiaras Hochzeit, war das anders. Hätten eine Lungenentzündung oder ein gebrochener Knochen sie von der Reise abgehalten, Lisa hätte sich nicht beklagt.
Chiara saß auf einer weiß gekalkten Mauer vor dem Haus ihrer Eltern und war sofort am Apparat, als Lisa endlich zurück rief: »Bist du schon am Airport?«
»Nein«, antwortete Lisa, »aber ich mache mich jetzt auf den Weg.«
»So spät?!«
»Früher ging nicht.«
»Lisa, du darfst den Flieger nicht verpassen!«
»Tu ich nicht.«
»Stell dir nur mal vor…«
»Stopp«, sagte Lisa, und Chiara verbiss sich den Rest des Satzes. Sie wusste, mit welcher unkontrollierbaren Fantasie Lisa gesegnet war, und dass es selten eine gute Idee war, sie anzusprechen mit »stell dir nur mal vor«.
»Was sind das für Geräusche?« wollte Lisa wissen.
»Papa und Gaetano und noch ein paar Männer bauen einen Pavillon.«
»Wie sieht er aus?«
»Der Pavillon? Dicke Holzbohlen, und darüber werden riesige Leinentücher gespannt.«
»Nicht der Pavillon, Dummchen. Dein Bruder.«
Chiara lachte. »Ach so! Na, er hat eine kurze Hose an, sein muskulöser Oberkörper glänzt in der Sonne, seine Zähne funkeln, weil er ständig am Lachen ist, und seine schweißnassen Locken reichen fast bis auf die Schultern. Ist es das, was du wissen wolltest?«
»Das ist ganz genau das, was ich wissen wollte.«
»Du weißt, dass er dich vergöttert, Lisa. Du müsstest nur mit dem Finger schnippen, und er würde Schluss machen mit all seinen halbseidenen Romanzen. Auf der Stelle.«
»Es fühlt sich aber an«, sagte Lisa, »als wäre er auch mein Bruder, nicht nur deiner.«
»Er sieht das anders.«
»Ich weiß.«
»Lukas macht auch eine ganz gute Figur. Er ist nur blasser als die anderen und schneller aus der Puste«, sagte Chiara und blickte voller Liebe zu ihrem Bräutigam hinüber. »Männer aus der Stadt eben.«
Lisa schwieg, während sie mit Simone auf das Taxi zuging, das vor dem Messegelände wartete. Bei jedem Schritt verursachte der Kaugummi unter ihrer Schuhsohle ein unüberhörbares Schmatzen.
»Ich hab mich noch nie jemandem so nahe gefühlt«, sagte Chiara leise, damit die Männer, die den Pavillon bauten, es nicht hören konnten. »So viel Vertrauen zu jemandem gehabt. Er hat sogar heimlich ein Feuerwerk für mich vorbereitet, ist das nicht total süß?«
Wieder sagte Lisa nichts. Ihre Assistentin hielt ihr die hintere Tür des Taxis auf.
»Ich hab echt Glück, oder?« fragte Chiara.
Lisa überspielte ihr inneres Unbehagen und hätte ihre Worte am liebsten in Streifen geschnitten und verbrannt, als sie sagte: »Das hast du wirklich.« Dann wandte sie sich an Simone. »Wenn irgendwas ist, rufen Sie an. Aber Sie kriegen das schon hin.«
Simone nickte und lächelte unsicher. Lisa stieg ein, das Taxi fuhr los.
Im selben Moment kam 1.400 Kilometer entfernt ein kleines, bildhübsches Mädchen angelaufen, mit wippenden, schwarzen Zöpfen. Die Kleine hüpfte zu Chiara auf die weiße Mauer und schnappte sich, ohne zu fragen, das Telefon.
»Weißt du schon, Tante Lisa? Bei der Hochzeit bin ich Blumenmädchen!«
»Francesca?!« Lisa glaubte, sich verhört zu haben. »Seit wann sprichst du denn Deutsch?«
»Alle sagen, Mamma kann so gut parlare andere lingue. Ich will noch besser können.«
»Sie zwingt ihre Mutter ständig, mit ihr Deutsch zu reden«, lachte Chiara. »Und mich auch.«
»Ja, liebe Francesca, dass du Blumenmädchen wirst, weiß ich schon«, sagte Lisa.
»Freu ich mich auf dich!« rief Francesca. »Tantissimo!«
»Ich mich auch, meine Kleine. Tantissimo.« Lisa zog sich ein Laubblatt von der klebrigen Sohle.
Francesca sah, wie ihre Mutter aus dem Haus kam, und versuchte, sich hinter Tante Chiara zu verstecken, aber Maria sah sie trotzdem.
»Francesca, du hast nicht aufgegessen!«
»Non ho fame!«
»Du kommst jetzt her und isst auf! Man steht nicht einfach auf und geht, wenn man keine Lust mehr hat!«
»Mamma!«
»Francesca!«
Francesca zog eine Schnute und raunte Chiara zu, ihre Mamma sei immer so ernst und lache viel zu wenig. Chiara raunte zurück und riet Francesca, der Aufforderung ihrer Mutter lieber Folge zu leisten. Das Mädchen hopste von der Mauer und trottete unwillig zu seiner Mutter. Als die Kleine mit Maria ins Haus ging, stand eine ältere Dame in der Tür und tätschelte ihr im Vorbeigehen liebevoll den Kopf. Sophia Buffonacci sah aus, wie man sich eine italienische Mamma vorstellte – drall, lebensfroh und resolut. Sie blieb vor dem Haus stehen und sah sich an, was die Männer bisher zustande gebracht hatten. Gaetano wollte von Marias Bräutigam gerade wissen, ob man in Deutschland wirklich Hau den Lukas sagte. Sein Akzent war wesentlich stärker als der seiner kleinen Nichte. Lukas nickte zustimmend. Gaetano grinste und sagte: »Wenn ich dich mal verprügeln muss, werde ich es sagen: Hau den Lukas.« Er fand das offensichtlich unfassbar komisch und gab seinem Schwager in spe einen freundschaftlichen Schlag gegen die Schulter. Lukas gab sich Mühe, den Schmerz zu unterdrücken, und lächelte gequält. Gaetano zwinkerte grinsend, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass das natürlich ein Scherz gewesen war.
Lisa saß im Taxi, hatte ihren Schuh in der Hand und sah sich die schwer in Mitleidenschaft gezogene Sohle an.
»Wozu braucht man Sekundenkleber, wenn es solche Kaugummis gibt?« murmelte sie. Aber in Wirklichkeit war das kleine Desaster unter ihrer Sohle für sie nur ein Blitzableiter. Was hatte sie hier verloren? Und was in Linosa? Es gab nur eines, was sie dort tun konnte, und das kam nicht in Frage. Dafür war es zu spät. Aber sie konnte auch nicht tun, als wäre alles in Ordnung. Oder doch? Sie blickte aus dem Fenster. Das Taxi stand im Stau. Das wäre doch eigentlich das Einfachste. Jetzt im Verkehr stecken bleiben, der Flieger wäre weg, und sie könnte es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Lisa dachte nach: Wenn sie feige wäre, würde sie es jetzt genauso machen. Ihre beste Freundin würde zwar traurig sein, aber trotzdem eine schöne Hochzeit haben. Aber war sie nicht sowieso schon erschreckend feige? Ausgerechnet sie – Lisa Bürger, die in der Firma gerne kleine Predigten hielt, in denen sie die Mitarbeiter zu ehrlichem und offenem Umgang aufforderte? Sie durfte hier jetzt nicht einfach davon laufen. Lisa beugte sich vor.
»Können Sie vielleicht irgendwo überholen?« fragte sie den Taxifahrer.
»Is verboten«, antwortete er mit dem starken oberbayerischen Akzent eines Mannes, den man eher hinter dem Steuer eines Traktors vermutet hätte.
»Ich leg auch was drauf«, sagte Lisa.
Der Fahrer drehte sich zu ihr um. Er war fett. Nicht nur ein bisschen pummelig. Seine Stirn glänzte, unter den Achseln hatte er dunkle Flecken. Es war ein warmer, schwüler Sommertag. Vielleicht würde es heute noch ein Gewitter geben. Er sah Lisa an, als habe sie ihm gerade einen völlig indiskutablen Antrag gemacht.
»Wann mi jemand anzeigt, bin i’d Lizenz los.«
»War ja nur eine Frage«, entschuldigte sich Lisa.
Ein dünner Mann auf einem Elektrofahrrad schlängelte sich an den gestauten Autos vorbei. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, trug vorsorglich eine dünne Regenjacke und eine Wasser abweisende Baseballkappe. Auf dem Rücken hatte er einen kleinen, schwarzen Rucksack. Der Taxifahrer sah den Mann im Rückspiegel herannahen. Er wollte aber nicht, dass der Radler ihn überholte und fuhr dicht an den Bordstein heran, um ihm die Durchfahrt zu verwehren. Der schwarz gekleidete Fahrradfahrer ließ sich davon nicht abhalten und fuhr trotzdem an dem Taxi vorbei. Dabei berührte seine linke Pedale die Karosserie des Wagens und schrammte daran entlang.
»Ja, sauber«, sagte der Taxifahrer.
Der Fahrradfahrer stoppte sein Gefährt und sah sich um. Das Taxi hatte einen langen, unschönen und sehr deutlich sichtbaren Kratzer davon getragen. Er warf einen Blick auf das Nummernschild.
»Oh nein«, stöhnte Lisa. »Für sowas ist doch jetzt keine Zeit.«
Der Taxifahrer löste seinen Gurt, öffnete die Fahrertür und begann in aller Ruhe damit, sich aus dem Sitz heraus zu quälen – was bei seiner Körperfülle keine Kleinigkeit war. Da nahm der Fahrradfahrer den Fuß von der Straße. Und fuhr einfach weiter.
»Der türmt«, sagte der Taxifahrer, und im nächsten Moment kam Bewegung in den Koloss. Mit erstaunlicher Schnelligkeit wuchtete er seinen massigen Körper aus dem Wagen.
»Hundskrippi!« rief er. »Hier bleibst, oda i zeig di an, du Sauhund!«
Aber der Fahrradfahrer trat fest in die Pedalen, und dazu schnurrte leise der kleine Elektromotor, der sich im Hinterrad befand.
»Ja, leckst mi am Oasch!« brüllte der Taxifahrer, und seine Fettpolster erbebten. Das Taxi wankte, als er sich auf seinen Sitz zurückfallen ließ.
»Vielleicht gibt es eine andere Route, auf der es schneller geht?« fragte Lisa.
Aber der Taxifahrer beachtete sie überhaupt nicht. Er drückte einen Knopf unter dem Radio, und es meldete sich eine raue, weibliche Stimme.
»Zentrale. Was gibt’s, Staudinger?«
»I hob wos zum Melden.«
Auf einmal ertönten die ersten Akkorde von Stairway to Heaven – das Handy des Fahrers, das in der Freisprecheinrichtung klemmte, meldete sich. Er nahm das Gespräch an und bellte: »Staudinger!«
»Grüß Gott, Herr Staudinger, mein Name ist Schmidtbauer. Ihr Fahrzeug ist gerade beschädigt worden?«
Franz Staudinger wusste nicht, was ihn mehr verwirrte – die seidenweiche Stimme dieser Frau am anderen Ende der Leitung, oder das, was sie sagte.
»Freili«, sagte er nur.
»Staudinger, was is’n jetzt?« wollte die raue Stimme aus der Zentrale wissen.
»Sie bekommen zur Schadensregulierung einen Betrag von 5.000 Euro«, schlug Kathrin Schmidtbauer vor. »Dafür nehmen Sie Abstand von allen Maßnahmen. Nennen Sie einfach Ihre Bankverbindung, und der Betrag ist morgen auf Ihrem Konto.«
Dem Fahrer stand der Mund offen. Auch Lisa staunte nicht schlecht.
»Wer san denn Sie?« fragte er, und Lisa glaubte in seiner Stimme auf einmal etwas so unvermutetes wie Charme zu entdecken.
»Staudinger, wos host’n wuin?« Die Frau in der Taxizentrale wurde ungeduldig.
»Das Angebot gilt nur für die Dauer dieses Anrufs«, fügte Kathrin Schmidtbauer hinzu. »Sie müssen sich sofort entscheiden.«
Der Fahrer überlegte angestrengt. Er wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. Lisa erwartete gespannt seine Antwort.
»10.000«, sagte er schließlich.
Im Büro von Nero Black Enterprises blickte Kathrin Schmidtbauer abwartend auf ihren Monitor. Dort erschien schließlich ein einziges Wort: »Okay.«
»10.000 sind in Ordnung, Herr Staudinger«, sagte Kathrin Schmidtbauer. »Ihre Kontodaten?«
Franz Staudinger konnte das Ganze noch nicht glauben: »Wenn des a Scherz is…«, sagte er warnend.
»Keine Sorge«, beruhigte sie ihn.
»Sagen Sie, passiert das gerade wirklich?« meldete Lisa sich auf der Rückbank zu Wort. »Ich hab manchmal so Momente, da spielt meine Fantasie mir einen Streich.«
Der Fahrer drehte sich ungehalten zu ihr um. »Wollen’S jetzt zum Airport oder Schmarrn erzählen?«
Lisa erkannte, dass Franz Staudinger und sie keine Freunde mehr werden würden, und hielt lieber den Mund.
»Stau-din-ger…«, meckerte die Frau von der Zentrale.
»I kann jetz ned«, polterte der Fahrer und unterbrach die Verbindung zur Leitstelle, dann begann er, seine Kontoverbindung herunter zu beten, und obwohl er die sonst im Schlaf aufsagen konnte, verhaspelte er sich dabei gleich mehrfach. Der Fahrer des Wagens hinter ihm hupte, weil Staudinger überhaupt nicht mehr auf den Verkehr konzentriert war und vor seinem Taxi bereits eine ziemlich große Lücke gelassen hatte. Er war überfordert. Das Hemd hing ihm längst nass am Körper. Was hier gerade passierte, gab es eigentlich gar nicht, aber es passierte trotzdem. Staudinger ließ den Wagen weiter rollen und schaffte es endlich, seine Kontonummer korrekt zu übermitteln.
Kurze Zeit später löste der Stau sich auf, das Taxi hatte freie Fahrt bis zum Flughafen. Im Laufschritt zog Lisa ihr Rollköfferchen durch Terminal 2. Noch immer gab der Kaugummi unter ihrem rechten Schuh bei jedem Schritt ein leises Geräusch von sich. Lisa passierte die Zollkontrolle und erschien sogar noch rechtzeitig zum Boarding. Im Flugzeug wollte sie sich gerade dazu anschicken, ihr Handgepäck in der Ablage zu verstauen, als zwei kräftige männliche Hände unter ihren Koffer griffen, um ihr zu helfen. Im nächsten Moment blickte Lisa in das lächelnde Gesicht eines unverschämt gut aussehenden Mannes.
»Darf ich?« fragte er.
Lisa ließ ihn gerne gewähren, und während er ihr Gepäck in die Höhe hob, betrachtete sie mit Wohlgefallen seine kräftigen Arme, die aus dem hochgekrempelten Hemd ragten, und seine breiten, muskulösen Schultern. Er erinnerte sie an einen Hollywood-Schauspieler, dessen Name ihr nicht einfiel.
»Sie müssen Lisa sein«, sagte er. »Ich bin Torsten.« Er streckte ihr die Hand entgegen, und während sie ihn noch fragend ansah, schüttelte sie bereits seine Hand. Ein starker, männlicher Händedruck, und dennoch voller Gefühl.
»Ein Freund von Lukas«, fügte er hinzu. »Ist es okay, dass ich neben Ihnen eingecheckt habe?«
Lisas Lächeln bejahte die Frage. Nun wusste sie, dass sie während des Fluges abgelenkt werden würde von ihren brütenden Gedanken.
Phillip Schwarz hatte sein Elektrofahrrad neben der Straße abgestellt. Er blickte hinüber zum Flughafen und wusste nicht, was er tun sollte. Das passierte ihm unglaublich selten, denn es gab doch immer eine Lösung. Für alles. Aber so war das eben mit Dingen, die man vor sich her schob, weil sie unangenehm waren. Sie wurden immer schwieriger und neigten dazu, sich aufzutürmen wie riesige, unüberwindliche Gebirge. Jeder Mensch hatte seine ganz eigene, innere Eiger-Nordwand, und Phillip Schwarz stand jetzt am Fuße der seinen. Er zog seinen Zauberstab hervor. Wenn es doch etwas gab im Leben, das ihm Spaß bereitete, dann war es dieses Gerät. Mit seinem länglichen Format erinnerte es an eine aufwändige Fernbedienung, aber dafür war es ein wenig zu lang und auch zu breit. Es hatte die glatte Oberfläche eines Tablets, aber im Vergleich mit seinem Zauberstab war ein iPad nicht mehr als ein billiger Taschenrechner.
Kathrin Schmidtbauer nippte an ihrer zweiten Tasse Kaffee, als sie sah, wie auf ihrem Monitor die ersten Worte einer neuen Nachricht erschienen: »Frau Schmidtbauer, ich brauche…« Dann stoppte der Text. Kathrin wartete. Der Cursor blinkte vor sich hin, ohne dass etwas passierte. Sie bemerkte überrascht, dass sie anfing, unruhig zu werden. Ihr Chef hielt niemals inne, wenn er eine Nachricht übermittelte. Er war außerordentlich schnell im Kopf, und all seine wie aus der Pistole geschossenen Formulierungen waren stets druckreif. Sie machte sich Sorgen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Hatte ihm jemand den Zauberstab aus der Hand geschlagen? War er überfahren worden? Ihr Telefon klingelte. Sie drückte eine Taste und sprach in ihr Headset: »Kathrin Schmidtbauer, Nero Black Enterprises.«
Eine etwas dünne und wenig männliche Stimme sagte: »Frau Schmidtbauer, ich bin’s.«
»Wer ich?
»Ihr Chef. Nero Black.«
»Woher haben Sie diese Nummer?«
»Ich brauche Ihren Rat.«
»Blödsinn.«
»Doch.«
»Herr Black telefoniert nicht«, stellte Kathrin klar. »Sie sind ein Schwindler.«
Es entstand eine kurze Pause. Kathrin war schon drauf und dran, die Telefonverbindung zu unterbrechen – als der angefangene Text auf ihrem Monitor gelöscht und ein neuer eingetippt wurde. Und plötzlich stand da: »Bitte, Frau Schmidtbauer, ich bin es wirklich.« Kathrin starrte den Satz an. Mit großen Augen.
»Was… ist los?« fragte sie. »Was kann ich tun?«
»Sie haben doch einen kleinen Sohn.«
Kathrin wurde misstrauisch. Das hier entwickelte sich äußerst merkwürdig. »Ja?« sagte sie.
Der Mann am anderen Ende atmete tief durch. »Denken Sie, ich bin ein Typ, der alles unter Kontrolle hat?« wollte er wissen.
Kathrin zögerte. Es war so ungewohnt, richtig mit ihm zu sprechen. Mit dieser Stimme, die klang wie die eines Abiturienten, der nicht sauber durch den Stimmbruch gekommen war.
»Ich weiß nur«, sagte sie, »dass das Boarding für Ihren Flug in wenigen Minuten schließt. Wie ich hören kann, stehen Sie irgendwo an einer Straße. Sie sollten sich also beeilen.«
»Das Flugzeug wird Verspätung haben.«
Ein Klick, und Kathrin hatte die Website des Münchner Flughafens auf ihrem Monitor.
»Bisher ist alles planmäßig«, widersprach sie.
»Nicht mehr lange«, sagte er.
Kathrin wurde wieder unsicher. War das wirklich der Mann, für den sie arbeitete? Oder nur irgendein Verrückter, der den Zauberstab zu bedienen verstand?