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Indien oder Baumarkt?

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E

s war noch früh an diesem letzten Samstag vor den Zeugnissen, doch der Morgen versprach bereits einen warmen Sommertag. Der Himmel war tiefblau, nur hie und da waren federweiße Wölkchen an das Firmament getupft und der Wind wehte lau von Süden.

Die zehnjährige Jule Beek schaukelte im heimischen Garten in stiller Konzentration. Lang ausgestreckt vor, tief gebeugt zurück. Vor, zurück, vor, zurück. Immer, wenn sie nach vorne schwang, streckte sie die bloßen Füße hoch empor und versuchte, mit den Zehen den unteren Rand einer Wolke zu erreichen, gleichsam, als wollte sie diese fortschubsen, damit der Himmel wolkenfrei würde, doch die Wolke blieb außerhalb ihrer Reichweite, egal, wie sehr Jule sich anstrengte. Also gab sie ihr Unterfangen auf, schaukelte lang ausgestreckt aus und ließ den Kopf nach unten hängen, so dass die Welt Kopf stand. Ihr langes blondes Haar strich sanft über das Gras, sie schloss die Augen, lauschte dem leisen Quietschen der Schaukelkette und wartete.

Endlich verkündete das ungleich lautere Quietschen des Gartentors die erwartete Ankunft. Jule richtete sich auf, sprang von der Schaukel und ließ sich bäuchlings ins Gras fallen.

»WD 40«, rief die ebenfalls zehnjährige Paula Degenhardt, Jules beste Freundin, noch vom Tor aus.

»XV 13«, rief Jule zurück.

»Hä?« Paula blieb stehen und blinzelte.

»Vielleicht auch ZQ 87, ich bin mir nicht sicher, ist aber genauso unverständlich wie deins.«

»Ach so.« Paula lachte, schloss das quietschende Tor und schlurfte näher. »WD 40 ist so’n Öl in ’ner Spraydose. Ich schwör’, meine Mutter schwört darauf. Wenn irgendeine Tür bei uns auch nur das kleinste bisschen quietscht, schnappt sich meine Mutter das Zeug, rennt damit durchs ganze Haus und besprüht jede, aber wirklich jede Türangel, selbst wenn sie noch gar nicht quietscht. Manchmal denke ich, dass sie sogar heimlich unsere Katze damit behandelt hat.«

»Sag bloß, Minou quietscht nicht mehr.«

»Japp. Sie hat sogar letztens ein stattliches Miau zustande gebracht.« Paula ließ sich neben Jule ins Gras nieder, lehnte sich zurück und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. »Was für ein Tag.«

Jule stützte die Ellbogen auf die Erde, musterte die Freundin und legte den Kopf in die Hände. »Okay, wenn ich mir dein Outfit so betrachte, ist bei euch definitiv Urlaub angesagt.«

Grinsend setzte Paula sich aufrecht, zupfte an ihrem ausgeleierten T-Shirt herum, das ehedem von kräftigem Türkis gewesen und mittlerweile nur noch blassblau war. Ihre schwarze Shorts dagegen saß sehr eng.

»Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte sie, während sie am Bund ihrer Hose nestelte, bis sie sowohl Knopf als auch Reißverschluss aufbekommen hatte. »Das ist mega-in diesen Sommer.« Sie atmete tief durch. »Besser. Viel besser.«

»Ich hoffe, du musst dieses Ding«, Jule deutete mit ihrem Kinn auf Paulas Shorts, »nicht auch noch in der Schule tragen. Könnte übel werden.«

»Bestimmt nicht schlimmer als diese Korsetts früher. Die Fräulein sind doch auch reihenweise in Ohnmacht gefallen, weil sie nicht richtig atmen konnten.«

Jule veränderte ihre Stellung und saß schließlich im Schneidersitz neben ihrer Freundin.

»Das meine ich gar nicht. Man sieht deine Unterhose.«

»Uuuuh, Unterhosenalarm.« Paula zupfte am Bund ihres Slips und zog ihn noch höher.

»Mir macht es nichts aus, ich hab das schließlich schon öfter gesehen, aber die Jungs …« Jule zuckte die Achseln und grinste breit.

»Nee, lass mal gut sein!«, rief Paula lachend. »Zum Glück hat Mama noch zwei gute Hosen draußen gelassen – eine knielange und eine Jeans. Ich darf sie halt nur nicht schmutzig machen. Deshalb heute das hier.« Paula deute grinsend sowohl aufs Shirt als auch auf die Shorts.

Jedes Jahr packte Frau Degenhardt die Koffer bereits am Wochenende vor den Zeugnissen und ließ Paula entweder in alten oder sonst wie nicht urlaubstauglichen Klamotten rumrennen. Doch Paula war die Königin des Kleckerns und brachte ihre Mutter jedes Mal auf die Palme, wenn die letzte Hose Kakao- oder das letzte Shirt Tomatensaucenflecken bekam, so dass Paulas Koffer wieder geöffnet und die Urlaubsgarderobe um mindestens ein Outfit reduziert werden musste. Dabei wusch Frau Degenhardt in den drei Wochen Urlaub sowieso mindestens einmal Wäsche. Doch in dem Punkt war sie unerbittlich, was Paula die skurrilsten Outfits für die letzten Tage bescherte.

»Na, wenigstens fahrt ihr in den Urlaub.« Jule streckte ein Bein aus und rupfte mit den Zehen ein paar Grashalme aus.

»Hast du echt noch nichts herausgefunden?« Paula beugte sich vor. »Hast du denn wirklich überall nachgeschaut?«

»Dein Ernst?« Jule verdrehte die Augen. »Seit Wochen mach ich nichts anderes als überall nachzuschauen.«

»Aber es kann doch nicht sein, dass du nichts gefunden hast. Du findest doch sonst immer was.« Paula sah hinüber zum Haus. »Ihr könnt doch nicht nicht fahren.«

»Gefunden hab’ ich ja was, aber …« Jule zuckte die Schultern. »Nichts deutet auf Urlaub hin.«

»Ach iwo, das muss nur richtig interpretiert werden. Zusammen kriegen wir das hin.« Paula setzte sich aufrecht hin, rutschte ein paar Mal mit ihrem Po hin und her, bis sie bequem saß, und sah Jule aufmerksam an. »Schieß los, was hast du gefunden.«

»Also gut.« Auch Jule setzte sich aufrecht hin und hob den Daumen. »Erstens: In Mamas Nähtruhe hab ich letztes Jahr einen Reiseführer über Ostfriesische Inseln gefunden. Da waren wir dann drei Wochen auf Juist. Und Ostern lag dort ein Karton mit Bildern und Briefen von meiner Oma aus Stuttgart. Da waren wir …«

»… eine Woche zu Besuch, ich erinnere mich. Und was war diesmal in der Truhe?« Paula zupfte einen dicken Grashalm aus und drehte ihn in den Fingern hin und her.

»Stoff. Unmengen an Stoff. Also viel, viel mehr als sonst, die Truhe war fast voll.«

»Was für Stoff?«

»So durchsichtiger, teilweise mit Mustern oder Bordüren. Aber auch dickerer, bunt. Ich …«

»Saris!«, rief Paula und sprang auf. »Ich wette, ihr fahrt nach Indien und der Stoff in der Truhe ist für Saris. Kein Wunder, braucht ihr da keine normalen Sachen.« Sie wippte mit den Füßen auf und ab. »Und du sagst, du hast nix gefunden.«

»… denke, es sind Gardinen und Stoffe für Vorhänge«, beendete Jule ungeachtet Paulas Ausbruchs ihren Satz. »Was sind denn bitte Saris?«, fragte sie dann und runzelte die Stirn.

»Das tragen die Frauen in Indien. Das sind so ganz lange Stoffbahnen, mehrere Meter, und die wickeln die als langen Rock und das Ende tragen sie so über der Schulter.« Paula begleitete ihre Beschreibung mit entsprechenden Gesten und drehte sich um sich selbst. »Das sieht voll schön aus. Besser als dieses olle Kleid, das du da anhast.«

Jule sah an sich herunter. Ihr kurzes Sommerkleid mit den Spaghettiträgern war mittlerweile nur noch verwaschen grau, hatte aber dennoch den Vorteil, dass Jule sich damit auf dem Rasen wälzen konnte, ohne dass die alten und neuerworbenen Grasflecken sofort ins Auge sprangen. »Ich weiß gar nicht, was du hast. In so ’nem Sari kann man garantiert nicht so rumrennen und schaukeln und auf Bäume klettern wie mit meinem Kleid.«

»Das mag natürlich sein«, gab Paula achselzuckend zurück. »Aber zurück zu deinem Fund. Denkst du denn, es könnten Saris sein? Die sind oft total bunt und mit Stickereien verziert und voll schön.«

Jule schüttelte den Kopf. »Dann bleib ich bei Gardinen.«

»Gardinen?« Paula verzog das Gesicht und ließ sich wieder ins Gras plumpsen.

»Ja, definitiv.«

»Also kein Indien.«

Jule schüttelte den Kopf. »Kein Indien. Aber das war noch nicht alles.« Sie hob wieder ihre Hand und zum Daumen gesellte sich der Zeigefinger. »Unter Mamas Bett lag ein dickes Buch.«

»Ui, jetzt wird es spannend. Denk an Nicolas Cage und dieses geheime Buch aus diesem Film, den wir neulich bei uns geguckt haben.« Wieder beugte Paula sich vor.

»Nein, nicht so ein Buch. Ein Tapetenbuch. Auf jeder Seite gab es eine andere Tapete, in allen Farben und Mustern und Strukturen.«

»Tapeten? Bist du sicher?«

»So sicher, wie man sein kann, wenn vorne drauf Tapetenmuster steht.«

»Ui, das ist jetzt aber …« Paula schwieg und kratzte sich am Kopf.

»Und drittens«, wieder die Hand, der Mittelfinger folgte dem Zeigefinger, »lag in Papas Arbeitszimmer das gleiche Buch nur mit Teppichen.«

»Ich weiß nicht, denkst du, es besteht die Möglichkeit, dass ihr in einem Baumarkt Urlaub macht? Nicht, oder?« In Paulas Blick lagen gleichermaßen Hoffnung wie Unglaube. Und Mitleid.

Jule seufzte und schüttelte den Kopf. »Also entweder machen meine Eltern es mir dieses Jahr besonders schwer – oder wir fahren nirgendwohin.«

»Außer in den Baumarkt …«, sagte Paula leise und seufzte ebenfalls.

***

Als die Kirchenglocken die Mittagszeit einläuteten, trennten sich die Freundinnen. Normalerweise konnte Paula jederzeit bei den Beeks mitessen, doch wegen ihrer Kleckerei bestand Frau Degenhardt darauf, dass sie daheim aß. So konnte sie ohne weiteres ein bereits bekleckertes Shirt tragen, sodass die Urlaubsgarderobe keinesfalls leiden musste.

Familie Beek wohnte im Erdgeschoss eines grünen Mehrfamilienhauses. Jede der sechs Wohnungen hatte einen Balkon, der zum Garten hinaus lag, die Balkons im Erdgeschoss hatten darüber hinaus noch ein Tor, hinter dem ein paar Stufen hinunterführten, so dass man nicht jedes Mal vorn herum gehen musste, um wieder in die Wohnung zu gelangen.

Auch Jule nahm heute diesen Weg und betrat durch die offen stehende Balkontür das Wohnzimmer. Herr und Frau Beek befanden sich in der Küche, vermutlich weil das Essen bereits fertig war. Da Jule barfuß war, lief sie lautlos über die dicken Teppiche und schaffte es so, einen Satz der Unterhaltung ihrer Eltern aufzuschnappen, der so ganz sicher nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war.

»Ich mach’ mir schon Sorgen um Papa«, sagte Frau Beek, die am Herd stand, gerade und Jule lief es kalt den Rücken hinunter. »Er ist ja nicht mehr der Jüngste. Und dann noch sein Rauchen …«

»Was ist mit Opa?«, rief Jule und platzte in die Küche. »Ist er krank?«

»Herrje!« Frau Beek legte eine Hand auf die Brust. »Musst du mich so erschrecken, Jule?«

»Tut mir leid, Mama.« Jule lief zu ihr und umarmte sie. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Was ist mit Opa?«, fragte sie noch einmal und sah ihre Mutter bang an.

Über Jule hinweg sah Frau Beek ihren Mann an. Als dieser nickte, legte sie einen Arm um ihre Tochter. »Dann wird es jetzt wohl Zeit, dir alles zu erzählen.« Gemeinsam setzten sie sich zu Herrn Beek an den Tisch und Jules angstvoller Blick wanderte zwischen ihren Eltern hin und her.

»Also«, begann Frau Beek, hielt inne, räusperte sich kurz und fuhr dann fort, »Opa bekommt Mittwoch eine neue Hüfte und muss fünf bis zehn Tage im Krankenhaus bleiben.«

»Neue Hüfte? Wie ein Ersatzteil beim Auto?«, fragte Jule und sah zu ihrem Vater, der nickte.

»Genau, Jule. Die alte Hüfte ist alt und kaputt und wird gegen eine neue aus Metall und Kunststoff ausgetauscht.«

»Anschließend fährt Opa dann zur Reha und trainiert mit der neuen Hüfte«, fuhr nun wieder ihre Mutter fort. »Das dauert auch noch mal drei Wochen.«

»Und danach kann Opa für den Marathon trainieren.« Jule kicherte und war froh, dass alles doch nicht so schlimm war. Ein Auto bekam viel öfter ein neues Teil eingebaut, da sollte es bei Opa doch wohl auch klappen. Und über das Rauchen war ihre Mutter ständig besorgt. Opa sagte dazu immer nur: »Ach was, Räucherfleisch hält länger.« Rauchen war zwar doof und ungesund, aber Jule liebte ihren Opa auch mit seiner Pfeife und wollte gern glauben, dass er recht behielt.

»Da ist aber noch was, was wir dir sagen müssen«, ließ sich nun wieder Herr Beek vernehmen.

»Was denn?« Jetzt! Jetzt würde er verraten, wohin es dieses Jahr ging.

»Wir werden dieses Jahr nicht in den Urlaub fahren.«

»Äh, wie jetzt?«, fragte Jule und zupfte an ihrem Ohrläppchen.

»Nun, eigentlich wollten wir dich zu Oma und Opa schicken, was jetzt aber nicht geht. Oma fährt nämlich mit zur Reha irgendwo nach Süddeutschland, damit sie Opa auch da täglich sehen kann.« Frau Beek zuckte die Schultern. »Tut mir leid.«

»Dann sind wir eben hier«, auch Jule zuckte die Schultern, »da werd’ ich mich schon nicht langweilen.«

»Vielleicht doch, weil …«

Nanu, seit wann druckste ihre Mutter so rum, wenn sie etwas zu sagen hatte?

»Wir werden keinen Urlaub haben und du kannst schlecht allein hierbleiben, weil hier renoviert wird«, sprang schließlich Herr Beek in die Bresche. »Das Haus wird kernsaniert, das heißt, alle Leitungen werden ersetzt, Türen und Fenster werden ebenfalls erneuert und das Bad – nun, das Bad wird für ein paar Tage nicht mehr als Bad erkennbar sein.«

Jule biss sich auf die Lippen. Ferien im Baumarkt klang deutlich besser als das. »Und wo soll ich dann hin?«, fragte sie. »Paula ist die nächsten Wochen nicht da. Und wenn du sagst, dass das ganze Haus renoviert wird, kann ich auch nicht zu Frau Quabeck.«

Ihre Eltern schüttelten die Köpfe.

»Wir hätten da noch ein Eisen im Feuer, aber bislang haben wir noch keine Rückmeldung erhalten, ob es klappt, deshalb …« Ihr Vater hob die Arme. »Wir wollten es dir erst morgen erzählen, wenn alles in trockenen Tüchern ist, aber du schleichst dich ja an wie ein Indianer.« Er lachte.

»Und alles, was ich bei meinem Rumgestöber gefunden habe, ist für die Renovierung. Da hätte ich aber auch wirklich draufkommen können. Ist naheliegender als Indien oder der Baumarkt.«

»Indien?«, fragte Frau Beek.

»Baumarkt?«, fragte Herr Beek.

Doch Jule winkte ab. »Lange Geschichte, erzähl ich euch …«

Wann sie es eigentlich erzählen wollte, sollten die Beeks nie erfahren, denn in diesem Moment läutete das Telefon im Wohnzimmer.

»Ich geh schon!« Jule sprang auf und flitzte hinüber. »Jule Beek, wer ist da?«

»Da hab’ ich ja gleich die Richtige in der Leitung«, kam es vom anderen Ende der Leitung.

»Tante Leo!«, jauchzte Jule. »Von dir hab ich aber lange nichts gehört. Du meldest dich immer nur zu meinem Geburtstag und an Weihnachten, und zwischendurch ist Pustekuchen.«

»Zu tun, zu tun und nie Zeit. Aber …«

»Moment!«, unterbrach Jule sie. »Bist du etwa das Eisen im Feuer, von dem Papa gesprochen hatte?« Das Mädchen hielt den Atem an, kreuzte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und murmelte »Bitte. Bitte. Bitte!«, was ihre Tante soeben noch hören konnte.

»Danke und ja«, erwiderte Tante Leo und lachte glucksend. »Für meine Lieblingsnichte habe ich mit meinem Chef einen schweren Kampf ausgefochten und habe ihm sechs Wochen Urlaub abgerungen.«

»Wieso Chef? Du bist doch selbständig.« Jule zog die Nase kraus.

»Genau. Und damit bin ich mein eigener Chef. Und ich kann sehr streng sein. Aber als ich mir das Leid meiner Nichte klagte, wurde ich weich und habe mir den Urlaub genehmigt. Sechs Wochen nur für dich. Na? Wie klingt das?«

»Tante Leo, du bist die Wucht in Tüten! Das muss ich Paula erzählen.« Sie rannte in die Küche und drückte ihrem Vater das Telefon in die Hand. »Hier, deine Schwester. Ich muss weg. – Tschüs, Tante Leo, bis ganz bald!«, rief sie noch, dann war sie auch schon aus der Tür.

Schlüsselzauber

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